Die Menschenversteher

Werbung
Die Menschenversteher
Von Juliette Irmer
Hunde. Warum der Canis lupus familiaris (der «Familienhundwolf») dem
Menschen näher steht als jedes andere Tier.
Hunde legen keine Eier und geben
keine Milch. Dennoch war der Hund
das erste Tier, das der Mensch domestizierte. Seit mindestens 15000
Jahren begleitet er den Menschen
und ist, evolutionsbiologisch betrachtet, damit extrem erfolgreich:
Geschätzte 500 Millionen Hunde bevölkern den Erdball, denn überall wo
Menschen leben, leben auch sie.
Selbst die Wissenschaft entdeckt
den Hund für sich. Denn Hunde
scheinen im Verlauf ihrer Evolution
bestimmte sozial-kognitive Fähigkeiten des Menschen übernommen
zu haben. Das macht sie zu idealen
Kandidaten, um etwa die Evolution
von Kommunikationsverhalten zu erforschen.
Den Zeigefinger verstehen
So verstehen Hunde Zeigegesten.
Wenn Frauchen oder Herrchen den
Arm ausstrecken und mit dem Finger
auf etwas zeigen, wissen sie, dass es
sich lohnt, dort nachzuschauen. Dort
könnte ja ein Leckerli oder Stöckchen liegen. Was für Hundehalter
selbstverständlich klingt, ist in Wirklichkeit staunenswert. Menschenaffen etwa scheitern an solchen Gesten: Zeigt ein Mensch auf versteckte
Obststücke, reagieren die Affen
nicht. Sie sind schlicht nicht in der
Lage, den Hinweis zu deuten. Lange Zeit verbuchte man diese Art der
nonverbalen Kommunikation also als
rein menschliche Gabe.
Doch schon Welpen folgen dem
Wink. Hunden ist diese Fähigkeit
also angeboren, und: Sie entwickelten sie während ihres Zusammenlebens mit dem Menschen. Denn Versuche mit Wölfen, die von Menschen
aufgezogen wurden, zeigten, dass
auch sie nichts mit solchen Gesten
anzufangen wissen.
«Hunde sind extrem gut an den
Menschen und seine Umwelt angepasst», sagt Marie Nitzschner,
Expertin für Hunde-Kognition am
Max-Planck-Institut (MPI) in Leipzig.
Der Mensch wurde zu ihrem «Lebensraum». Wer den Zweibeiner
«lesen» konnte, sich ihm mitzuteilen
wusste, hatte klare Vorteile: Er wurde gefüttert, gepflegt und wenn alles
gut lief: geliebt.
Zornige Zweibeiner meiden
Deswegen entwickelten sich Hunde
zu verblüffend guten Menschenkennern: Sie wissen, ob Frauchen sie
beobachtet oder nicht und klauen im
richtigen Augenblick das verbotene
Stück Wurst. Erst kürzlich zeigte eine
Studie aus Österreich, dass Hunde
zwischen fröhlichen und wütenden
Menschengesichtern
unterscheiden. Die Forscher nehmen an, dass
die Hunde auch die Bedeutung des
Gesichtsausdrucks verstehen: Die
Hunde, die auf wütende Gesichter trainiert wurden, lernten nämlich
deutlich langsamer als die Vierbeiner, die sich fröhliche Gesichter
merken durften. Wahrscheinlich, weil
die Tiere aus Erfahrung wissen, dass
man sich von zornigen Zweibeinern
besser fernhält.
Die Kunst des «Fast Mapping»
Hunde interpretieren aber nicht nur
Gesten und Gesichtsausdrücke, sie
verstehen uns auch im wörtlichen
Sinn: Berühmt wurde der Border
Collie Rico, der über 200 Objekte
namentlich unterscheiden konnte.
Hunde lernen neue Begriffe durch
das sogenannte «Fast Mapping» –
ein Ausschlussverfahren, das auch
Kleinkinder beim Sprechen lernen
nutzen. So erkannte Rico, dass das
unbekannte Wort «Giraffe», nur das
Stofftier sein konnte, dass fremd inmitten seiner gewohnten Spielzeuge
lag.
Wahrscheinlich wird die Beziehung
von Hund und Mensch sogar hormonell gestärkt: Schauen sich Hunde und ihre Besitzer in die Augen,
steigt bei beiden die Konzentration
des Hormons Oxytocin an. Das berichten Forscher in einer aktuellen
Ausgabe des Fachmagazins Science. Das sogenannte Kuschelhormon festigt auch die Beziehung von
Mutter und Kind. Auch dort spielt
der Blickkontakt eine zentrale Rolle:
Schauen sich Mutter und Kind in die
Augen, löst es bei beiden ein Belohnungsgefühl aus. Dieses bewirkt
die Ausschüttung von Oxytocin, was
wiederum die Bindung stärkt. Die
Forscher nehmen an, dass diese positive Rückkopplungsschleife auch
bei Hund und Mensch existiert. Und,
dass sie die tiefe Bindung von Hund
und Mensch ermöglicht hat.
Die Schlussfolgerung ist allerdings
umstritten: Oxytocin ist bei allen
Säugetieren aktiv und wirkt nicht
nur bei Hund und Mensch über die
Artgrenze hinweg: «Sobald ein Tier
das menschliche Fürsorgeverhalten
anspricht – was etwa beim Aufziehen von Jungtieren geschieht – ist
mit der Ausschüttung von Oxytocin
zu rechnen», sagt der Verhaltensfor-
scher Àdám Miklósi, renommierter
Hundeexperte der Eötvös Universität
in Budapest, gegenüber der «Nordwestschweiz».
Verstehen und Ausdruck
Der Ursprung der Mensch-Hund-Beziehung liegt – hormonell gesteuert
oder nicht – in ihrer sehr lange währenden, gemeinsamen Evolution:
Der Hund wurde wie kein anderes
Tier zum Menschenversteher. Und
brachte zudem die Gabe mit, sich
uns ausdrucksstark mitzuteilen: bellen, knurren, winseln, wedeln – das
Repertoire ist vielfältig und für uns
leicht verständlich. «Hunde verzeihen alles, sind kooperativ und suchen unseren Blickkontakt», sagt
Miklósi. «Wir können mit ihnen eine
Beziehung eingehen, die sich mit einer Freundschaft vergleichen lässt.»
Und wer kam einst auf wen zu? Vieles spricht dafür, dass der Hund auf
den Menschen zukam. Wahrscheinlich lungerten die Hundevorfahren
um die Lagerplätze der Menschen
herum und frassen Abfälle. Die Menschen merkten bald, dass die Tiere
sie vor Feinden warnten und begannen, sie gezielt zu füttern. Später halfen sie beim Jagen. Auch als
der Mensch vor rund 10000 Jahren
sesshaft wurde, und Ziegen, Schafe
und Rinder domestizierte, fand der
Hund seinen Platz: Als Hetzjäger
eignete er sich ideal dazu, die Herden zusammenzuhalten.
Der Mensch bevorzugte wohl von
Anfang an die ihm zugewandten Tiere. Mit der Zeit fand er Gefallen an
allen möglichen und unmöglichen
Eigenschaften und so entstand die
bunte Mischung aus Pekinesen,
Pudeln und Co. Alles in allem aber
bekam dem Hund die menschliche Gesellschaft. Seinem nächsten Verwandten hingegen, der sich
dem Menschen nicht anschloss,
ihn gar das Fürchten lehrte, erging
es schlechter: In der Schweiz leben
heute maximal 30 Wölfe. Verglichen
mit rund 500000 Hunden.
Sind Hunde intelligenter als Menschenaffen?
«Das kann man nicht vergleichen.
Hunde und Menschenaffen sind
an unterschiedliche Lebensräume angepasst, weswegen unterschiedliche kognitive Fähigkeiten
ausgeprägt sind. Ein Hund versteht
kommunikative Hinweise vom Menschen deutlich besser, als ein Menschenaffe – eben weil der Menschenaffe, im Gegensatz zum Hund,
in seiner natürlichen Umgebung
nicht auf menschliche kommunikative Hinweise angewiesen ist. Deshalb ist er nicht dümmer. Menschenaffen schneiden in Versuchen über
das Verständnis von kausalen Zusammenhängen deutlich besser ab.
Denn Hunde verlassen sich bei solchen Sachen auf den Menschen.»
Marie Nitzschner, Expertin für Hunde-Kognition,
Max-Planck-Institut
Leipzig
Quelle
Quelle: Oltner Tagblatt, 15.05.2015
Quelle: loco photography
Herunterladen