Der Beckengürtel Der Beckengürtel (Abb. 2-63a) besteht aus dem Kreuzbein (0s sacrum) und den sich beiderseits anschließenden Hüftbeinen (Ossa coxae), die sich vorn in der Schambeinfuge (Symphyse) zu einem Ring vereinigen. Das Hüftbein entsteht durch die Verschmelzung von Darmbein (Os ilium), Sitzbein (Os ischii) und Schambein (Os pubis). Nur beim Kind sind diese Bestandteile des Hüftbeines noch durch Knorpelfugen voneinander abzugrenzen. Das Hüftbein bildet die Gelenkpfanne des Hüftgelenkes (Acetabulum), das den Kopf des Schenkelbeines (Femur) aufnimmt. Von Teilen des Sitzbeines und des Schambeines wird das von einer Membran verschlossene Hüftloch (Foramen obturatum) begrenzt. Am Darmbein finden sich charakteristische Knochenvorsprünge (Abb. 2-63c). Für Körper- und Haltungsmessungen von Bedeutung sind vor allem der Darmbeinkamm (Crista iliaca) und der vordere obere Darmbeinstachel (Crista iliaca anterior superior), die gut tastbar sind. Darunter liegt der vordere unterer Darmbeinstachel (Spina iliaca anterior inferior). Am Sitzbein springt der Hüftbeinstachel (Spina ischiadica) hervor; den tiefsten Knochenpunkt des Beckens bildet der Sitzbeinhöcker (Tuber ischiadicum), der beim Sitzen auf einer harten Unterlage gut zu spüren ist. Das Gelenk zwischen Kreuzbein und Hüftbein (Iliosacralgelenk) ist ein straffes Gelenk (Amphiarthrose), die Schambeinfuge eine Knorpelhaft (Synchondrose). Kräftige Bänder überziehen vor allem das Kreuz-Darmbeingelenk (Abb. 2-63b), aber auch die Symphyse und vergrößern die Übertragungsfläche für die Rumpflast auf die unteren Extremitäten. Die gelenkigen Verbindungen geben dem Bekken eine gewisse Elastizität, so dass Erschütterungen abgefangen werden können. Die Stellung des Beckens ist für die aufrechte Haltung und mögliche HaItungsveränderungen von besonderer Bedeutung. Das Becken steht normalerweise nicht senkrecht oder aufrecht, sondern – bedingt durch die Stellung des Kreuzbeins und seiner Verbindungen mit den Hüftbeinen – leicht nach vorn geneigt. Die Beckenneigung wird ausgedrückt durch den Winkel zwischen der Linea terminalis und der Horizontalen; die Linea terminalis verläuft vom Promontorium zum oberen Rand der Symphyse. Eine Beckenneigung im Stand von 60-70° wird als normal angesehen (Abb. 2-64a). Diese Beckenneigung ist durch die Verbindung mit der Wirbelsäule variabel. Das Becken wird aufgerichtet durch eine Abflachung der Lendenlordose; es wird verstärkt gekippt durch eine Vertiefung der Lendenlordose. Die Beckenstellung wird erheblich verändert beim Sitzen: Das Becken wird aufgerichtet mit einer Beckenneigung von 13 bis 20° bei einer horizontalen Sitzfläche (Abb. 2-64b). Eine weitere Neigung verhindert der Bandapparat der Hüftgelenke (vgl. Benninghoff 1994; Schoberth 1989). Im aufrechten Stand wird das Becken auf den Hüftgelenken in einem labilen Gleichgewicht ausbalanciert. Dabei wird es vorn durch den Bandapparat der Hüftgelenke, insbesondere das Bertin’sche Band (Lig. iliofemorale), das als kräftigstes Band des menschlichen Körpers gilt, und hinten durch die Gesäßmuskula- 215 Os sacrum Os ilium Iliosacralgelenk Acetabulum Os pubis Os ischii Symphyse a) Lig. sacroiliaca Lig. sacrospinale Lig. sacrotuberale b) Crista iliaca Spina iliaca ant. sup. Spina iliaca ant. inf. Spina ischiadica Tuber ischiadicum Foramen obturatum c) Abb. 2-63: Das Becken von vorn (a), von hinten (b) und von der Seite (c) (nach: Appell / Stang-Voss 1996) 216 Linea terminalis Linea terminalis a) b) Abb. 2-64: Beckenneigung (a) im Stehen, (b) im Sitzen (nach: Benninghoff / Goerttler 1968) tur gehalten. Alle Muskeln, die eine Wirkung auf das Hüftgelenk haben, beeinflussen dadurch auch die Beckenstellung. Das Hüftgelenk ist ein Kugelgelenk, das wegen der besonders tiefen Pfanne und der straffen Führung auch als Nussgelenk bezeichnet wird. Der Gelenkkopf wird von der Gelenkpfanne weit umschlossen; die straffe Gelenkkapsel und der besonders kräftige Bandapparat tragen dazu bei, dass das Hüftgelenk eine hohe Festigkeit besitzt. Von jedem Teil des Hüftbeines – Darmbein, Sitzbein, Schambein – zieht ein kräftiges Band zum Schenkelbein (Abb. 2-65). Diese drei wichtigsten Bänder des Hüftgelenkes werden aufgrund ihrer charakteristischen An- Lig. pubofemorale Trochanter major Trochanter minor Lig. iliofemorale Abb. 2-65: Die Bänderschraube des Hüftgelenks (von vorn); das Sitzbein-Schenkelband (Lig. ischiofemorale) ist verdeckt (nach: Appell / Stang-Voss 1996) 217 ordnung als Bänderschraube zusammengefasst. Wird das Hüftgelenk gebeugt, sitzen die Bänder relativ locker und lassen ein großes Bewegungsausmaß zu. Wird das Hüftgelenk gestreckt, geraten die Bänder jedoch unter Spannung: die Bänderschraube zieht sich zu, so dass die Streckung im Hüftgelenk nur begrenzt möglich ist. Bewegungen des Beines im Hüftgelenk sind in allen Ebenen möglich: – – – nach vorn und hinten (Beugung / Anteversion und Streckung / Retroversion), zur Seite (Abduktion und Adduktion), im Sinne einer Rotation (Außen- und Innenrotation). Im Hüftgelenk ist eine Streckung durch die Struktur des Hüftgelenkes und die Funktion der Bänderschraube zwar nur in geringem Maße möglich; diese Bewegung wird aber ergänzt durch eine Verstärkung der Beckenkippung und eine Vertiefung der Lendenlordose. Ebenso wird eine Bewegung zur Seite, das Abspreizen eines Beines, erweitert, indem das Becken mit angehoben bzw. zur gegenüberliegenden Seite geneigt wird; die Wirbelsäule kompensiert diese Bewegung wiederum durch eine Neigung zur anderen Seite, zu der Seite, zu der das Bein abgespreizt wird. So sind Bewegungen des Beckens und der Wirbelsäule und die Bewegungen im Hüftgelenk nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang zu sehen. Muskulatur des Beckengürtels Die Muskulatur, die das Becken im Gleichgewicht hält (Abb. 2-66) bzw. es in der Sagittalebene bewegt, ist einerseits die Bauchmuskulatur sowie die Gesäßmuskulatur und die hintere Oberschenkelmuskulatur, die die Beckenaufrichtung verstärken. Als Antagonisten dazu gelten die Muskeln, die eine verstärkte Beckenkippung bewirken: die Rückenmuskeln im Bereich der Lendenwirbelsäule, sowie die Muskulatur, die das Hüftgelenk beugt. Bei der Bauchmuskulatur ist es im wesentlichen der gerade Bauchmuskel, der mit seinem Ansatz am Schambein dieses nach vorne bzw. oben zieht und damit das Becken aufrichtet. Durch ihre Beteiligung an der Rectusscheide unterstützen aber insbesondere die beiden schrägen Bauchmuskeln den geraden Bauchmuskel in dieser Funktion. Die Gesäßmuskulatur (Abb. 2-67), insbesondere der große Gesäßmuskel, wirkt hier als Synergist der Bauchmuskulatur: Sie unterstützt die Funktion der Bekkenaufrichtung. Drei Muskeln sind zu unterscheiden: – – – der große Gesäßmuskel (M. glutaeus maximus), der mittlere Gesäßmuskel (M. glutaeus medius) und der kleine Gesäßmuskel (M. glutaeus minimus). Der große Gesäßmuskel entspringt an der Grenze zwischen Kreuz- und Darmbein. Seine Fasern verlaufen schräg nach außen unten. Seine Sehne gewinnt eine breite Angriffsfläche am Schenkelbein. 218 b) a) Abb. 2-66: Kippung (a) und Aufrichtung (b) des Beckens im Stand (nach: Benninghoff 1968) a) b) c) Abb. 2-67: Der große (a), mitlere (b) und kleine (c) Gesäßmuskel; alle in der Ansicht von hinten (nach: Appell / Stang-Voss 1996) 219 Bezogen auf das Becken besteht die Funktion des großen Gesäßmuskels darin, dass er bei Verlagerung des Körperschwerpunktes nach vorn bremst und ein Vornüberfallen verhindert; bei gestrecktem Hüftgelenk richtet er das Becken auf. Auf das Hüftgelenk wirkt er hauptsächlich im Sinne einer Streckung, d.h. das Bein wird aus einer Beugung nach unten bzw. hinten in die Streckung geführt. Seine oberen Fasern wirken aber entsprechend ihrer Lage zu den Bewegungsachsen abduzierend, die unteren adduzierend. Außerdem ist der große Gesäßmuskel ein Außenrotator. Der mittlere Gesäßmuskel hat die Form eines Fächers. Er entspringt etwa sichelförmig an der Außenseite des Darmbeins und setzt am großen Rollhügel (Trochanter major) des Schenkelbeins an. Der kleine Gesäßmuskel wird vom mittleren bedeckt; er ähnelt diesem auch in der Form. Bezogen auf das Hüftgelenk besteht die Hauptfunktion beider Muskeln in einer Abduktion des Beines. Auf das Becken wirken beide überwiegend im Sinne einer Seitneigung. Im Einbeinstand bzw. beim Gehen wird das Becken auf der Seite des Standbeines fixiert, damit das Spielbein frei wird. Aufgrund der breiten Ursprungsfläche unterstützen die vorderen Fasern des mittleren und des kleinen Gesäßmuskels (zusammengefasst als „kleine Glutäen“) Beugung und Innenrotation, die hinteren Fasern unterstützen entsprechend ihrer Lage zu den Gelenkachsen Streckung und Außenrotation im Hüftgelenk. Von Bedeutung für die Beckenstellung im Sinne der Aufrichtung ist außerdem die Gruppe der hinteren Oberschenkelmuskulatur, die ischiocrurale Muskulatur, die das Hüftgelenk streckt und damit die Funktion des großen Gesäßmuskels unterstützt. Es sind dies im einzelnen – – – der zweiköpfige Schenkelmuskel (M. biceps femoris), der halbhäutige Muskel (M. semimenbranosus) und der halbsehnige Muskel (M. semitendinosus). Diese Muskeln sind zweigelenkig: Sie überziehen nicht nur das Hüftgelenk, sondern auch das Kniegelenk. Sie wirken auf das Hüftgelenk streckend, auf das Kniegelenk beugend. Alle drei kommen von einem gemeinsamen Ursprung, dem Sitzbeinhöcker. In ihrem Verlauf weichen sie im unteren Drittel des Oberschenkels auseinander und begrenzen beiderseits die Kniekehle. Der zweiköpfige Schenkelmuskel setzt außen am Wadenbeinköpfchen an; die Sehne des halbsehnigen Muskels befestigt sich innen am Schienbeinknorren. Diese Befestigungsstelle, an der auch die Sehnen des Schneidermuskels (M. sartorius) und des Schlanken Muskels (M. gracilis) ansetzen, wird wegen ihrer Form auch Pes anserinus, Gänsefuß, genannt. Die Sehne des halbhäutigen Muskels ist zweigeteilt und gelangt ebenfalls an den oberen inneren Teil des Schienbeins. Die Rückenmuskulatur bewirkt eine Beckenkippung, indem die Lendenlordose bei ihrer Kontraktion vertieft wird. Beteiligt ist hier sowohl der mediale Strang als auch der laterale Strang im Bereich der Lendenwirbelsäule. 220 Zu den Beugern des Hüftgelenks gehören – – – – der der der der Lendendarmbeinmuskel (M. iliopsoas), gerade Schenkelmuskel (M. rectus femris), Spanner der Schenkelbinde (M. tensor fasciae latae), Schneidermuskel (M. sartorius). Der Lendendarmbeinmuskel (Abb. 2-68) gilt als der wichtigste Hüftgelenksbeuger. Er ist zweiköpfig und gliedert sich in den großen Lendenmuskel (M. psoas major) und den Darmbeinmuskel (M. iliacus). Der große Lendenmuskel entspringt von den Wirbelkörpern des 12. Brust- und 1. bis 4. Lendenwirbels sowie von den Querfortsätzen der Lendenwirbel. Der Darmbeinmuskel entspringt breitflächig an der Innenseite der Darmbeinschaufel. Beide vereinigen sich und setzen mit der gemeinsamen Sehne am kleinen Rollhügel (Trochanter minor) des Schenkelbeins an. Der Lendendarmbeinmuskel bewirkt bei fixiertem Oberschenkel eine Beckenkippung durch den Darmbeinmuskel, der direkt am Becken entspringt, aber auch durch den großen Lendenmuskel, der bei seiner Kontraktion die Lendenlordose vertieft. Auf das Hüftgelenk wirkt der Lendendarmbeinmuskel als stärkster Beuger. viereckiger Lendenmuskel Lendendarmbeinmuskel mit Darmbeinmuskel, Lendenmuskel Abb. 2-68: Der Lendendarmbeinmuskel mit Lendenmuskel und Darmbeinmuskel sowie der viereckige Lendenmuskel (nach: Tittel 2000) 221 Neben dem Lendendarmbeinmuskel sind der Spanner der Schenkelbinde, der gerade Schenkelmuskel und der Schneidermuskel Beuger des Hüftgelenks. Sie tragen zur Beckenkippung bei, wenn der Oberschenkel fixiert ist. Die Vielzahl weiterer Muskeln, die am Oberschenkel liegen und eher geringen Einfluss auf die Beckenstellung haben – es sind dies hauptsächlich die Adduktoren und Rotatoren – sollen hier vernachlässigt werden. Eine besondere Stellung in der Gruppe der Muskeln, die das Hüftgelenk beugen, nimmt aber der gerade Schenkelmuskel ein: Er ist Teil des vierköpfigen Schenkelstreckers (M. quadriceps femoris), des kräftigen vorderen Oberschenkelmuskels. Dieser wirkt als Antagonist der hinteren Oberschenkelmuskulatur, der ischiocruralen Muskulatur. Wie diese ist er zweigelenkig, indem er mit einem der vier Köpfe – dem geraden Schenkelmuskel –, der vom vorderen unteren Darmbeinstachel entspringt, das Hüftgelenk überzieht; er übernimmt hier die Funktion der Beugung und unterstützt damit den Lendendarmbeinmuskel. Die anderen drei Köpfe entspringen direkt am Schenkelbein. Alle vier Köpfe vereinigen sich und ziehen über das Kniegelenk, um mit der Sehne, in die die Kniescheibe eingelagert ist, vorn am Schienbein anzusetzen. Der vierköpfige Schenkelstrekker ist der wichtigste Strecker des Kniegelenkes. Tabelle 2-8 zeigt im Überblick die wichtigsten Muskeln, die für die Aufrichtung und Kippung des Beckens und damit für das Ausbalancieren des Beckens in der aufrechten Haltung von Bedeutung sind. Tab. 2-8: Wirkung ausgewählter Muskelgruppen des Rumpfes und des Hüftgelenkes auf die Bewegung des Beckens in Sagittalebene 222 Der Schultergürtel Der Schultergürtel (Abb. 2-69 a/b) unterscheidet sich ganz erheblich von dem Beckengürtel, der einen geschlossenen knöchernen, in sich kaum beweglichen Ring darstellt. Der Schultergürtel, bestehend aus den Schlüsselbeinen (Claviculae) und den Schulterblättern (Scapulae), bildet dagegen einen unvollständigen Ring, der vorn durch das Brustbein, hinten durch Muskulatur geschlossen wird. Das Schlüsselbein ist gelenkig mit dem Brustbein (inneres Schlüsselbeingelenk) und mit dem Schulterblatt (äußeres Schlüsselbeingelenk) verbunden. Beide Gelenke sind stark durch Bänder gesichert. Clavicula 1. Rippe Scapula Sternum Abb. 2-69a: Der Schultergürtel; diePfeile kennzeichnen das innere und äußere Schlüsselbeingelenk (nach: Appell / Stang-Voss 1996) Acromion Processus coracoideus Acromion Cavitas glenoidalis Processus coracoideus Fossa supraspinata Fossa infraspinata Acromion Spina scapulae Abb. 2-69b: Das Schultergelenk in der Ansicht von vorn (a), von der Seite (b) und von hinten (c) (nach: Appell / Stang-Voss 1996) 223 Das Schulterblatt kann als dreieckige knöcherne Platte beschrieben werden, die an Vorder- und Rückseite von Muskeln überzogen dem Brustkorb anliegt. An der Rückseite fällt als kräftige knöcherne Leiste die Schulterblattgräte (Spina scapulae) auf, die schräg nach außen ansteigend in der Schulterhöhe (Acromion) ausläuft. Diese Leiste teilt die dorsale Fläche des Schulterblatts in zwei „Gruben“, die kleinere, oben liegende Fossa supraspinata und die größere Fossa infraspinata. Der Schulterhöhe benachbart liegt ein weiterer markanter Knochenvorsprung, der nach ventral gebogene Rabenschnabelfortsatz (Processus coracoideus). Das Schultergelenk wird vom Schulterblatt (Scapula) und dem Oberarmbein (Humerus) gebildet. Die Gelenkpfanne (cavitas glenoidalis) am Schulterblatt ist – verglichen mit der des Hüftgelenks – sehr klein; sie bedeckt nur etwa ein Drittel des Gelenkkopfes am Oberarm. Die Gelenkkapsel ist schlaff; sie wird durch die langen Sehnen des zweiköpfigen und dreiköpfigen Armmuskels (Caput longum des M. biceps brachii und des M. triceps brachii) vergrößert. Bänder zur Sicherung der Kapsel sind kaum vorhanden. Nach oben bietet als „Dach“ ein kräftiges Band, das Ligamentum coracoacromiale, Schutz gegenüber Verletzungen. Dieses Band verläuft zwischen den beiden auffälligen Knochenvorsprüngen des Schulterblattes, dem Rabenschnabelfortsatz und der Schulterhöhe. Das Schultergelenk besitzt also nur in geringem Maße Knochen- und Bandführung, ist aber durch Muskulatur gesichert. Es ist das beweglichste Gelenk des Körpers, ein Kugelgelenk. Bewegungen sind in allen Ebenen möglich: – – – Vor- und Rückschwingen des Armes (Ante- und Retroversion), Heben und Senken des Armes (Ab- und Adduktion) und Drehen des Armes um seine Längsachse (Außen- und Innenrotation). Der Bewegungsumfang des Armes wird wesentlich erweitert durch die Mitbewegung des Schultergürtels. Der Schultergürtel wirkt wie eine verschiebbare Plattform. Seine Bewegung setzt schon ein, bevor das Schultergelenk die Grenze seiner Bewegungsmöglichkeit erreicht hat; das Schultergelenk stellt sich jeweils in die Ebene ein, in der der Arm bewegt wird. Deutlich ist eine Begrenzung des Armhebens über die Horizontale hinaus, da diese Bewegung sowohl durch Muskulatur, die den Arm heranzieht, als auch durch ein Anstoßen des Armes an das „Dach“ des Schultergelenkes verhindert wird. Ein Heben des Armes bis zur Senkrechten ist dennoch möglich, da das Schultergelenk zusammen mit der Gelenkpfanne aufwärts gedreht wird. Diese Bewegung des Schulterblattes macht wiederum eine Mitbewegung des Schlüsselbeines notwendig, so dass die Zusammenarbeit von Schultergelenk, innerem und äußerem Schlüsselbeingelenk deutlich wird. Darüber hinaus ist auch die Wirbelsäule an Bewegungen des Schultergürtels und des Armes beteiligt, da sie durch Streckung und Seitneigung ergänzend wirken kann. Muskulatur des Schultergürtels Die große Zahl der Muskeln, die auf den Schultergürtel wirken, soll hier gegliedert werden in die Muskulatur der Rumpfvorderseite und die der Rückseite des Rumpfes. 224 Auf der Rückseite des Rumpfes liegen – der Kapuzenmuskel (M. trapezius), – der Rautenmuskel (M. rhomboideus), – der Schulterblattheber (M. levator scapulae) und – der breite Rückenmuskel (M. latissimus dorsi). Auf der Vorderseite des Rumpfes befinden sich – der große Brustmuskel (M. pectoralis major), – der kleine Brustmuskel (M. pectoralis minor), – der Unterschlüsselbeinmuskel (M. subclavius) und – der vordere Sägemuskel (M. serratus anterior). Unter den genannten Muskeln nehmen der breite Rückenmuskel und der große Brustmuskel eine Sonderstellung ein, da sie den Rumpf mit dem Arm verbinden; die anderen genannten Muskeln sind zwischen Rumpf und Schultergürtel ausgespannt. Die übrigen Muskeln der Schulter und des Armes, die weniger Einfluss auf den Schultergürtel haben, werden hier nicht beschrieben. Der Kapuzenmuskel (Abb. 2-70), auch Kappen- oder Trapezmuskel genannt, liegt oberflächlich im Bereich von Nacken und Rücken. Rechter und linker Muskel zusammen zeigen die Form eines Trapezes oder einer Mönchskappe. Die Ursprungsfläche des Muskels zieht vom Hinterhaupt über das Nackenband und die Dornfortsätze sämtlicher Brustwirbel und setzt am Schulterblatt an der Schulterblattgräte und Schulterhöhe an. Die breitbasige Ursprungsfläche bedingt absteigende, querverlaufende und aufsteigende Faserzüge, die auf den Schultergürtel unterschiedlich wirken: – – – Der absteigende Teil hebt die Schulter und zieht sie etwas zurück oder verhindert, dass eine Last, die auf der Schulter oder von dem Arm getragen wird, die Schulter herunterzieht. Der querverlaufende Teil zieht die Schulter zurück und nähert das Schulterblatt der Dornfortsatzreihe. Der aufsteigende Teil senkt die Schulter oder hebt den Rumpf gegen die fixierte Schulter. Der Rautenmuskel (Abb. 2-70) wird teilweise als ein Muskel beschrieben, teils werden großer und kleiner Rautenmuskel unterschieden. Er entspringt von den Dornfortsätzen der unteren beiden Hals- und der oberen vier Brustwirbel und setzt am inneren Schulterblattrand an. Er hebt das Schulterblatt nach oben innen und nähert seine Spitze der Dornfortsatzreihe. Damit unterstützt er die Funktion des absteigenden Teils des Kapuzenmuskels. Der Schulterblattheber (Abb. 2-70) entspringt an den Querfortsätzen des 1. bis 4. Halswirbels und setzt am oberen Schulterblattwinkel an. Entsprechend seinem Verlauf hebt er das Schulterblatt nach vorn oben; er unterstützt ebenfalls die Funktion des absteigenden Teils des Kapuzenmuskels. Bei fixiertem Schulterblatt zieht er die Halswirbelsäule nach hinten. 225 1 II I 2 III 3 Abb. 2-70: Die hintere Muskulatur des Schultergürtels (nach: Tittel 2000) I: Kapuzenmuskel mit absteigendem (1), quer verlaufendem (2) und aufsteigendem (3) Teil; II: Schulterblattheber; III: Rautenmuskel Der breite Rückenmuskel (Abb. 2-71) verläuft mit einer langen Ursprungsfläche von den sechs unteren Brustwirbeln und den unteren Rippen, von allen Lendenwirbeln, vom Kreuzbein und dem Darmbein zur Kleinhöckerleiste des Oberarmknochens. Bei herabhängendem Arm befindet sich der Muskel in einem verkürzten Zustand, da er seine Ansatzstelle erst mit einer schraubigen Drehung erreicht. Seine Leistung ist am größten, wenn sie aus einer Dehnstellung bei seitlich oder nach vorn gehobenem Arm beginnt wie bei einer Ausholbewegung zum Wurf oder Schlag. Er zieht den erhobenen Arm nach unten hinten. Bei fixiertem Arm hält er den Rumpf (z.B. beim Stütz am Barren). 226 1 1a Abb. 2-71: Der breite Rückenmuskel (1) mit der Lenden-Rückenbinde (1a, Fascia thoracolumbalis) (nach: Tittel 2000) Dem breiten Rückenmuskel wird auch eine Wirkung auf die Atmung zugeschrieben, da er die Wirbelsäule streckt und damit die Einatmung unterstützen kann. Andererseits ist er ein wichtiger Hilfsmuskel für die Ausatmung aufgrund seines Ursprungs am Rippenbogen. Er wird auch als „Hustenmuskel“ bezeichnet, da er besonders bei angestrengter Ausatmung eingesetzt wird. Zusammen mit dem großen Rundmuskel (M. teres major) bildet der breite Rückenmuskel die hintere Achselfalte. Der große Brustmuskel (Abb. 2-72) liegt als fächerförmige Platte an der vorderen Brustwand. Er entspringt am mittleren Drittel des Schlüsselbeins, mit seinem Hauptteil an der Außenfläche des Brustbeins und den Knorpeln der 2. bis 7. Rippe sowie am vorderen Teil der Rectusscheide. Seinen Ansatz nimmt er an der Großhöckerleiste des Oberarmknochens. Bei herabhängendem Arm kreuzen sich seine Fasern, so dass der Teil, der am Schlüsselbein entspringt, am weitesten unten, der Teil, der von der Rectusscheide kommt, am weitesten oben am Arm ansetzt. Bei erhobenem Arm öffnet sich die Faserkreuzung; die Fächerform verschwindet zugunsten einer viereckigen Fläche. Durch diesen charakteristischen Verlauf bildet der große Brustmuskel die vordere Achselfalte. 227 Abb. 2-72: Der große Brustmuskel; rechts Überkreuzung der Faserzüge bei herabhängendem Arm; links Aufhebung dieser Überkreuzung bei erhobenem Arm (nach: Tittel 2000) Ähnlich wie der breite Rückenmuskel entwickelt er die größte Kraft nicht aus seiner normalen Position, sondern erst wenn der Arm gehoben wird. Aus dieser Stellung bringt er den Arm nach vorn innen (Beispiel Brustschwimmen). Den seitlich gehobenen Arm zieht er an den Körper heran. Werden beide Arme fixiert, wird der Körper durch die beiden großen Brustmuskeln hochgezogen (Tragen von Lasten, Klettern, Klimmzug). Der breite Rückenmuskel und der aufsteigende Teil des Kapuzenmuskels wirken im gleichen Sinn wie der große Brustmuskel. Bei fixiertem, aufgestütztem Arm wirkt der große Brustmuskel als Atemhilfsmuskel für die Einatmung. Der kleine Brustmuskel (Abb. 2-73) verläuft von der 3. bis 5. Rippe seitlich von dem Ursprungsgebiet des großen Brustmuskels, von dem er ganz bedeckt wird, schräg nach oben zum Rabenschnabelfortsatz. Er zieht die Schulter nach vorn abwärts bzw. hebt den Brustkorb. Wie der große Brustmuskel wirkt er als Atemhilfsmuskel bei der Einatmung. Beide werden bei der Wiederbelebung als Rippenheber eingesetzt. Der Unterschlüsselbeinmuskel (Abb. 2-73) entspringt von der oberen Fläche der 1. Rippe in unmittelbarer Nähe des Rippenknorpels und verläuft unter dem Schlüsselbein, um am unteren Rand des äußeren Schlüsselbeindrittels anzusetzen. Mit diesem Verlauf unterpolstert er das Schlüsselbein und schützt das innere Schlüsselbeingelenk, indem er das Schlüsselbein an die erste Rippe fixiert und 228