Folgt die Funktion aus der Form? Zu einer Methodik der

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BUFM 55, Trebsche, Folgt die Funktion aus der Form?, 5–19
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Peter Trebsche
Folgt die Funktion aus der Form?
Zu einer Methodik der Interpretation archäologischer Baubefunde
Schlagwörter: Methodik / Siedlungsarchäologie / Architektur /
Haustypen / Rekonstruktion
Einleitung1
„Whether it be the sweeping eagle in his flight or the open
apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the
branching oak, the winding stream at its base, the drifting
clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law.“
(L. H. Sullivan, The Tall Office Building Artistically Considered, 1896, zitiert nach Frei 1992, 32 f.)
Zwischen Adler, Apfelblüte und Arbeitspferd fügte Louis
Henry Sullivan (1856–1924) seine berühmt gewordenen
Worte, die heutzutage unter Architekten und Designern
kurz und knapp unter dem Akronym „FFF“ („Form follows
function“) zitiert werden. Das Prinzip bringt einen Kerngedanken der architektonischen Moderne auf den Punkt,
zu deren Wegbereitern Sullivan als einer der ersten Hochhausarchitekten in den USA zählt2. Die Form eines Bauwerkes solle sich aus den funktionellen Bedingungen ableiten3. So richtete sich die pointierte Maxime der sich
formierenden Modernen Architektur in erster Linie gegen
den Baustil des Historismus, der die Vorbilder in der
Tradition der Vergangenheit suchte.
Kann das Prinzip „Form follows function“ als allgemein
gültiges Gesetz gelten, nach dem die Architektur funktioniert? Und falls ja, kann es auf urgeschichtliche Ge-
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Post-Doc Fellowships für
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, gefördert vom Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung.
2 Zur Biographie vgl. Sullivan 1956 [1924]; Bush-Brown 1960; Twombly
1987; Frei 1992.
3 Zur Interpretation des Diktums vgl. Sullivan 1956 [1924] 257 f.; BushBrown 1960, 19 f.; Frei 1992, 32–34; Lambert 1993, 5 ff.
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bäude übertragen werden und archäologische Interpretationen verbessern? Wer auf ein einfaches Patentrezept gehofft hat, wird bei genauerer Betrachtung enttäuscht. Würde allein die Funktion die Form bestimmen,
müssten die architektonischen Bauwerke dieser Welt –
zumindest unter identischen Rahmenbedingungen – überall gleich aussehen. Ein solcher Determinismus ist offensichtlich nicht gegeben, es genügt ein oberflächlicher Blick
auf die existierenden Unterschiede, nicht nur im Bau von
Kirchen und Palästen, sondern beispielsweise auch von
Fahrradschuppen und Wartehäuschen bei Bushaltestellen.
Die Form folgt also nicht allein der Funktion, denn das
Sullivan’sche „Gesetz“ lässt sich ganz einfach empirisch
widerlegen. Umso eindringlicher stellt sich die Frage,
welche Faktoren denn sonst die Form architektonischer
Bauwerke beeinflussen4.
Hier liefert gerade die Moderne einige Hinweise:
Erstens beflügelte die Erfindung neuer Konstruktionstechniken und Baustoffe seit dem 19. Jahrhundert wie nie
zuvor die Entwicklung der Bauformen, man denke nur an
die Entwicklung des Stahlskelettbaues (Eiffelturm; Kultermann 2003, 13 f.) oder die (Wieder-)Erfindung von Gussbeton (Kultermann 2003, 9 f.) (Abb. 1). Zweifellos stellt die
Verfügbarkeit von Baumaterial und Technologie auch in
vormodernen Zeiten einen wichtigen Faktor beim Bauen
dar. Aber diese Faktoren dürfen – ebenso wenig wie Klima
und Topografie – nicht als determinierend angesehen
werden, wie aus kulturvergleichenden Studien hervorgeht
(Rapoport 1969). Sie wirken nur limitierend, indem sie die
realisierbaren Möglichkeiten einschränken.
Zweitens zeigt die Moderne wie keine frühere Epoche,
mit welcher Bedeutung Architektur aufgeladen werden
kann und wie sie als Symbol wirkt: Die Metaphern des
Fortschrittes werden explizit in der Architektur verkörpert –
vom reinen Funktionsprinzip ist keine Rede mehr: das
Haus als Dampfer (Abb. 2), die Villa als Flugzeug, die
Wohnung als Wohnmaschine (Le Corbusier). Die Symbolik
Zum Folgenden vgl. auch Lambert 1993. Überblicke zur Geschichte
der Modernen Architektur: Curtis 2002; Kultermann 2003.
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Abb. 2: Form und Symbol: Entwürfe von Le Corbusier:
vom Dampfer zum abgehobenen Haus auf Stelzen
Abb. 1: Form und Material: 28 m hoher tetraedrischer
Turm in Leichtbauweise aus schmiedeeisernen Röhren,
die insgesamt weniger als fünf Tonnen wiegen. Entworfen
von Alexander Graham Bell in Zusammenarbeit mit
F. W. Baldwin, fertiggestellt 1907.
äußert sich nicht mehr im Ornament, dafür wird in der
Moderne das Bauwerk selbst mehr denn je zum Symbol.
Und drittens begriff die architektonische Moderne die
soziale Wirkkraft der Architektur und versuchte, selbst auf
die sozialen Verhältnisse einzuwirken. Die Wohnungsfrage
spielte eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung neuer
Bautechniken (Gussbeton) oder beim Entwurf von Wohnsiedlungen (Werkbundausstellung im Weißenhof in Stuttgart 1927). Auch die Stadtplanung zielte auf Veränderung
sozialer Verhältnisse und die Erziehung eines neuen Menschen ab (z. B. Plan der Cité industrielle von Tony Garnier;
Abb. 3). Dass zwischen der Architektur und den sozialen
Verhältnissen keine einseitige Beziehung besteht, sondern
Wechselwirkungen im Sinne einer gegenseitigen Beeinflussung herrschen, gilt seit P. Bourdieu als Allgemeingut
(Bourdieu 1976; vgl. Schäfers 2003).
Ausgerechnet an der Moderne lässt sich also hervorragend zeigen, dass nicht die Funktion allein, sondern
auch Klima, Topografie, verfügbares Material und Techniken, die Symbolik und soziale Verhältnisse stets die
Form der Architektur beeinflussen (vgl. Sanders 1990, 44).
Zweifellos sind aber graduelle Unterschiede zu kons-
tatieren, was die Kombination und den Einfluss der genannten Faktoren auf die Architektur betrifft. Die Eigenheiten so genannter „elementarer Architektur“ charakterisiert E. Lehner folgendermaßen: „in elementaren Bauformen begegnen […] die Wechselbeziehungen zwischen
Form – Funktion – Konstruktion – Symbolik […] in unmittelbarer Direktheit“ (Lehner 2003, 173).
Damit ist die Brücke von der Moderne zurück zur urgeschichtlichen Architektur geschlagen, die zweifelsohne
zu den „elementaren“ oder „traditionellen“ Architekturen
(englisch „vernacular architecture“; Oliver 1997, xxii f.)
zählt. Die speziellen Eigenheiten urgeschichtlicher Architektur – ihre Vergänglichkeit und daher eingeschränkte
Erhaltung bzw. Überlieferung – bringen es mit sich, dass
weder Form noch Funktion direkt beobachtet und dokumentiert werden können. Daher sollen die Fragestellungen dieses Beitrages folgendermaßen präzisiert
werden: Wie hängen Form und Funktion in urgeschichtlichen Bauwerken zusammen? Und mit welchen Methoden
der Prähistorischen Archäologie können Form und Funktion von Bauwerken untersucht werden? Daraus ergibt sich
die Gliederung in drei Abschnitte: 1. Form, 2. Funktion, 3.
Von der Form zur Funktion. Die folgenden Überlegungen
werden vor allem anhand von Beispielen aus dem Bereich
der eisenzeitlichen Hallstatt- und Latènekultur in Mitteleuropa erläutert.
Form
Wie bereits erwähnt, ist die Form urgeschichtlicher Architektur nur lückenhaft bekannt, was an der Vergänglichkeit
der Baumaterialien (vor allem Holz, Lehm, Trockenmauerwerk) und an unterschiedlichen zerstörerischen Einflüssen
(Erosion, spätere Bautätigkeit etc.) liegt (Schiffer 1996).
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Abb. 3: Form und Sozialstruktur: Tony Garniers Entwurf für die nach sozialistischen Grundsätzen geplante Cité industrielle
(1901–1904).
Abb. 4: Bildquellen: Felsbild mit Darstellungen eisenzeitlicher Gebäude aus Sibirien.
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Abb. 5: Holzerhaltung: Eisenzeitliche Pfahlbauten von Donja Dolina am Ufer der Save.
Schriftquellen stehen per Definition für die urgeschichtliche
Zeit nicht zur Verfügung, aber auch für die frühgeschichtlichen Epochen geben die Schriftzeugnisse nur sporadisch
Auskunft, was die Architektur betrifft (vgl. zur Eisenzeit
Beitrag J. Fries-Knoblach in diesem Band; zum Frühmittelalter Claude 1997 und Schmidt-Wiegand 1997). Für
manche Zeiten und Gebiete geben Bilder oder Plastiken
eine Vorstellung vom Aussehen der Gebäude, beispielsweise die in Form von Häusern modellierten Urnen aus
Italien und Nordeuropa (Müller 1999), Felsbilder in den
italienischen Alpen oder aus Sibirien (Abb. 4) sowie vereinzelte Ritzzeichnungen auf Keramik (Bill 1984). Solche
Darstellungen liefern wertvolle Hinweise auf die Wandgestaltung, die Tür- und Fensteröffnungen, die Dachkonstruktion, die Farbigkeit und ornamentale Gestaltung von
Gebäuden. Aus den meisten urgeschichtlichen Kulturen
sind uns jedoch keine Darstellungen von Architektur überliefert – so auch für die Hallstatt-5 und Latènekultur – weshalb allein Befunde aus archäologischen Ausgrabungen
die Quellenbasis für weiterführende Untersuchungen
bilden.
Mit Ausnahme von Ritzzeichnungen auf Grabgefäßen der Hallstattkultur von Schirndorf; vgl. Beitrag J. Fries-Knoblach in diesem Band.
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Es ist unmittelbar einleuchtend, dass besser erhaltene
Ausgrabungsbefunde auch mehr Informationen über die
Konstruktion und Nutzung von Gebäuden beinhalten. Deshalb sei eine Gliederung des Erhaltungszustandes vorgeschlagen, um eine Bewertung und Vergleiche zu erleichtern bzw. zu systematisieren (vgl. Laurelut u. a. 1999,
145; Rindel 2001, 78 Abb. 8). In absteigender Reihenfolge
können folgende Stufen der Erhaltung unterschieden
werden:
(1) Aufgehende Konstruktionsteile von Gebäuden
sind erhalten. Beispiele: Trockenmauern rätischer
Häuser (Migliavacca 1993; Niederwanger 2007),
Wände eingetiefter Bauten (Grubenhäuser), Holzhäuser im Feuchtboden (z. B. Donja Dolina an der
Save [Abb. 5]: Truhelka 1904; Gavranović 2007;
Dammwiese von Hallstatt: Trebsche 2003, 4 ff.;
Kern u. a. 2008, 162 ff.; Dürrnberg-Ramsautal:
Stöllner 1991; Lobisser 2005; Biskupin: zuletzt
Grossman 2006), Sonderfälle: umgestürzte
Wände (z. B. Beitrag J. Fries-Knoblach in diesem
Band), verstürzte Teile des Dachstuhles.
(2) Das Fußbodenniveau von Gebäuden ist erhalten.
Hinweise darauf geben Estriche, Pflasterungen,
Feuer- oder Herdstellen, Scherbenpflaster, Kulturschichten etc.
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(3) Die eingetieften Fundamente von Gebäuden
(Pfostengruben, Schwellengräbchen etc.) sind erhalten und lassen Gebäudegrundrisse erkennen.
(4) Nur mehr Reste der eingetieften Fundamente sind
erhalten. Die seichteren Schwellengräbchen,
Stangenlöcher und Pfostengruben sind bereits
zerstört, wodurch eine Lektüre des Plans schwierig oder unmöglich wird.
Während Denkmäler der Stufen 1–3 im 19. und in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch häufiger entdeckt
und flächig untersucht wurden, stellen heutzutage Sied-
Abb. 6: Erhaltungszustand und Lesbarkeit von Befunden:
Auswirkung der Erosion auf ein eisenzeitliches Langhaus
von Grøntoft.
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lungen der Erhaltungsstufe 4 den Regelfall bei archäologischen Rettungsgrabungen dar.
Der Übergang zwischen Stufe 3 und 4 ist naturgemäß
fließend. Als Indikator kann die durchschnittliche erhaltene
Pfostentiefe einer Fundstelle dienen. Die Lektüre des
Plans hängt außer vom Erhaltungszustand (Abb. 6) auch
von anderen Faktoren ab: von der Erfahrung des Archäologen, von der Dichte (Überlagerung) der Befunde, von der
Kenntnis der Gebäudetypen (vgl. Buchsenschutz 2002). Im
Allgemeinen gilt jedoch, dass sich die Gebäudegrundrisse
meist eindeutig erkennen lassen, wenn die Fundamente
gut erhalten und gut dokumentiert sind.
Unabhängig von der „horizontalen“ Einteilung nach Erhaltungsniveaus kann als Kriterium die Erhaltung von Bauhölzern (und anderen organischen Materialien, z. B. unter
Wasser, im Feuchtmilieu, im Salz) herangezogen werden.
Für alle vier Erhaltungsstufen lassen sich Beispiele mit
Holzerhaltung anführen. Die Erhaltung von Holz ermöglicht
darüber hinaus eine Datierung durch die Dendrochronologie oder mit der C14-Methode.
Eine weitere Zusatzqualifikation bieten „PompejiKontexte“ (zum Begriff vgl. Sommer 1991, 62; Kadrow
1998; Blum/Aslan 2005, 316 f.; zu „burnt houses“ vgl. Rasmussen 2007). Darunter werden plötzlich zerstörte und
„versiegelte“ Baubefunde verstanden, die sich durch glückliche Umstände erhalten haben, zum Beispiel durch Überdeckung mit Brandschutt, mit Lava, mit Muren, mit
Kolluvien, mit Grabhügeln etc. Es versteht sich von selbst,
dass urgeschichtliche „Pompeji-Kontexte“ selten sind und
praktisch nur in den Erhaltungsstufen 1 und 2 erkannt
werden können. Einige höchst aufschlussreiche Beispiele
eisenzeitlicher Brandruinen seien angeführt: ein rätisches
Haus von Riffian in Südtirol (Niederwanger 2007), der
abgebrannte latènezeitliche Getreidespeicher von Roseldorf in Niederösterreich (siehe Beitrag V. Holzer in diesem
Band) oder das Wohnstallhaus von Nørre Tranders in
Nordjütland, in dem die Bewohner und das Vieh bei einem
Brand umkamen (Abb. 7) (Nielsen 2002, 256 Taf. 19;
Nielsen 2007).
Außer nach dem Erhaltungszustand können urgeschichtliche Gebäudebefunde nach folgenden Kriterien
klassifiziert werden:
 nach dem Baumaterial (Holzbauten, Lehmbauten,
Steinbauten, Holz-Lehm-Bauten, Holz-Stein-Bauten, Holz-Stein-Lehm-Bauten; vgl. Lehner 2003),
 nach Grundriss und Größe (quadratisch, rechteckig, rund, Langhäuser, Klein- und Großbauten;
z. B. Parzinger 1998),
 nach dem Konstruktionsprinzip der tragenden
Teile (Gerüstbau/Massivbau, z. B. Pfostenbauten,
Ständerbauten, Schwellenbauten, Blockbauten,
eingetiefte Bauten; vgl. Zimmermann 1998; FriesKnoblach 2007),
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
nach der Anzahl der Schiffe bzw. Joche (einschiffig, zweischiffig etc., Vier-, Neun-, Zwölf-,
Fünfzehnpfostenbauten; z. B. Vogt 1999; Schefzik
2001).
Erhaltungsbedingt handelt es sich ausschließlich um
konstruktive Merkmale, die Eingang in die gängigen
Typengliederungen der Urgeschichte finden. Hierin unterscheiden sich die urgeschichtlichen Klassifikationen wesentlich von den in der Architekturgeschichte üblichen
Bautypen (Abb. 8), die von Beginn der Architekturtheorie
an auch funktionale und soziale Kategorien beinhalten
(Schütte 1984; Seidl 2006, 13 ff.).
Funktion
Die Funktionen urgeschichtlicher Gebäude sind nicht a
priori bekannt. Generell kann zwischen folgenden Funktionsgruppen unterschieden werden:
 Erfüllung von Grundbedürfnissen (Schutz vor
Witterung und vor Feinden, Speichern und Zubereiten von Nahrung),
 wirtschaftliche Funktionen (z. B. Werkstatt, Brennofen, Stall),
Abb. 7: Pompeji-Kontext: Schematischer Plan des durch
Brand zerstörten eisenzeitlichen Wohnstallhauses von
Nørre Tranders in Nordjütland.



soziale Funktionen (z. B. Versammlungsraum,
Männerhütte, Frauenhaus, Altenteil),
kultische Funktionen (z. B. Tempel, Opferplatz),
symbolische Funktionen (z. B. Prestigebauten,
Grabmonumente).
Auf einige Probleme, die sich hinsichtlich der funktionalen Interpretation archäologischer Baubefunde abzeichnen, sei bereits hingewiesen:
 Oftmals lassen sich Funktionsbereiche nicht eindeutig trennen, und Gebäude können mehrere
Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig erfüllen. Nach Sanders (1990, 45) kommt
den primären Funktionen eine denotative (praktische) Bedeutung zu, während sekundären Funktionen eine konnotative (ideelle) Bedeutung (Symbolik, Status) zugeschrieben wird.
 Für die Nutzung vieler Gebäude ist ein Wandel im
tatsächlichen Gebrauch zu beobachten, ja sogar
typisch, weshalb auch bei Häusern von „Lebenszyklen“ gesprochen wird (Gerritsen 1999a; Gerritsen 1999b). In diesem Sinne kann man von
primärer, sekundärer und tertiärer Funktion bzw.
Nutzung sprechen, wobei die geplante Nutzung,
weitere Folgenutzungen und die Weiternutzung
nach Auflassung von Gebäuden (zum Beispiel als
Abstellkammer oder Stall) gemeint sind (vgl.
Blum/Aslan 2005; Schiffer 1996; Sommer 1991).
 Die Anzahl denkbarer Funktionen geht fast ins Unendliche, wie ein Blick in das „Lexikon der Bautypen“ (Seidl 2006) zeigt, welches rund 350 Einträge von Abort bis Zwinger verzeichnet. Im Laufe
der Geschichte sind zahlreiche neue Bedürfnisse
und daraus Funktionen und Bauaufgaben entstanden (z. B. Viehstall, Bahnhof, Garage, Fabrik,
Tankstelle). Viele dieser Differenzierungen gehen
mit dem Zivilisationsprozess nach N. Elias einher
(z. B. Entstehung des Klosetts, Abtrennung von
Schlafräumen, Trennung von Wohnung und Werkstatt etc.; vgl. Weresch 1993, 27 ff.). Andererseits
sterben manche Funktionen auch aus, bzw. werden durch andere ersetzt, wofür hauptsächlich die
technische Entwicklung verantwortlich ist (z. B.
Dreschboden  Mähdrescher, Eiskeller  Kühlschrank, Telefonzelle  Mobiltelefon).
Als eine wesentliche Konsequenz dieser Ausführungen
ergibt sich, dass uns heutigen Forschern die Bedürfnisse
urgeschichtlicher Menschen und damit die möglichen
Funktionen ihrer Gebäude nicht von vorneherein bekannt
sein können. Eine Rückprojektion ist nicht ohne Weiteres
möglich, vielmehr sollten die urgeschichtlichen Bedürfnisse
zunächst anhand unabhängiger Daten erschlossen
werden.
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Von der Form zur Funktion
Die meisten Veröffentlichungen urgeschichtlicher Siedlungsgrabungen enden mit einem ausführlichen Katalog,
mit Detailplänen der Baubefunde und mit der Bildung einer
Gebäudetypologie. Von einer weitergehenden Deutung
hinsichtlich der Gebäudefunktionen, ihrer sozialen und
symbolischen Aspekte wird zumeist Abstand genommen
(vgl. Trebsche im Druck). Der Grund könnte darin liegen,
dass bislang entsprechende Methoden zur Analyse
fehlten. Daher sei im Folgenden versucht, einen Überblick
über (meist implizit angewandte) Ansätze in der Literatur
zu geben und diese zu bewerten. Fünf Gruppen können
unterschieden werden: 1. Ad-hoc-Interpretationen, 2.
Gleichsetzung von Gebäudetypen mit Funktionen, 3. Analogieschlüsse, 4. Indizienbeweise, 5. Kontextuelle Analysen. Für jeden Ansatz sollen die Vorgangsweise, einige
Beispiele sowie Vor- und Nachteile der jeweiligen Methode
besprochen werden.
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gebäude, Ställe, Speicher bzw. Scheunen, Webhäuser;
Parzinger 1998, 83).
(+) Ein Vorteil dieser Methode liegt im hohen Erklärungspotenzial, da – abhängig von der gebildeten Typologie –
allen Gebäuden einer Siedlung eine unterschiedliche
Funktion zugewiesen werden kann.
(+) Es können auch schlecht erhaltene Baubefunde (der
Erhaltungsklassen 3 und 4) berücksichtigt werden.
(+) Tatsächlich spricht die Standardisierung mancher
komplexer Grundrisstypen für die wiederkehrende Lösung
gleicher Bauaufgaben (z. B. latènezeitliche Wandgräbchenbauten mit Vierpfostenstellung; vgl. zuletzt Möslein 2003).
1. Ad-hoc-Interpretationen
Darunter sind implizite funktionale Interpretationen zu
verstehen, die sich auf einen konkreten Befund beziehen
und häufig ohne nähere Begründung geäußert werden.
Oftmals sind Ad-hoc-Interpretationen in Vor- oder Kurzberichten über Ausgrabungen zu finden und oftmals
bleiben sie eher unpräzise (z. B. „Nebengebäude“, „Wohngebäude“). Als Beispiele sei der vor Kurzem aufgedeckte
„Palast“ auf dem Mont Lassois (Chaume u. a. 2008, 58)
angeführt. Häufig sind auch Darstellungen in Rekonstruktionszeichnungen oder in Lebensbildern auf Ad-hocInterpretationen zurückzuführen.
(+) Ad-hoc-Interpretationen können zur Bildung neuer
Hypothesen beitragen.
(+) Bei singulären Befunden bleibt keine andere Wahl,
dennoch sollten zumindest Indizien und der räumliche
Kontext (siehe unten) in Betracht gezogen werden.
(–) Ad-hoc-Interpretationen erheben nur Anspruch auf die
Erklärung eines einzigen Befundes und sind daher nicht
anhand anderer Befunde überprüfbar.
(–) Sie schöpfen die Möglichkeiten anderer Methoden nicht
aus (siehe unten).
2. Gleichsetzung von Gebäudetypologien mit
Funktionen
Häufig werden im Anschluss an die Klassifikation der
Grabungsbefunde oder an die Bildung einer Gebäudetypologie die gewonnenen Gruppen mit funktionalen Kategorien gleichgesetzt. Als Beispiel sei die Typologie hallstattzeitlicher Pfostenbauten vom Goldberg im Nördlinger
Ries von H. Parzinger genannt, der die Gebäude zunächst
nach Größe, Anzahl der Schiffe und Grundriss gliederte
und anschließend jedem Typ eine Funktion zuwies (Wohn-
Abb. 8: Klassifizierung von Bautypen in der Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts: Leonhard Christoph Sturm,
Kurtze Vorstellung der gantzen Civil-Bau-Kunst (Augsburg
1718), Tab. VIII. Öffentliche Gebäude: A Katholische
Kirche, B Kirche mit Vierungskuppel, C Laterne, D Kloster,
E Siechenhaus für „arme Kranke“, F Schule, G Kanzlei, H
Kornspeicher, J Kaufhaus, K Marstall, L Zeughaus, M
Werkhaus, N Schleuse, ohne Bezeichnung zwischen H
und J Theater.
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Abb. 9: Formale Konvergenzen am Beispiel von Gebäuden auf sechs Pfosten bzw. sechs Ständern: a–b Rekonstruktionszeichnungen zweier Kleinbauten der Heuneburg; c Innengerüst des Bauernhauses von Höfstetten (erbaut 1367), bestehend
aus sechs Säulen; d rekonstruierter eisenzeitlicher Getreidespeicher; e zeitgenössisches Garagendach auf sechs Ständern;
f Notunterkunft für Tsunami-Opfer in Aceh/Indonesien, Prototyp im Maßstab 1:1.
(–) Ein Nachteil liegt darin, dass Funktionsänderungen
oder Multifunktionalitäten von Gebäuden nicht berücksichtigt werden können.
(–) Das Ergebnis der Analyse ist naturgemäß von den
gesuchten Funktionen abhängig, die nicht von vorneherein
als bekannt vorausgesetzt werden dürfen (s. o.). Der
Nachweis z. B. von Sklavenhütten oder Ställen hängt bei
dieser Vorgangsweise allein davon ab, ob ihre Existenz
vorausgesetzt wird und sie unter den Befunden gesucht
werden.
(–) Das gravierendste Problem bei der Gleichsetzung von
Gebäudetypen (die zumeist auf Merkmalen des Grundrisses bzw. der Fundamentierung beruhen) stellen funktionale Äquivalente dar (Petzold 2007, 32–36): Ein und
dieselbe Grundrisslösung kann für ganz unterschiedliche
Bauaufgaben herangezogen werden. Als Beispiel können
die in der mitteleuropäischen Eisenzeit häufigen Sechspfostenbauten angeführt werden, die zumeist als gestelzte
Speicher (Abb. 9a.d) interpretiert werden. Identische
Grundrisse sind aber aus Kontexten bekannt, die eine
ganz andere Funktion nahelegen: Im hallstattzeitlichen
„Herrenhof“ von Niedererlbach bildet eine Sechspfostenkonstruktion offensichtlich den Torbau (Müller-Depreux
2005, 21 f.); auf der Heuneburg sind auch Sechspfostenbauten (Abb. 9b) mit Hinweisen auf geschlossene Wände
und Türen bekannt (Gersbach 1995, 143).
Weitere formale Konvergenzen sind unschwer aus
höchst unterschiedlichen Zeiten und Kulturen ausfindig zu
machen (vgl. Lehner 1998; Lehner 2003), insbesondere,
wenn man sich auf die (archäologisch feststellbaren)
eingetieften Fundamente beschränkt. Sechspfostengerüste
bilden heute beispielsweise eine beliebte Konstruktion für
Garagendächer (Abb. 9e). Ein spätmittelalterliches
Bauernhaus von Höfstetten in Franken (Abb. 9c), das eine
komplexe Raumaufteilung und einen aufwändigen Dachstuhl besitzt, würde sich im archäologischen Befund ebenfalls auf die Fundamente für sechs Ständer reduzieren
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(Bedal 1997, 11 ff.). Auch der Prototyp einer Notunterkunft
(Abb. 9f) für Tsunami-Opfer in Indonesien steht – angelehnt an traditionelle Bauweisen – auf sechs Ständern
und würde nichts von seinem Aufbau im archäologischen
Befund hinterlassen6.
3. Analogieschlüsse
Analogieschlüsse beruhen darauf, dass „aufgrund von
Übereinstimmungen zwischen zwei Phänomenen [angenommen wird], daß sie auch in weiteren, nicht dokumentierten Eigenschaften übereinstimmen“ (Eggert 2001,
324; vgl. Bernbeck 1997, 85 f.). Implizit oder explizit wird
also von besser bekannten Sachzusammenhängen aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten auf schlechter erhaltene archäologische Befunde rückgeschlossen. Auf
welche Vergleichsbeispiele Bezug genommen wird, hängt
natürlich vom Kenntnisstand des Bearbeiters ab. Unbewusst werden häufig Analogien aus der eigenen Erfahrungswelt (Indianerfilme, Freilichtmuseen, Urlaubsreisen)
angewandt. Systematische Analysen können auf einen
reichen Fundus aus der Völkerkunde, Volkskunde oder
aus benachbarten Archäologien (Klassische Archäologie,
Vorderasiatische Archäologie etc.) zurückgreifen. Häufig
werden einheimische traditionelle Bauwerke als Analogien
bevorzugt (z. B. Bouzek 2006). Entscheidend für die Qualität der Analogieschlüsse sind die Kriterien, nach denen die
Gemeinsamkeiten zwischen den Befunden ausgewählt
werden (Zeitstellung, Naturraum, Klima, verfügbares Material etc.).
Als frühes Beispiel für einen Analogieschluss sei die
Rekonstruktion der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten
Pfahlbauten am Zürichsee (Abb. 10) in Anlehnung an
Reiseberichte aus Neuguinea angeführt (vgl. Schlichtherle/
Wahlster 1986, 14 ff.; Vogt 1996, 169 ff.). Eine systematische Studie über Vierpfostenbauten als Getreidespeicher,
die zahlreiche Belege aus antiken und historischen Bildquellen sowie aus der Volkskunde berücksichtigt, führte
M. Schmaedecke durch (Schmaedecke 2002). Ein anderer
Analogieschluss führte zur Deutung latènezeitlicher Gebäude mit Wandgräbchen und Vierpfostenstellung als
Vorform gallo-römischer Umgangstempel, was später aufgrund unterschiedlicher Verbreitungsgebiete und mangelnder funktionaler Kontinuität abgelehnt wurde (Wieland
1999, 37 ff.; Altjohann 1999; vgl. zuletzt Donat 2006,
143 ff. und den Beitrag von C. Nickel in diesem Band).
(+) Ein Vorteil des Analogieschlusses liegt im hohen Erklärungspotenzial.
(+) Es können auch Multifunktionalitäten berücksichtigt
werden, diese werden durch die herangezogenen Analogien oft erst erkannt.
(+) Es können auch schlecht erhaltene Baubefunde (der
Erhaltungsklassen 3 und 4) berücksichtigt werden.
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http://www.iva-icra.org/, abgerufen am 13. 10. 2008.
Abb. 10: Ethnografische Parallelen: Die Rekonstruktion
der 1854 entdeckten Pfahlbauten am Zürichsee durch
F. Keller (oben) hatte Bilder aus Expeditionsberichten
Dumont d’Urvilles aus Neuguinea von 1827 zum Vorbild
(unten).
(–) Ein Nachteil vieler Untersuchungen liegt in der willkürlichen Auswahl bzw. der Beliebigkeit der Analogien.
4. Indizienbeweise
Unter Indizien versteht man Hinweise auf eine Hilfstatsache,
falls die Haupttatsache nicht unmittelbar beobachtbar ist.
Mehrere Indizien können einander im Sinne eines Beweisringes oder einer Beweiskette verstärken (Kümmel 2003,
136 f.). Im Zusammenhang mit der funktionalen Deutung
urgeschichtlicher Baubefunde kommen erstens feste Einrichtungen wie Öfen, Herdstellen oder Eingänge als Indizien
für die Nutzung in Betracht. Eine Herdstelle gilt beispielsweise als Beleg für die Wohnfunktion eines Gebäudes (z. B.
Bersu 1930, 141). Sie liefert den Hinweis auf die Zubereitung von Nahrung und die Beheizung, was als Grundvoraussetzung für eine Wohnung in unseren Breiten gilt.
Zweitens kann die Verteilung archäologischer Funde
innerhalb eines Gebäudes oder innerhalb einer Siedlung
Hinweise auf die Nutzung geben (Bernbeck 1997, 183 ff.).
Bei Fundverteilungsanalysen (intra site analyses) wird
allerdings häufig der Fehler begangen, Funde aus
sekundären Füllungen mit der primären Funktion von Befunden in Zusammenhang zu bringen. Die Taphonomie
von Befunden muss bei der Gewinnung bzw. Auswertung
von Indizien unbedingt berücksichtigt werden. Beispielsweise machen Webgewichte aus der Verfüllung eines
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Grubenhauses daraus noch keine Webhütte; es müsste
nachgewiesen werden, dass die Webgewichte aus der
Benutzungsphase stammen (z. B. durch ihre besondere
Anordnung in situ) und nicht zufällig hier entsorgt wurden.
St. Blum unterscheidet zwischen aktiven Inventaren, Auflassungsinventaren und Abfall, der in einem Gebäude
verbleiben kann; in keinem Fall besteht eine eindeutige
Relation zur ursprünglichen Funktion des Gebäudes
(Blum/Aslan 2005, bes. 306 und 313; vgl. Sommer 1991,
104 ff.).
Drittens können Mikroabfälle oder Veränderungen von
Bodenniveaus Hinweise auf die ehemalige Nutzung geben.
Solche unscheinbaren Überreste können meist nur durch
aufwändige Probenentnahme oder naturwissenschaftliche
Analysen gewonnen werden. Mikroabfälle (Sommer 1991,
142 ff.; Bernbeck 1997, 82; Blum/Aslan 2005, 318 Fn. 18)
wie Hammerschlag, Silexabsplisse, chemische Veränderungen von Schichten durch organische Abfälle, Exkremente (Phosphatanalysen; z. B. Zimmermann 1992; Martens 2003) oder mikrosedimentologische Spuren (Courty
u. a. 1989; Wallace 2003) sind als Indizien verlässlicher als
die übrigen Kleinfunde, da sie kaum verlagert werden.
Als Beispiel für einen Indizienbeweis kann der Nachweis von Pferdeställen in römischen Kastellen durch die
charakteristisch grün gefärbten Jaucherinnen in den
Kasernen angeführt werden (Sommer 1995, 158 ff.). Ein
anderes Indiz lieferten hunderte Schienbeinknochen und
Unterkiefer von Schweinen, die in einer als Blockbau konstruierten Wanne auf dem Salzberg in Hallstatt gefunden
wurden. Demnach wird vermutet, dass in der Wanne
Schweinefleisch gepökelt wurde (Kern u. a. 2008, 72 ff.).
(+) Vorteile des Indizienbeweises bestehen darin, dass die
Beweisführung sehr tragfähig ist und weitgehend auf Vorannahmen über mögliche Bedürfnisse und Funktionen
verzichtet.
(–) Nachteilig wirkt sich die aufwändige Probenentnahme
bei der Ausgrabung aus, die mit zeitlichem Mehraufwand
und zusätzlichen Analysekosten verbunden ist. Deshalb
stehen auch nur wenige Vergleichsbeispiele zur Verfügung.
(–) Tätigkeiten, die keine materiellen Spuren hinterlassen
(z. B. Schlafen, Tanzen, Versammlungen), sind mittels
Indizien nicht fassbar.
5. Kontextuelle Analysen
Unter Schlussfolgerungen aus dem Kontext sind solche
Interpretationen zu verstehen, die auf dem naturräumlichen, baulichen, sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenhang eines Gebäudes gründen. Der Kontext ist wie
das zu interpretierende Gebäude selbst durch Ausgrabungen zu erschließen und steht – je nach Maßstabsebene der Betrachtung – in einem spezifischen räumlichen Verhältnis zu den Bauwerken.
Als Beispiel sei eine bronzezeitliche Blockhütte in den
Alpen genannt, deren naturräumlicher Kontext – durch
Pollenanalysen nachgewiesen – eine Alm bildet und die
daher als Almhütte zur saisonalen Weidewirtschaft gedeutet werden kann (Mandl 1996).
Reusenanlagen und archäozoologisch massenhaft
nachgewiesene Fischreste erlauben, um ein Beispiel für
einen baulichen und wirtschaftlichen Kontext anzuführen,
die Deutung einfacher Pfahlhütten im Federsee als Überreste hallstattzeitlicher Fischerhütten (Köninger 2000).
Im hallstattzeitlichen „Herrenhof“ von Niedererlbach
lässt sich ein Bauwerk auf sechs Pfosten, das an einer
Unterbrechung des Grabenwerkes genau in der Flucht
eines Weges steht, eindeutig als Torgebäude ansprechen
(Müller-Depreux 2005, 21 f.).
Da alle Gebäudebefunde an den Raum gebunden sind
und nach räumlichen Kriterien wie Nähe, Abstand,
Orientierung, Eingangsrichtung etc. gruppiert werden können, lassen sich aus wiederkehrenden Gebäudekombinationen bauliche Kontexte herausfiltern, die häufig als
„Gehöfte“ gedeutet werden (z. B. Donat 2006, 118 f.;
Trebsche 2006, 319 f.). Aus den Gebäudekombinationen
können auf der Maßstabsebene von Siedlungsteilen oder
ganzen Siedlungen – auch mithilfe statistischer Verfahren
oder durch GIS – Anhaltspunkte für die Funktion von Gebäuden gewonnen werden. Gerade planmäßig angelegte
Siedlungen wie das latènezeitliche Acy-Romance zeigen
klare räumliche Strukturen, die – unter Zuhilfenahme der
Fundverteilung – funktional interpretiert werden können
(Lambot 2002).
Kontextuelle Schlussfolgerungen sollten stets von
besser abgesicherten Deutungen ausgehen und auf
weniger eindeutige oder schlechter erhaltene Befunde
abzielen. Die umgekehrte Richtung wurde beispielsweise
bei der Deutung der latènezeitlichen Viereckschanze von
Fellbach-Schmiden als Heiligtum und der daraus erschlossenen Ansprache des Schachtes im Inneren als
Opferschacht beschritten. Geht man hingegen von dem
durch den Befund und naturwissenschaftliche Analysen
eindeutig als Brunnen identifizierten Schacht aus, der
sekundär mit Stallmist und Teilen einer hölzernen Götterstatue verfüllt wurde, so liegt eine Deutung der Viereckschanze als landwirtschaftliches Gehöft, in dem auch
kultische Handlungen vollzogen wurden, viel näher
(Wieland 1999, 73 ff.).
(+) Kontextuelle Analysen können auf verschiedenen
Maßstabsebenen und an Siedlungen aller Erhaltungsstufen durchgeführt werden.
(+) Sie werden durch den Einsatz statistischer Verfahren
oder durch GIS wesentlich vereinfacht und führen zu eindeutig nachvollziehbaren Ergebnissen.
(–) Sie sind an die Qualität der erschlossenen Kontexte
gebunden, und der Zusammenhang mit den Kontexten
BUFM 55, Trebsche, Folgt die Funktion aus der Form?, 5–19
schließt stets Vorannahmen, z. B. über die Größe von
Gehöften, mit ein.
(–) Es besteht die Gefahr von Zirkelschlüssen, bei denen
im Kreis argumentiert wird.
Ausblick
Das Ziel dieses Beitrages konnte es nicht sein, die
Funktionen von Gebäuden in der Urgeschichte zu klären.
Es konnten lediglich die Methoden systematisiert werden,
die zu einer funktionalen Interpretation urgeschichtlicher
Bauten herangezogen werden. In der Praxis führt oft nur
die Kombination mehrerer Methoden – in Abhängigkeit
vom Erhaltungszustand der Quellen, der Grabungsmethode und der Befunddokumentation – zum Ergebnis. Gerade
deswegen ist eine klare Darlegung der Analytik von Bedeutung.
Reflexion über die Methoden ist auch unerlässlich für
deren Verbesserung. Von den fünf besprochenen methodischen Herangehensweisen birgt m. E. die Gewinnung
von Indizien und deren Auswertung unter Einbeziehung
der Verfallsgeschichte (Taphonomie) das größte Potenzial
für eine verbesserte funktionale Deutung urgeschichtlicher
Gebäude.
Die Interpretation von Grabungsbefunden kann nur
durch die Weiterentwicklung der Grabungstechniken verbessert werden. In der Praxis wird z. B. der Dokumentation
von Pfostenlöchern meist zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen, obwohl bei verfeinerter „chirurgischer Ausgrabung“ und „interrogativer“ Grabungsweise (Millet 2008)
viele Details zu beobachten wären, die ansonsten der Aufmerksamkeit der Ausgräber entgehen. Ein simples Beispiel
sind schräge Pfosten, die bei herkömmlichem Schneiden
der Befunde gar nicht oder nur unzureichend dokumentiert
werden (Laurelut u. a. 1999, 136 f.). Zur Verbesserung der
Grabungsmethoden zählt auch die systematische naturwissenschaftliche Beprobung (Entnahme sedimentologischer Proben, Schlämmproben zur Gewinnung von Mikroabfall, Phosphatproben), die in Zukunft zum Standardprogramm bei der Untersuchung von Gebäudegrundrissen
der Erhaltungsklassen 1–3 gehören sollte.
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Abb. 3: nach Kultermann 2003, Abb. 17.
Abb. 4: nach Parzinger 2006, Abb. 240/29.
Abb. 5: nach Truhelka 1904, Taf. 4.
Abb. 6: nach Rindel 2001, Abb. 8.
Abb. 7: nach Nielsen 2007, Abb. 6.
Abb. 8: nach Schütte 1984, Abb. S. 158.
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Bedal 1997, Abb. S. 13; Abb. 9d: nach Alligri 2008,
Abb. 12; Abb. 9e: Foto P. Trebsche; Abb. 9f: Foto
E. Lehner.
Abb. 10: nach Schlichtherle/Wahlster 1986, Abb. 10–11.
Zusammenfassung:
Folgt die Funktion aus der Form? Zu einer Methodik der
Interpretation archäologischer Baubefunde
Die Form von Gebäuden hängt nicht allein von der
Funktion, sondern auch von Klima, Topografie, verfügbarem Material und Technik, von Symbolik und sozialen
Verhältnissen ab. Dies kann selbst am Beispiel moderner
Architektur gezeigt werden, für die der Leitspruch „Form
follows function“ geprägt wurde. Die funktionale Deutung
prähistorischer Architektur ist besonders schwierig, weil sie
oft lückenhaft erhalten ist und mögliche Funktionen nicht a
priori bekannt sind. Daher wird in diesem Beitrag versucht,
fünf Gruppen von Methoden darzustellen und zu bewerten,
die eine Interpretation archäologischer Baubefunde ermöglichen: 1. Ad-hoc-Interpretationen: Sie erfolgen meist implizit und sollten durch systematischere Vorgangsweisen
ersetzt werden. 2. Gleichsetzung von Gebäudetypen mit
Funktionen: Dieser Methode sind durch funktionale Äquivalente enge Grenzen gesetzt. 3. Analogieschlüsse: Sie
hängen stark von der Auswahl der Vergleichsobjekte ab. 4.
Indizienbeweise: Aufwändige Grabungsmethoden, Probenentnahme und sorgfältige Klärung der Taphonomie sind
erforderlich. 5. Kontextuelle Analysen: Bei ihnen besteht
die Gefahr von Zirkelschlüssen. In der Praxis führt häufig
nur eine Kombination mehrerer Methoden zum Ergebnis,
weshalb eine klare Darlegung der Analytik von großer
Bedeutung ist.
Abstract:
Does form follow function? Towards a methodical interpretation of archaeological building features
The form of buildings does not depend only on function,
but also on climate, topography, available material and
techniques, on symbolism and social structures. This can
even be demonstrated by the example of modern architecture, for which the maxim „form follows function“ was originally coined. The functional interpretation of prehistoric
architecture is especially difficult, because of its fragmentary state of preservation and because possible functions
are not known a priori. Therefore this paper presents and
BUFM 55, Trebsche, Folgt die Funktion aus der Form?, 5–19
evaluates five groups of methods, which allow interpretations of archaeological building features: 1. Ad-hocinterpretations: These are mostly made implicitly and
should be replaced by systematic approaches. 2. Equalisation of building types with functions: This method has limits
because functional equivalents have to be considered. 3.
Conclusions by analogy: They depend mostly on the
choice of objects for comparison. 4. Circumstantial evidence: Time-consuming and expensive techniques of
excavation and sampling as well as careful studies of taphonomy are necessary. 5. Contextual analyses: easily run
into the danger of circular arguments. In practice often only
a combination of various methods provides good results.
That is why a clear explanation of analytical methods is so
important.
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Anmerkung:
Eine Kurzfassung dieses Beitrages erschien zuerst in
englischer Sprache:
P. Trebsche, Does Form Follow Function? Towards a
Methodical Interpretation of Archaeological Building Features. World Archaeology 41,3, 2009, 504–518.
Verlag Routledge, http://www.informaworld.com.
Anschrift:
Mag. Dr. Peter Trebsche
Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien
Franz-Klein-Gasse 1
A-1190 Wien
E-Mail: [email protected]
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