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Herausgeber:
DIE NEUE
ORDNUNG
Institut für
Gesellschaftswissenschaften
Walberberg e.V.
Redaktion:
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)
Wolfgang Hariolf Spindler OP
Bernd Kettern
begründet von Laurentius Siemer OP
und Eberhard Welty OP
Nr. 3/2012
Juni
Redaktionsbeirat:
66. Jahrgang
Editorial
Wolfgang Ockenfels,
Der Heilige Rock und die Piusbrüder
Stefan Heid
Martin Lohmann
Andreas Püttmann
Herbert B. Schmidt
Manfred Spieker
Horst Schröder
Redaktionsassistenz:
162
Andrea Wieland und Hildegard Schramm
Druck und Vertrieb:
Ursula Nothelle-Wildfeuer, Gerechtigkeit
auf Zukunft hin. Generationengerechtigkeit
164
Ulrich Schlie, Streitkräfte als Instrument
nationaler Sicherheitsvorsorge
178
Hans Braun, Immer gut beraten? Zur Rolle
des Beratungswesens in unserer Gesellschaft
188
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831
53708 Siegburg
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891
Die Neue Ordnung erscheint alle
2 Monate
Bezug direkt vom Institut
oder durch alle Buchhandlungen
Jahresabonnement: 25,- €
Einzelheft 5,- €
zzgl. Versandkosten
ISSN 09 32 – 76 65
Bericht und Gespräch
Bankverbindung:
Hasso Heybrock – Rainer Kreuzhof, Zur
Wirkung beschäftigungsfördernder Gesetze
199
Florian Josef Hoffmann, Soziale Wirtschaftspolitik
215
Hans-Peter Raddatz, Islamophobie. Kampfbegriff des kommenden Kalifats
224
Besprechungen
238
Deutsche Bank, Bonn
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Editorial
Der Heilige Rock und die Piusbrüder
Der Heilige Rock gehört nicht in die Kategorie religiöser Musik und bringt nicht
den Glaubenssatz „Elvis lebt“ zum Klingen. Vielmehr „handelt“ es sich (auch
hier sind Händler mit am Werk) um das Gewand Christi ohne Naht, das seit über
500 Jahren in Trier besonders dann erfolgreich verehrt wird, wenn es in Kirche
und Welt drunter und drüber geht. Es gilt den Gläubigen als Symbol der Einheit
der Christenheit. Und die Pilger, die dieses Jahr unerwartet zahlreich nach Trier
kamen, beteten: „ ... und führe zusammen, was getrennt ist“.
Dabei mögen sie besonders an die Einheit einer Christenheit gedacht haben, die
konfessionell gespalten ist – und es vermutlich noch lange bleiben wird. Denn
die Ökumene mit Protestanten, die sich vor allem darin einig sind, daß sie von
Rom getrennt bleiben wollen, scheint ein utopisches Ziel zu sein, wenn es nicht
einmal gelingen sollte, die innerkirchliche Einheit mit der Priesterbruderschaft
St. Pius X. in Ordnung zu bringen. Die Piusbrüder und -schwestern sind weder
Apostaten noch Häretiker und sehen sich selber auch nicht als Schismatiker an.
Die Exkommunikation ihrer Bischöfe wurde vor wenigen Jahren aufgehoben,
was einen Sturm der Entrüstung entfachte, weil einer von ihnen sich als „Holocaustleugner“ offenbarte. Hätte er den trinitarischen Glauben geleugnet, wäre er
von den Massenmedien vielleicht als Häretiker gepriesen worden.
Die Dinge verwirren sich weiter. Als Schismatiker soll inzwischen nicht einer
gelten, der die innerkirchliche Spaltung vorantreibt, sondern sie zu verhindern
trachtet. Das Einigungsanliegen Benedikts XVI. wird erwartungsgemäß desavouiert von Theologen wie Hans Küng, der dem Papst Spaltungsabsichten vorwarf,
weil dieser sich angeblich vom „Gottesvolk“ entfernt habe. Wer die Spaltung da,
wo sie überwindbar erscheint, auch überwinden will, gilt nach progressiv verdrehter Logik als Spalter, während die Trennung dort, wo sie sich antirömisch
verfestigt hat, als leicht überwindbares Hindernis verharmlost wird.
Freilich gibt Hans Küng den besseren, weil häretisch potenzierten Schismatiker
ab, dem schon 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen werden mußte. Je
weiter er sich von der römischen Weltkirche entfernt, desto mehr gerät er ins
Abseits eines nationalkirchlichen „Gottesvolks“, als dessen intellektuellen Vordenker und zugleich demokratisch legitimierten Repräsentanten er sich berufen
fühlt. Damit stellt er sich direkt gegen den Papst, dessen Anspruch auf Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat er freilich nicht für sich usurpieren kann, weil er
die entsprechenden Glaubensdefinitionen des I. Vatikanischen Konzils ablehnt.
Als Gegenpapst, der nur noch eine Art Ehrenpräsident der Christenheit darstellte,
müßte Küng allerdings auch seinen akademischen Unfehlbarkeitsanspruch opfern, was eine große Zumutung für einen zeitgemäßen deutschen Theologieprofessor bedeuten würde.
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Aber so besonders wichtig, wie er sich nimmt, ist Küng nicht. Er repräsentiert
lediglich eine Gattung moderner Theologie, die sich die Deutungshoheit über die
gesamte Theologie- und Kirchengeschichte anmaßt. Und zwar auf dem Wege
einer Hermeneutik, die das Verständnis christlicher Ereignisse und Glaubenszeugnisse von den jeweiligen zeitgenössischen Situationen und Interpretationen
abhängig macht, die aber nicht mehr das Kontinuum der gleichbleibenden Wahrheit des christlichen Glaubens in seiner kultur- und geschichtsübergreifenden
Substanz darstellen kann. Deshalb ist diese Form der Theologie stets auf der
Suche nach einer opportunistischen „Inkulturation“ des Glaubens, ohne zu wissen, was diesen Glauben inhaltlich-verbindlich kennzeichnet – und mit welchen
der vielen Kulturen („Multikulti“) er überhaupt kompatibel erscheint.
Zugegeben: Das hermeneutische ist gewiß eines der schwierigsten Kapitel der
Theologie. Doch hat die Kirche von Anfang an das kirchliche Amt und nicht
eine theologische Mehrheitsmeinung als Instanz zur Lösung dieses Problems
anerkannt. Kein Wunder also, daß sich Apostasie, Häresie und Schisma immer
an kirchlich-autoritativen Entscheidungen entzündet haben – oder vielmehr: daß
jene durch diese zurückgedrängt wurden, wenn auch nicht immer erfolgreich.
Für jede theologische Glaubensfrage entscheidend ist also der Kirchenbegriff.
Schon deswegen, weil es die Kirche war, die den Kanon der Heiligen Schriften
festlegte. Darum erstaunt es nicht, daß es im gegenwärtigen Streit vorrangig um
das Kirchenverständnis geht. Küng und Genossen lehnen das I. Vatikanische
Konzil wegen der Infallibilität ab und berufen sich irrtümlich auf das II.
Vaticanum, während dieses von den Piusbrüdern irrtümlich unter
Häresieverdacht gestellt wird, obwohl es keine dogmatischen Abstriche vorgenommen hat. Allerdings lassen verschwommen-doppeldeutige Formulierungen
dieses Pastoralkonzils abenteuerliche Interpretationen zu. Weshalb gerade hier
die verbindlich entscheidende Instanz Roms erforderlich ist, um Abspaltungen
zu vermeiden.
Spaltungen sind bedauerliche Folgen der Freiheit, während die forcierte Einheit
oft auf Freiheitsverluste hinausläuft. Einheit ist auch in Politik und Gesellschaft
kein Wert in sich, wenn dabei die Frage nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und
Freiheit ausgeklammert bleibt. An dieser Frage entscheidet es sich, wie sinnvoll
ein Einigungsbemühen oder auch ein Trennungsbeschluß sein kann. Im Blick auf
den Heiligen Rock könnte das Trierer Pilgergebet abgewandelt werden in: „…
und trenne, was nicht zusammengehört“. Damit würde die kostbare Reliquie, die
einem unansehnlichen Flickenteppich gleicht, zwar zum Symbol der Klarheit
und Reinheit, zum Sinnbild eines historisch-kritischen Minimalismus, der die
Unterscheidung zwischen echt und unecht archäologisch korrekt festlegen möchte. Dann gehörte die Reliquie nicht in die Kirche, sondern ins Museum.
Aber was wäre das für ein puristischer Glaube, der sich gegen jede Verstrickung
des Absoluten mit dem Kontingenten, gegen jede Verknüpfung von christlicher
Wahrheit mit paganen Kulturelementen abgrenzen würde? Es wäre nicht der
traditionelle Glaube der Kirche. Der Papst sucht als Pontifex Maximus die Einheit der Vielfalt und gerade deshalb auch die Einheit mit den Piusbrüdern.
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Wolfgang Ockenfels
Ursula Nothelle-Wildfeuer
Gerechtigkeit auf Zukunft hin
Sozialethische Aspekte der Generationengerechtigkeit
Der Begriff „Generationengerechtigkeit“ ist ein schillernder Begriff, der unsere
gesellschaftliche und öffentliche, aber auch in unterschiedlichen fachlichen Kontexten unsere wissenschaftliche Diskussion prägt. Es scheint ähnlich zu sein wie
beim Begriff „soziale Gerechtigkeit“, der seit dem 19. Jahrhundert existiert, der
aber erst im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zu einem wirklichen
politischen Leitbegriff erster Güte geworden ist: nicht nur Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Begriff der Generationengerechtigkeit in vielfältigen
Kontexten, sondern auch Politiker jeder Couleur bringen ihn gern zur Unterstützung ihrer jeweiligen Position ins Spiel, in keiner zukunftsorientierten Überlegung darf er fehlen. Bei diesem nahezu inflationären Gebrauch kommt es nun
aber um so mehr darauf an, genau zu eruieren, was jeweils gemeint ist.
I. Begriff; Bedeutung und Inhalt der Generationengerechtigkeit
Gerade war von dem inflationären Gebrauch des Begriffs Generationengerechtigkeit die Rede. Warum eigentlich, so ist in diesem Kontext zu fragen, kommt
es überhaupt dazu? Hat es nicht immer schon die Sorge um das Wohlergehen der
nachfolgenden Generation bzw. Generationen gegeben? Haben nicht Mütter und
Väter, Großmütter und Großväter immer, und im engen Lebenszusammenhang
früherer Großfamilien vielleicht noch intensiver als heute, sich darum gesorgt,
daß sie den Kindern und Enkelkindern Haus und Hof gut bestellt überließen,
damit es ihnen – so die klassische Begründung – einmal besser ergehe als der
eigenen Generation, als einem selbst. Das führte dann zu dem einseitigen „Bild
von den zukünftigen Generationen als im Luxus schwelgenden Nutznießern der
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Anstrengungen ihrer Vorfahren“
(Birnbacher et al. 2001, 7).
Dieses Bild aber, so Birnbacher, ist inzwischen zu korrigieren: Kinder und Kindeskinder werden nicht mehr als nur reiche Erben gedacht, die von den Leistungen ihrer Vorfahren profitieren, sondern auch als unfreiwillige Opfer zeitlich
früherer ökologischer, ökonomischer und sozialpolitischer Sünden, zu denen sie
selbst nicht beigetragen haben und deren Folgelasten sie sich nicht [...] entziehen
können.“ (Birnbacher et al. 2001, 7). Hieran schließt sich ein weiterer Aspekt an:
Das Paradigma der Verantwortung für die Zukunft hat sich in den letzten beiden
Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Es fand eine Verschiebung „vom optimistischen zum pessimistischen Pol“ statt. „Das optimistische Paradigma sah Verantwortung für zukünftige Generationen primär als Verpflichtung zur Verlängerung eines verläßlichen, auch ohne die Befolgung spezifisch zukunftsethischer
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Normen, eintretenden Fortschrittsprozesses.“ In diesem Paradigma sind die zukünftigen Generationen prinzipiell besser gestellt als die gegenwärtigen. Im
pessimistischen Paradigma dagegen „sind die zukünftigen Generationen ohne die
Beachtung spezifisch zukunftsethischer Normen gegenüber der gegenwärtigen
Generation schlechter gestellt.“ (Birnbacher, Schicha 2001, S. 19) Von daher
liegt es nahe, daß „der Begriff ‚Generationengerechtigkeit‘ […] an normativer
Dringlichkeit gewonnen [hat].“ (Birnbacher et al. 2001, 7).
Der Begriff der Generationengerechtigkeit scheint auf der einen Seite ein hohes
Maß an moralischer Überzeugungskraft zu implizieren, auf der anderen Seite
wird aber auch seine Tauglichkeit bezweifelt: Der Kölner Politikwissenschaftler
Christoph Butterwegge sieht ihn eher als „politische(n) Kampfbegriff“ denn als
„sinnvolle Neuinterpretation der sozialen Frage“ (Butterwegge 2006, 117.) Er
sieht in diesem Begriff und seinem Erstarken das Bemühen, „‘Gerechtigkeit‘ nur
noch horizontal oder temporal, aber nicht mehr vertikal (im Sinne der notwendigen Umverteilung von oben nach unten) zu denken und ihr damit jeden Stachel
einer gesellschaftskritischen Fundamentalkritik und Alternativkonzeption zu
nehmen.“ (Ebd.)
Aus ethischer Perspektive stellt sich hier für manchen Zeitgenossen, so etwa
Micha Brumlik (vgl. Brumlik 1995, 18), auf den später noch einmal zurückzukommen sein wird, die Frage, inwiefern wir eigentlich heute Verantwortung
übernehmen können für die kommenden Generationen, für die, die noch nicht
geborenen sind und die vielleicht auch nie geboren werden? Für andere wie etwa
den Armutsforscher Richard Hauser (vgl. Hauser 2005) dagegen artikuliert sich
in dem Begriff eine bislang unterbeleuchtete Facette des bereits erwähnten Begriffs der sozialen Gerechtigkeit. Es ist nun mein Anliegen, den Begriff der Generationengerechtigkeit innerhalb dieser breiten Palette an Verständnis- und
Deutungsmöglichkeiten zu erläutern und zu verorten.
Erschwerend für eine klare Begriffsdefinition kommt ein weitere Aspekt hinzu:
Der Begriff der Generationengerechtigkeit wird für sehr unterschiedliche Zusammenhänge gebraucht: Wie bereits erwähnt, gibt es zunächst die ökologische
Frage der Nachhaltigkeit – welchen Lebensraum hinterlassen wir unseren Kindern und Kindeskindern? Sodann geht es um die sozialpolitische Diskussion und
die Frage, ob der derzeitige Modus der Altersabsicherung nach dem Umlageverfahren noch als gerecht angesehen werden kann, wie also die hier entstehenden
Lasten auf die junge, mittlere und alte Generation gerecht verteilt werden kann.
Schließlich geht es um einen dritten Bereich, der gerade gegenwärtig vor dem
Hintergrund der aktuellen Banken-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die inzwischen zur Staatenkrise geworden ist, intensiv diskutiert wird, nämlich den der
finanzwirtschaftlichen Perspektive und der Frage der Staatsverschuldung und der
dadurch den nachkommenden Generationen hinterlassenen Schuldenlast.
II. Christliche Sozialethik für Generationengerechtigkeit
Die heute zu stellende (sozial-)ethische Frage ist nun nicht eine, die der Liste der
bereits genannten vielfältigen Zugänge zur Problematik einen weiteren hinzufügt; Ethik ist nicht additiv zu sachlichen, politischen oder ökonomischen Fragen
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zu verstehen, sondern stellt die Sichtweise dar, unter der die verschiedenen Aspekte geordnet und gewichtet werden, um sie dann wirksam werden zu lassen.
Die christliche Sozialethik sieht sich in dieser Debatte in doppelter Weise verpflichtet: Es gehört zu ihrer spezifischen Signatur, daß sie keine eigenen und
selbständigen technischen oder ökonomischen Lösungen anzubieten und Konzepte vorzulegen hat, kein spezifisches Modell etwa einer entsprechend ökologisch bzw. nachhaltig geprägten Sozialen Marktwirtschaft o.ä., dies ist Aufgabe
der Politik bzw. der entsprechenden Fachwissenschaften. Wohl aber sieht sie
sich mit den Menschen in dieser Welt und Zeit unterwegs und teilt mit ihnen ihre
Sorgen und Nöte, aber auch ihre Hoffnungen und Freude (vgl. GS 1).
Die christliche Sozialethik ist die Disziplin innerhalb der Theologie, die mit
philosophischen und theologischen Methoden nach der Gerechtigkeit von gesellschaftlichen Strukturen, Einrichtungen, Errungenschaften und Instrumenten
fragt. Ob gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Vorgänge oder Strukturen dem Anspruch der Gerechtigkeit genügen, entscheidet sich dabei am Bezug
auf die Würde des Menschen und auf das Gemeinwohl der Gesellschaft.
Genau hier liegt auch der spezifisch theologische Anknüpfungspunkt: Der Kirche und ihrer Theologie geht es immer im Dialog mit den entsprechenden Fachwissenschaften um den Menschen, dessen Würde und Freiheit in der Gottebenbildlichkeit des Menschen und in seiner Geschöpflichkeit grundgelegt ist und die
zum entscheidenden und bestimmenden Maßstab zu machen die Kirche als ihre
vorrangige Aufgabe ansieht. Die Sorge um den Menschen ist es, die die Theologie als ihre spezifische Perspektive einbringt in Fragen der Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft, Maßstab ist das Humanum, auf das alles zentriert ist.
Damit ist die zentrale Ausrichtung der christlichen Sozialethik auf den Menschen
in seiner Würde und Freiheit, kurz: in seiner Personalität thematisiert. Der
Mensch, so lautet der oberste Grundsatz kirchlicher Soziallehre, muß „der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. […] Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen
Person.“ (MM 219 f.)
III. Kontexte und Bereiche der Rede von Generationengerechtigkeit
1. Zur ökologischen Frage: Der Umgang des Menschen mit der Schöpfung
Die Problematik der Generationengerechtigkeit wird bereits seit den 60er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts für das große Feld der Ökologie unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit diskutiert Es gibt eine Vielzahl von Aspekten, die für die
ökologische Frage bedacht werden müssen, erwähnt sei hier nur allen voran der
globale Klimawandel, denn er „ist bereits Realität. Die Menschen spüren seine
Auswirkungen buchstäblich am eigenen Leib: Hitze und Dürre, Stürme und
Starkniederschläge, Gletscherrückgang und Überschwemmungen, Ernteausfälle
und Ausbreitung von Krankheiten. Der globale Klimawandel stellt die wohl
umfassendste Gefährdung der Lebensgrundlagen der heutigen und in noch viel
stärkerem Maße der kommenden Generationen sowie der außermenschlichen
Natur dar.“ (Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und
soziale Fragen. Kommission Weltkirche 2006; 2. Aufl. 2007, 5)
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Weitgehend einhellig ist die Überzeugung, daß der Klimawandel und die damit
einhergehende Bedrohung der Lebensgrundlagen der menschlichen und außermenschlichen Natur größtenteils von Menschen verursacht ist. Es gibt bereits
vielfältige Maßnahmenkataloge, um eine Anpassung an die Folgen des
anthropogenen, d.h. menschengemachten Klimawandels zu initiieren und die
vom Klimawandel ausgehende Gefahr einzudämmen: Der Ausstoß von Treibhausgasen ist drastisch zu reduzieren, die systematische Abholzung der Regenwälder zu beenden, erneuerbare Energie zu beziehen etc.
Das Problem des Klimawandels ist aber hinsichtlich unserer Frage gar nicht der
Kern der Problematik, sondern vielmehr eine – allerdings sehr offenkundige und
auch bedrohliche – Ausdrucksform eines individuellen Lebensstils und einer
institutionellen und strukturellen Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens,
die in keiner Weise die angesprochenen Probleme in ihrer Tragweite im Blick
hat. Im Hintergrund geht es um die fundamentale Erkenntnis, die die beiden
Kirchen bereits 1997 gleich zu Beginn in ihrem gemeinsamen Sozialwort (Evangelische Kirche in Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz 1997) treffend
formuliert haben: „Es genügt nicht, das Handeln an den Bedürfnissen von heute
oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den
Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu kurzfristigem Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative. Aber das individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht erschöpfen. Wer notwendige Reformen
aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine existenzbedrohende
Krise.“ (Nr. 1) Für den Bereich der ökologischen Frage, von Natur und Umwelt,
impliziert dies die Frage, welche Welt, welche Schöpfung wollen wir den nachfolgenden Generationen übergeben?
Im Kontext der ökologischen Thematik spielt nun die Sorge um die Natur als
Schöpfung eine bedeutende Rolle, wobei die Rede von der Schöpfung als Gottes
Schöpfung, dem Menschen als Lebens- und Entfaltungsraum gegeben und zum
Bebauen und Kultivieren anvertraut, ein ursprünglich genuin christlicher Topos
ist, der aber derzeit Konjunktur hat weit über den Umkreis derer hinaus, die sich
einer solchen theistischen Weltdeutung verpflichtet fühlen (vgl. Honnefelder
2011, 1575). Christen können von ihrer Schöpfungsethik her und einer entsprechend geprägten Spiritualität und Grundhaltung der Natur gegenüber spezifische
Impulse sowohl für ein individuelles Ethos als auch für eine angemessene strukturelle Gestaltung sozialer und wirtschaftlicher Ordnung geben.
Nehmen wir nun den Maßstab ernst, der eben als Zentrum christlicher Sozialethik aufgezeigt wurde, nämlich den Menschen in seiner Würde, dann ergibt sich
von daher eine weitere Präzisierung: Bei dem Bemühen um den Schutz der
Schöpfung geht es sicherlich primär darum, dem Menschen seinen Lebensraum
zu bewahren und zu erhalten. Um leben und überleben zu können, braucht der
Mensch die Umwelt, er braucht alle anderen Kreaturen, er braucht die unbelebte
Natur. Um des Menschen willen, der jetzt lebt, aber auch um des Menschen
willen, der noch geboren werden wird, müssen Natur und Umwelt geschützt
werden. Der Mensch als Geschöpf Gottes, von Gott mit Freiheit und Verantwortung ausgestattet, philosophisch gesprochen: als moralisches Subjekt, hat eine
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immer schon mitzudenkende „Sonderstellung“, die aber wiederum – und das ist
die Kehrseite dieser Medaille – auch die Verantwortung für diese Schöpfung
impliziert.
Diese Sonderstellung des Menschen ist ökologisch eingebunden und vernetzt. So
weiß die christliche Ethik zugleich auch um den (abgestuften) Eigenwert der
nichtmenschlichen Schöpfung, der nicht nur im Nutzen für den Menschen besteht. Es ist eine Gradwanderung, die Natur, hingeordnet auf den Menschen und
sein Überleben, der aber wiederum die Natur in ihrem Eigenwert achtet und
schützt.
2. Zur sozialpolitischen Frage: Der Umgang mit nachfolgenden Generationen
„Generationen schließen keine Verträge; Generationen üben Solidarität“ (von
Nell-Breuning 1981, 29) – dieser deutliche Satz stammt von keinem Geringeren
als von dem berühmten Frankfurter Jesuiten und Sozialethiker Oswald von NellBreuning, der 1981 damit seine Position zur Frage intergenerationeller Gerechtigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Mit diesem Satz übte Nell-Breuning zugleich
seine bekannte Kritik an dem Begriff und Konzept des Generationenvertrags,
wie er von Wilfried Schreiber als Grundlage der Sozialversicherung für die Altersversorgung entwickelt und dann allerdings nur zur Hälfte von Konrad Adenauer übernommen wurde (die in dieser Struktur des Drei-GenerationenVertrags ebenfalls verortete Verantwortung für die jüngere Generation schob
Adenauer mit dem berühmt gewordenen Bonmot beiseite: Kinder kriegen die
Leute sowieso).
Zu dieser Frage der Generationengerechtigkeit haben wir aus christlichtheologischer Perspektive Wesentliches beizutragen. Das vierte Gebot „Du sollst
Vater und Mutter ehren“ gibt dazu wichtige Hinweise: Wenngleich es in der
jüngeren Tradition oftmals genutzt wurde als Unterstützung elterliche Autorität
und Verstärkung kindlicher Gehorsamspflichten, so zielt es ursprünglich und
primär auf die Versorgung alter Eltern durch die Erwachsenengeneration ab in
einer nomadischen Gesellschaft, in der es keinerlei außerfamiliäre Versorgung
gab. Aber das Verhältnis der Generationen insgesamt ist in diesem Gebot verpackt, es geht um die Altersversorgung, aber auch um die Achtung der jungen
Menschen vor den Älteren, nicht zuletzt wegen ihres Vorsprungs an Erfahrung
und Weisheit (Lehmann 2003, 24). Diese Achtung und Ehrerbietung ist auch
nicht nur materiell gemeint. Zugleich geht es auch darum, daß die Älteren die
Lebensmöglichkeiten der Jüngeren im Auge haben, sonst sind sie der Achtung
nicht wert. Der Geist des Gebotes ist auf unsere pluralistische und individualisierte Gesellschaft zur spezifischen Charakterisierung des Generationenverhältnisses zu übertragen.
Kommen wir zurück zum von Nell-Breuning kritisierten Begriff des Generationenvertrages. Er impliziert in seiner eigentlichen Bedeutung nicht einen Vertrag
im juristischen Sinn, sondern eher „eine von den Generationen untereinander
geübte und auch akzeptierte Solidarität.“ (Lehmann 2003, 14) Das Wesentliche
dieses Vertrages in einem analogen Sinn ist, daß die mittlere, die erwerbstätige
Generation sowohl an die ältere, nicht mehr erwerbstätige Generation als auch an
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die jüngere, noch nicht erwerbstätige Generation einen Teil des eigenen Einkommens abgibt, um den alten Eltern und auch den eigenen Kindern die Existenz zu sichern. Zum Gelingen dieses Vertrages gehört notwendig und ursprünglich unausgesprochen die Voraussetzung dazu, daß die jetzt jüngere Generation,
wenn sie einmal selbst die Generation der Erwerbstätigen stellt, erstens in gleicher Weise für die Generation ihrer Eltern sorgt und zweitens ebenfalls selbstverständlich für Nachwuchs und – um es ökonomisch auszudrücken – für die
Reproduktion in der Gesellschaft sorgt.
Geprägt ist dieses Modell einerseits von dem persönlichen Verantwortungsempfinden, das Eltern ihren Kindern und zugleich den eigenen Eltern gegenüber
haben, zugleich aber auch von der daraus abgeleiteten strukturellen gesamtgesellschaftlichen Verpflichtungen der entsprechenden Generationen untereinander. Es geht nicht mehr nur um die Verantwortung in einer face-to-face-relation,
sondern auch und vornehmlich um verläßliche Strukturen dieser Solidarität. Die
erwerbsfähige Generation „vergilt“ einerseits der älteren Generation das, was sie
zu Zeiten der eigenen Produktivität für die Kinder getan hat, sie investiert andererseits in die nachkommende Generation, damit diese dann für sie den Unterhalt
im Alter bestreiten kann. Generationengerechtigkeit wird hier deutlich als strukturelle Gerechtigkeit gekennzeichnet.
In der aktuellen sozialpolitischen Debatte zum Thema Generationengerechtigkeit
taucht immer wieder der Hinweis auf die Notwendigkeit eines neuen Generationenvertrages auf. Ein neuer Generationenvertrag wird vor allem aufgrund des
demographischen Wandels höchst dringlich, der (in Kombination mit anderen
Faktoren wie Arbeitslosigkeit) diese Solidarität der Generationen untereinander
auf eine deutliche Probe stellt. Es gibt ein zunehmendes Ungleichgewicht, ja
deutliche Gerechtigkeitslücken im Verhältnis der drei Generationen zueinander.
Zum einen wird aufgrund der zahlenmäßig stark anwachsenden älteren Generation die Belastung für die mittlere Generation größer, ja so groß, daß sie in absehbarer Zeit ohne Änderung wohl kaum noch zu schultern sein wird. Zum anderen
gibt es vor allem im Blick auf Familien mit Kindern folgende Problematik:
Solange Familie mit mehreren Kindern gesellschaftlich gesehen der „Normalfall“ waren und folglich die Leistungen, die diese „Keimzellen“ der Gesellschaft
für eben diese Gesellschaft erbringen, selbstverständlich von fast allen (unentgeltlich) erbracht wurden, war dies auch ein unhinterfragter Bestandteil der Generationensolidarität, denn (nahezu) alle waren beteiligt an der Leistung für die
Gesellschaft sowie auch an dem Profit, den die Gesellschaft davon hatte. Die
gesellschaftlich relevanten Leistungen der Familie ergaben sich selbstverständlich und implizierten ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Diese Wechselseitigkeit ist heute aber einer starken Einseitigkeit gewichen, „die ‚Familienleistungen‘ (sind) nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der persönlichen Lebenspläne und des eigenen Glücks- und Wohlfahrtsstrebens der Menschen ..., sondern (werden) von einem zunehmend geringer werdenden Teil der Bürger ‚erbracht‘“ (Kleinhenz 1995, 125). Immer weniger Familien erbringen mithin diese
Leistung für einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft. Die Familien
sind also vor allem an der Erbringung der Leistungen beteiligt, kaum oder nicht
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in genügendem Maße aber an den Effekten, speziell der sozialen Sicherung, die
diese für die Gesellschaft haben: Kleinhenz (ebd., 120) spricht an dieser Stelle
von der „‚Ausbeutung‘ der Familien“.
Kinderlose erwerben mithin im Fall doppelter Erwerbstätigkeit durch ihre monetären Beiträge zur Rentenversicherung auch einen doppelten Anspruch auf Altersversorgung, wobei sie ihren generativen Beitrag, der für das Funktionieren
des Umlagesystems konstitutiv ist und dem bereits zitierten Bonmot Konrad
Adenauers zufolge selbstverständlich schien, nicht leisten. Hier wird zugleich
offenkundig, daß diese große soziale Frage der Gegenwart nicht ausschließlich
die Frage nach der intergenerationellen Gerechtigkeit, also nach der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, ist, sondern vielmehr auch die nach der
intragenerationellen Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit also zwischen den
Kinderlosen und den Eltern aus der jeweils gleichen Generation.
Aus der Perspektive der Sozialpolitik stellt sich hier – und das sei nur angedeutet
– die Frage, ob entweder die ältere Generation einen Teil der Belastungen selber
übernehmen oder ob man das gesamte Verfahren ändern und auf ein kapitalgedecktes System umsteigen solle. (Vgl. Hauser 2005, 245.)
Aber die sozialpolitische Sichtweise der Generationengerechtigkeit bleibt nicht
allein auf das Verhältnis der – grob eingeteilt – drei jetzt lebenden Generationen
beschränkt. Die Ansprüche auf künftige Rentenzahlungen werden als Staatsschuld im weiten Sinn zusammengefaßt und werden als Belastungen der kommenden Generationen bezeichnet und quantifiziert. Richard Hauser weist mit
Recht darauf hin, daß „auch die öffentliche Diskussion […] immer mehr von der
Vorstellung beherrscht (wird) daß wir ohne radikale Reformen unseren Kindern
und Kindeskindern einen übermäßig hohen ‚Schuldenberg‘ hinterlassen würden.“ (Hauser 2005, 245.) Damit greift die Problematik der Generationengerechtigkeit auch in diesem Problemfeld über die jetzt Lebenden hinaus.
3. Zur finanzwirtschaftlichen Frage – Der Umgang mit der Staatsverschuldung
Gerade angesichts der aktuellen Debatte um den Rettungsschirm für Griechenland, angesichts der EU-weiten Suche nach Möglichkeiten, Griechenland und
weitere Länder im Euro-Raum mit Haushalts- und Verschuldungskrisen wie
Irland, Portugal, Spanien und Italien vor dem Staatsbankrott zu bewahren,
kommt die Frage der Staatsverschuldung verstärkt in den Blick – „die Staatsverschuldung, die in der Finanzwirtschaft und auch in der Politik als ein Instrument
gesehen wird, eine bestimmte problematische Situation zu lösen. Wie jedes Politikinstrument hat auch die Staatsverschuldung bestimmte Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, die je nach Situation Probleme erzeugen oder aber lösen.“ (Gaschick 11.11.2011, 1.)
Wie bereits erwähnt, wird in der Öffentlichkeit das Instrument der Staatsverschuldung weithin gleichgesetzt mit einem Schuldenberg, der den kommenden
Generationen als Abzahlungslast ungerechtfertigter Weise aufgebürdet wird. Die
Staatsverschuldung wird somit per se als Faktor großer Ungerechtigkeit angesehen – ob aber dadurch tatsächlich „Gerechtigkeitsprobleme zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft erzeugt werden“ (ebd., 2), ob also, das ist der
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interessante Punkt in diesem Kontext, wirklich ein Gerechtigkeitsgefälle zwischen heute und zukünftig lebenden Generationen entsteht, ist aus wissenschaftlicher Perspektive erst noch einmal differenzierter zu untersuchen.
Eine solche Untersuchung kann im Rahmen meines Beitrags selbstverständlich
weder geleistet noch entsprechend differenziert dargestellt werden. Eine zu dieser Frage gerade entstehende Dissertation stellt heraus, daß man in diesem Kontext einerseits einen Blick auf die „impliziten Staatsschulden Deutschlands werfen“ könnte, wobei man dann „angesichts der großen Nachhaltigkeitslücke feststellen [würde]: Die heutigen Generationen leben auf Kosten der zukünftigen.“
(ebd., 2) Beim Blick auf die explizite, verbriefte Staatsverschuldung macht sie
deutlich, daß es drei unterschiedliche Theorien gibt, die z.T. zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommen, was die Bewertung der Staatsverschuldung
als Last für die kommenden Generationen angeht. Ihr Fazit lautet: „Wir können
intergenerative Verteilungswirkungen nicht ausschließen, müssen also davon
ausgehen, daß durch Staatsverschuldung zumindest eine gewisse Last in die
Zukunft verschoben wird, daß sich mithin ein Gerechtigkeitsproblem zwischen
heute lebenden und zukünftigen Generationen auftut.“ (ebd., 5). „Aus ökonomischer Sicht können wir feststellen: Die zukünftige Last besteht im geringeren
Kapitalstock, im verlangsamten Wachstum, in weniger Realeinkommen, in weniger Konsum“. (ebd.)
IV. Generationengerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit
Nach diesen Überlegungen ist es an der Zeit, uns der Frage nach der ethischen
Problematik genauer zu widmen. Was genau ist das Gerechtigkeitsproblem im
Rahmen der aufgezeigten Bereiche, für die vor allem der Begriff der Generationengerechtigkeit Anwendung findet? Warum ist es ein Gerechtigkeitsproblem
und welche Elemente sind für eine Lösung unverzichtbar mitzubedenken?
Im Zentrum sozialethischer Reflexion steht die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, d.h. nach der Gerechtigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen. Im folgenden ist also zumindest kurz zu fragen nach dem christlichsozialethischen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das dem Stand der aktuellen gesellschaftlich-politischen und auch wissenschaftlichen Debatte entspricht.
1. Soziale Gerechtigkeit als Teilhabe und Teilnahme
Diverse Untersuchungen zur christlichen Sozialethik heben seit einiger Zeit
verstärkt darauf ab, daß ihr Kernbegriff, die soziale Gerechtigkeit, nicht, wie
weithin in der gesellschaftlich-öffentlichen und in der Fachdiskussion (noch)
verbreitet, primär als Frage der Herstellung ökonomischer Gerechtigkeitsverhältnisse (im Sinne der ökonomischen Gleichheit) und der staatlichen Verteilungspolitik bezeichnet werden kann. Zwar werden im klassischen Verständnis der Soziallehre – wie etwa bei Pius XI. – die Früchte der Bemühungen um mehr soziale
Gerechtigkeit noch vorrangig im ökonomischen Bereich gesucht, doch hat die
neuere Sozialverkündigung diese Konzentration allein auf ökonomische Fragestellungen auf der Basis ihres person-fundierten und -zentrierten, ethischen Ansatzes bereits deutlich als Engführung kenntlich gemacht. So interpretiert etwa
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der hier wegweisend gewordene amerikanische Wirtschaftshirtenbrief von 1986
„Economic Justice for All“ die Formel von der „sozialen Gerechtigkeit“ durch
die Formel von der „kontributiven Gerechtigkeit“ (contributive justice): Soziale
Gerechtigkeit beinhaltet demnach, „daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und
produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft
die Verpflichtung hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen.“ (Nationale Konferenz der Katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika
1986).
Soziale bzw. kontributive Gerechtigkeit zielt also auf ein für jeden Menschen
gegebenes Mindestmaß an Teilnahme und Teilhabe an Prozessen, Einrichtungen
und Errungenschaften innerhalb der menschlichen Gesellschaft. M.a.W.: Jeder
Mensch ist verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zum
gesellschaftlichen Gelingen (klassisch formuliert: zum gesellschaftlichen Gemeinwohl) zu leisten, und umgekehrt ist die Gesellschaft verpflichtet, eben dies
zu ermöglichen. An dieser Stelle sei nur darauf verwiesen, daß hier das Sozialprinzip der Subsidiarität anklingt. Ähnlich urteilt die Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991, wo die Rede ist von der „Beteiligungsgerechtigkeit“, der „partizipativen Gerechtigkeit“ (Evangelische Kirche in Deutschland 1991).
Eine ebenso umfassende Definition des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit findet sich in dem Sozialwort der beiden Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität
und Gerechtigkeit“ von 1997, demzufolge der Begriff der sozialen Gerechtigkeit
Folgendes besagt: „Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen
ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von
Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen
und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen.“ (Evangelische Kirche in
Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz 1997, Nr. 111.) Es geht also letztlich
darum, daß jeder Mensch eine menschenwürdige Existenz, frei von Exklusion
und Demütigung, führen kann.
2. Der Bezug auf Freiheit und Menschenrechte
Wird in ökonomisch verkürzender Weise der Begriff der sozialen Gerechtigkeit
weitgehend mit Verteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt, dann besteht in diesem
Denken die Funktion des Sozialstaates im wesentlichen darin, unter FairneßGesichtspunkten eine angemessene Umverteilung der Einkommen der Gesellschaft vorzunehmen. Für die Frage nach der Staatsverschuldung etwa oder der
sozialpolitischen Problematik impliziert dies dann, daß der Sozialstaat nur darum
bemüht ist und sein muß, die durch den Schuldendienst entstehenden Belastungen bzw. durch die höheren Ausgaben für die adäquate Versorgung der älteren
Generation ggf. drohende materielle Mangelsituation der Betroffenen durch
materielle Kompensation weitgehend auszugleichen. Die darüber hinausgehenden Folgen in ihrer personbezogenen Komplexität kommen hier gar nicht in den
Blick.
Die Erweiterung der Perspektive im Begriff der partizipativen Gerechtigkeit aber
impliziert ein grundlegend anderes Verständnis: Nicht länger fordert Gerechtigkeit allein die (finanzielle) Kompensation von Mangelsituationen und Unfreiheit,
sondern die Ermöglichung von Freiheit und die Eröffnung von Chancen. Nicht
172
länger geht es primär oder sogar ausschließlich um materielle Aspekte, sondern
in der geänderten Perspektive ist das Anliegen – ohne die bleibende Notwendigkeit sozialstaatlicher Umverteilung gänzlich in Abrede stellen zu wollen – umfassender, nämlich Rahmenbedingungen bereitzustellen, die es ermöglichen, daß
die Menschen ihre „Freiheits- und Partizipationsrechte überhaupt genießen und
die im demokratischen Verfassungsstaat eröffneten Freiheitsräume gestalten (…)
können.“ (Wildfeuer 2000, 304.)
Soziale Gerechtigkeit meint also nichts anderes als „das fortgesetzte sittlichpraktische Bemühen um die Schaffung der Möglichkeitsbedingungen, unter
denen sich Freiheit im sozialen Raum als Partizipation an allen sie betreffenden
Vorgängen verwirklichen kann“ (Nothelle-Wildfeuer 1999, 85).
Gehen wir von diesem Verständnis sozialer Gerechtigkeit aus, so stellt sich die
Generationengerechtigkeit als die diachrone Dimension sozialer Gerechtigkeit
dar. Es geht in der Tat darum, es auch den kommenden Generationen zu ermöglichen, daß sie ihre Freiheits- und Partizipationsrechte genießen und ihre Freiheitsräume gestalten können. Es geht um den Erhalt ihrer nicht nur physischen
Lebensbedingungen.
Anders als der eingangs bereits zitierte Armutsforscher Richard Hauser handelt
es sich nach diesem hier vorgestellten Ansatz bei der Generationengerechtigkeit
nicht um eine Facette der Sozialen Gerechtigkeit, die zu den bisher bekannten
Facetten sozialer Gerechtigkeitsproblematik hinzukommt, sondern – umfassender – um deren diachrone Dimension, die notwendig mitzubedenken ist. Sie wird
an den aufgezeigten Problemfeldern in besonderer Weise deutlich, ist aber nicht
begrenzt auf diese. Sie trägt diese diachrone Dimension, die Zeitschiene, in alle
Politikfelder als unverzichtbare Dimension ein.
In diesem Sinne ist dann im Blick auf die Problematik der Last, die kommenden
Generationen aufgebürdet wird, zu fragen, ob soziale Gerechtigkeit als Partizipation, als Realisierung der eigenen Würde und Freiheit für die kommenden Generationen, als Inanspruchnahme ihrer Menschen- und Grundrechte noch unverändert möglich ist, wenn die Staatsverschuldung zu Einbußen im Blick auf Wachstum, reales Einkommen und Konsummöglichkeiten führen, was dann aber auch
und vor allem eine Einschränkung und Beschneidung des individuellen Handlungsspielraum bedeutet. Die im ersten Teil genannten Problemfelder von Generationengerechtigkeit sind also nicht ausschließlich, noch nicht einmal vorrangig
aus finanziellen Gründen ein Gerechtigkeitsproblem, es geht nicht allein um
Fragen der ökonomischen Gleichheit zwischen den jetzt und zukünftig Lebenden. Vielmehr geht es darüber hinaus um ihre freiheitlichen und der jeweiligen
Würde entsprechenden Lebensmöglichkeiten.
Aus spezifisch christlich-sozialethischer Perspektive geht es im Kontext der
Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit immer auch um die Option für die
Armen, für die, die am Rand der Gesellschaft stehen und die ihre eigenen Interessen, die Realisierung ihrer Freiheitsrechte, nicht artikulieren können. Von
daher gibt es gerade für die kommenden Generationen aus dieser Option heraus
eine besondere Verpflichtung, sich für sie und die Realisierungsmöglichkeit ihrer
Rechte in der Zukunft verstärkt einzusetzen.
173
V. Anfragen an das Konzept von Generationengerechtigkeit
Das so entwickelte Verständnis von Generationengerechtigkeit als diachrone
Dimension von sozialer Gerechtigkeit muß sich innerhalb der gesellschaftlichen,
politischen und auch wissenschaftlichen Debatte selbstverständlich diversen
Anfragen stellen, auf die im folgenden noch kurz einzugehen ist.
Wurde oben soziale Gerechtigkeit definiert als Bestreben, allen Menschen die
Inanspruchnahme ihrer Freiheits- und Partizipationsrechte, d.h. ihrer Menschenund Grundrechte überhaupt zu ermöglichen, und impliziert die Rede von der
Generationengerechtigkeit die Entfaltung dieses Ansatzes auch auf Zukunft hin,
so bedeutet dies, „daß die kommenden Generationen Menschen- bzw. Grundrechte haben werden, die heute schon unmittelbare Konsequenzen für politisches
Handeln besitzen.“ (Lienkamp 2008, 205.)
An diesem Zusammenhang knüpft eine die ebenfalls einleitend bereits erwähnte
zentrale Anfrage an, die der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Läßt sich gehaltvoll davon sprechen,
daß Menschen, von denen heute niemand wissen kann, ob sie überhaupt jemals
existieren werden, Rechte haben?“ (Brumlik 1995, 18) Eine Alternative zur Rede
von Rechten stellt etwa die Rede von „Interessen“ der nachkommenden Generationen dar – so etwa in einem Gesetzesentwurf von 2006 von mehr als 100 Abgeordneten zur Einführung eines Artikels 20b im GG als Generationengerechtigkeitsgesetz –, oder die Rede von „Bedürfnissen“, etwa in Dokumenten der Vereinten Nationen. Brumlik gibt seine Antwort auf die von ihm formulierte Frage
durch eine rhetorische Frage, die bereits seine Lösung der Problematik andeutet:
„Wie soll andererseits eine langfristige Verantwortung für Natur und Gesellschaft gedacht werden, wenn den heute noch nicht bekannten, möglichen Menschen nicht mindestens ein schwacher moralischer Anspruch eingeräumt wird?“
(Brumlik 1995, 18).
Das gemeinsame Sozialwort der beiden Kirchen von 1997 spricht darüber hinausgehend nicht nur von einem schwachen moralischen Anspruch, sondern
vielmehr deutlich von dem Recht der künftigen Generationen auf ein Leben in
intakter Umwelt. Daß dieses sog. Recht der dritten Generation in einem strikt
juristischen Sinn wiederum höchst problematisch ist, liegt auf der Hand, ist doch
nicht zu klären, wer der Adressat eines solchen Rechts sein kann. M.E. ist auch
eher angemessen, wenn es tatsächlich um Rechte geht, hier die Freiheits- und
Teilhaberechten der kommenden Generationen in den Blick zu nehmen. Entscheidend ist nach meinem Dafürhalten auf jeden Fall, daß selbstverständlich
auch im Blick auf die kommenden Generationen und die zukünftig lebenden
Menschen von Menschenrechten gesprochen werden kann, kommen diese doch
aufgrund der für alle Menschen gleichen Menschenwürde auch allen Menschen
gleichermaßen zu. Selbstverständlich impliziert die Universalität der Menschenrechte nicht nur die räumliche, globale, weltweite Ausweitung der Gültigkeit,
sondern auch die zeitlich unbegrenzte Gültigkeit. Eine Begrenzung der Verpflichtung, diese Menschenrechte mit in den Blick zu nehmen, auf die nächsten
zwei oder drei Generationen scheidet damit auch aus. Es kann keine Befristung
oder abgestufte Gültigkeit geben.
174
Die eben erwähnte Rede von den Rechten der dritten Generation, wie z.B. Recht
auf eine intakte Umwelt, das ein nicht einklagbares, nicht justitiables Recht darstellt und von daher eher eine moralische Verpflichtung impliziert, ist deswegen
allerdings keineswegs unbedeutend. Gerade das Fehlen eins direkten Adressaten,
dem gegenüber man dieses Recht einklagen könnte, macht zugleich deutlich, daß
die Realisierung sozialer Gerechtigkeit auch in diachroner Perspektive nicht
einfach nur eine Aufgabe des Staates ist, das würde eine etatistische Verkürzung
des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit darstellen. Vielmehr ist es immer auch
eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft, auch den kommenden Generationen eine
Welt mit adäquaten Rahmenbedingungen zur Realisierung von Freiheit und
Partizipation zu ermöglichen.
Ein weiterer Einwand sieht die Rede von Rechten erst dann als gerechtfertigt und
möglich an, wenn die Rechtssubjekte auch entsprechende Pflichten übernehmen
können. Hier ist rein formal zunächst einzuwenden, daß dieses Argument so
nicht haltbar ist, denn deutschen Rechtsordnung zufolge haben bereits ungeborene Menschen Rechte (z.B. das Recht auf Leben oder Erbrecht), ohne daß dem
konkrete Pflichten korrespondieren. Aus einer systematischen Perspektive ist
ferner darauf zu verweisen, daß zwar selbstverständlich Rechte und Pflichten
miteinander korrespondieren, daß aber damit nicht die Engführung auf die Entsprechung in einer gleichen Generation gemeint ist. Vielmehr kann man mit
Verweis auf das Konzept der Tauschgerechtigkeit des Tübinger Philosophen
Otfried Höffe von einem phasenverschobenen Gerechtigkeitsverständnis sprechen: die zukünftig lebenden Menschen, für die heute bereits Rechte geltend
gemacht werden, haben zu ihren Lebzeiten wiederum Pflichten den dann gegenwärtig und zukünftig lebenden Generationen gegenüber, genauso wie die jetzt
lebenden Generationen bereits Rechte den damals Lebenden gegenüber hatten,
als sie noch nicht existierten.
Gelten Menschenrechte von Natur aus, also ohne Bindung an irgendwelche
Konditionen oder Erfüllung von Voraussetzungen, dann sind sie selbstverständlich auch nicht abhängig davon, ob sie schon von den Rechtssubjekten selbst als
Anspruch geltend gemacht werden können. Auch hier hilft der Blick auf die
Rechte von Menschen mit Behinderung, von Säuglingen und Kindern etc.
6. Fazit: Generationengerechtigkeit als Prüfstein allen Handelns
Generationengerechtigkeit meint in ethischer Hinsicht soziale Gerechtigkeit in
diachroner Perspektive (vgl. Veith 2006, bes. 161-167). Es geht um die aus der
universalen Geltung der Menschenrechte erwachsende Verpflichtung, dem heute
schon geltenden Anspruch der nachfolgenden Generationen gerecht zu werden
und ihnen Lebensräume offen zu halten, die ihnen die Realisierung ihrer individuellen Freiheit zu ihrer jeweiligen Zeit genauso ermöglichen wie es uns gegenwärtig ermöglicht wird. Dabei gibt es keine zeitliche Einschränkung und auch
keine unterschiedliche Gewichtung der Verantwortung für die Gegenwart und
die Zukunft, wie es so häufig im politischen Handeln passiert. Keinesfalls geht
es darum, daß mit diesem Verständnis von Generationengerechtigkeit den Menschen vorgeschrieben werden soll, welches konkrete Lebenskonzept sie leben
175
sollen, Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, daß aufgrund der allen gleichen und sich nicht prinzipiell ändernden condition humaine auch bei allen die
annähernd gleichen basalen Bedürfnisse und Interessen zu unterstellen sind. Es
geht um „Rechte auf Grundgüter, welche die Bedingung der Möglichkeit (guten)
menschlichen Lebens darstellen“ (Lienkamp 2008, 206), um transzendentale
bzw. konditionale Güter.
Für das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Handeln bedeutet damit
das Verständnis von Generationengerechtigkeit auch nicht das Hinzufügen eines
weiteren Feldes, das neben vielen anderen auch – noch – bearbeitet werden muß,
für das es spezifische Lösungskonzepte zu entwickeln gälte. Es geht vielmehr
um die Perspektive, aus der heraus alle anstehenden Fragen zu bedenken sind:
Wurde oben bereits gesagt, daß das Humanum der entscheidende Maßstab für
alles Handeln ist, so gilt dies uneingeschränkt weiter, das Konzept der Generationengerechtigkeit zeigt nur dessen diachrone Dimension und die ethische Relevanz der Zeit in den Blick.
Alles, was wir tun, ist auf die Konsequenzen für die kommenden Generationen
hin zu prüfen – nicht mehr und nicht weniger besagt der Maßstab der Generationengerechtigkeit. Wir brauchen nicht nur ein gendermainstreaming, sondern
auch ein intergenerational mainstreaming.
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Birnbacher, Dieter; Schicha, Christian (2001): Vorsorge statt Nachhaltigkeit. Ethische
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und Gesellschaft. Grafschaft: Vektor-Verlag, S. 297-316.
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche
Gesellschaftslehre an der Universität Freiburg.
177
Ulrich Schlie
Streitkräfte als Instrument
nationaler Sicherheitsvorsorge
Zur Neuausrichtung der Bundeswehr
I.
Wozu braucht Deutschland eigentlich Streitkräfte? Zehn Jahre, vom Kriegsende
1945 bis zum Beitritt in die Nordatlantische Allianz im Jahr 1955, ist Deutschland
in Folge der politisch-militärischen Totalkapitulation und der moralischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ganz ohne Streitkräfte ausgekommen. Die Ausgangslage für die Bundeswehr – auch dieser Name ist den bescheidenen Ansprüchen einer besonderen politischen Konstellation geschuldet – war vor diesem Hintergrund nicht unbedingt günstig. Der Bruch mit den unheilvollen militärischen
Traditionen der Wehrmacht und die Bindung des Dienstes in den Streitkräften an
die Normen und Werte des Grundgesetzes wurden folglich zur Leitlinie bei der
Aufstellung der Bundeswehr. Die Konzeption der Inneren Führung und das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform stehen dafür als einprägsame Formeln. „Die
Bundeswehr schön friedlich“ war lange Zeit der Slogan in den Zeiten des Kalten
Krieges. Für das Zeitalter, das mit den dramatischen Veränderungen nach dem 9.
November 1989 – und erst recht seit dem 11. September 2001 angebrochen ist –
war diese Formel indes nie tauglich. Wurde Anfang der 1990er Jahre noch in der
Öffentlichkeit bisweilen über die nicht ausbezahlte Friedensdividende geklagt, so
war bald darauf klar, daß sich das wiedervereinigte Deutschland einer Vielzahl
insbesondere internationaler Verpflichtungen nicht entziehen konnte. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden zum Beschleuniger für die neue Rolle des
wiedervereinigten Deutschland, und sie beschreiben eine allmähliche Entwicklung,
die sich über Somalia, das ehemalige Jugoslawien, Afghanistan und die Küsten des
Libanon bis in unsere Gegenwart fortgesetzt hat. Eine wirklich große Debatte über
Sicherheitspolitik hat es indes in Deutschland seit 1990 nie gegeben, allenfalls
punktuelle Diskussionen mit großer Anteilnahme, im Zusammenhang mit Flüchtlings- und humanitären Katastrophen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien,
1995 in Bosnien-Herzegowina und 1999 im Kosovo.
Wenn jetzt die Neuausrichtung der Bundeswehr durch Bundesminister de Maizière
zu einem Nachdenken über den Auftrag, die Zielsetzung und die künftigen Herausforderungen für deutsche Streitkräfte führt, so liegt darin zugleich eine Chance für
die Bundeswehr und für die Verbreiterung des sicherheitspolitischen Verständnisses der Deutschen insgesamt. Denn das Bewußtsein, daß Streitkräfte ein unentbehrliches Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes sowie Grundlage des Selbstbehauptungswillens und der Verteidigungsbereitschaft der Nation
sind, ist Voraussetzung dafür, daß die richtigen Weichenstellungen getroffen wer178
den und die Besonderheiten soldatischen Dienens durch die Gesellschaft anerkannt
und gewürdigt werden. Es schadet deshalb nicht, sich zunächst die grundlegenden
Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik ins Gedächtnis zu rufen.
II.
Ziel deutscher Sicherheitspolitik ist seit jeher die Sicherung von Frieden, Freiheit
und Wohlstand. Die Aufgaben der Bundeswehr leiten sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Auftrag und den Zielen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ab. Der Wandel der Streitkräfte vollzieht sich im
Einklang mit den sicherheitspolitischen Grundentscheidungen und im festen Verständnis der bewährten Prinzipien und militärischen Traditionen. Bestimmend
dafür bleibt, daß Deutschland sich als gestaltendes Mitglied zur atlantischen Allianz als dem Grundpfeiler seiner Verteidigung bekennt und zur Gestaltung und
weiteren Vertiefung der Europäischen Union sowie zur Fortentwicklung und Stärkung der Vereinten Nationen beitragen wird.
Das sich wandelnde strategische Umfeld, neue Risiken und Gefährdungen, auch
jenseits des Militärischen, der internationale Terrorismus, zerfallende Staaten ebenso wie Krisen und Konflikte außerhalb der Europäischen Union und des Bündnisgebietes stellen Deutschland und seine Partner heute vor immer neue Herausforderungen. Sicherheit und Wohlstand hängen in einem immer stärkeren Maße als
früher von den Entwicklungen der übrigen Welt ab. Damit eröffnen sich neue
Gestaltungsspielräume, aber auch neue Gefährdungen treten hervor. Dies alles
bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Fähigkeiten, Umfang und Strukturen der
Streitkräfte und die Ausgestaltung der Wehrform. Zu den planerischen Unwägbarkeiten gehört, daß niemand die Zukunft vorhersagen kann, unvorhergesehene Ereignisse jederzeit zu Trendwendungen führen und neue Schwerpunktsetzungen
hervorrufen können. Umso wichtiger ist es, über eine klare Vorstellung seiner
Interessen und Ziele zu verfügen und zu wissen, mit welchen Streitkräften am
besten auf die Szenarien von heute und morgen reagiert werden kann.
Der strategische Rahmen für den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr als
Teil der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien beschrieben. Sie formulieren die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und die langfristigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Sie
gründen auf einer Beurteilung der gegenwärtigen Lage, beziehen gegenwärtige
sowie wahrscheinliche künftige Entwicklungen ein und sind Ausgangspunkt für
eine Überprüfung der gegenwärtigen Fähigkeiten, Verfahren und Strukturen der
Bundeswehr, die auch weiterhin in regelmäßigen Abständen erfolgt. Sie bilden die
verbindliche Grundlage für die Konzeption der Bundeswehr und für alle weiteren
Folgearbeiten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die
Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011 stehen in der logischen Folge des
Weißbuches der Bundesregierung von 2006 als nationalem Dachdokument, das
den strategischen Rahmen für den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr als
Teil gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge beschreibt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien stellen zu Recht heraus, daß Deutschlands Sicherheit untrennbar
179
mit der politischen Entwicklung Europas und der Welt verbunden ist. Der Gedanke, daß Deutschland seine sicherheitspolitischen Ziele und Interessen nur zusammen mit seinen Partnern erreichen kann, ist deshalb leitend für die Aufgaben und
das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und bildet den roten Faden der Neuausrichtung.
Die strategischen Überlegungen folgen einer sicherheitspolitischen Bedrohungsanalyse, der Beurteilung der geostrategischen Lage, und sie haben unmittelbare
Rückwirkungen auf Streitkräfte, insbesondere auf deren Umfang, Strukturen,
Wehrform und Ausrüstung. Die gestaltende Mitwirkung in den internationalen
Organisationen ist unmittelbar mit der nationalen Sicherheit verbunden und damit
auch Garant für den Wohlstand des Landes. Dies setzt eine enge Abstimmung mit
den Partnern voraus. Fähigkeitsorientierte und im multinationalen Rahmen einsetzbare Streitkräfte werden künftig in deutlich größerem Umfang als bisher in der
Lage sein, den Bündnisverpflichtungen Deutschlands nachzukommen.
Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr orientieren sich an einem neuen, breiteren
Verständnis von Sicherheit sowie von Risiken und Bedrohungen. Strategische
Unwägbarkeiten erfordern heute von den Streitkräften der Zukunft höhere Flexibilität. Das Ziel bleibt die Wahrung deutscher Sicherheitsinteressen. Diese ergeben
sich aus der Geschichte, der geographischen Lage und den internationalen Verflechtungen der Ressourcenabhängigkeit des Landes als Hochtechnologiestandort
und rohstoffarme Exportnation. Sie sind nicht statisch, sondern müssen an das sich
wandelnde strategische Umfeld angepaßt werden.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien legen erstmals einen nationalen „Level of
Ambition“ als verbindliche Grundlage für die Konzeption der Bundeswehr und
gesamte Ausplanung der Streitkräfte fest. Die Fähigkeit, auf zusätzliche Herausforderungen angemessen reagieren zu können, ist Voraussetzung für politische
Handlungsfähigkeit. Dazu ist das Spektrum des Fähigkeitsprofils „breit“ angelegt,
kann im Umfang und nach Einsatzdauer jedoch differenziert ausgeplant werden.
Die Durchhaltefähigkeit ist dabei von der Form des Einsatzes abhängig. Bestimmte
Kräfte werden nur in der Anfangs- oder Endphase einer Operation benötigt, andere
dauerhaft. Der Einsatz der Streitkräfte im Rahmen von Krisenvorsorge und bewältigung bleibt strukturbestimmend. Hierzu sind zukünftig streitkräftegemeinsame, eskalations- und durchsetzungsfähige Kräfte erforderlich, die gleichzeitig für
Einsätze in unterschiedlichen Einsatzgebieten zur Verfügung stehen. Dafür wird
die Bundeswehr zeitgleich rund 10.000 Soldaten durchhaltefähig vorhalten. Darüber hinaus sind auch weiterhin Kräfte für deutsche Anteile an der NATO Response
Force, der EU Battlegroup, dem United Nations Standby Arrangement-System, zur
Rettung, Evakuierung und Geiselbefreiung im Ausland sowie zur Überwachung
und Sicherheit im deutschen Luft- und Seeraum vorgesehen.
III.
Damit sind die Ausgangslage und der Auftrag der von Bundesminister zu
Guttenberg begonnenen und von seinem Nachfolger de Maizière fortgesetzten
Neuausrichtung der Bundeswehr beschrieben. Ganz wesentlich hat sie zum Ziel,
180
die Bundeswehr so aufzustellen, daß sie auf die strategischen Herausforderungen
der Welt der Gegenwart ausgerichtet ist, und dies bedeutet in der Praxis, die Bundeswehr so aufzustellen, daß sie ihre Aufgaben künftig besser erfüllen kann als
bisher. Es geht deshalb darum, Fähigkeiten, Strukturen und Prozesse konsequent
und umfassend auf die Erfordernisse des Einsatzes auszurichten. Leitidee ist dabei
das Verständnis, daß Deutschland Streitkräfte braucht, die modern, leistungsstark,
wirksam und finanzierbar sind, die auf die gegenwärtigen Situationen reagieren
können und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen anzupassen.
In den im Mai 2011 verabschiedeten „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ ist die
inhaltlich-strategische Begründung für die Neuausrichtung auf die einprägsame
Formel „Nationale Interessen wahren – internationale Verantwortung übernehmen
– Sicherheit gemeinsam gestalten“ gebracht worden. Im Herbst folgten die Stationierungsentscheidungen nach. Die endgültige Einnahme der neuen Struktur wird
voraussichtlich fünf bis sieben Jahre dauern. Die Konturen indes stehen fest. Dazu
zählt der künftige Gesamtumfang von 185.000 Soldaten, der sich aus 170.000
Berufs- und Zeitsoldaten sowie einem festen Anteil von 5.000 freiwilligen Wehrdienstleistenden und einem variablen Anteil von bis zu 10.000 weiteren freiwillig
Dienstleistenden zusammensetzt. Die neuen Umfangszahlen der Teilstreitkräfte
und militärischen Organisationsbereiche tragen dem in den Verteidigungspolitischen Richtlinien umrissenen Auftrag der Bundeswehr Rechnung: Das Heer ist mit
55.750 Soldaten, die Luftwaffe mit 22.550 Soldaten, die Marine mit 13.050 Soldaten, der Sanitätsdienst mit 14.620 Soldaten und die Streitkräftebasis mit 36.750
Soldaten ausgeplant. Hinzu kommen künftig 30.460 Soldatinnen und Soldaten, die
sich turnusmäßig in Ausbildung befinden oder in den anderen Organisationsbereichen (insbesondere Personal, Infrastruktur und Dienstleistungen sowie Rüstung,
Nutzung, Informationstechnologie) zugeordnet werden. Zudem wird es künftig nur
noch 55.000 zivile Mitarbeiter – Beamte, Angestellte und Arbeiter – gegenüber
heute knapp 100.000 geben. Wer eine Vergleichsrechnung anstellt, wird diese Zahl
zum Gesamtumfang hinzuaddieren müssen.
Die Bundeswehr liegt damit im internationalen Vergleich nahezu gleichauf mit den
britischen Streitkräften, deren Gesamtstärke von 264.300 sich in einem militärischen Anteil von 178.500 sowie in einen sich auf 85.800 belaufenden Anteil für
Zivilpersonal aufteilt. Im Verhältnis zwischen Militär zu Zivilpersonal – grosso
modo in Deutschland schon vor der Neuausrichtung 3:1 – schneidet die Bundeswehr im Vergleich mit Großbritannien (2:1) und den USA (1,5:1) sogar deutlich
besser ab. Die Bundeswehr wird also durch die jetzt erfolgte Reform weder „verzwergt“, noch wird sie in ihrer Aufgabenwahrnehmung begrenzt. Manche kritische
journalistische Zuspitzung in diese Richtung entbehrt ihrer Grundlage.
IV.
Die konsequente Einsatzorientierung und Erfüllung der Bündnisverpflichtungen,
insbesondere mit Blick auf eine größere europäische Lastenteilung und eine Steigerung der Wirksamkeit der europäischen Verteidigungsausgaben, ist dabei bestimmendes Prinzip. Die durchgängige bundeswehrgemeinsame Auftragserfüllung
181
mit dem Ziel größtmöglicher Effizienz zählt zu den leitenden Prinzipien der Neuausrichtung der Bundeswehr.
Die Prämisse, daß Deutschland seine Interessen maßgeblich wahrnimmt über seinen gestaltenden Beitrag zu den Bündnissen und Organisationen, denen es angehört – insbesondere Nordatlantische Allianz, Europäische Union und Vereinte
Nationen, hat in der Praxis weitreichende Konsequenzen. Für alle Bündnisse und
supranationalen Organisationen gilt zunächst: Sie sind nur so stark, wie es das
Engagement ihrer Mitglieder zuläßt. Bündnissolidarität, Bündnistreue, Bündnispflege sind seit jeher die organisierenden Prinzipien deutscher Sicherheitspolitik.
Innere Ordnung und übernationales Zusammenwirken sind miteinander verbunden.
Deutschlands Platz ist die Wertegemeinschaft des Westens, ein starkes Europa, das
politisch zusammenfindet, Alleingängen und Gegenmachtphantasien eine Absage
erteilt hat und den Vereinigten Staaten echter Partner ist.
Vor diesem Hintergrund ist es deshalb naheliegend, daß die Entwicklungen in der
Nordatlantischen Allianz und der Europäischen Union bestimmend für die Neuausrichtung der Bundeswehr sind. Im Atlantischen Bündnis bildet insbesondere der im
Herbst 2010 auf dem Lissabonner Gipfel mit dem Strategischen Konzept bekräftigte Konsens dafür die Richtschnur. Im neuen Strategischen Konzept der Allianz
wird der Bedrohungsrahmen der Gegenwart beschrieben, und es werden Folgerungen für die Aufgaben des Bündnisses im 21. Jahrhundert gezogen. Kollektive
Verteidigung, Krisenbewältigung und kooperative Sicherheit durch Ausweitung
der Partnerschaftspolitik stellen dabei und auch künftig die wesentlichen Aufgaben.
Damit wird der sich seit Jahren abzeichnende Trend der Transformation der Nordatlantischen Allianz von einer einst rein militärisch geprägten Verteidigungsorganisation zu einem weltweit agierenden Bündnis beschrieben. Die Aufgaben der
kooperativen Sicherheit gewinnen dabei immer mehr an Gewicht. Dies bleibt nicht
ohne Rückwirkungen auf die Anforderungen an Streitkräfte mit Blick auf Einsatzfähigkeit, Mobilität und Durchhaltefähigkeit, und es steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anspruchsrahmen der Allianz, grundsätzlich über Fähigkeiten zu verfügen, die großangelegte und mehrere kleinere gemeinsame Streitkräfte–
Operationen im gleichen Zeitraum und im gesamten Intensitätsspektrum zu ermöglichen.
Im Herbst 2010 wurde deshalb in Lissabon ein ganzes Bündel Maßnahmen zur
Verbesserung der Fähigkeiten verabschiedet und im „Lisbon Capability Package“
zusammengefaßt. Die strategische und operative Luftaufklärung, Seetransport,
Lufttransport mit Transportflugzeugen und mittleren Transporthubschraubern
einschließlich der Luftbetankung, Combat Search and Rescue, Spezialkräften Cyber Operation Forces: auf all diesen Feldern ist die europäische und transatlantische Arbeitsteilung noch ausbaufähig. Mit ihrer Partnerschaftspolitik hat die Allianz zudem bewiesen, daß sie jenseits der Vollmitgliedschaft über Kooperationsangebote und -formen verfügt, die sie in die Lage versetzt, jenes weltweite Netz der
Sicherheit zu spannen, von dem einst Zbigniew Brzezinski gesprochen hat. Ohne
Partner könnte die Allianz heute ihre Missionen – nicht nur in Afghanistan – nicht
erfüllen. Der Kern der Allianz ist seit jeher die transatlantische Partnerschaft, und
182
es trifft sich gut, daß diese Kernpartnerschaft heute um eine Vielzahl von Partnerschaften „across the globe“ ergänzt wird. Denn nur im Rahmen der „Kooperativen
Sicherheit“, wo nötig auch mit entfernten Partnern „across the globe“, kann den
neuen globalen Bedrohungen entgegengetreten werden.
Wenn überall der Ruf nach Effizienz und Wirtschaftlichkeit ergeht, dann ist es
konsequent, daß in Europa die Verteidigungsanstrengungen noch mehr gebündelt,
Aufgaben gemeinsam oder arbeitsteilig wahrgenommen werden. Denn kein Staat
in Europa kann seine Sicherheit langfristig aus eigener Kraft gewährleisten. Es
wäre deshalb an der Zeit, auch bei Fragen der Sicherheit und Verteidigung in der
Zusammenarbeit zu einem großen Sprung anzusetzen und Europa zu der Rolle zu
befähigen, die seinem wirtschaftlichen und strategischen Gewicht als Partner
Amerikas entspricht. Dies hätte zweifelsohne weitreichende industriepolitische und
politisch-strategische Auswirkungen. Wie viele auch weltanschaulich begründete
Vorbehalte dabei noch zu überwinden sind, zeigt das Thema der Verbesserung der
Planungs- und Führungsfähigkeit der EU. Ohne permanente und somit eingespielte
zivil-militärische Hauptquartiere ist die Führung komplexer Operationen nicht
möglich. Konsequenterweise werden deshalb als Ergebnis der Gent-Initiative von
2010 Paketlösungen sowohl auf der strategischen als auch auf der operativen
Führungsebene untersucht, die insgesamt die Fähigkeit der EU zum vernetzten
Handeln deutlich erhöhen. Im Fokus steht dabei insgesamt eine Priorisierung von
Fähigkeiten entlang dreier zentraler Fragestellungen:
1. Wie können wir Redundanzen abbauen, z.B. Ausbildung gemeinsam effizienter
und effektiver gestalten?
2. Welches sind unsere jeweiligen nationalen militärischer Kernfähigkeiten, die wir
auch künftig in nationaler Verantwortung stellen wollen, wie z.B. militärische
Evakuierungsoperationen?
3. Auf welche Fähigkeiten könnten wir künftig national verzichten, weil sie besser
von anderen Partnern erfüllt werden können?
Die Ergebnisse fließen in die konkrete Streitkräfteplanung ein, und sie haben
natürlich unmittelbare Folgerungen für die nationale Rüstungsindustrie genauso
wie für die nationale Streitkräfteplanung. Vor dem Hintergrund von Kürzungen der
Verteidigungshaushalte in den meisten Staaten und im Bewußtsein, daß von
gemeinsamem militärischem Handeln entscheidende Impulse für die europäische
Einigung ausgehen, orientiert sich die Neuausrichtung an den europäischen
Streitkräftezielen. Dies bringt es mit sich, daß insbesondere in den Bereichen
Beschaffung, Ausbildungsorganisation, Logistik, Transport, Aufklärung und
Nachrichtengewinnung in noch stärken Maße als bisher mit dem Ziel der
Schaffung gemeinsamer Streitkräftestrukturen zwischen den Nationen zusammen
gearbeitet wird. Die Erfordernisse des Wirkens von deutschen Kontingenten in
multinationalen Verbänden und die Pflege der Fähigkeit zur Übernahme von
Führungsfunktionen in multinationalen Verbänden sind dabei von besonderer
Bedeutung. Ein weiteres Aufgabengebiet bildet die Fortentwicklung des EU
Battlegroup Konzepts. Eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, etwa im
Format des Weimarer Dreiecks, könnte hier den Weg in die Zukunft skizzieren.
183
Der ganzheitliche zivil-militärische Ansatz in der internationalen Krisenbewältigung ist eine weitere der Lehren aus allen Einsätzen der letzten Jahre in NATO
und EU, auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan. Streitkräfte können zwar die
Voraussetzungen für politische Lösungen schaffen, sind aber nicht in der Lage,
diese zu ersetzen. Besonders der Afghanistan-Einsatz hat gezeigt, daß Streitkräfte
allein keinen Frieden stiften können. Es gibt heute kaum eine militärische Operation, die nicht mit einer breiten zivilen Anstrengung verbunden ist. Umgekehrt
braucht ziviler Aufbau in Krisenregionen zumeist militärische Unterstützung und
Schutz. In diesem ganzheitlichen Ansatz, dem Comprehensive Approach, ist die
EU der NATO grundsätzlich überlegen. Jene verfügt über eine Palette an Instrumenten, die der NATO fehlen, für effektives Krisenmanagement aber unerläßlich
sind: Einen weltweit aufgestellten auswärtigen Dienst, enorme Mittel zur wirtschaftlichen Unterstützung, für humanitäre und Entwicklungshilfe, Polizeikontingente und Streitkräfte. Die Allianz wiederum besitzt ein unübertroffenes militärisches Potential und sichert den Europäern die Unterstützung Nordamerikas. Der
ganzheitliche Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ verbindet die konzeptionellen
Vorgaben der Nordatlantischen Allianz mit den Entscheidungen der Neuausrichtung der Bundeswehr. Die neue Übergangsstrategie für Afghanistan ist dafür im
besten Sinne Beispiel. Damit die NATO effizient mit anderen Organisationen
zusammenarbeiten oder selbst einige zivile Aufgaben übernehmen kann, wenn sie
muß, erhalten ihre militärischen Hauptquartiere jetzt auch eine Analyse- und Planungskapazität aus zivilen Experten.
V.
Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat damit nicht zuletzt signifikante Auswirkungen auf die materielle Ausstattung in Qualität und Quantität. Militärische Anforderungen, abgeleitet aus den Einsatzerfahrungen und den Analysen zu wahrscheinlichen künftigen Einsätzen, fordern auch weiterhin eine kontinuierliche
Anpassung und Modernisierung. Der Bedarf der Streitkräfte ist daher der Maßstab
für die Ausstattung und bestimmend für die Kooperationen mit der Industrie.
Die entscheidende Ressource der Bundeswehr von morgen bleibt indes ihr Personal: Gut ausgebildete, motivierte, leistungsfähige Menschen sind und bleiben das
Rückgrat jeder Streitkräfte. Eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr besteht deshalb darin, sie als attraktiven Arbeitgeber zu
erhalten. Unter den gegebenen demographischen Entwicklungen ist dies eine strategische Herausforderung. Attraktivität kann indes nur erzielt werden, wenn eine
aktive Personalpolitik und Fürsorge Anreize zu schaffen versteht und ein gesamtgesellschaftliches Klima sichergestellt ist, in dem das Ansehen der Streitkräfte
erhalten und die Besonderheiten des soldatischen Dienens auf angemessene Weise
gewürdigt werden.
Damit die Angehörigen der Bundeswehr unterstützt werden, die reformbedingten
Belastungen zu bewältigen und um eine sozialverträgliche Personalanpassung zu
erreichen, hat Bundesminister de Maizière in einem Bundeswehrreform-Be-
184
gleitgesetz Maßnahmen und Instrumente zusammengefaßt, die wesentlich für die
Verwirklichung der Neuausrichtung sind.
Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat weitreichende Auswirkungen auf das
militärische und zivile Personal. Neben einer deutlichen Reduzierung des Gesamtumfangs der Streitkräfte sowie des zivilen Personals ist eine grundlegende Umstrukturierung des gesamten Personalkörpers erforderlich, damit das Ziel einer
stärkeren Einsatzausrichtung und Effizienzsteigerung erreicht werden kann. Dieser
personelle Anpassungsprozeß ist durch den Dreiklang von Abbau, Umbau und
Aufbau gekennzeichnet.
Eckpunkt der Reform ist dabei die notwendige Umfangreduzierung im Bereich der
Berufssoldaten und Beamten, die bis zum Jahr 2017 erreicht werden soll. Vorrangig wird für das Personal, das in den neuen Strukturen der Bundeswehr keine originären Aufgaben mehr finden kann, die Weiterbeschäftigung angestrebt. Dabei
gilt es, die Möglichkeiten des Binnenarbeitsmarktes der Bundeswehr zu nutzen
sowie Beschäftigungsmöglichkeiten bei anderen Ressorts und anderen öffentlichen
Arbeitgebern oder auf dem privaten Arbeitsmarkt zu identifizieren.
Das Reformbegleitgesetz stellt zudem weitere Instrumente zur Unterstützung der
Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bereit:
- mit den Beurlaubungsregelungen für Soldaten und Beamte auf Antrag zur
Förderung anderweitiger Verwendungen im öffentlichen Dienst oder außerhalb der
öffentlichen Dienstes und
- ein finanzieller Ausgleich, der für den Fall der Weiterbeschäftigung im
öffentlichen Dienst mit Einkommenseinbußen vorgesehen ist.
Weiterhin sind konkrete Maßnahmen vorgesehen, die die Personalausgliederung
erleichtern und die Belastungen für die Betroffenen mildern sollen.
Sie umfassen:
- Ausgleichszahlungen für Berufssoldatinnen und Berufssoldaten, deren
Dienstverhältnis in das einer Soldatin auf Zeit oder eines Soldaten auf Zeit
umgewandelt wird, in Höhe von 7.500 Euro pro bereits geleistetes Dienstjahr,
- die Ausgliederung von Soldaten ab dem 40. Lebensjahr mit der bis dahin
erdienten Versorgung in Verbindung mit einer Einmalzahlung in Höhe von 7.500
Euro (vor Steuern) für jedes Jahr, um das die Versetzung in den Ruhestand vor
dem Zeitpunkt der regulären Zurruhesetzung liegt,
- Vorruhestandsregelungen für Soldaten ab dem 50. Lebensjahr (Unteroffiziere)
und ab dem 52. Lebensjahr (Offiziere), Vorruhestandsregelungen für Beamte ab
dem 60. Lebensjahr und
- die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen für vorzeitig ausscheidende
Berufssoldaten und Beamte.
Zudem sind bereits in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg
gebracht worden, die mit konkreten Erleichterungen für die betroffenen Angehörigen der Bundeswehr verbunden sind. Dazu zählen:
- die Möglichkeit der Nutzung von Kasernenunterkünften für Pendler,
- die Einrichtung der ersten von insgesamt 300 Eltern-Kind-Zimmern,
- Erst- und Weiterverpflichtungsprämien für Mannschaftsdienstgrade,
185
- die vorläufig befristete Wahlmöglichkeit zwischen Umzugskostenvergütung und
Trennungsgeld;
- das gegenwärtig noch im Stadium der Erarbeitung befindliche Programm zur
Verbesserung der Wohnungsvermittlung sowie
- Prämien zur Gewinnung von Fachkräften.
Ausdrücklich sieht das Gesetz auch die Überprüfung der Wirksamkeit der
Instrumente zum Ende des Jahres 2014 vor, damit entsprechende Neujustierungen
vorgenommen werden können.
VI.
Die Aussetzung der Verpflichtung zur Einberufung zum Grundwehrdienst ist mit
Wirkung vom 1. Juli 2011 durch einfachgesetzliche Regelung in Kraft getreten.
Die verfassungsrechtlich verankerte Allgemeine Wehrpflicht besteht indes auch
künftig unverändert fort. Die Verpflichtung zur Ableistung des Grundwehrdienstes
kann damit, wenn die Umstände – etwa im Spannungs- und Verteidigungsfall – es
erfordern, jederzeit wieder aufleben. Mit der Aussetzung der Einberufung zum
Grundwehrdienst wurde im breiten Bewußtsein der Öffentlichkeit ein tiefer Einschnitt vollzogen, der vielfach auch als Abschied von althergebrachten, scheinbar
unverrückbaren Glaubenssätzen empfunden wurde. Die Entscheidung dazu fiel
insbesondere in den Unionsparteien von CDU und CSU schwer, doch sie war
insgesamt notwendig, weil die veränderten sicherheitspolitischen und demographischen Rahmenbedingungen ein Festhalten an der Verpflichtung der Einberufung
zum Grundwehrdienst nicht mehr gerechtfertigt haben. Es kommt hinzu, daß eine
kosteneffiziente Umsetzung der Neuausrichtung beim Festhalten an der Einberufung zum Grundwehrdienst kaum aufrechtzuerhalten wäre.
Schon in den letzten Jahren war nur ein geringer Teil aller wehrpflichtigen jungen
Männer wirklich eingezogen worden. Vor dem Jahr 2010 etwa leisteten etwa nur
noch knapp 17% der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs Wehrdienst. Dies beschreibt eine Wirklichkeit, die sich immer weiter von den deklamierten Grundsätzen entfernt hat und dadurch in ihrer Akzeptanz immer mehr einbüßen mußte.
An die Stelle der Verpflichtung zum Grundwehrdienst trat deshalb folgerichtig
zum 1. Juli 2011 ein neuer Freiwilliger Wehrdienst, der jungen Frauen und Männern die Möglichkeit eröffnet, für einen Zeitraum von 12 bis 23 Monaten freiwillig
Dienst in den Streitkräften zu leisten und damit ein Angebot umreißt, daß sich auf
besondere Weise in die auf aktives Bürgerengagement gerichtete Konzeption der
Bundesregierung einfügt.
Der Freiwillige Wehrdienst ist ein attraktives Angebot an junge Menschen, die
offen und gewillt sind, einen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Sie
bekommen die Möglichkeit, den Soldatenberuf und die Bundeswehr als Arbeitgeber kennenzulernen, und in dieser Zeit die Bindungen zu den Streitkräften zu vertiefen.
Die Probezeit für den ersten Durchgang der Freiwillig Wehrdienstleistenden endete
am 31. Dezember 2011. Bereits jetzt läßt sich indes absehen, daß manche der geäußerten Befürchtungen nicht eingetreten sind. So verfügen die Freiwilligen
186
Wehrdienstleistenden fast alle über einen Schulabschluß; über die Hälfte von ihnen
kann das Abitur oder den Nachweis der Allgemeinen Fachhochschulreife vorweisen. Die Bewerber verteilen sich auf das gesamte Bundesgebiet, von einem geographischen Schwerpunkt kann deshalb nicht die Rede sein. Die Bundeswehr befragt die Freiwilligen regelmäßig zu ihrer Motivation. Aus diesen Ergebnissen ist
ersichtlich, daß Geld- und Sachbezüge bei der Entscheidung zum Freiwilligen
Wehrdienst nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr fühlen sich die jungen Wehrdienstleistenden insbesondere von Kameradschaft und der Aussicht auf eine abwechslungsreiche, körperlich anspruchsvolle Tätigkeit angezogen und geben nicht
selten an, daß es für sie wichtig sei, etwas für ihr Land zu tun. Aus der in der Tat
vermeintlich hohen Abbrechungsquote von 25% – sie liegt indes im gesamtgesellschaftlichen Trend – kann nicht auf eine angeblich mangelnde Akzeptanz geschlossen werden.
Durch den Übergang der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee fallen ganz
zwangsläufig manche Berührungspunkte zwischen Bundeswehr und Gesellschaft
weg. Gerade deshalb sind die Bemühungen der Bundeswehrführung darauf ausgerichtet, der jungen Generation einen fordernden und perspektivischen Dienst anzubieten, der es trotz zeitlicher Befristung erlaubt, die Besonderheiten des soldatischen Dienstes in ihrer Breite kennenzulernen.
VII.
Das innere Gefüge und der Charakter der Bundeswehr verändern sich mit dem
Übergang von der Wehrpflichtarmee zur reinen Freiwilligenarmee ohne Zweifel.
Das Prinzip der inneren Führung besteht indes unverändert fort: Es garantiert, daß
der Dienst in den Streitkräften an die Normen und Werte des Grundgesetzes gebunden bleibt. Denn die Soldaten der Bundeswehr sind und bleiben „Staatsbürger
in Uniform“ – im besten Sinne. Sie sind Teil dieser Gesellschaft, und sie übernehmen mit ihrem Beruf besondere Verantwortung für die ganze Nation.
Mit der Aussetzung der Verpflichtung zur Einberufung zum Grundwehrdienst
wächst die Herausforderung, die Bande zwischen Streitkräften und Gesellschaft
weiter zu vertiefen. Der Freiwillige Wehrdienst, eine neue Reservistenkonzeption,
eine engagierte Veteranenpolitik, ein auf Geschichtsbewußtsein, politische Bildung, Ethik und Traditionspflege gründendes soldatisches Selbstverständnis können dazu wesentlich beitragen. Entscheidend wird es sein, daß in einem freiheitlich
demokratischen Staat der Dienst des einzelnen am Gemeinwohl, das Eintreten für
Recht und Freiheit, die Besonderheit soldatischen Dienens, die im Äußersten mit
der Gefährdung von Leib und Leben verbunden ist, durch Staat und Gesellschaft
als Ganzes gewürdigt wird. Dies ist zugleich die beste Voraussetzung dafür, daß
die Streitkräfte dort verbleiben, wo sie hingehören und am besten aufgehoben sind:
in der Mitte der Gesellschaft.
Dr. Ulrich Schlie ist Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung, Berlin.
187
Hans Braun
Immer gut beraten?
Zur Rolle des Beratungswesens in unserer Gesellschaft
I. Beratung allenthalben
Auch wer nicht beruflich oder privat Beratungsleistungen in Anspruch nimmt,
wird nahezu täglich mit dem Phänomen „Beratung“ konfrontiert. Da gibt im
Fernsehen eine Ernährungsberaterin Hinweise zur richtigen Zusammenstellung
unserer täglichen Mahlzeiten, ein Unternehmensberater spricht in einem Interview über seine Erfahrungen bei der Neuausrichtung von Firmen, eine EtiketteBeraterin äußert sich im Lebensstil-Teil unserer Tageszeitung zur Frage, wer bei
einem Hochzeitsessen neben wem zu sitzen hat, und ein Erziehungsberater setzt
sich in einer über den Rundfunk ausgestrahlten Diskussionsrunde mit Anpassungsproblemen von Schulanfängern auseinander.
Die medial vermittelten Auftritte von Beraterinnen und Beratern haben über die
Verbreitung von Sachinformationen hinaus auch den Effekt, daß die Öffentlichkeit implizit etwas über das Leistungsspektrum der jeweiligen Berufsgruppe
erfährt. Und die Zahl der in den unterschiedlichsten Bereichen tätigen Berater
und die finanzielle Dimension der erbrachten Leistungen sind beachtlich. Hierzu
nur ein Beispiel: In einer im Februar 2011 veröffentlichten Mitteilung des Bundesverbandes Deutscher Unternehmensberater heißt es, die mehr als 87.000
deutschen Unternehmensberater hätten im Jahre 2010 einen Branchenumsatz von
18,9 Milliarden Euro erzielt.1
Beraten werden auch gemeinnützige Institutionen, politische Parteien, Ministerien und ihnen nachgeordnete Behörden. Neben Unternehmensberatern spielen in
diesen Bereichen Wissenschaftler eine Rolle, die an Hochschulen sowie in
„Think Tanks“ oder politischen Stiftungen tätig sind.
Der personelle Umfang und das finanzielle Volumen der wissenschaftlichen
Politikberatung sind allerdings weitaus schwieriger auszumachen, als dies im
Hinblick auf die Unternehmensberatungsbranche möglich ist. Das gleiche gilt
auch für die technisch orientierte Beratung und die im Sozialbereich angesiedelte
personen- und gruppenbezogene Beratung. Und kaum zu erfassen dürften der
personelle Umfang und das finanzielle Volumen dessen sein, was man als Lebensstilberatung bezeichnen könnte.
II. Was ist Beratung?
Unter Beratung wird gemeinhin ein Prozeß verstanden, in dem es darum geht,
angesichts einer anstehenden Aufgabe fehlendes Wissen oder fehlende Erfahrung
aufseiten eines Klienten in der Interaktion mit einem Berater auszugleichen.2
188
Vom Erteilen von Ratschlägen, wie es tagtäglich implizit oder explizit, erbeten
oder auch nicht erbeten durch Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen erfolgt, unterscheidet sich Beratung durch einen gewissen Grad der Professionalisierung. Berater verfügen nicht nur über ein Expertenwissen, sie sind auch darauf
bedacht oder sollten darauf bedacht sein, bei ihrem Tun das Wissen der Klienten
zu berücksichtigen und den Beratungsprozeß selbst zu reflektieren.
Sieht man einmal von einer von dritter Seite, etwa einem Gericht, angeordneten
Beratung ab, dann geht die Initiative zum Eintritt in einen Beratungsprozeß in
der Regel vom Klienten aus. Auch wenn ein Berater von sich aus auf einen Kunden zugeht, kann er erst aktiv werden, wenn der Kunde das Angebot sowohl
inhaltlich als auch im Hinblick auf das unter Umständen fällige Honorar akzeptiert hat.
Die gängige Vorstellung geht dahin, daß Beratung in Anspruch genommen wird,
weil sich der Kunde bzw. der Klient davon einen Beitrag zur Lösung eines Problems verspricht. Die Aufgabe des Beraters besteht dann darin, die Präferenzen
des Auftraggebers zu eruieren sowie Handlungsalternativen aufzuzeigen und
diese hinsichtlich ihrer finanziellen, politischen. ökologischen, psychischen oder
sozialen Kosten zu bewerten und nach erfolgter Auswahl bei der Erarbeitung von
Handlungsstrategien mitzuwirken.
Tatsächlich ist es aber oftmals so, daß der Beratung Suchende gar nicht sagen
kann, was sein Problem eigentlich ist, sondern nur den mehr oder weniger unbestimmten Eindruck hat, etwas sei im Unternehmen, in der sozialen Umgebung
oder in seinen persönlichen Lebensumständen nicht in Ordnung. Hier kommt es
darauf an, ein Problem überhaupt erst einmal zu identifizieren. Dabei stellt sich
nicht selten heraus, daß das, was der Kunde oder der Klient für sein Problem
hält, gar nicht das eigentliche Problem darstellt. Eine solche Einsicht dem Auftraggeber vermitteln zu wollen, kann unter Umständen massive Abwehrreaktionen hervorrufen, weil damit Sachverhalte berührt werden, die das Selbstbild
einer Person oder einer Institution in Frage stellen.
Beratung in ihrer Idealform besteht darin, Handlungsmöglichkeiten in Zusammenarbeit mit dem Adressaten aufzuzeigen, dessen Handlungssouveränität aber
unberührt zu lassen. Insofern unterscheidet sie sich von stellvertretendem Handeln aufgrund eines Mandats auf der einen Seite und Therapie auf der anderen
Seite. In beiden Fällen verzichtet der Kunde oder Klient bewußt ganz oder teilweise auf seine Handlungssouveränität.
Gute Beratung zeichnet sich hingegen dadurch aus, daß dem Adressaten die
Gewißheit vermittelt wird, Herr seiner Entscheidungen zu sein und daß er darin
bestärkt wird, von seiner Entscheidungsfreiheit auch Gebrauch zu machen. Wie
mandatiertes Handeln und Therapie basiert aber auch Beratung auf Vertrauen.
Der Klient muß darauf vertrauen, daß der Beauftragte, der Therapeut oder eben
der Berater zum einen über die Qualifikationen verfügt, die für die Erfüllung
seiner Aufgabe erforderlich sind, und daß er zum anderen auch tatsächlich im
Interesse des Kunden oder Klienten handelt.
189
Worauf aber gründet sich solches Vertrauen? Drei Faktoren spielen hier vor
allem eine Rolle.3 Es ist dies zunächst einmal, um bei der Beratung zu bleiben,
die Reputation des Beraters oder der Institution, der er angehört. Reputation
ersetzt persönliche Erfahrung, über die wir ja nur in einem kleinen Ausschnitt
der für uns relevanten Wirklichkeit verfügen. Sie basiert auf den akkumulierten
Urteilen von Menschen, die wir persönlich kennen oder die in der Rolle des
Experten als Meinungsführer weitgehend akzeptiert sind.
Vertrauen basiert weiterhin auf positiven Erfahrungen, die wir selbst in der Vergangenheit mit Menschen, in unserem Falle also einer Beraterin bzw. einem
Berater, oder einer Institution, etwa einer Beratungsstelle, gemacht haben. Wenn
wir in der Vergangenheit mit der erbrachten Leistung, insbesondere bei wiederholter Inanspruchnahme, zufrieden waren, ziehen wir den durchaus naheliegenden Schluß, daß wir auch in Zukunft die Leistung erhalten werden, die wir uns
wünschen.
Schließlich ist eine Grundlage für Vertrauen das, was wir gewöhnlich als Sympathie bezeichnen. Es ist nun einmal eine Erfahrung, die wir immer wieder machen, daß wir uns nämlich zu einem Menschen stärker hingezogen fühlen als zu
einem anderen. So ist es auch im Verhältnis zu denjenigen, die uns als Berater
oder Beraterin entgegentreten. Es sind also sowohl rationale als auch nichtrationale Faktoren, auf die sich Vertrauen als Voraussetzung für eine gelingende
Beratung gründet.
III. Zunehmende Nachfrage nach Beratung
Daß Menschen nicht nur beiläufig, sondern explizit die Rolle des Ratgebers für
andere übernehmen, ist kein Phänomen unserer Tage. Die Geschichte kennt viele
Beispiele, wie Herrscher bei wichtigen Entscheidungen Ratgeber hinzugezogen
haben. Schließlich ist es nun einmal eine Tatsache, daß beim Aufspüren von
Handlungsalternativen und bei der Einschätzung der möglichen Folgen zu treffender Entscheidungen die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Sichtweisen
gewöhnlich zu besseren Ergebnissen führt als ein Agieren im Alleingang. Dies
gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart, wobei heute allerdings noch
ein weiteres Moment hinzukommt: die wachsende Komplexität unserer Lebensverhältnisse. Sie ist einmal gekennzeichnet durch rasant verlaufende technische
Innovationen, deren Folge, so Alois Hahn, eine „Explosion von denkbaren
Zukünften“ ist, „die sich hier und jetzt als Entscheidungsbedarf aufdrängen“4.
Zum anderen haben wir es zu tun mit weltweiten wirtschaftlichen, politischen
und ökologischen Verflechtungen sowie dem zeitnahen Zugang zu Informationen jedweder Art vermittels der neuen Medien. Dazu kommen die abnehmende
Verbindlichkeit von über Jahrhunderte hinweg den Alltag der Menschen prägenden Normen und die Lockerung der Bindekraft traditioneller Sozialformen wie
Ehe, Familie oder Kirchengemeinde. Damit einher geht eine Erweiterung der
Handlungsoptionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich. Nicht von
ungefähr wird unsere Gesellschaft ja auch als „Multioptionsgesellschaft“ charakterisiert.5 Das damit verbundene „Auswahl-Paradox“6 macht es aber den Men190
schen nicht nur in ihrer Funktion als wirtschaftliche und politische Entscheider,
sondern auch in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen zunehmend schwerer, sich zurechtzufinden.
Konnte der Leiter eines familiengeführten Unternehmens oder das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft vor hundert Jahren aufgrund eigener persönlicher Erfahrungen oder aufgrund der Erfahrungen langjährig beschäftigter leitender Angestellter weitgehend noch selbst beurteilen, welche organisatorischen
Maßnahmen erforderlich waren, um ein neues Produkt herzustellen und es erfolgreich zu vertreiben, so sind die entscheidungsrelevanten Informationen heute
oftmals nur noch durch Hinzuziehung externer Experten zu erlangen. Konnten
sich die Beamten eines Ministeriums bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs
auf ihre Fachkennnisse verlassen, oder glaubten zumindest, dies zu können, so
sind heute in anderen Ländern gemachte Erfahrungen, wirtschaftliche, soziale
und ökologische Auswirkungen sowie im Hinblick auf die Akzeptanz wichtige
Kommunikationsstrategien zu bedenken, was ohne die Expertise von einschlägig
erfahrenen Beratern vielfach nicht mehr möglich ist.
Ähnliches gilt für die konkreten Lebensumstände der Menschen. War es bis ins
zwanzigste Jahrhundert hinein noch üblich, daß junge Menschen den Beruf erlernten, der sie zur Fortführung des elterlichen Betriebs befähigte oder den ihre
Eltern aus einer überschaubaren Zahl von Berufsbildern für sie ausgesucht hatten, so sehen sich Jugendliche heute einer kaum mehr überschaubaren Vielzahl
an beruflichen Ausbildungsgängen gegenüber. Von daher ist die Inanspruchnahme der Berufsberatung für viele junge Menschen eine Selbstverständlichkeit.
Dabei geht es nicht nur um die Information über Berufsbilder und entsprechende
Ausbildungsgänge, sondern auch um die Ermittlung von berufsrelevanten Interessen und Fähigkeiten der Ratsuchenden.
Und auch die Beziehungen zwischen Ehepartnern sowie zwischen Eltern und
Kindern werden von den Beteiligten heute vielfach als nicht mehr durchschaubar
und damit der professionellen Klärung bedürftig empfunden. Dies ist einmal eine
Folge der hohen Erwartungen, die heute an solche Beziehungen gestellt werden
und die mit einer abnehmenden Tendenz einhergehen, Enttäuschungen auszuhalten, wie sie im Zusammenleben von Menschen nun einmal unvermeidlich sind.7
Zum anderen spielt hier die Tatsache eine Rolle, daß die Beteiligten einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Einflüsse im Beruf, in der Schule, im Freundes- und
Bekanntenkreis, bei ihren Freizeitaktivitäten und in den Medien ausgesetzt sind,
die sich in ihrem Denken und Handeln niederschlagen. Hier kann die Familienberatung dazu beitragen, daß Erwartungen und Enttäuschungen artikuliert werden, daß aber auch die Fähigkeit entwickelt wird, sich in die Lage des anderen
hineinzuversetzen. Die Sinnhaftigkeit der Inanspruchnahme ist nicht nur in diesem Fall, sondern auch in vielen anderen Fällen unbestritten. Und dennoch hat
das mittlerweile hochentwickelte Beratungswesen sowohl im öffentlichen als
auch im privaten Bereich Begleiterscheinungen, die nicht unproblematisch sind.
Dazu gehören die Instrumentalisierung von Beratung und das rasch voranschreitende Ausgreifen des Beratungswesens auf die Lebenswelt.
191
IV. Die Instrumentalisierung von Beratung
Wer als Unternehmer, Manager, Politiker oder Beamter in leitender Position
Beratung in Anspruch nimmt, wird dies in der Regel damit begründen, daß es um
Unterstützung bei der Analyse eines Problems, bei der Formulierung von Handlungsalternativen und bei der Auswahl einer geeigneten Handlungsstrategie geht.
Nicht immer wird diese Begründung aber tatsächlich zutreffend sein. Mit der
Inanspruchnahme von Beratung können sich auch ganz andere Absichten verbinden. So kann es etwa darum gehen, in einer Konfliktsituation durch die Einschaltung eines Beratungsunternehmens eine gewisse Beruhigung der erregten
Gemüter zu erreichen. Beratung, insbesondere in Form eines Gutachtens, stellt
dann gleichsam eine „taktische Waffe“ dar.8
Nicht das Ergebnis des Beratungsprozesses steht dabei also im Vordergrund als
vielmehr die Tatsache, daß dieser Prozeß Zeit in Anspruch nimmt, in der die
involvierten Parteien ihre Position noch einmal überdenken können. Unter Umständen steht dahinter auch die Erwartung, daß durch den Zeitablauf Tatsachen
geschaffen werden, welche bestimmte Lösungen gar nicht mehr zulassen, die in
der vorangegangenen Diskussion vorgeschlagen wurden, aber den Vorstellungen
der Auftraggeber zuwiderlaufen.
Nicht nur der Beratungsprozeß, sondern auch das als Ergebnis vorgelegte Gutachten kann aber instrumentalisiert werden, wenn sich Entscheidungsträger
gleichsam hinter der Expertise verstecken. Dies ist etwa der Fall, wenn Politiker
die ihnen nun einmal übertragene Verantwortung nicht zu übernehmen bereit
sind, da sie ja, so ihre Argumentation, auf der Grundlage eines von einer renommierten Beratungsfirma erstellten Gutachtens entschieden haben. Zu denken
ist in diesem Zusammenhang etwa an eine Investition in ein Großprojekt, das
sich im nachhinein als wirtschaftlicher Fehlschlag erweist. Das gleiche kann
natürlich auch in einem Unternehmen ablaufen, mit dem Unterschied freilich,
daß der leitende Angestellte, der seine Fehlentscheidung mit dem Gutachten
einer Beratungsfirma begründet, sich wahrscheinlich weniger lange halten wird
als ein Politiker.
Um eine Instrumentalisierung von Beratung handelt es sich schließlich auch da,
wo diese zur Legitimation einer bereits getroffenen Entscheidung eingesetzt
wird. So machen etwa Unternehmensberater mitunter die Erfahrung, daß ein
Mitglied eines Entscheidungsgremiums faktisch schon über eine bestimmte
Maßnahme entschieden hat, diese Entscheidung aber den übrigen Mitgliedern
des Gremiums erst kommuniziert wird, wenn ein entsprechendes Gutachten einer
Beratungsfirma vorliegt. Die Chance, ein solches Gutachten zu erhalten, ist natürlich umso größer, je besser die „Beratungstendenzen“ der einzelnen Firmen
bekannt sind. Auch in diesen Fällen wird ein „hilfreiches“ Gutachten aber nicht
zu erhalten sein, wenn der Berater, um es vorsichtig zu formulieren, nicht bereit
ist, sich bis zu einem gewissen Grad auf die „Sichtweise“ des Auftraggebers
einzulassen.
Damit ist die Frage nach dem Ethos des Beraters aufgeworfen. Gewiß wird die
ganz große Mehrheit der Berater darin übereinstimmen, daß es ethisch nicht
192
vertretbar und mit ihrem professionellen Selbstverständnis unvereinbar sei, wider
besseres Wissen bestimmte Empfehlungen auszusprechen. In Dantes Divina
Commedia finden sich derartige „unlautere Ratgeber“ im übrigen im achten
Kreis des Inferno wieder.9 Aber auch wem diese Strafe unbekannt ist, weil er
etwa Dante nicht kennt oder mit dem Begriff „Hölle“ nichts mehr anzufangen
weiß, wird nicht bewußt falsch beraten. Darum geht es also im Beratungsalltag
nicht. Es geht um die vielfältigen Möglichkeiten, durch entsprechende Wortwahl
(das Gutachten soll ja gut lesbar sein), durch Weglassen von Gesichtspunkten
(der Bericht soll ja übersichtlich sein) oder durch die Anordnung der Argumente
(der Kunde soll ja schlußendlich zu einer Entscheidung befähigt werden) ein
Ergebnis zu präsentieren, das eine positive Aufnahme beim Auftraggeber findet.
Und ein Beratungsergebnis, das „gut ankommt“, dürfte nun einmal die Chance
erhöhen, einen Folgeauftrag zu erhalten – eine vielleicht gar nicht bewußt angestellte Überlegung, die aber durchaus nachvollziehbar ist, versetzt man sich in
die Lage dessen, der von seiner Beratungstätigkeit lebt. Indessen dürfen die angesprochenen Versuchungen, denen Berater dann und wann ausgesetzt sein mögen, natürlich nicht den Blick dafür verstellen, daß die ganz große Mehrheit von
ihnen ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen in einem wirtschaftlichen und politischen Umfeld erfüllt, in dem man in vielen Bereichen ohne externe Beratung gar nicht mehr auskommt.
V. Das Ausgreifen auf die Lebenswelt
Daß Fehlentwicklungen und Orientierungsdefizite im alltäglichen Zusammenleben und in der Arbeitswelt die Problemlösungskapazität vieler Menschen übersteigen, ist eine Tatsache. Eine Reaktion hierauf sind unter anderem der Auf- und
Ausbau der Erziehungsberatung, der Eheberatung, der Berufsberatung oder der
Schuldnerberatung. Mittlerweile greifen die Beratungsangebote aber auf viele
andere Bereiche über und begleiten uns auf unserem Lebensweg. Noch ehe ein
Mensch das Licht der Welt erblickt, können die Eltern die Angebote der Geburtsberatung in Anspruch nehmen. Anschließende Hilfe bietet die Säuglingsund Kleinkindberatung. Bei der Wahl der Schule ist die Schulberatung behilflich. Wer sich um einen Arbeitsplatz bewerben möchte, erhält entsprechende
Unterstützung von der Bewerbungsberatung. Für die schon Arrivierten, die noch
weiter nach oben kommen wollen, ist die Karriereberatung da. Und da im Beruf
wie in anderen Lebensbereichen auch viel von der äußeren Erscheinung abhängt,
gibt es die Farb- und Stilberatung.
Wenn es darum geht, die Zeit, in der man nicht arbeitet, „optimal“ auszufüllen,
steht die Freizeitberatung zur Verfügung.10 Die kann sich dann auch des Themas
„Ferien“ annehmen, von denen der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler sagt, es
handle sich dabei um die „Verheißung einer anderen Wirklichkeit“11. Noch mehr
an „Optimierung“ läßt die Glücksberatung erwarten. Sollte es im Beruf dann
einmal doch nicht so laufen, wie man es sich vorgestellt hat, kommen die Dienste der Burnout-Beratung und, falls es gar nicht anders geht, der OutplacementBeratung ins Spiel. Wer mit seinem Ehepartner, Nachbarn oder Arbeitskollegen
193
nicht zurechtkommt, wendet sich an die Konfliktberatung. Für subtilere Probleme im privaten Bereich ist unter anderem die Beziehungsberatung zuständig.
Wem trotz beruflichen Erfolgs oder wegen erlittener Niederlagen der Sinn seines
Lebens verborgen bleibt oder abhanden gekommen ist, dem hilft die philosophische Beratung oder auch die esoterische Beratung weiter. Im fortgeschrittenen
Lebensalter tritt schließlich die Seniorenberatung auf den Plan.
Für nahezu jedes dieser Beratungsangebote gibt es sicherlich eine Nachfrage,
sonst würden die Anbieter ja wohl aufgeben oder sich auf andere Geschäftsfelder
verlegen. Allerdings dürfte es im konkreten Fall schwer auszumachen sein, ob es
sich um eine ursprüngliche Nachfrage in dem Sinne handelt, daß Menschen von
sich aus nach einschlägiger Beratung suchen, oder ob mit einem bestehenden
Angebot überhaupt erst eine Nachfrage geweckt wird. Von viel größerer Tragweite ist indessen die Frage, was die Nutzung der Angebote für die Menschen
bedeutet. Aus Sicht der Anbieter ist die Antwort einfach: Es handelt es sich um
eine Erweiterung des Aufmerksamkeitshorizonts, um eine Schärfung des Blicks
für bislang wenig beachtete Optionen und damit letztlich auch um eine Erhöhung
der Handlungskompetenz. Dies wird, wenn die Beratung gut verlaufen ist, auch
der Klient so sehen.
Wie wird er sich aber weiter verhalten? Wird er mit seiner erhöhten Handlungskompetenz in den Alltag zurückkehren und die in Anspruch genommene Beratung zunächst einmal als einmaliges Ereignis betrachten oder wird er angesichts
des subjektiv wahrgenommenen Beratungserfolgs bei einem ähnlichen, unter
Umständen aber gar nicht so schwerwiegenden Problem wiederum den Berater
bzw. die Beraterin konsultieren? Tut er das, kann es zu einer Bindung des Ratsuchenden an den Berater oder die Beraterin kommen.
Eine solche Klientelisierung kann durch Denkweisen und Verhaltensdispositionen des Ratsuchenden begünstigt werden, sie kann aber bis zu einem gewissen
Grad auch vom Leistungsanbieter beeinflußt werden. Noch weitreichender sind
die Konsequenzen, wenn der erfolgreich Beratene seine aus seiner Sicht positive
Erfahrung generalisiert und die Vorstellung entwickelt, eine adäquate Lösung
von Problemen gleich in welchem Bereich sei ohne professionelle Beratung gar
nicht mehr möglich. Über die konkrete Klientelisierung im Verhältnis des einzelnen Ratsuchenden zu seinem Berater hinaus hätten wir es dann mit einer abstrakten Klientelisierung im Verhältnis von Ratsuchenden und dem Beratungswesen als solchem zu tun.
Dies könnte aber über die bereits bestehende und letztlich unvermeidliche Abhängigkeit von Experten auf dem Gebiet der Technik, der Medizin, der Wirtschaft oder dem Rechtswesen hinaus zu neuen Abhängigkeiten führen. Und das
ausgerechnet in solchen Lebensbereichen, in denen dem modernen Menschen
seine Autonomie ganz besonders wichtig ist! Dazu kommt, daß bei einem so
vielgestaltigen und sich auf nahezu jeden Lebensbereich erstreckenden Beratungsangebot, wie es sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten herausgebildet
hat, der einzelne sich in bestimmten Situationen einem Druck seiner sozialen
Umgebung ausgesetzt fühlen mag, angesichts bestimmter sozialer oder psychischer Konstellation auch von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Die zugrun194
deliegende Botschaft lautet dann: Warum willst du dich quälen und uns die
Stimmung verderben, wenn es doch Experten für dein Problem gibt, etwa bei
Irritationen im Verhältnis zum Ehepartner den Beziehungsberater, bei vergrößerter oder auch bei knapper gewordener Freizeit den Freizeitberater und bei, wie
man heute gerne sagt, „suboptimaler“ Lebensfreude den Glücksberater. Sollten
sich derartige Denkweisen durchsetzen, so liefe dies auf der individuellen Ebene
auf einen schleichenden Verzicht hinaus, unter Nutzung eigener Ressourcen und
in oftmals sicherlich mühsamer Weise auf die Klärung einer Problemlage hinzuarbeiten. Dem entspräche, nimmt man die gesellschaftliche Ebene in den Blick,
eine Erosion von Problemlösungspotentialen, die im Nahbereich der Menschen
angesiedelt sind, auf Vertrautheit und persönlichem Vertrauen basieren und ein
zentrales Element dessen sind, was wir üblicherweise als Sozialkapital bezeichnen.
VI. Auf dem Weg in die beratene Gesellschaft?
Es ist unbestritten, daß heute in vielen Bereichen auf professionelle Beratung
nicht mehr verzichtet werden kann. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für viele Felder der Politik und der Technik. Der Grund liegt zum
einen in der Komplexität von Strukturen und Prozessen und damit in der immer
schwerer abzuschätzenden Reichweite von Entscheidungen. Zum anderen reduziert sich die „Halbwertzeit“ von in der Ausbildung vermitteltem Wissen und
persönlicher Erfahrung bei den handelnden Personen erheblich. Externe Beratung kompensiert hier bis zu einem gewissen Grade solche Defizite. Problematisch wird es allerdings, wie bereits angesprochen, wenn externe Beratung instrumentalisiert wird, insbesondere wenn sich Akteure gleichsam hinter einem
Gutachten verstecken. Gerade was den Bereich der Politik anbelangt, so liegt in
der Demokratie letztlich die Verantwortung für Entscheidungen bei vom Volk
gewählten Vertretern und der von ihnen getragenen Regierung.
In Gesellschaften wie der unseren, in der die Menschen angesichts einer abnehmenden Bindekraft sozialer Beziehungen zunehmend ungeschützt einer Vielzahl
von Einflüssen, Erwartungen und Handlungsoptionen ausgesetzt sind, kann auch
nicht auf Beratungsangebote verzichtet werden, die sich auf Erziehung, Ehe,
Familie, Gesundheit usw. erstrecken.12 Und bei 3,15 Millionen überschuldeten
Haushalten im Jahr 2010 reagiert ganz gewiß auch die Schuldnerberatung auf
eine gesellschaftliche Herausforderung.13 Solche Beratungsangebote sind gewöhnlich Bestandteil des Sozialleistungssystems.
War Sozialpolitik zunächst darauf ausgerichtet, denen, die ihren Lebensunterhalt
nicht aus eigenen Kräften bestreiten konnten, eine elementare Existenzsicherung
zu gewähren, den arbeitenden Menschen einen gewissen rechtlichen Schutz im
Verhältnis zum Arbeitgeber zu verschaffen, die finanziellen Folgen des Verlusts
der Arbeitsfähigkeit und der Arbeitsmöglichkeit abzumildern und den Zugang zu
Gesundheitsleistungen zu ermöglichen, so hat sich insbesondere seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs das Aufgabenspektrum erheblich erweitert. Zwar dominiert immer noch die „Einkommensstrategie“, also die Organisation von Trans195
ferzahlungen, doch kommt der „Dienstleistungsstrategie“ eine wachsende Bedeutung zu, wie Bernhard Badura und Peter Gross schon 1976 in ihrer bahnbrechenden Arbeit zeigten.14 Dabei geht es um Behandlung, Betreuung, Pflege und
eben Beratung. Umgesetzt wird die Dienstleistungsstrategie im sogenannten
sozialstaatlichen Dreieck, das aus Leistungsempfänger, Leistungserbringer und
Kostenträger besteht.15
Traditionell spielen in Deutschland bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen
die freien Träger eine große Rolle. Übernommen werden die damit verbundenen
Kosten allerdings weitgehend von Institutionen, die der staatlichen Sphäre zuzurechnen sind: Gebietskörperschaften, Zweige der Sozialversicherung, Versorgungssysteme. Insbesondere bei Beratungsleistungen wird deutlich, wie wichtig
eine solche Trennung von öffentlichen Kostenträgern und Leistungserbringern
ist. Schließlich haben wir es hier, anders als etwa bei der Energieberatung oder
der Etikette-Beratung, gewöhnlich mit sensiblen psychischen und sozialen Konstellationen zu tun, für deren Bearbeitung es unerläßlich ist, daß der Klient sich
dem Berater gegenüber bis zu einem gewissen Grad offenbart.
Dies bedeutet wiederum, daß der Berater bei seinem Tun, wenn auch nicht bestimmend, so doch empfehlend darauf Einfluß nimmt, wie Menschen ihre Lage
wahrnehmen, ihr Handeln ausrichten und ihr Verhältnis zu anderen gestalten.
Ein staatliches Beratungsmonopol würde, nicht nur in Diktaturen, hier aber in
besonderem Maße, Möglichkeiten eröffnen, über die Standardisierung der Bearbeitung von psychischen und sozialen Problemlagen auch zu einer gewissen
Vereinheitlichung von Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen zu gelangen.
Angesichts der Erfahrung zweier autoritärer Systeme in einem Jahrhundert ist
dies gerade in Deutschland eine beunruhigende Perspektive. Die Erbringung von
Beratungsleistungen im Sozialbereich durch eine Vielzahl freier Träger, die sich
zudem noch bis zu einem gewissen Grad durch ihre Herangehensweise und das
dahinter stehende Menschenbild unterscheiden, ist deshalb ein Modell, das zu
bewahren nicht nur im Interesse der betroffenen Menschen, sondern auch im
Interesses der Gesellschaft ist.
Weniger eindeutig fällt aus Sicht des Sozialwissenschaftlers das Urteil über jene
Beratungsangebote aus, die sich auf die „Optimierung“ von Lebensgefühlen und
Lebensstilen erstrecken. Natürlich muß es in einer freiheitlichen Gesellschaft
jedem freigestellt sein, die Dienste eines Freizeitberaters, eines Beziehungsberaters oder eines Glücksberaters in Anspruch zu nehmen. Und es mag auch durchaus Menschen geben, deren Lebenssituation sich durch die Inanspruchnahme
derartiger Angebote verbessert. Die Vermutung ist allerdings nicht ganz unbegründet, daß unter den Angeboten auch solche sind, die heutigen Menschen
insofern entgegenkommen, als sie Anleitungen zu einem gelingenden Leben
versprechen, ohne sich moralischen Anforderungen stellen zu müssen, die insbesondere, „wenn sie mit Anstrengung und Verzicht verbunden sind, weitgehend
als freiheitseinschränkende Zumutungen empfunden werden…“16
Zudem gilt es zu sehen, daß mit der Ausweitung der Beratungsangebote auf
Lebensgefühle und Lebensstile einer Verflachung sozialer Beziehungen Vor196
schub geleistet wird, wenn die Beteiligten nicht mehr gefordert sind, sich im
alltäglichen Miteinander zumindest implizit auch mit Fragen der Lebensführung
und des Lebenssinns auseinanderzusetzen.
Überdies besteht die Gefahr, daß mit einschlägigen Angeboten Erwartungen
geweckt werden, die letztlich nicht erfüllt werden können. Nehmen wir das Beispiel „Glück“. Wir leben in einer Gesellschaft, in der, nicht zuletzt bedingt durch
den Rückgang transzendenter Bezüge, Glück nicht nur zu einem Thema in den
Medien geworden ist, sondern auch dabei ist, zu einem Gut zu werden, auf das
man einen Anspruch zu haben glaubt.17 Heinrich Heine hat dies bereits 1844 in
„Deutschland. Ein Wintermärchen“ in die Formel gekleidet: Wir wollen hier auf
Erden schon das Himmelreich errichten […] Wir wollen auf Erden glücklich sein
und wollen nicht länger darben…“18
Mittlerweile liegt für Deutschland sogar schon ein „Glücksatlas“ vor, in dem es
bei näherem Zusehen allerdings etwas bescheidener um Zufriedenheit geht.19
Dies ist, nicht nur für den Buchmarkt, wiederum bezeichnend: Glück verkauft
sich einfach gut. Vermutlich wird auch ein Glücksberater, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nicht erklären, er sei in der Lage, dem Klienten zum persönlichen Glück zu verhelfen. Wohl aber wird er sich mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert sehen, die er, wenn er sein Geschäft redlich betreibt, wohl meist
enttäuschen muß. Und dies wird auf vielen Gebieten der Lebensführung und des
Lebenssinns der Fall sein.
Sind wir nun also auf dem Weg in die beratene Gesellschaft? In vielen Bereichen
sind wir nicht mehr auf dem Weg dorthin, sondern sind schon längst angelangt.
In der Wirtschaft und in der Politik ist von Experten geleistete Beratung, sicherlich in unterschiedlichem Maße, unentbehrlich geworden, wenn auch nicht immer, wie wir gesehen haben, auf die Sache selbst bezogen, sondern instrumentalisiert. Weitgehend unverzichtbar sind auch jene Formen der Beratung, die auf
die Hilfe bei der Bewältigung individueller und zwischenmenschlicher Probleme
ausgerichtet sind.
Daß solche Probleme nicht mehr innerhalb der alltäglichen Lebenszusammenhänge gelöst werden können, sondern der externen Expertise bedürfen, mag man
bedauern. Es ist nun aber einmal eine Tatsache in unserer Gesellschaft. Beratung
wird auch aller Voraussicht nach weiter auf die Lebenswelt ausgreifen. Eine
solche Entwicklung sollten wir indessen kritisch beobachten. Schließlich birgt
Beratung auf dem Gebiet der Lebensgefühle und der Lebensstile in ganz besonderer Weise immer auch die Gefahr in sich, daß die Adressaten nicht nur sensibilisiert, sondern, vielleicht unbeabsichtigt, auch gelenkt werden.
Anmerkungen
1) http://www.bdu/pesse_474html, Zugriff am 09.10.2011.
2) Elke Groß: Beratungsleistungen für soziale Organisationen. Der Wissenstransfer im
Beratungsprozeß. Frankfurt am Main 2000, S. 58.
3) Zum folgenden siehe Hans Braun: Vertrauen als Ressource und als Problem. In: Die
Neue Ordnung, 4/2008, S. 253 ff.
197
4) Alois Hahn: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und
Zukunft. Opladen 2003, S. 27.
5) So auch Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main 1994.
6) Rolf Dobelli: Klarer Denken. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen. München 2011, S. 85-87.
7) Siehe hierzu Hans Braun: Familien in Deutschland. Strukturen und Entwicklungstendenzen. In: Wolfgang Ockenfels (Hrsg.): Familien zwischen Risiken und Chancen. Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, S. 11-16.
8) Arnd Morkel, Politik und Wissenschaft. Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher
Beratung in der Politik. Hamburg 1967, S. 117.
9) Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie. I Inferno / Hölle. Italienisch /
Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart 2010, XXVI.
und XXVII. Gesang, S. 384-419.
10) Zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit im historischen Wandel siehe Michael Jäckel:
Zeitzeichen. Einblicke in den Rhythmus der Gesellschaft. Weinheim, Basel 2012, S. 3051.
11) Karlheinz A. Geißler: Zeit – Verweile doch….Lebensformen gegen die Hast. Freiburg, Basel, Wien 2008, S. 195-203.
12) Für eine erste Annäherung an die Thematik bot diese Zeitschrift dem Verfasser bereits
1974 ein Forum. Siehe Hans Braun: Orientierungsprobleme in der modernen Gesellschaft.
Der Aufbau von Beratungshilfen als sozialpolitische Aufgabe. In: Die Neue Ordnung,
4/1974, S. 285-294.
13) Hartmut May: Und noch einmal: Chancen der sozialen Schuldnerberatung in der
säkularen Krise. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private
Fürsorge, 12/2011, S. 535.
14) Bernhard Badura, Peter Gross: Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in
Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen. München 1976.
15) Siehe hierzu Hans Braun: Die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen im „wohlfahrtsstaatlichen Dreieck“. In: Martin Dabrowski, Judith Wolf (Hrsg.): Aufgaben und
Grenzen des Sozialstaats. Paderborn 2007, S. 131-140.
16) Wolfgang Ockenfels: Was kommt nach dem Kapitalismus? Augsburg 2011, S. 54.
17) Siehe hierzu Hans Braun: Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen.
In: Alfred Bellebaum, Robert Hettlage (Hrsg.): Glück hat viele Gesichter. Annäherungen
an eine gekonnte Lebensführung. Wiesbaden 2010, S. 449-452.
18) Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Herausgegeben von Werner Bellmann. Stuttgart 2011, S. 12.
19) Renate Köcher, Bernd Raffelhüschen: Glücksatlas Deutschland 2011. München 2011.
Prof. em. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier.
198
Bericht und Gespräch
Hasso Heybrock - Rainer Kreuzhof
„Die Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen.
Das muß die Wirtschaft tun.“1
Zur Wirkung beschäftigungsfördernder Gesetze
im Handwerk
1. Einleitung
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der damit einhergehenden finanziellen Probleme der sozialen Sicherungssysteme, der durch die Globalisierung der Wirtschaft härter gewordenen wettbewerblichen Situation der deutschen Wirtschaft und schließlich der gedämpften konjunkturellen Situation beschloß der deutsche Gesetzgeber ab dem Jahr 2003 mit der agenda 2010 ein Bündel von gesetzgeberischen Reformen, um unter anderem die Wachstumskräfte der
Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken.2 Neben
Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung und Bildung, Kranken- und Rentenversicherung sowie der Familienpolitik lagen Schwerpunkte der beschlossenen Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Hier wurden Leistungen an
Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger neu geregelt; dort wurden arbeitgeberfreundliche angebotspolitische Ideen umgesetzt, um die Wirtschaftsbedingungen für
Unternehmen (z.B. durch Senkung der Lohnnebenkosten, Steigerung der Flexibilität im Personalbereich) zu verbessern.
Im europäischen Kontext spiegeln diese Reformen das Bestreben wieder, einerseits
das Arbeits- und Wirtschaftsrecht zu deregulieren und zu flexibilisieren, ohne
andererseits die soziale Absicherung der Beschäftigten zu vernachlässigen. Wie
der Widerstreit zwischen Flexibilisierung und sozialer Absicherung ausgewogen
gestaltet werden kann, ist auch Gegenstand der noch nicht abgeschlossenen Debatte um das „Flexicurity-Konzept“ der Europäischen Kommission.3 Nach diesem
Konzept sind folgende Komponenten wichtige Lösungsansätze: flexible und sichere vertragliche Vereinbarungen, umfassende Strategie lebenslangen Lernens, wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und moderne Systeme der sozialen
Sicherheit. Die konkrete Ausfüllung dieses Handlungsrahmens soll dabei den jeweiligen nationalen Akteuren in dem sogenannten Verfahren der „offenen Metho199
de der Koordinierung“ überlassen bleiben. Dieses Verfahren berücksichtigt die
rechtlich-institutionellen Unterschiede der Mitgliedsstaaten und will durch Formulierung einheitlicher Ziele auf EU-Ebene die Mitgliedsstaaten und deren nationale
Sozialpartner zu eigenen nationalen Lösungen führen, wobei die EU-Kommission
via Monitoring für ein wechselseitiges Lernen unter den Staaten einstehen will.
Mit diesem Verfahrensvorschlag der EU-Kommission ist die im Titel angedeutete
Frage aufgeworfen, nicht nur wie, sondern insbesondere durch wen aktuelle Probleme des Arbeitsmarktes in welchem Verfahren gelöst werden sollen und welcher
Unterstützungsmaßnahmen es dabei bedarf, um einseitige ungerechte und langfristig unvernünftige Ergebnisse zu vermeiden.
Diese Fragestellung ist Anlaß für die nachfolgend dargestellte Untersuchung, mit
der die kurz- und langfristigen Wirkungen eines nationalen (deutschen) Ausgleichs
von Flexibilisierung und sozialer Sicherung exemplarisch anhand eines Beispiels
aufgezeigt werden sollen.
Mit der agenda 2010 hat in Deutschland der Gesetzgeber eine Lösung versucht, die
im Kern neben einer Verschärfung der Regelungen für Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit eine Öffnung des Arbeitsrechts hinsichtlich atypischer Beschäftigung
(Befristung, Leiharbeit, Mini-, Midijobs, Teilzeitarbeit etc.) vorsah. Mit Blick auf
den Ansatz der EU-Kommission stellt sich damit die Frage, ob Politik den aktuellen Problemen durch Gesetzgebung begegnen sollte, oder ob die Verantwortung
dafür dem freien Kräftespiel der Wirtschaft überlassen werden kann. Dies führt zu
der Frage nach den Wirkungen der Reform.
Zur Frage, ob die mit den Reformen der agenda 2010 angestrebten Ziele erreicht
wurden, gibt es ein Meinungsspektrum, das je nach Betrachtungswinkel von uneingeschränkter Zustimmung bis zur vollständigen Negation reicht. Überwiegender
Meinung nach wird in dem Reformpaket ein richtiger Schritt zur damaligen Zeit
gesehen, in dem es darum ging, dem vorausgegangenen wirtschaftlichen Abwärtstrend der deutschen Volkswirtschaft mit Maßnahmen zu begegnen, doch sei der
Maßnahmenkatalog zu zaghaft ausgestaltet, um die strukturellen Probleme des
Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherung, der Besteuerung und der öffentlichen
Haushalte zu lösen.4 In puncto Wirtschafts- und Arbeitspolitik müsse es daher
zukünftig darum gehen, die Verkrustungen des deutschen Arbeitsmarktes aufzubrechen und durch Flexibilisierung des Arbeits-, Betriebsverfassungs- und Tarifrechts neue Anreize für Beschäftigung zu setzen.5
Will man jedoch eine Reform reformieren, ist zuvor zu klären, ob das mit der Reform bekämpfte Problem verschwunden oder zumindest wirksam angegangen ist
oder ob alternative Ansätze das Problem besser gelöst hätten. Wird Problemlösung
durch Rechtsetzung betrieben, ist diese zunächst hinsichtlich ihrer systematischen
und teleologischen Stimmigkeit im Ganzen zu überprüfen. Darüber hinaus ist aber
eine ganzheitliche und interdisziplinäre Überprüfung notwendig. Diese ist aber
wegen der Vielfältigkeit der juristischen sowie volks-, betriebs- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhänge für die Agenda als Ganzes außerordentlich schwierig
und im Hinblick auf die Aussagefähigkeit erwarteter Ergebnisse möglicherweise
auch fragwürdig.
200
Daher erscheint es sinnvoll, in Teiluntersuchungen zu Teilergebnissen zu kommen,
um diese für die weitere Gestaltung der Problemlösung zu nutzen. Zu diesem
Zweck wurden im Rahmen einer Pilotstudie die in der agenda 2010 angestrebten
beschäftigungsfördernden Wirkungen der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik
gegenständlich und örtlich begrenzt untersucht. In dem hier zugrundeliegenden
Projekt ging es dabei speziell um die Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe.
2. Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf
regionale Handwerksbetriebe
Warum wurden gerade die Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse
auf regionale Handwerksbetriebe untersucht? Handwerksbetriebe sind in unserer
Volkswirtschaft eine tragende Säule, insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung von Arbeitnehmern. Gleichzeitig werden diese Betriebe in der betriebswirtschaftlichen und besonders in der personalwirtschaftlichen Forschung in ihrer
Besonderheit weitgehend vernachlässigt.6 Dies gilt in der Personalwirtschaftslehre
auch dann, wenn klein- und mittelständische Unternehmen Gegenstand der Betrachtung sind.7 Daß bei dieser Forschung gar noch interdisziplinär rechts- und
sozialwissenschaftlich vorgegangen wird, dürfte noch seltener sein. Hierfür lassen
sich verschiedene Gründe nennen:
- Da in Handwerksbetrieben nur wenig Akademiker beschäftigt werden, fehlt den
Forschern die entsprechende Sozialisation, um diesen Forschungsgegenstand als
bedeutsam wahrzunehmen.8
- Da der einzelne Handwerksbetrieb aufgrund seiner geringen Machtkonzentration
als wenig bedeutsam erscheint, gilt er als wenig lohnenswertes Untersuchungsobjekt für die Betriebswirtschaftslehre.9
- Da Handwerksbetriebe aufgrund ihrer Größe – von Ausnahmen einmal abgesehen – kein professionalisiertes Personalmanagement vorweisen können, fehlt auf
den ersten Blick ein Bezugspunkt für mögliche Gestaltungsempfehlungen.10
- Da eine interdisziplinäre rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung zumindest in Deutschland noch vergleichsweise selten ist,11 kann nicht erwartet werden,
daß sie ausgerechnet Handwerksbetriebe in den Blick nimmt.
1. Regionale Handwerksbetriebe im Focus der Betrachtung
Angesichts dieser Voraussetzungen konnte es in der hier vorgelegten Pilotstudie
nur um eine erste Sondierung des Untersuchungsfeldes gehen, bei der inhaltliche
und methodische Aspekte für ein konkretes Thema exemplarisch in den Focus
genommen wurden. Der hier gewählte Ansatz bietet die Möglichkeit, über eine
abstrakte Erörterung grundsätzlicher Möglichkeiten hinauszugehen und Forschungsprobleme aufzuweisen, die nur im Zuge des Operationalisierens zutage
treten.
Das hier zu untersuchende Forschungsfeld läßt sich durch folgende Merkmale
eingrenzen:
201
- Gegenstand der Betrachtung sind Handwerksbetriebe unterschiedlicher Gewerke,
da in Bezug auf atypische Beschäftigungsverhältnisse deutliche Unterschiede zu
erwarten sind.
- Räumlich konzentriert sich die Untersuchung auf Betriebe in der deutschdänischen Grenzregion, da die deutlich unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Regelungen in diesen beiden Ländern zu Wechselbeziehungen am Arbeitsmarkt führen
könnten. Zudem besteht mit dem dänischen „Flexicurity“-Konzept12 ein alternativer Entwurf arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Ordnung, der gemessen
am Grad der Beschäftigung der Bevölkerung erfolgversprechend erscheint.
- Die Bezugnahme auf atypische Beschäftigungsverhältnisse erscheint besonders
interessant zu sein, da es sich um ein vergleichsweise neues Flexibilisierungsinstrument am Arbeitsmarkt handelt, dessen Auswirkungen möglicherweise noch
nicht hinreichend untersucht sind.
2. Betriebs- und Politikberatung als Zielsetzung
Schon bei der Bestimmung der Untersuchungsziele zeigen sich die Besonderheiten
des Untersuchungsgegenstandes. Da Handwerksbetriebe gerade im Bereich des
Personalmanagements aufgrund ihrer Größennachteile nur sehr begrenzt als unmittelbarer Ansprechpartner zur Verfügung stehen, gilt es, überbetriebliche Institutionen der Handwerksorganisation, wie Handwerkskammern und Innungen, als professionalisierte Träger der Gewerbe- und Handwerksförderung verstärkt einzubeziehen.13 Diese Institutionen können auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse
zielgerichtete Unterstützungsmaßnahmen der Beratung, Qualifizierung etc. bereitstellen, so daß für den einzelnen Handwerksbetrieb größenspezifische Nachteile
ausgeglichen werden. Mit Blick auf die Diskussionen um das „FlexicurityKonzept“ der EU-Kommission ist hier anzumerken, daß derartige überbetriebliche
Institutionen nicht in allen Mitgliedsstaaten in der beschriebenen Form bestehen.
Gerade bei den hier gewonnenen Erkenntnissen aus der Rechtsfolgenabschätzung
bietet sich eine Nutzung in Richtung Politikberatung an. Wenn Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik einen Sinn haben soll, dann doch nur, wenn die bezweckten
Ziele erreicht und insbesondere kontraintentionelle Gesetzesfolgen14 vermieden
werden. Dabei nutzen jedoch reine modelltheoretische Erörterungen nur wenig,
vielmehr gilt es die konkreten Auswirkungen entsprechender Maßnahmen zu berücksichtigen. Und hier zeigt gerade die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte
angesichts der bestehenden Wirtschaftskrise, daß Handwerksbetriebe einen besonderen Nachholbedarf im Hinblick auf die Berücksichtigung ihrer betriebs- und
gewerkespezifischen Besonderheiten haben. Auch hier bieten sich wiederum die
Institutionen der Handwerksorganisation als Träger der Politikberatung an.
3. Ökonomische Analyse des Rechts als Methodik
Die klassische positivistische Rechtstheorie befaßt sich meist mit der formalen
Stimmigkeit rechtlicher Aussagen und führt in der Folge zu einer Normenlogik.15
Im Rahmen dieser Untersuchung bedeutet das, daß beispielsweise zu prüfen wäre,
- ob die Rechtsnormen zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen mit den
durch die Verfassung gegebenen Grundnormen der Wirtschaftsordnung vereinbar
sind,
202
- ob die Rechtsnormen intrasystematisch schlüssig, also Rechtsnormen zu den
verschiedenen atypischen Beschäftigungsverhältnissen, logisch und systematisch
widerspruchsfrei sind.
Die ökonomische Analyse des Rechts in ihrer normativen Variante geht darüber
hinaus und fragt nach den Auswirkungen rechtlicher Normen. Sie unternimmt den
Versuch, das Recht als Solches an der Optimierung seiner gesamtwirtschaftlichen
Folgen auszurichten; das Recht soll mit Hilfe von ökonomischen Effizienz- oder
Optimierungskriterien bewertet werden.16 Dabei wird aber nicht ein einzelnes
Gesetz daraufhin betrachtet, welche Wirkungen es hat, um dann z.B. zum Ergebnis
zu gelangen, daß es ungerecht sei. Stattdessen wird geprüft, wie die Individuen, die
Adressaten des Gesetzes, auf die Gesetzgebungsalternative A reagieren werden.
Dann wird überprüft, wie die Individuen sich unter der Gesetzgebungsalternative B
verhalten werden. Schließlich werden die Verhaltensauswirkungen der Gesetzgebungsalternativen verglichen, um zu ermitteln, welche der beiden Folgen aus Sicht
des Gesetzgebers attraktiver sind.17
Der ökonomischen Effizienz durch diesen normativen Ansatz der ökonomischen
Analyse des Rechts den Vorrang vor traditionellen Kriterien der Gerechtigkeit
einzuräumen, greift jedoch zu kurz.18 Mit einem pragmatischen Ansatz von Law
and Economics könnte der Weg zu einer umsichtigen Rechtsetzung und Rechtsanwendung, die stets auch nach ihrem wirtschaftlichen Sinn zu beurteilen sind,
bereitet werden. Neben dem Effizienzkriterium sollen nach diesem pragmatischen
Verständnis etablierte Gerechtigkeitskriterien, die betroffene Individuen davor
schützen, einschneidende Einschränkungen ihrer Rechtspositionen zur Steigerung
der volkswirtschaftlichen Effizienz hinnehmen zu müssen, gewahrt bleiben.19 Nur
so wird dem das deutsche Privatrecht prägenden Gedanken einer umfassenden nur
durch sich selbst und dem Gleichheitsgrundsatz beschränkten Vertragsfreiheit
gebührend Rechnung getragen.
Bezogen auf den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand führt dieser pragmatische Ansatz zu folgenden Fragen:
- Benutzen die Handwerksbetriebe atypische Beschäftigungsverhältnisse dem
durch die Gesetzesmotivation vorgegebenen Zweck entsprechend?
- In welchem Maße und in welcher Weise nutzen die Handwerksbetriebe der Region der Handwerkskammer Flensburg die rechtlichen Möglichkeiten zu den verschiedenen atypischen Beschäftigungsverhältnissen und mit welchen betriebswirtschaftlichen und personellen Folgen ist dabei zu rechnen.
- Welche alternativen gesetzlichen Möglichkeiten bestehen bei der Arbeitsflexibilisierung derzeit (z.B. intern Flexibilisierung durch Überstunden/Kurzarbeit, oder
extern Einstellung/Entlassung) bzw. zukünftig (Orientierung am dänischen Arbeitsrecht).
Die ökonomische Analyse des Rechts, so wie sie hier dargelegt wurde, dient allerdings lediglich der Politikberatung. Das bedeutet, daß die Handwerksorganisationen mit den hier gewonnenen Erkenntnissen aufzeigen können, ob und gegebenenfalls wie gesetzliche Regelungen zu gestalten wären, damit Handwerksbetriebe
erfolgreich wirtschaften können. Im Zuge der Wirkungsanalyse bietet sich aber bei
203
entsprechender Gestaltung des Untersuchungsdesigns die Möglichkeit zu erkennen, ob unerwünschte Folgen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse
sich eventuell auch aus dem Fehlen von Unterstützungsmaßnahmen für die Handwerksbetriebe ergeben, so daß hier beide Untersuchungsziele angestrebt werden
können.
3. Untersuchungsdesign der ökonomischen Rechtsanalyse
1. Zielsetzung und Vorgehensweise der rechtswissenschaftlichen Untersuchung
Es sollen die gesetzgeberische Intention für die rechtliche Legitimation (altbekannter und neuer) atypischer Beschäftigungsverhältnisse untersucht sowie die Zulässigkeitsgrenzen nach der jeweiligen Gesetzesmotivation erarbeitet werden. Mit
atypischen Beschäftigungsverhältnissen sind in einer negativen Abgrenzung zum
Normalarbeitsverhältnis all jene Beschäftigungsformen gemeint, die nicht in Vollzeit, unbefristet und in die sozialen Sicherungssysteme integriert sind sowie in
Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber ausgeübt werden.20
Hierzu zählen, nachfolgend in der Reihenfolge ihres Aufkommens gemessen an
der Gesamtbeschäftigung: Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete
Beschäftigung.21
Inhalt der rechtlichen Untersuchung ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen und
damit beständige rechtliche Grundwerte und Grundsätze (Arbeitnehmerschutz vs.
Vertragsfreiheit; Umgehungsverbot vs. wirtschaftlicher Interessen; Kündigungsschutzinteresse vs. Vertragsbindung; Ausbildung vs. Investition etc.) festzustellen.
Dazu werden atypische Beschäftigungsverhältnisse in ihren wichtigsten Erscheinungsformen dargestellt. Ihre rechtlichen Grundlagen werden hinsichtlich des
Normzwecks untersucht und daraus die Gesetzesintention abgeleitet.
Die anschließende empirische Untersuchung soll die praktizierte Bedeutung atypischer Beschäftigungsverhältnisse in den maßgeblichen Branchen aufzeigen, um
anschließend im Kontext des rechtlichen Rahmens Nutzung und Folgen atypischer
Beschäftigung zu thematisieren.
2. Interpretationsmodell der sozialwissenschaftlichen Untersuchung
Um nicht nur die Auswirkungen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im Handwerk, sondern auch den Wirkungszusammenhang zwischen der betrieblichen und der gesellschaftlichen Ebene abschätzen zu können, bedarf es eines
Interpretationsmodells zu diesem Zusammenhang. Hier bietet sich das aus der
Moralökonomie des Wirtschaftsethikers Karl Homann stammende Modell der
Verhaltenssteuerung an. In seiner Argumentation unterscheidet er zwischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie. Auf der Ebene der Handlungstheorie strebt der
Einzelne mit Hilfe geeigneter Mittel seine Ziele unter bestimmten Bedingungen an.
In unserem Falle versucht der Handwerksmeister mit Hilfe von atypischen Beschäftigungsverhältnissen seine Kosten- bzw. Flexibilisierungsziele zu erreichen.
Als Bedingungen gelten hier zum einen die Rechtslage zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen und zum anderen die Unterstützungsangebote der Handwerksorganisationen (zum Beispiel der Handwerkskammer). Im Ergebnis wird der
Handwerksbetrieb erfolgreich oder nicht erfolgreich sein. Hinzu kommt noch die
Arbeitszufriedenheit bzw. Arbeitsbeanspruchung der Mitarbeiter durch die atypi204
sche Beschäftigung als Arbeitsbedingung, die wiederum ihrerseits Einfluß auf den
Unternehmenserfolg haben kann. Die Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse als Handlung auf der einzelbetrieblichen Ebene führt in der Summe zu
Handlungen auf der gesellschaftlichen Ebene. In Verbindung mit der Rechtsprechung (Regeln/Institutionen) und dem Gesetzgebungssystem als Rahmenbedingung zeigen sich gesellschaftliche Ergebnisse im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung bzw. den Arbeitsschutz.22
Mit Hilfe dieses Interpretationsmodells und entsprechender empirischer Untersuchungsmethoden können nun einerseits die Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und deren Folgen abgeschätzt und andererseits mögliche einzelbetriebliche Motive und Informationslagen etc. erfaßt werden.
3. Die Teiluntersuchungen im Zusammenhang
Im Rahmen der hier vorliegenden Pilotstudie galt es, bei der Auswahl der Untersuchungsmethoden einerseits darauf zu achten, daß vorhandene Erkenntnisse optimal
genutzt werden, um die Belastungen für die zu Befragenden in Grenzen zu halten,
und andererseits eine größtmögliche Interpretationsoffenheit vor allem im Hinblick
auf subjektive Sichtweisen von Entscheidern zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund boten sich für die notwendigen zwei Teiluntersuchungen (betriebliche /
gesellschaftliche Ebene) unterschiedliche methodische Ansätze an:
Auf der gesellschaftlichen Ebene ging es darum, objektive Aussagen über diese
Ebene zu gewinnen. Als empirische Methodik wurde hier die Sekundäranalyse
genutzt, bei der vorhandenes Material unabhängig von dem ursprünglichen Zweck
und Bezugsrahmen der Datensammlung ausgewertet wird.23 Die Sekundäranalyse
zu „Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe“ beschränkt sich auf empirische Untersuchungen im Themenfeld.
Ziel war, die Struktur und Entwicklung atypischer Beschäftigungsverhältnisse zu
analysieren und ihre betriebswirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen
auf Handwerkbetriebe der Handwerkskammer Flensburg einzuschätzen. Um die
betriebswirtschaftlichen Auswirkungen einschätzen zu können, gehörten auch die
Wechselwirkungen zwischen dem deutschen und dänischen Arbeitsmarkt zum
Untersuchungsfeld.
Folgende Teilbereiche wurden in die Untersuchung einbezogen:
1. Daten zur Struktur der Handwerksbetriebe der Handwerkskammer Flensburg
nach Betriebsgrößenklassen und Gewerken
2. Daten zur Struktur und Entwicklung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im
Handwerk bzw. in Schleswig Holstein
3. Daten zu den Wechselwirkungen zwischen deutschem und dänischem Arbeitsmarkt
4. Daten zu den betriebswirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen der
atypischen Beschäftigungsverhältnisse
Auf der betrieblichen Ebene dieser Studie ging es – wie bereits dargelegt – auch
um subjektive Motive und Sichtweisen, so daß hier der Zugriff auf qualitative
problemzentrierte Interviews als empirische Methodik geeignet erschien.24 Befragt
205
wurden fünf Obermeister von Innungen, die jeweils exemplarisch Auskünfte zu
atypischen Beschäftigungsverhältnissen von Gewerken ähnlicher Struktur geben
konnten. Es war also beispielsweise zu vermuten, daß sich die Nutzung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen bei Bäckern und Fleischern nicht grundsätzlich
unterscheiden werde, so daß nur ein Obermeister zu befragen war. Da die Obermeister für das jeweilige Gewerk als Experten gelten konnten, wurde auf die Befragung einer Vielzahl von Handwerksmeistern verzichtet. Die Interviews wurden
nach einem Anschreiben und der Terminabsprache jeweils von zwei Interviewern
durchgeführt und die Aussagen der Obermeister sind sowohl schriftlich durch
Notizen als auch informationstechnisch durch Aufnahmegerät festgehalten worden.
Anschließend haben die Interviewer jeweils das Protokoll erstellt und ausgewertet.25
4. Die Untersuchungsergebnisse zu den atypischen
Beschäftigungsverhältnissen
1. Struktur der Auswertung
Bevor einzelne Untersuchungsergebnisse vorgestellt werden können, ist noch auf
die Struktur der Auswertung einzugehen. Hierbei werden bereits auf dieser Ebene
Erkenntnisdefizite und damit Handlungspotentiale sichtbar. Auch wenn letztlich
eine integrative rechts- und sozialwissenschaftliche Untersuchung angestrebt wurde, ist zunächst zwischen beiden Aspekten zu unterscheiden. In der rechtwissenschaftlichen Untersuchung ging es erst einmal darum, die Intentionen des Gesetzgebers für die einzelnen Gesetze und Normen zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu ermitteln. Dabei zeigte sich, daß der Gesetzgeber seinerseits auf
sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Annahmen zur Wettbewerbs- und Familiensituation etc. in der Gesetzesbegründung zurückgegriffen hat. Aus den Intentionen des Gesetzgebers lassen sich nun in der Folge Fragen zur Nutzung und Wirkung der Rechtsnormen ableiten. Wurden also die Möglichkeiten zur Befristung
oder zur Zeitarbeit beispielsweise genutzt und zeigten sich dabei die angestrebten
Wirkungen, wie Flexibilität der Betriebe oder erhöhte Beschäftigungsmöglichkeiten für die Arbeitnehmer?
In der parallel durchgeführten sozialwissenschaftlichen Untersuchung galt es, im
Rahmen der Sekundäranalyse zu ermitteln, welche Erkenntnisse zur Nutzung und
Wirkung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse im regionalen Handwerk
bereits vorliegen. Und hier zeigen sich erste interessante strukturelle Unterschiede,
da die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nur Teilbereiche der sich aus den
Intentionen ergebenden Fragestellungen abdecken, andererseits aber zusätzliche
Aspekte behandeln. Das bedeutet zweierlei: Zum einen hat der Gesetzgeber die
möglichen Wirkungen der Gesetze im Vorfeld nur unzureichend abgeschätzt und
zum anderen orientieren sich Sozialwissenschaftler bei der Untersuchung der Wirkungen von Rechtsnormen nur unzureichend an den jeweiligen Intentionen des
Gesetzgebers bzw. die Wirkungen sind nur schwer oder gar nicht zu erfassen.
Letzteres hängt möglicherweise mit der subjektiven Situationswahrnehmung, Begründung und Wirkungsabschätzung der einzelwirtschaftlichen Handlungsträger
206
bei der Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse zusammen, wie die
qualitativen Interviews im Rahmen dieser Studie vermuten lassen.
2. Zusammenfassung der Teiluntersuchungsergebnisse
Folgende Ergebnisse zeigen sich im Einzelnen: Bei den Intentionen des Gesetzgebers wurde deutlich, daß vor allem die Flexibilität der Betriebe, die Beschäftigungsförderung der Arbeitnehmer und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
gefördert werden sollten. Diese sehr pauschale Sicht auf die Wirtschaft als Ganzes
berücksichtigt aber beispielsweise die dieser Untersuchung zugrundeliegende
spezifische Problematik regionaler Handwerksbetriebe nur unzureichend. Bei der
Nutzung und Wirkung kann ein international agierender Automobilkonzern nicht
mit einem regional arbeitenden Bäckereibetrieb gleichgesetzt werden. Aus den
ermittelten Intentionen ergeben sich daher zunächst einmal Fragen nach der differenzierten Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse nach Größe, Branche
und Standort der Betriebe sowie Qualifikationsstruktur und Geschlecht der nutzenden Arbeitnehmer. Darüber hinaus erscheint ein Abgleich von Intention des Gesetzgebers und Nutzungsbegründung von Unternehmern und Mitarbeitern bedeutsam. Und schließlich gilt es auch, die betriebs- und personalwirtschaftlichen Wirkungen der Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu ermitteln.26
Die Ergebnisse der Sekundäranalyse zeigen dabei, daß die regionalen Handwerksbetriebe atypische Beschäftigungsverhältnisse nur in sehr begrenztem Maße nutzen. Vor allem Befristungen und Leiharbeit werden kaum genutzt. Die Unternehmen des Baugewerbes beschäftigen aufgrund der Rechtslage stattdessen Subunternehmer. Lediglich im Verkauf bzw. bei handwerklichen Dienstleistungen werden
Teilzeitarbeit und Mini-Jobs verstärkt eingesetzt. Bezüglich der betriebs- und personalwirtschaftlichen Wirkungen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse liegen zwar Erklärungsmodelle, aber kaum tragfähige empirische Erkenntnisse vor. Lediglich bei den gesundheitlichen Folgen gibt es erste allgemeine Untersuchungen, die zeigen, daß Teilzeitarbeit bzw. Mini-Jobs zu einer Verschlechterung der sozialen Sicherung führen und daß Leiharbeit bzw. Befristungen die Lebensplanung beeinträchtigen. Warum liegt aber in diesem Bereich so wenig Datenmaterial vor? Für den Bereich des Handwerks zeigen die Ergebnisse der qualitativen Interviews, daß sich die Handwerksmeister zwar durch die Kreishandwerkerschaften gut informiert fühlen, allerdings kaum Vorstellungen über die Möglichkeiten der Nutzung und vor allem die gesundheitlichen und sozialen Wirkungen
dieser Beschäftigungsformen haben. Handwerksbetriebe scheinen zuallererst technikorientiert zu sein; betriebswirtschaftliche oder gar personalwirtschaftliche Fragen treten nur in begrenztem Maße in das Blickfeld dieser Entscheidungsträger.
3. Rekonstruktion eines integrativen Erklärungsmodells
Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung läßt sich das nachfolgende
integrative Erklärungsmodell zur Nutzung und Wirkung atypischer Beschäftigungsverhältnisse rekonstruieren:
1. Ausgangspunkt ist dabei das Gesetzgebungsverfahren zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen. In diesem nimmt der Gesetzgeber Anstöße aus der
sozialen Wirklichkeit in die Gesetzesbegründung auf. Idealerweise sollte dabei
207
eine fundierte empirische Datenlage vorhanden sein und es sollten auch umfassende Rechtsfolgenabschätzungen vorgenommen werden.
2. Nach dem Inkrafttreten der Gesetze nutzen die betrieblichen Entscheidungsträger – in diesem Fall aus den regionalen Handwerksbetrieben – diese rechtlichen
Möglichkeiten. Dabei haben die Unternehmer und Mitarbeiter entsprechende Zielsetzungen bzw. Intentionen. Idealerweise sollten auch hier fundierte Kenntnisse
sowohl bezüglich der Rechtslage als auch der wirtschaftlichen Lage vorliegen.
Dies beinhaltet auch die einzelfallbezogene Abschätzung der betriebs- und personalwirtschaftlichen sowie gesundheitlichen und sozialen Folgen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
3. Im Idealfall nutzen die Entscheider die rechtlichen Möglichkeiten entsprechend
der wirtschaftlichen Lage bzw. sozialen Situation und die Wirkungen entsprechen
der Rechtsfolgenabschätzung.
4. Allerdings dürfte dies nur selten vollständig gelingen, so daß eine Rückkoppelung zum Gesetzgebungsverfahren notwendig wird. Maßstab für eine erfolgreiche
Gesetzeseinführung ist also die möglichst weitgehende Annäherung an das zuvor
beschriebene Idealmodell.
Wozu dient nun dieses integrative Erklärungsmodell? In Beantwortung dieser
Frage ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß dieses Modell als Basis für eine
umfassende empirische Rechtsfolgenabschätzung dienen kann. Darüber hinaus
können bei entsprechender Datenlage aber auch Handlungspotentiale sowohl für
die Betriebe als auch für die Politikberatung aufgezeigt werden.27
5. Schlußfolgerungen aus der ökonomischen Rechtsanalyse
Die Untersuchung zeigt, daß in einem bedeutenden Bereich des deutschen Wirtschaftssystems gesetzgeberische Intentionen nicht vollständig erreicht beziehungsweise verfehlt werden.
1. Handlungspotentiale für die Handwerksorganisationen
Die deutschen Handwerksorganisationen (Handwerkskammer, Kreishandwerkerschaften, Innungen) haben einen bedeutenden Einfluß auf die Umsetzung und
Gestaltung der durch Recht gesetzten Wirtschaftsbedingungen in Deutschland.
Daher ist zu prüfen, welche Schlußfolgerungen aus der hier vorgelegten Pilotstudie
im Hinblick auf Handlungspotentiale für die Handwerksorganisationen gezogen
werden können. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, daß es sich hier um eine
Pilotstudie handelt, deren Aussagekraft begrenzt ist. Allerdings konnte exemplarisch gezeigt werden, daß Problemlösungsdefizite bei den Handlungsträgern im
regionalen Handwerk im Hinblick auf atypische Beschäftigungsverhältnisse vorliegen. Diese umfassen sowohl die Situationswahrnehmung als auch die Nutzungsbegründung einschließlich der Wirkungsabschätzung. Dies ist auch nachvollziehbar, da – wie bereits eingangs dargestellt – Handwerksbetriebe eher technikorientiert sind und aufgrund ihrer Größe keine ausreichende Personal- und Arbeitsrechtskompetenz besitzen. Aus diesem Grund erscheinen überbetriebliche Unterstützungsmaßnahmen in diesem Bereich sinnvoll. Und dies gilt natürlich nicht nur
für den speziellen Themenbereich der atypischen Beschäftigung, denn bereits hier
208
führt die Diskussion zu alternativen Flexibilisierungsstrategien und damit zu Fragen eines allgemeinen Personalmanagements. Die verschiedenen Träger der Gewerbe- und Handwerksförderung, wie Kammern, Kreishandwerkerschaften und
Innungen, stellen auch in Schleswig Holstein aber bereits eine Vielzahl von
Weiterbildungs- und Beratungsangeboten in diesem Bereich zur Verfügung.
Was jedoch fehlt, ist eine bedarfsorientierte Zusammenführung dieser Angebote,
so daß der Nutzer nicht den Überblick verliert. Eine Zentralisierung erscheint dabei
aber weder möglich noch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sinnvoll zu sein.
Vielmehr geht es eher darum, regionale Netzwerke aufzubauen, die verschiedene
Servicefunktionen wahrnehmen. Diese Netzwerke zum Personalmanagement bei
den Handwerkskammern anzusiedeln ist von Vorteil, weil nicht nur Unternehmens- und Mitarbeiterinteressen aufgegriffen würden, sondern auch die Aufgabe
der Kammern, Politikberatung zu betreiben, gefördert würde. Auf diese Weise
könnten diese Netzwerke die Verknüpfung im Sinne eines Wissensmanagements
und einer Lotsenfunktion leisten. Übertragen auf das „Flexicurity-Konzept“ der
EU-Kommission und die darin vorgeschlagene offenen Methode der Koordinierung (OMK) bedeutete dies, wertvolle Unterstützungsarbeit für die nationalen
Akteure (Kammern, Verbände, Gewerkschaften) zu leisten.
Was könnte ein regionales Netzwerk Personalmanagement im Handwerk leisten?
- Die Unterstützungsangebote könnten gebündelt werden. Ein Netzwerkbeauftragter führt dabei die Handwerksmeister als Lotse durch die verschiedenen Unterstützungsangebote der Handwerkskammern und auch anderer Institutionen.
- Bei der Weiterbildung könnten „maßgeschneiderte“ Qualifizierungsmaßnahmen
für spezifische Gruppen von Handwerksbetrieben konzipiert werden.
- Ein Frühwarnsystem könnte entwickelt werden, das Erkenntnisse über wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklungen, die Einfluß auf das Personalmanagement haben, sammelt und aufbereitet. Insgesamt führten diese Maßnahmen zu
einem integrierten Unterstützungsangebot, das die bereits bestehenden Ansätze erst
in vollem Umfang wirksam werden läßt.
2. Handlungspotentiale für die Politik
Wie bereits bei den Handlungspotentialen der Handwerksorganisationen dargelegt,
gehören die Politikberatung und in der Folge auch die Lobbyarbeit zu den Aufgaben dieser Institutionen. Lobbyarbeit als Interessenpolitik gilt zwar im Rahmen der
politischen Theorie grundsätzlich als legitim, unterliegt aber in ihrer Art und Weise
zunehmender Kritik. Weitgehend unproblematische Mittel sind in diesem Zusammenhang aber die Information und Kommunikation.28 Dies gilt zumindest, solange
die zugrundeliegenden Sachinformationen die soziale Wirklichkeit realistisch
abbilden. Und hier bietet der im Rahmen dieser Studie entwickelte Ansatz zur
Rechtsfolgenabschätzung im Zusammenhang mit den angestrebten regionalen
Netzwerken zum Personalmanagement einige Vorteile:
- Aus einem Netzwerk Personalmanagement erhält die Politik fundiert Informationen über existente Probleme und deren mögliche Ursachen. Folge: Politik handelt
informiert (rational).
209
- Lösungsvorschläge und damit politische Forderungen erfolgen zielgruppennah.
Folge: Politik handelt problemlösungsorientiert.
- Fehl- und Folgewirkungen gesetzgeberischer Lösungen werden sichtbar und
könnten korrigiert werden. Folge: Politik nimmt Freiheitsauftrag wahr; z.B. Deregulierung als Alternative.
In dieser Pilotstudie wurde eingangs die ökonomische Analyse des Rechts als
methodische Basis der Untersuchung vorgestellt. Bisher konnten jedoch nur erste
Hinweise zu einer Rechtsfolgenabschätzung im Hinblick auf die atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Bereich der regionalen Handwerksbetriebe vorgelegt
werden. In einer vollständigen ökonomischen Analyse des Rechts wäre aber auch
die Beurteilung rechtlicher Alternativen Gegenstand der Betrachtung. Die Prüfung,
wie sich im Vergleich zur gesetzgeberischen Lösung rechtliche Alternativen auswirken würden, ist mit Blick auf Art. 2 GG geboten, sobald freiheitsbeschränkende
Regelungen gesetzt werden sollen. Für die Politik bedeutet dies ein weiteres wichtiges Handlungspotential.
Unter Betrachtung der nahezu allen atypischen Beschäftigungsverhältnissen innewohnenden Gesetzesintention der Flexibilisierung auf sowohl Arbeitgeber- wie
Arbeitnehmerseite böte sich auf den ersten Blick das dänische Flexicurity-Konzept
an. In diesem Konzept ist der Arbeitsmarkt durch Absenkung des Kündigungsschutzes bei gleichzeitiger Verstärkung der sozialen Sicherung in der Arbeitslosigkeit höchst flexibel gestaltet und die Arbeitslosigkeit gilt in der Folge im europäischen Vergleich als sehr gering.29 Im Rahmen dieser Studie zeigten sich zunächst
einmal keine besonderen Wechselbeziehungen zwischen dem dänischen und dem
deutschen Arbeitsmarkt im Bereich der atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die
Frage lautet jedoch: Wäre eine Absenkung des Kündigungsschutzes bei gleichzeitiger Verbesserung der sozialen Sicherung für das Handwerk in Deutschland eine
Alternative zu der bisherigen sehr differenzierten Ausgestaltung der atypischen
Beschäftigungsverhältnisse? Angesichts der Defizite bei der subjektiven Wahrnehmung der Rechtslage und der sozialen Wirkung durch die Handlungsträger
gerade im Handwerk erscheint das Flexicurity-Konzept auf den ersten Blick vorteilhaft. Und auch aus Sicht der Gewerkschaften bietet dieser Ansatz interessante
Lernmöglichkeiten für andere Länder zum Abbau von Arbeitslosigkeit.30
Bei genauerer Betrachtung zeigt aber gerade das hier vorgelegte Konzept zur
Rechtsfolgenabschätzung, daß eine solche Beurteilung nicht so einfach ist. Denn
zunächst einmal darf der Fokus nicht immer nur auf wenige Intentionen bzw. Wirkungen – hier Arbeitslosigkeit bzw. Vertragsfreiheit – gelegt werden, da sonst
ungeplante Nebenwirkungen den Erfolg beeinträchtigen oder gar verhindern. In
diesem Zusammenhang ist möglicherweise an die unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnisse im Rahmen der Arbeitskultur und deren Wirkungen auf die Leistung zu
denken. Und darüber hinaus legen die hier vorgelegten Untersuchungsergebnisse
die Einschätzung nahe, daß die in diesem Fall notwendige Prognose der Wirkungen äußerst schwierig und aufwendig sein dürfte und daher im Rahmen dieser
Studie natürlich nicht geleistet werden kann. Doch bleibt zu prüfen, ob trotz des
Aufwands die Prognose der Wirkungen nicht betrieben werden muß, um weitrei210
chende Folgen – zum Beispiel demographische Veränderungen – zu erkennen und
gegebenenfalls zu vermeiden.
3. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts
Zum Abschluß dieser Studie erscheint es sinnvoll zu sein, noch einmal auf die
Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts einzugehen.
Die ökonomische Analyse des Rechts wurde in dieser Untersuchung verstanden als
eine Überprüfung der gesetzgeberischen Intention – hier der atypischen Beschäftigungsverhältnisse – in Bezug auf Ziel- und Zweckerreichung bzw. Fehl- und Folgewirkungen. Dabei konnten die Funktionsweise und Wirkung einer gesetzgeberischen Lösung für einen speziellen Wirtschaftsbereich – hier das regionale Handwerk – aufgezeigt werden. Eine Überprüfung der gesetzgeberischen Intention
insgesamt kann aber erst nach einer gewissen Dauer durchgeführt werden, wenn
hinreichend statistisches Material vorliegt. Hierbei zeigte sich, daß die Aussagen
dann begrenzt sind, wenn die gesetzgeberische Lösung eines Problems in bestimmten Zielgruppen – hier der Handwerksmeister – überhaupt nicht bekannt ist. In
diesem Fall wird die gesetzgeberische Intention oft nicht nachgefragt und die Lösung zweckentfremdet verwendet. Darüber hinaus können die Wechselwirkung
gesetzgeberischer Intentionen und Lösungen auf verschiedenen Gebieten einzelnen
Intentionen zuwiderlaufen.
Idealtypisch geht es aber bei der ökonomischen Analyse des Rechts um die prognostizierten Verhaltenswirkungen31 und hier besteht eine erste Schwierigkeit. Ex
ante lassen sich diese Wirkungen vor allem in ihrer Vielschichtigkeit über mehrere
Gesetzesalternativen hinweg nur mit großem Aufwand prognostizieren, so daß die
Gefahr besteht, daß alternative Gesetzesausprägungen ausgeschlossen und einzelne
erhoffte Wirkungen stärker in den Fokus genommen werden.
Aus diesem Grund gilt es, die informationellen Rahmenbedingungen in diesem
Bereich zu verstärken, so daß die Gefahr von interessenbezogenen Einseitigkeiten
und in der Folge Fehlentscheidungen begrenzt wird. Die angestrebten regionalen
Netzwerke zum Personalmanagement stehen dafür als Instrument zur Verfügung.
Neben dem zuvor angesprochenen Erkenntnisproblem der ökonomischen Analyse
des Rechts verweist die hier vorgelegte Studie noch auf eine zweite Fragestellung.
Im Rahmen der Hinweise zur Politikberatung wurde bereits auf das Problem des
Lobbyismus hingewiesen. Das hier vorgelegte Verständnis zur Rechtsfolgenabschätzung bot dabei durch Einbeziehung möglichst aller Haupt- und Nebenwirkungen und damit indirekt aller Interessen eine weitgehende Begrenzung dieses
Problems. Die klassische Form der ökonomischen Analyse des Rechts führt uns
aber zu dem für dieses Konzept konstitutiven Verständnis des Menschenbildes des
homo oeconomicus, der lediglich seinen eigenen Nutzen anstrebt. Diese Fiktion
des homo oeconomicus erscheint in der traditionellen Diktion aber weder normativ
noch empirisch begründbar. Allerdings kann die Präferenzstruktur des Handelnden
natürlich auch um soziale Bedürfnisse einschließlich des Wunsches nach Gerechtigkeit etc. erweitert werden, so daß eine ideologische Verengung vermieden wird
und Raum für Freiheit und Verantwortung entsteht.32 Bezogen auf die ökonomische Analyse des Rechts stellt sich damit wieder die Frage nach den Entschei211
dungsträgern in der Politik, also nach den Politikern und Lobbyisten mit ihren
Interessen und Nutzenvorstellungen. Und hier sind natürlich die zuvor genannten
Schwächen des Utilitarismus zu vermeiden. Die im Rahmen dieser Studie vorgelegten Erkenntnisse und Handlungsoptionen helfen – wie bereits dargelegt –, dieses Problem zu mildern. Übrigens führen diese Hinweise – wenn auch auf Umwegen – wieder zu der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit.33
Bezogen auf die Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im regionalen
Handwerk kann also gesagt werden, daß die Entscheidungsträger in Politik und
Wirtschaft langfristig erfolgreich und verantwortungsbewußt handeln, wenn sie
sich über alle Alternativen und Wirkungen umfassend informieren und damit indirekt auch alle Interessen einbeziehen.34
6. Resümee
Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit das nachfolgende Resümee überregional
bzw. übernational verwertbar ist. Natürlich gibt es Spezifika, die ein pauschales
Übertragen der Schlußfolgerungen verbieten. Dennoch meinen die Autoren, daß
die Verdeutlichung der Wechselwirkungen von Rechtssetzung und Rechtsanwendung ein internationales Bemühen um die Verbesserung der Bedingungen lohnt.
Die im Titel angedeutete Frage, nicht nur wie, sondern insbesondere durch wen
aktuelle Probleme des Arbeitsmarktes in welchem Verfahren gelöst werden sollen
und welcher Unterstützungsmaßnahmen es dabei bedarf, um einseitige ungerechte
und langfristig unvernünftige Ergebnisse zu vermeiden, ist mit den Ergebnissen
dieser Untersuchung sicher nicht beantwortet. Zum Verfahren läßt sich jedoch
folgendes sagen:
Wenn wir uns die Aussage des damaligen Bundeskanzlers Schröder vor Augen
führen, so scheint es richtig zu sein, daß die Politik keine Arbeitsplätze schaffen
kann, sondern das dieses Ziel durch Andere erreicht werden muß. Dies kann nur
gelingen, wenn der durch Rechtsetzung vorgegebene Rahmen vom Rechtsanwender in der intendierten Weise genutzt wird und auch genutzt werden kann. Rechtsnormen müssen intrasystematisch schlüssig und als Konfliktlösungsmodelle alternativ am effizientesten sein, um nicht bereits dadurch kontraintentionelle Wirkungen auszulösen. Die im Rechtsetzungsprozeß zu stellende Prognose zur Mitwirkung des Rechtsanwenders und der damit verbundenen Folgen muß interdisziplinär (überwiegend durch: Rechts-, Volks-, Betriebs-, Sozialwissenschaften) begründet sein und bedarf der regelmäßigen Überprüfung. Korrekturen sollten möglich, aber nur als Ausnahmereaktion vorgesehen sein. Höchstrichterlich angemahnte Rechtssetzungskorrekturen und die damit angestrebte Beseitigung oft jahrelang
bewirkten Unrechts sind zumindest teilweise Ausdruck mangelhaften Handwerks
im Rechtssetzungsprozeß und bestenfalls durch einen Wandel gesellschaftlicher
Wertauffassungen vertretbar.
Auf der anderen Seite muß der Rechtsanwender den Intentionen folgen. Dazu muß
er diese kennen und sicher sein, daß sie effizient, sozial und gerecht sind, also ihm
nutzen. Die Forderung an den Rechtsanwender, den gesetzten rechtlichen Rahmen
verantwortungsvoll – also im Sinne der Intentionen – zu nutzen, setzt das Wissen
212
um die Intentionen und das Bewußtsein darüber voraus, daß durch unsachgemäße
Rechtsanwendung verursachten kontraintentionellen Gesetzesfolgen durch neue
Rechtsetzungsakte begegnet werden wird. Und diese haben wiederum Auswirkungen auf das wirtschaftliche Handeln der Akteure.
Rechtsetzung und Rechtsanwendung bedürfen also der wechselseitigen umfassenden und nachhaltigen Information und Beratung über die Intentionen und Wirkungen. Angesichts der weitreichenden Folgen mangelhafter Rechtsetzung und unverantwortlicher Rechtsanwendung auf die Gesellschaft lohnt sich der Aufwand.
Anders formuliert: Nur gemeinsam können Politik und Wirtschaft Arbeitsplätze
schaffen.
Anmerkungen
Die Quellen der rechts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchung werden hier nicht
eigens angeführt, sie können bei den Autoren angefordert werden.
1) Überschrift-Zitat: Schröder, Gerhard (2003): Antworten zur Agenda 2010, hrsg. v.
Presse und Informationsamt der Bundesregierung, S. 10.
2) Vgl. Schröder, Gerhard, ebenda, S. 4.
3) Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2007): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen: Gemeinsame Grundsätze für den
Flexicurity-Ansatz herausarbeiten: Mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und
Sicherheit, download unter: http://ec.europa.eu/employment_social/employment_strategy/
pdf/flex-comm-de.pdf.
4) Vgl. Hüther, Michael; Scharnagel, Benjamin (2005): Die Agenda 2010: Eine wirtschaftspolitische Bilanz, Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 32-33, 23-30, S. 23.
5) Vgl. Hennecke, Hans-Jörg (2005): Von der „Agenda 2010“ zur „Agenda Merkel“?,
Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 32/33, S. 19.
6) Vgl. Rohrlack, Kirsten (2008): Analyse des betrieblichen Verhaltens von Handwerksbetrieben im Hinblick auf demographische Entwicklungen, München und Mering, S. 1.
7) Vgl. Kreuzhof, Rainer; Rohrlack, Kirsten (2009): Personalmanagement im Handwerk –
Beratung der Berater, Ein Modellprojekt zur Stärkung von Handwerksbetrieben, in: Studien zum Personalmanagement im Handwerk, Nr. 1, Fachhochschule Flensburg, S. 4.
8) Vgl. Rohrlack, Kirsten (2008): a.a.O., S. 1.
9) Vgl. ebenda.
10) Vgl. Kreuzhof, Rainer; Rohrlack, Kirsten (2009): a.a.O., S. 4.
11) Vgl. Kirstein, Roland (2003): Ökonomische Analyse des Rechts, Center for the Study
of Law and Economics, Discussion Paper 06, S. 2.
12) Vgl. Braun, Thorsten (2003): Ein neues Modell für Flexicurity – der dänische Arbeitsmarkt, in: WSI Mitteilungen 2, 92-99.
13) Vgl. Semper, Lothar u.a. (2006): Die Neue Handwerkerfibel für die Vorbereitung auf
die Meisterprüfung / Prüfung Technischer Fachwirt (HWK), Band 1: Rechnungswesen /
Controlling – Grundlagen wirtschaftlichen Handelns im Betrieb, 45 Aufl., Bad Wörishofen, S. 220.
14) Vgl. Martinek, Michael (2000): Unsystematische Überregulierung und kontraintentionelle Effekte im Europ. Verbraucherschutzrecht oder: Weniger wäre mehr; in: Grund-
213
mann, Stefan (Hg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europ. Privatrechts, Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht, Tübingen, 511-557, S. 511.
15) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig; Mona, Martino (2006): Rechtsphilosophie – Rechtstheorie –
Rechtssoziologie, Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bern u.a., S. 39, 104.
16) Vgl. Pforten, Dietmar von der (2001): Rechtsethik, München, S. 349.
17) Vgl. Kirstein, Roland (2003): a.a.O, S. 5.
18) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig/Mona, Martino (2006): Rechtsphilosophie – Rechtstheorie –
Rechtssoziologie, Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bern u.a., S. 239.
19) Vgl. ebenda, S. 240.
20) Vgl. Mückenberger, U. (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses – Hat das
Arbeitsrecht noch Zukunft? In: Zeitschrift für Sozialreform, H. 31, S. 415-434, 457-475.
21) Vgl. Keller, Berndt; Seifert, Harmut (2008): Flexicurity: Ein europäisches Konzept
und seine nationale Umsetzung, in Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und
Sozialpolitik, Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung, Friedrich Ebert Stiftung, S. 16.
22) Vgl. Homann, Karl (1997): Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 21, 1997, 13-21, S.
15.
23) Vgl. Friedrichs, Jürgen (1973): Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek bei
Hamburg, S. 353.
24) Vgl. Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung, 4. Aufl., Weinheim, S.
363.
25) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009): Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe, in: Studien zum Personalmanagement im Handwerk, Nr. 3, Flensburg, S. 6.
26) Vgl. ebenda, S. 10-13.
27) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009) a.a.O., S. 13-14.
28) Vgl. Alemann, Ulrich von; Eckert, Florian (2006): Lobbyismus als Schattenpolitik, in:
Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 15/16, S. 3
29) Vgl. Hansen, Jørgen (2006): Dänisches Jobwunder: Ohne Flexicurity undenkbar, in:
Kennzeichen DK, 12, 5–7, S. 5.
30) Vgl. Braun, Thorsten (2003): a.a.O., S. 98.
31) Vgl. Kirstein, Roland (2003): a.a.O, S. 7.
32) Vgl. Kerber, Walter (1991): Homo oeconomicus, Zur Rechtfertigung eines umstrittenen Begriffs, in: Bievert, Bernd; Held, Martin (Hg.): Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Zur Natur des Menschen, Frankfurt a.M./New York, 56-75, S. 59.
33) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig; Mona, Martino (2006): a.a.O, S. 238.
34) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009): a.a.O., S. 15-19.
Prof. Dr. jur. Hasso Heybrock, Wirtschaftsrecht und Prof. Dr. rer. pol. Dr. phil.
Rainer Kreuzhof, Human Resource Management und Wirtschaftsethik, Dr. Werner Jackstädt Zentrum für Unternehmertum und Mittelstand der Fachhochschule
und Universität Flensburg.
214
Florian Josef Hoffmann
Soziale Wirtschaftspolitik
Ideen regieren die Welt. Ideen sind für Prosperität verantwortlich, aber auch für
Schieflagen. Vor allem in Krisensituationen entwickeln sich neue Ideen. Der
Spekulationskrise von 1873 verdanken wir die Historische Schule, der Krise von
1929 die Freiburger Schule, Karl Schillers mittlerweile vergessene „Konzertierte
Aktion“ ist ein Produkt der Identitätskrise der späten 60er Jahre des vergangenen
Jahrhunderts. „Ökonomie neu denken“ schlagen der „Stifterverband für die
Deutsche Wissenschaft“ und andere heute vor. Eines der Ergebnisse des ‚neuen
Denkens‘ ist die Wiederentdeckung des ‚alten‘ Fachs Wirtschaftsgeschichte, das
an vielen deutschen Universitäten schon vor Jahren gestrichen wurde. Ein Paradigmenwechsel liegt in der Luft. Die wissenschaftliche Mainstream wäre in
Frage zu stellen.
Die Neoklassik ist der Standardlehrstoff an den Universitäten, angereichert
durch spieltheoretische Ansätze und Institutionen-ökonomische Theoriemodelle.
Bewegt hat sich in einem halben Jahrhundert im Grunde fast nichts, außer daß
man sich in den Theorien festgebissen hat, im Kreise dreht und die Theoriengebäude in luftige Höhen geschraubt hat. Vor allem seit dem Beginn der Krise
2008 merken alle, daß die Theorie keine Antworten mehr liefert, überfordert ist,
daß sie sich nicht weiterentwickelt hat und von der Realität überholt wurde, daß
Menschen wie Politiker heute vor einer Blackbox stehen, die ihnen keinen
Durchblick und damit keine Entscheidungshilfe mehr liefert. Und gleichzeitig
befindet sich die Welt immer mehr in einer Schieflage, nein, nicht in einer
Schieflage, in vielen Schieflagen.
Die wahrscheinlich gravierendste Schieflage ist die ökologische Schieflage, eine,
deren Neigung vermutlich schon so gravierend ist, daß Teile des Ökosystems der
Erde dabei sind, abzurutschen. Das Schmelzen der Gletscher, der Polkappen und
des Grönlandschildes sind wohl schon nicht mehr aufzuhalten. Der Astrophysiker Harald Lesch fand dafür den Begriff des „sozialen Meteoriteneinschlags“.
Eine neue Unsicherheit überzieht vor allem die Polregionen und ihre Nachbarschaft. Die Anrainerstaaten rüsten ihre Streitkräfte gewaltig auf.
Nicht minder bedeutend ist die humanitäre Schieflage, eine Schieflage die schon
deshalb schwer zu beschreiben ist, weil sie so viele Gesichter hat: Da sind die
wachsende Zahl der Armenküchen bei uns, der Suppenküchen und der Sozialmarkenempfänger in den USA, da gibt es das Wachstum der Slums und ihrer
unsäglichen Bedingungen in mehreren Teilen der Welt (Indien, Südamerika,
etc.), einer Entwicklung, die sogar Mutter Theresa an Gott zweifeln ließ, da gibt
es die globale Entwurzelung von Milliarden von Menschen, getrieben vom
Wachstumszwang einer Industriegesellschaft (China), die die Worte Ruhe, Muße
und Gleichgewicht nicht mehr kennt.
215
Und schließlich ist da die ökonomische Schieflage, die zwei Gesichter hat, die
Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung und die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung. „99%“ ist der Aufschrei der Occupy-Habenichtse, die sich von
einem Prozent über den Tisch gezogen fühlen. Von der demographischen Schieflage ganz zu schweigen.
Aber die Empörung allein reicht nicht, Ursachenforschung ist gefragt. Weshalb
ist der Zustand so, wie er ist? Welches sind die geistigen Konzepte, die die Gegenwart begleiten und die den jetzigen Zustand herbeigeführt haben - oder wo
fehlen sie? Und am Ende stehen die entscheidenden Fragen: Wie kann man die
Fehlentwicklung berichtigen? Dazu nachfolgend eine strukturierte Darstellung
der zentralen Ideen der Wirtschaftstheorie, die im Grunde alle Sozialtheorien
sind, so die These.
I. Theorie: Der Wirtschaftsliberalismus
Die wichtigste Theorie ist die Adam Smiths, des Begründers der Nationalökonomie, bekannt geworden durch dessen Standardwerk, „Der Wohlstand der Nationen“. Und natürlich ist der Wohlstand der Menschen das Ziel seiner Überlegungen, auch wenn der Titel den Wohlstand der Nationen benennt. Smiths Sozialkonzept beruht zum einen auf der Optimierung der Versorgung durch Freihandel.
Zum anderen hatte er in Schottland die Wirkung der Öffnung der Märkte nach
Amerika beobachtet und daraus die Vorstellung entwickelt, daß der Kunde, der
Nachfrager, der Konsument durch seine Nachfrage das Angebot und die Produktion steuert, woraus sich funktional eine optimierte Belohnung (kommt von
„Lohn“) ergibt, sowie ein optimaler Einsatz der Ressourcen – und das alles wunderbar gesteuert von einer „unsichtbaren Hand“.
Adam Smith war als Kind seiner Zeit Anhänger der Ideen Isaac Newtons, der die
Naturgesetze der Physik entdeckt hatte. Seine Vermutung war, daß es auch in der
Wirtschaft Naturgesetze gibt (z. B. „der natürliche Preis“, das „natürliche
Gleichgewicht“). Eine logische und plausible, aber nur scheinbar zutreffende
Argumentationsbasis für den Wirtschaftsliberalismus war geboren. Es handelte
sich um einen fundamentalen Irrtum, weil es in der Wirtschaft keine Naturgesetze gibt: Das Wirtschaftsgeschehen, der Austausch von Leistungen bzw. Leistungsergebnissen beruht ausschließlich auf Konventionen. Die Fehlerhaftigkeit
seines Denkens sollte sich schon bald herausstellen, denn die Logik wurde ein
halbes Jahrhundert später im Zuge die Industrialisierung widerlegt. Viele Produkte hatten durch die industrielle Produktionsweise und neue Transportsysteme
plötzlich keine natürliche Knappheit mehr, keine Mengenbegrenzungen, keine
Transportgrenzen, keine Saisonabhängigkeiten. Die industriell hergestellten
Produkte, weil wesentlich billiger, überfielen traditionelle, eingespielte Märkte,
überschwemmten sie, schwemmten sie nicht selten gleich weg, was große Not
erzeugte. Dadurch verlor der Laissez-faire-Liberalismus schon mit Beginn des
Industriezeitalters vielfach seine Akzeptanz und eine Suche nach anderen Lösungen begann. Natürlich schaffte das Mehr an Waren auch ein Mehr an Wohl-
216
stand, aber der Zuwachs auf der einen Seite war mit massiver Entwurzelung auf
der anderen Seite verbunden.
II. Theorie: Der Sozialismus
Not und Elend dieser Zeit sind bekannt – verbunden mit dem prosperierenden
Aufstieg des Bürgertums, der Bourgeoisie, von Marx und Engels dann angeprangert als Ausbeuter der Arbeiterklasse. Daraus entstand die zweite Sozialtheorie, das zweite soziale Wohlstandsförderkonzept, der marxistische Sozialismus,
ein philosophisches Sozialprogramm. Seine Grundideen sind das Prinzip der
demokratisch-bürokratisch gesteuerten Güterproduktion und der direkten Güterverteilung. Um die „Ausbeutung“ der „Arbeiterklasse“ durch die „Bourgeoisie“
zu beenden, wird die Produktion vergesellschaftet, „demokratisch“ gelenkt und
die gemeinsam erstellten Güter „gerecht“ verteilt. Das Geld verliert damit seine
Steuerungs- und Verteilungsfunktion komplett, es soll am Ende im Kommunismus ganz verschwinden. Der Anreiz, maximale Leistung zu erbringen, wird
nicht mehr in Geld belohnt, sondern in Ehre. Der „Mehrwert“ der Arbeit soll die
„Wertschöpfung“ ersetzen.
Aber das bürokratische Lenkungssystem funktioniert nicht. Selbst achtzehn
Wirtschaftsministerien der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren
nicht in der Lage, die Versorgung für ein Volk von achtzehn Millionen Menschen auch nur ansatzweise zu sicherzustellen. Die Durchsetzung der Idee, dieser
abstrusen Ideologie, hatte in vielen Ländern der Erde unsägliches Leid, Abermillionen von Toten und die jahrzehntelange Spaltung der Welt zur Folge. Noch
heute sind ihre katastrophalen Folgen schier unbeschreiblich – Nordkorea läßt
grüßen.
III. Theorie: Die Soziale Marktwirtschaft (Solidarität)
Die Soziale Marktwirtschaft beruht wirtschaftlich auf dem Prinzip der Solidarität.1 Wirtschaftlich gesehen, ist das Prinzip der Solidarität quasi eine Eigenentwicklung der Wirtschaftssubjekte, beginnend bei den Haushalten, also einer Art
internen Solidarität der Familienmitglieder, die dann auch extern einen wirtschaftlichen Zusammenhalt organisiert. Die externe wirtschaftliche Solidarität
hat ihren Ursprung in den Selbstorganisationen von Handwerkern und Händlern
in den Städten des Mittelalters. Das enge Nebeneinander schuf die Möglichkeit,
sich berufsständisch zu organisieren. Gleichzeitig offenbarte sich die Notwendigkeit, mit gemeinsamen Regeln ein für alle gedeihliches Miteinander zu sorgen. Das erfolgte durch Zusammenschlüsse von Handwerkern in „Zünften“
(auch: Innungen) und von Kaufleuten in „Gilden“ oder „Bruderschaften“, gelegentlich tituliert als „Vereinigungen für wohltätige Zwecke“, wohl eher gemeint
als Solidargemeinschaften zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Zünfte und
Gilden sahen ihre Aufgabe aber auch darin, innerstädtisch wohltätig zu sein –
eine Barmherzigkeit –, auch aus Dankbarkeit dafür, daß ihnen die gewerbliche
Tätigkeit einen derartigen Wohlstand bescherte. Aus dem Prinzip der Solidarität
entwickelten sich im 19. Jahrhundert zwei Ausprägungen, die private und die
217
staatliche Solidarität, wobei bei der staatlichen Solidarität zu unterscheiden ist,
zwischen der vertikalen Zuwendung und Fürsorge (von oben nach unten) und der
horizontalen Solidarität, also der staatlichen Organisation von Solidargemeinschaften.2
a) Die private Solidarität (horizontal)
Die Systeme horizontaler, privat organisierter Solidarität sind die wichtigste
eigenwirtschaftliche Komponente in der Sozialen Marktwirtschaft. Aus dem
mittelalterlichen Vorbild der Zünfte und Gilden entwickelten sich im Industriezeitalter regionale und überregionale Organisationen in Form von Wirtschaftsverbänden. Vorbild waren u. a. die Büchergilden und deren Preisabsprachen, die
schon früh deren wirtschaftliche Grundlage überregional sicherten. Manche
Verbandsregeln nannten sich Kartelle – in Anlehnung an die kleinen Regelkärtchen (la cart > cart'elle) des Mittelalters bei Ritterspielen. Die Solidarität mit
den Mitbewerbern sichert allen Beteiligten Marktchancen und Einkommen. Vor
allem verhindert die Solidarität mit den Mitbewerbern die Übermacht einzelner.
Auch was die Macht der Verbände anlangt, so wird sie durch die Einbindung in
Dachverbände, gleichfalls Solidargemeinschaften, gebändigt. Dachverbände
wiederum, suchen die Abstimmung mit der Politik (Stichwort: Korporatismus).
Die gewerbliche Wirtschaft war in Anwendung des so nützlichen und erfolgreichen Solidaritätsgedankens nicht allein. Hatten sich im Mittelalter vor allem die
Kirchen und Klöster aus Barmherzigkeit der Armen und Ärmsten angenommen,
so erzwang das Massenelend am Rande oder im Zentrum der Industriegesellschaft größere Hilfseinheiten und -maßnahmen. Begrifflich war aus der mittelalterlichen „Barmherzigkeit“ in einer Übergangszeit die politische „Brüderlichkeit“ (franz.: fraternité) geworden, im beginnenden Industriezeitalter mutierte
diese sodann zur „Solidarität“. Und das auf mehreren Ebenen. Zur Bekämpfung
des Elends der Arbeiter bildeten sich Arbeiterkartelle, d. h. Gewerkschaften. Im
Finanzbereich und bei der Versorgung der Bauern und Winzer sorgte die Gründung von Genossenschaften für Sicherheit und solidarischen Ausgleich wirtschaftlicher Risiken.
Man kann sagen: Die Eroberung des Systems der Solidargemeinschaften gebar
die breite wirtschaftliche Basis des Siegeszuges der Industriegesellschaft in der
Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Viele private Initiativen (so die AbbéStiftung der Firma Zeiss, Jena) zeugen von einer tiefen Verankerung des Prinzips
im Bewußtsein der verantwortlichen Akteure der Wirtschaft, also auch der Unternehmer. Andere institutionalisierte Erscheinungsformen der innerbetrieblichen
Solidarität sind Betriebsräte und die sogenannte Mitbestimmung.
b) Die staatliche Solidarität (vertikal und horizontal)
Die Systeme staatlicher Solidarität in der Sozialen Marktwirtschaft existieren in
zwei Ausprägungen, zum einen der direkten vertikalen Solidarität in Form der
Sozialhilfe und unmittelbarer Sozialfürsorge und anderer Individualsubventionen
(Schulen, Wohngeld, Bafög, Kindergeld, etc.), zum anderen in der Form der
staatlichen Organisation horizontaler Solidarsysteme, sozusagen private Solidarität (Versicherung) unter staatlicher Obhut. Bei den Bismarckschen Sozialgeset218
zen (Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung) handelt es sich im Prinzip um die
Schaffung privater Solidargemeinschaften in Form verbindlicher Versicherungen
unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle.
Der Staat hatte sich zuvor bis tief ins 19. Jahrhundert aus der sozialen Frage
herausgehalten und ihre Lösung den Kirchen und Klöstern überlassen bzw. privater Initiative. Erst das Auftauchen des Sozialismus als Gefahr für die Staatsmacht veranlaßte den Preußischen Staat bzw. deren Kanzler Bismarck, sich mit
Unterstützung des Reichstages, insbesondere des Zentrums3, auf ein Gegenkonzept einzulassen. Ohne daß es den Staat wirklich etwas kostete, nutzte er das
Prinzip der Versicherung als Solidargemeinschaft als Selbsthilfesystem für die
arbeitende Bevölkerung.
IV. Theorie: Die Wettbewerbstheorie
Die vierte und vorläufig letzte Sozialidee ist – wie der Sozialismus – aus einem
durchaus nicht unberechtigten Sozialneid geboren und zwar um 1890 in den
USA, niedergelegt im Sherman Antitrust Act, der Grundnorm des sogenannten
kollektiven Wettbewerbsrechts, bei uns Kartellrecht genannt (das eigentlich
Antikartellrecht heißen müßte). Der Grundgedanke des Kartellrechts basiert auf
der Definition des Begriffs „Wettbewerb“. Der Wettbewerb ist von den Volkswirten nicht positiv, sondern negativ definiert mit „keine Abreden und kein Mißbrauch von Marktmacht“. Die Definition ist damit deckungsgleich mit den
Grundnormen des Kartellrechts, in dem vor allem das generelle Verbot von Abreden der Kaufleute untereinander, insbesondere das Verbot von Preisabsprachen, kodiert ist. Damit soll verhindert werden, daß die (eh schon reichen) Kaufleute nicht zu hohe oder noch höhere Gewinne machen und diese von der Bevölkerung, insbesondere von den ärmeren Schichten, durch ‚überhöhte Preise‘ aufgebracht werden müssen.
Der Grundgedanke des Kartellrechts ist schon bei Adam Smith angelegt, dem das
Getuschel der Kaufleute untereinander „bei allen Gelegenheiten, bei Hochzeiten
und anderen Festen“4 suspekt war. Vom Namen her richtete sich der Sherman
Antitrust Act gegen die „Trusts“ der amerikanischen Wirtschaft, eine eng gestaltete Gesellschaftsform für Banken, der sich auch Industrie-Unternehmer bedienten. Der heute bekannteste von ihnen war David Rockefeller. In der Tat hat Rockefeller im Texas des wilden Westens sich möglicherweise ab und an mit rüden
Methoden durchgesetzt (1891 wurde auch Sitting Bull getötet!), wenn man sich
nicht an die Abreden seines Montags-Clubs hielt. Aber auch die anderen „Giganten“ dieser Zeit sind bekannt: Carnegie, Morgan, Guggenheim etc. Dem daraus
resultierenden Macht- und Einkommensungleichgewicht sollte mit dem Sherman
Antitrust Act ein Ende bereitet werden.
Ludwig Erhards Motivation, das Kartellrecht in 1957 in Deutschland einzuführen, war vor allem aus dem Gedanken geboren, daß der freie Markt, der Wettbewerb vieler untereinander, das beste Mittel ist, um die Macht des einzelnen Teilnehmers zu beschränken (Franz Böhm: „geniales Mittel“), wobei die Forderung
nach Beschränkung der Marktmacht schon eine der Grundforderungen Walter
219
Euckens war. Eucken wie Erhard und Böhm und andere schätzten jedoch die
Wirkung eines befreiten Wettbewerbs falsch ein. Aus dem Wettbewerb entsteht
im freien Markt ein Wettkampf, in welchem der Stärkste gewinnt, d. h. es tritt
genau das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung ein: Die Marktmacht konzentriert sich. Man kann im nachhinein die damalige Einschätzung durch Ludwig
Erhard und seiner Weggefährten verstehen, da die USA sowohl wirtschaftlich
wie technologisch und militärisch die führende Macht der westlichen Welt waren. Davon ist heute jedoch wenig übrig, was eine andere Beurteilung erlaubt.
Eine weitere Begründung ergibt sich aus dieser Überlegung: Das kollektive
Wettbewerbsrecht ähnelt dem Sozialismus. Hier wird lediglich die ‚ausgebeutete
Arbeiterklasse‘ durch den ‚betrogenen Verbraucher‘ ersetzt. Während der „erste“
Sozialismus die Wertschöpfung in Geld prinzipiell verachtet bzw. ignoriert und
durch eine Kommandowirtschaft ersetzt, mit dem Ziel die Ausbeutung der Arbeiterschaft zu beenden, dirigiert das Kartellrecht die Wertschöpfung durch bürokratisch angeordnete Preissenkungen oder Bußgelddrohungen (auf der Suche
nach dem „natürlichen Preis“) nach unten in Richtung Null-Gewinn-Grenze mit
dem Ziel, die vermeintliche Übervorteilung des Verbrauchers zu beenden.
Die Konsequenz jedoch ist: Der Kaufmann, der aktiv Preise senken muß (Preiswettbewerb = ruinöser Wettbewerb) und der deshalb weniger verdient, dessen
Wertschöpfung zerstört wird, kann infolge dessen dann auch nur reduziert einkaufen, weniger Steuern zahlen, niedrigere Löhne oder weniger Mitarbeiter bezahlen, weniger investieren und muß am Ende auch noch die Qualität seiner
Produkte senken. Im „zweiten“ wie im „ersten“ Sozialismus zahlt „die Arbeiterklasse“ dann erst recht die Zeche, weil das kollektive Wettbewerbsrecht übersieht, daß der Verbraucher in der Masse zugleich der Arbeitnehmer in der Masse
ist, also der, der am Ende am meisten unter niedrigen Preisen leidet.
Oder anders ausgedrückt: Das kollektive Wettbewerbsrecht, d. h. das Kartellrecht, verhindert kollektiv die Wohltaten solidarischen Verhaltens und erzeugt
auf diese Weise Armut. Deshalb läßt sich auch behaupten, daß das Kartellrecht
eine verschärfte Form des ursprünglichen Wirtschaftsliberalismus darstellt bzw.
fördert, weil die Marktakteure nicht nur frei sind, sondern von ihrer Verantwortung und Solidarität den übrigen Marktteilnehmern, ihren Kollegen gegenüber
befreit sind, weil sie keine marktregulierenden, marktbegrenzenden Abreden mit
den anderen Marktteilnehmern, auch nicht zu deren Schutz (Schutz der Schwächeren), treffen dürfen. Marktregeln, fair play, Rücksichtnahme und aktive Solidarität sind gesetzlich verboten, der Raubtierkapitalismus ist mit dem Kartellrecht institutionalisiert – zum wirklich zweifelhaften Vorteil des Verbrauchers.
Das herausragende Beispiel in der Welt als Opfer des „zweiten Sozialismus“
sind die USA, das Ursprungsland des ‚Raubtierkapitalismus‘, wo das Kartellrecht schon seit 1890 wirkt. Deren Infrastruktur ist marode, die Menschen leben
mit qualitativ minderwertigen Produkten, die industrielle Infrastruktur ist ausgedünnt, der Mangel an Margen und entsprechende Verteilungsmöglichkeiten
lassen die Menschen verarmen. Der „zweite Sozialismus“ hat sich bis heute so
sehr in die wirtschaftlichen Verteilungssysteme hineingefressen, daß ganze Sozi220
algruppen verarmt sind und staatliche Grundversorgung mit Essen (Essensmarken, Suppenküchen) beziehen.
Schlußfolgerungen
Die gedankliche Strukturierung der sozialen Ansätze in vier Grundsäulen, in
Liberalismus, Sozialismus, Soziale Marktwirtschaft und Wettbewerbstheorie,
läßt nur eine Schlußfolgerung zu: Der „Sieger“ der Systeme ist die Soziale
Marktwirtschaft. Der Kern einer guten Wirtschaftspolitik ist daher die bewußte
und konzentrierte Pflege der Solidarsysteme, also der Verbände, der Kammern
und der Gewerkschaften.
Der Sozialismus fällt als soziales System erkennbar völlig aus. Auch der „zweite“ Sozialismus, das Kartellrecht, basierend auf der Wettbewerbstheorie, verstärkt einen Liberalismus, dessen Verwirklichung in totaler Freiheit ohnehin
fragwürdig ist (Laissez-faire-Liberalismus). Ein sehr guter Liberalismus hingegen ist der, der Vertragsfreiheit so interpretiert, daß sich der Markt nicht nur
Regeln zu unterwerfen hat, um die Freiheit aller Teilnehmer zu gewährleisten,
sondern daß auch die freiwillige Vereinbarung selbstbeschränkender Regeln
erlaubt sind – wobei die Beschränkung in aller Öffentlichkeit, also unter Kontrolle der Öffentlichkeit, geschieht, vergleichbar mit den strengen Regeln bei
diversen Sportarten und der Verbandsorganisation der Ligen. Der ‚gute‘ Liberalismus basiert damit eben nicht auf der Wettbewerbstheorie. Dieser Liberalismus
in Kombination mit Sozialer Marktwirtschaft ist am Ende wohl als das optimale
System zu bezeichnen. Im Grunde kann man sogar behaupten, daß der ‚gute‘
Liberalismus integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ist.5 Das Verbot
privater Abreden, wie es das Kartellrecht vorschreibt, ist hingegen mit liberalem
rechtsstaatlichem Denken unvereinbar. Es stellt eine gravierende Verletzung der
Privatautonomie dar.
Die zerstörerischen Folgen des Kartellrechts und damit im Grunde der Wettbewerbstheorie sind nicht nur in den USA, sondern auch bei uns zu beobachten.
Auch bei uns wächst in der Bevölkerung der Unmut und der Zweifel, ob wir
überhaupt noch eine Soziale Marktwirtschaft haben, derweil die Politik nicht
aufhört, das Hohe Lied der Sozialen Marktwirtschaft zu singen. Ihre Reformvorschläge bekommen sie von den Ökonomen geliefert. Die Grundtendenz ist: „Wir
haben eine Soziale Marktwirtschaft und das ist gut so“, und die Reformvorschläge lauten regelmäßig „zurück zu Ludwig Erhard“. Wissenschaft und Politik
weigern sich bisher, die Ursachen der Fehlentwicklung zur Kenntnis zu nehmen.
Eine Ursache hierfür läßt sich gleichfalls orten: In Deutschland erfolgt das ökonomische Denken in erster Linie an Universitäten, wo angesehene Gelehrte –
teils auch „Weise“ genannt – die geistige Grundlage für politisches Handeln
liefern. Liefern sollen. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten unserer Universitäten aus zwei Fraktionen
bestehen, zwischen denen Sprachlosigkeit herrscht: zwischen den Volkswirten
und den Betriebswirten. Weshalb die Kommunikation nicht funktioniert und
nicht funktionieren kann ist diagnostizierbar: Die Volkswirte rechnen in Buch221
staben, die Betriebswirte hingegen in Zahlen, die Volkswirte pflegen ihre mathematischen Modelle, die Betriebswirte beschreiben die Realität. An einem
Beispiel erläutert: Die BWL sieht sich absolut überfordert, künftige Preisentwicklungen vorherzusagen, während die VWL in einer wenn/dann-Funktion
sofort die künftige Preisentwicklung an die Wand malt. Während die BWL mit
dem Phänomen kämpft, daß sich die Produktions- und Verteilungsprozesse für
jedes Produkt unterschiedlich gestalten, es also jeweils eines eigenen Branchenexperten bedarf, hat die VWL für alles schon einen Experten gefunden: sich.
Hinter der argumentativen Stärke der VWL steckt eine epochale gedankliche
Weichenstellung, die auf Adam Smith zurückzuführen ist. Wie bereits ausgeführt, war der Begründer der Volkswirtschaftslehre als Kind seiner Zeit (geb.
1726) ein großer Bewunderer Isaac Newtons, des Entdeckers der Naturgesetze.
Er glaubte, auch in der Wirtschaft „Naturgesetze“ entdeckt zu haben, weshalb er
die Theorie von den „natürlichen Preisen“ und vom „natürlichen Gleichgewicht“
entwickelte, was wiederum die Ökonomen der folgenden Jahrhunderte dazu
verführte, physikalisch-mathematische Modelle (Neoklassik) daraus abzuleiten.
Da die Wirtschaft jedoch ausschließlich aus Konventionen besteht und keine
Naturgesetze kennt, ist der Ansatz realitätsfern und völlig verfehlt. Trotzdem
liefert die Neoklassik die Sprache der Nationalökonomie, was bei den Studenten
der ersten Semester VWL eine Art Gehirnwäsche erforderlich macht. Erst danach, so meint der Uni-Ökonom Rüdiger Bachmann, seien sie richtige Ökonomen.6 Aus diesem Selbstverständnis heraus verdrängen die Volkswirte die Betriebswirte aus der politischen Diskussion.
Von der negativen Entwicklung gleichfalls wenig beeindruckt, ist eine weitere
bedeutende deutsche Institution der Ökonomik: Der aus der Freiburger Schule
entwickelte Ordoliberalismus und seine österreichische Schwester, der Neoliberalismus, beide auf neutralem Schweizer Boden vereinigt in der Mont Pelerin
Gesellschaft. Walter Eucken, Ludwig Erhard und andere sind im politischen
Bewußtsein als „Väter“ der Sozialen Marktwirtschaft implementiert. Aber auch
bei deren heutigen Statthalter, einigen wissenschaftlichen und politischen Stiftungen, hört man leider kein Wort davon, daß Erhard bei der Einführung des
US-amerikanischen Kartellrechts (Sherman Antitrust Act von 1891) in Deutschland geirrt haben könnte, weil es nicht nur das Ziel der Verhinderung von
Machtkonzentration nicht erreicht, sondern weil es – für jeden Betriebswirt erkennbar – das Gegenteil bewirkt. Die von der Freiburger Schule zu Recht intendierte Entmachtung der Wirtschaft wird ins Gegenteil verkehrt. Das Vorbild
Amerika – das zu Erhards Zeiten sicherlich noch galt – hat ausgedient. Ein Blick
über den Atlantik genügt.
Unbeeindruckt von der Demonstration des amerikanischen Desasters, fordern
Liberale wie Ordoliberale permanent eine Stärkung und Verschärfung des Kartellrechts. Würden sie die häufig genannten Worte ‚Ordnung‘ und ‚Wettbewerbsordnung‘ hingegen ernst nehmen, so würden sie Branchenkartelle (genauso
wie die Handwerksordnung oder Gebührenordnungen für Anwälte, Notare, etc.)
bei öffentlicher (!) Transparenz aller Abreden als freiwillige Marktordnungen
222
befürworten, analog der Wirkungsweise der Tarifparteien für den Arbeitsmarkt –
also wie vom Grundgesetz anerkannte Kartelle (Art. 9 III GG).
Richtig wäre auch die Befürwortung einer Wiedereinführung des Rabattgesetzes
als Ordnungsmittel, dessen Abschaffung im Jahr 2003 unter der Parole „Deregulierung und Liberalisierung“ stattfand, die diese unsägliche „Geiz ist geil“Kampagne provoziert hat. Die Abschaffung des Rabattgesetzes ist es auch, die in
der Automobilbranche ein Sterben mittelständischer Händler und Zulieferer
ausgelöst hat. Und schließlich gäbe es noch das seit dem Jahr 1974 gültige ‚Verbot der Preisbindung der Zweiten Hand‘. Das Verbot war und ist nicht nur ein
fragwürdiger Eingriff in die Privatautonomie, sondern zugleich verantwortlich
für den Preis- und Qualitätsverfall in der Lebensmittelbranche (Stichwort: Jahresgespräch). Eine vergleichbare Entwicklung ist dem Buch- und Zeitschriftenmarkt erspart geblieben, weil hier die Buchpreisbindung erhalten blieb. Es gibt
also viele Denkansätze, den Wettbewerb besser zu ordnen und damit das System
‚Wirtschaft‘ im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft – auch im Bewußtsein der
Bevölkerung – wieder zu stabilisieren.
Anmerkungen
1) Politisch beruht die Soziale Marktwirtschaft auf dem Prinzip der Subsidiarität, d. h.
staatliche Einmischung nur, wenn eine private Regelung nicht möglich ist. Genaueres in:
Florian Josef Hoffmann, „Soziale Marktwirtschaft – neu definiert“, WSI-Mitteilungen
10/2011, S. 556-558.
2) In der Reihe neben „Liberalismus“ und „Sozialismus“ müßte die Soziale Marktwirtschaft eigentlich „Solidarismus“ heißen. Da sich der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“
eingebürgert hat, wird er auch hier beibehalten.
3) Maßgeblichen Einfluß in der politischen Diskussion hatte der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler.
4) Adam Smith, Wealth of Nations, Book I, Chapter X, Part II: Inequalities occasioned by
the policies of Europe: “People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in
some contrivance to raise prices.”
5) Andere Begriffsvariante: Liberalismus + Solidarismus = Soziale Marktwirtschaft.
6) „Lernt unsere Sprache, bevor Ihr mitredet“, Beitrag von Rüdiger Bachmann in SpiegelOnline, 5. Januar 2012.
Florian Josef Hoffmann ist Rechtsanwalt und leitet das European Trust Institute
in Düsseldorf.
223
Hans-Peter Raddatz
Islamophobie
Kampfbegriff des kommenden Kalifats
Der aus der Psychoanalyse entlehnte Terminus der Islamophobie hat in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs erheblich an Bedeutung gewonnen. Er konnte
dabei seiner Täuschungsfunktion gerecht werden, nämlich dem ohnehin islamgünstigen „Dialog“ einen zusätzlichen Schub in die totalitäre Richtung zu geben.
Während das bisherige Hauptgebot der „Toleranz“ dem nichtmuslimischen Bürger noch die Illusion der Entscheidung über die „Duldung“ der anderen Kultur
vorgaukelte, drängt die Islamophobie den selbständig Denkenden und kritisch
Prüfenden in die passive, bereits vorverurteilte Position des Abnormen, des
krankhaft Abweichenden, der entsprechender Behandlung bedarf.
Da diese Sichtweise integraler Teil der herrschenden Deutungsmacht in der EU
und ihren Staaten geworden ist, soll der Frage nachgegangen werden, wie es zu
einer derartigen Radikalität kam, die sich den Mantel der europäischen Freiheitstradition umhängt, aber immer tiefer in die Praktiken der neuen Tradition, nämlich des modernen Totalitarismus, verstrickt. Im ersten Teil des Beitrags werden
die Grundlagen dieser ideologischen Verhärtung dargelegt und im zweiten Teil
aktuelle Beispiele vorgestellt, welche die globale Drift der Demokratie und ihrer
Vertreter in eine „radikale Demokratie“ verdeutlichen, die eine so geldnormierte
wie diktatorische Herrschaftsform vorbereitet. Zunehmend islamisch geprägt,
richtet sie sich immer gewaltbetonter gegen die jüdisch-christliche Zivilisation
und reaktiviert Antisemitismus und Christen- bzw. Kirchenfeindschaft, die den
beiden modernen Extremismen, den oft totgesagten, aber höchst lebendigen,
rotbraunen Epigonen der jakobinischen Massenmordmentalität innewohnen.
Teil I: Islamophobie als Angriff auf die westliche Existenz
1. Islamophobie – Systembegriff des Dhimmitums
Etwa ab Mitte der 2000er Jahre machte das bis dahin weniger geläufige Wort
von der Islamophobie erstaunlich rasche Karriere. Sie verdankte sich den interkulturellen bzw. interreligiösen „Dialogen“ der westlichen Institutionen, die nun
die EU-Staaten und die gesamte Union erfaßt haben, mit der Welt des Islam,
vertreten durch die OIC (Organization of the Islamic Cooperation – bis 2011
Conference). Bei näherem Hinsehen konnte sich die Logik des Erfolgs ebenso
rasch offenbaren, weil der Begriff weitaus effizienter als alle anderen Schlüsselworte des „Dialogs“ der herrschenden Ideologie dient. Denn sie arbeitet auf eine
schleichende Transformation Europas in ein islamisch kontrolliertes Siedlungs-
224
gebiet hin, das auch mit dem provokanten Namen „Eurabien“ umschrieben wird
(vgl. Bat Ye’or, Eurabia, The Euro-Arab Axis).
Den obersten Platz in der Rangliste der nicht abschließbaren Schutzworte gegen
Kritik an dieser Unterwanderung hielt bislang die islamophile Triade „Frieden –
Toleranz – Respekt“, die den Widerstand gegen die muslimische Zwangsimmigration und Moschee-Expansion als „völkischen Stammtisch“, „Rechtsradikalismus“, zumindest als „Fremdenfeindlichkeit“, brandmarkt. Die Führung in der
Förderung des subversiven Prozesses scheint nun von der Islamophobie übernommen, die diese Funktion auch besser erfüllt, weil sie eine psychische Dimension öffnet und den gesamten, denkenden Menschen mit all den Eigenschaften
und Fähigkeiten diffamiert, die ihn zum Menschen machen und vom Tier unterscheiden. Auch mit der Billigung des deutschen Bundesverfassungsgerichts sind
kritisches Denken und die Abwehr von Gewalt zum Schutz rechtsstaatlicher
Grundfreiheiten nicht mehr am Argument bzw. auf dem Papier geltenden Recht,
sondern an der Konformität mit den Regeln der Scharia, des islamischen Rechts,
in der Sprache des Gerichts an den „imperativen Glaubenssätzen der Muslime“
zu messen.
Damit ist der Weg frei, Skepsis oder gar Kritik in Bezug auf den ungehemmten
Import wachsender Muslim-Massen einschließlich ihrer gewaltbesetzten Religion, Tradition und Rechtssystematik in den Bereich der Psychostörung zu verweisen. Wer heute in den maßgeblichen Institutionen der EU-Staaten – Parteien,
Wirtschaft, Stiftungen, Justiz, Kirchen und vor allem in den Medien – Karriere
machen will, kann diesem Vorhaben dienen, wenn er/sie jedwede Kritik am
politideologischen Mainstream und dessen Formen des „Dialogs“ nicht nur als
Intoleranz und Rechtsradikalismus, sondern auch als Islamophobie, möglichst in
Funktionseinheit mit „Rassismus“, kennzeichnet. Um diese Ideologie der Öffentlichkeit einzutrichtern, wurden über den Standard-Dialog hinaus EU-weit so
genannte „Islamkonferenzen“ eingerichtet, die bei einem Muslimanteil von
knapp 10 Prozent paritätisch, d.h. überproportional islamisch besetzt sind. Indem
sie eine öffentliche Scheindiskussion inszenieren, propagieren sie den „Frieden“
des Islam und bereiten mit einer weiterhin erzwungenen Toleranz den Weg der
unbelehrbaren Abweichler in die Psychiatrie vor. Gerade auch im Islam hat dieses Verfahren verpflichtenden Charakter, weil die koranisch verankerten Systemfeinde, die Vertreter der jüdisch-christlichen Wertevorstellungen, mit Affen und
Schweinen verglichen und überall, wo es Islam gibt, bekämpft werden müssen.
Dieses Feindbild verbindet den Islam mit den totalitären Herrschaftssystemen
der Moderne. Deren aktuelle Nachfolger, die entdemokratisierten Parteiführungen der EU-Staaten sowie deren Leitungsebenen aus rechts-links-extremistischer
Tradition (Hallstein, Delors, Prodi, Solana, Barroso etc.), betreiben einen weichen, „politische Korrektheit“ genannten Totalitarismus, der den Ambitionen
seiner ideologischen Vorgänger nacheifert und die bürgerliche Altkultur nebst
Christentum und Israel als Exponenten des Judentums, insgesamt als „rassistische“ Existenzform bekämpft. Diese Praxis ist alles andere als neu, sondern
wurde auch außerwestlich von totalitären Systemen wie der Sowjetunion und
China vorexerziert, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg insofern „mäßigten“,
225
als sie neben der einfachen Liquidierung ihre prominenteren Dissidenten in
„Heilanstalten“ internierten, um ihnen neben Folter auch auf pharmazeutischem
Wege die „korrekte“ Denkweise beizubringen. Die abweichende Systembeurteilung galt nicht als das Ergebnis historischer Analysen, politischer Vergleiche und
logischer Schlüsse, sondern konnte nur das Symptom einer geistigen Störung
sein, sozusagen einer Systemophobie, die dazu zwang, die Betroffenen zu isolieren, und dies nicht nur, um sie der erforderlichen Behandlung zu unterziehen,
sondern auch die Bevölkerung vor ihren abwegigen Ideen zu schützen, die nichts
als Verwirrung und Aufruhr verursachen konnten.
Eben dieser Aufruhr durch systemfremdes Denken ist auch die Quelle der Furcht
im Islam, die mit dem Begriff der fitna (arab.: Sünde, Aufruhr) die Gläubigen
davor warnt, auch nur um ein Jota von den Scharia-Vorschriften abzuweichen,
ansonsten sowohl im Jenseits die Höllenstrafen warten, als auch auf Erden mit
den einschlägigen Körperstrafen bis hin zur Hinrichtung zu rechnen ist. Zwischen Dies- und Jenseits schiebt sich noch die Grabesstrafe, die den Verstorbenen den Keulenschlägen zweier Todesengel aussetzt, um keinen Irrtum über die
vollkommene Auslieferung des Gläubigen aufkommen zu lassen. Dies gilt speziell für die ebenso lückenlose Verwertung der Frau, deren Status zwischen
Mensch und Sache bzw. Tier steht und ihre ungeteilte Sexualität für den biologischen Bestand der Gemeinschaft requiriert, anderenfalls sie der Tradition gemäß
als „Hure“ und/oder „Hund“, zumindest als ehrverletzendes Element einzustufen
und auch schon hienieden zu beseitigen ist.
Dissidenten betätigen sich erkennbar als umso lästigere und tötungswertere Störfaktoren, je radikaler die jeweilige Machtform ihre Herrschaft etabliert. Das
gemeinsame Merkmal der Abweichung besteht in der Unfähigkeit, sich den
Regeln des Macht- bzw. Korrektheitssystems, z.B. des islaminduzierten Totalitarismus der Moderne, anzupassen und dessen Anweisungen ohne Nachdenken
auszuführen. Wo der Vorwurf der Islamophobie ins Spiel kommt, kann jedes
logische, geschweige denn demokratische und rechtsstaatliche Argument entfallen, weil sich derjenige, der sie ins Feld führt, bereits Teil des herrschenden
Meinungsstroms ist, damit höchste Legitimation genießt und mit deren gewaltbesetzter Immunität resistent gegen jede geistige Auseinandersetzung wird. Das
Ergebnis ist ein reflexhaftes Denken und Verhalten, das schon die Aufklärer als
„Pöbelherrschaft“ verachteten. Zwischen Magie und Biologie fixiert, sehen die
solcherart Eingeengten im Systemgegner nicht nur Affen und Schweine, sondern
wie es in reaktivierter Nazimanier ein deutscher Islamvertreter ausdrückte, auch
„islamfeindliche Krebsgeschwüre“.
Wie so oft in solchen Fällen hilft auch ein Blick in das linguistisch-sachbezogene
Bedeutungsspektrum weiter, das mit der Islamophobie den gesamten Komplex
des Islam sowie das weite Feld der Phobie, der psychisch bedingten Angst umfaßt. Im Wörterbuch der Psychoanalyse (E. Roudinesco / M. Plon [Hrsg.] – Wien
/ New York 1997) wird dazu einführend bemerkt: „Aus dem Griechischen
(phobos, Schrecken) entlehnter Ausdruck, der gegen 1870 erstmals in der Psychiatrie benutzt wurde, um eine Neurose zu bezeichnen, deren Leitsymptom in
einer sich zwanghaft aufdrängenden Angst besteht, die sich auf ein belebtes oder
226
unbelebtes Objekt oder eine Situation richtet, die eigentlich keine reale Gefahr
beinhalten. Für die Psychoanalyse gilt die Phobie nicht als eine bestimmte Neurose, sondern als Symptom, z.B. als zentrales Symptom der Angsthysterie…“ (S.
794).
Demnach wäre Islamophobie also als übersteigerte Furchtform zu sehen, die sich
hysterisch auf den Islam als eine eigentlich gar nicht existente Gefahr fixiert,
ganz ähnlich den Dutzenden von Angstkrankheiten, die seit Freud entdeckt und
teilweise auch „allgemein bekannt geworden sind, wie z.B. … die Agoraphobie
(Angst vor öffentlichen Orten) und die Klaustrophobie (Furcht vor geschlossenen Räumen)“. Nun verbindet sich allerdings mit den einzelnen Phobien untrennbar auch die Metaphobie, die Angst vor der Phobie, die sich der Machtpsyche gemäß als Angst vor Machtverlust ausdrückt. Sie kommt in der Verwandlung des Menschen ins Tier, des Engels in den Teufel, des Guten ins Böse etc.
zum Vorschein (S. 795) und muß unbedingt auf den jeweils anderen – als Affe,
Schwein, Hund, Ungeziefer, Geschwür – projiziert werden, wobei sich die Ekelpalette beliebig, z.B. um die populäre Ratte, erweitern ließe. Ob wie das Wörterbuch feststellt, die Phobie gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich „aus dem
religiösen Denken befreit“ wurde, darf mit Blick auf die Ungeziefer-Ideologie
des Holocaust und die nachfolgend dargestellten Zusammenhänge bezweifelt
werden, die auf die massive Islamisierung Europas als erweiterten Kampf gegen
die jüdisch-christliche Zivilisation verweisen. So erscheint besonders interessant
die Bemerkung, daß es auch kollektive Phobien gibt, die geographisch konzentriert auftreten, wobei „existentielle Angst und Phobien nach wie vor nicht leicht
voneinander zu unterscheiden“ sind (ebd.).
Ebenso bemerkenswert ist der Hinweis darauf, „da Tiere als phobische Objekte
in der infantilen Neurose eine besondere Rolle spielen“, denn immerhin ist die
Moderne insgesamt für die streßbedingte Produktion eines infantilen Narzißmus
bekannt. Der jagt in politischer und sexueller Omnipotenz der utopischen Vorstellung nach, mit dem Bruch der alten Seinsform – speziell im aktuellen Gender
Mainstream – auch sämtliche politischen und sexuellen Regeln und Tabus bis
hin zum Inzest brechen zu können. So erhärtet sich Freuds These, nach der die
Sexualität Kern des phobischen Phänomens ist und sich heute mit zwei unmodernen Aspekten bestätigt. Sie weichen von der geforderten Diversität ab, indem
die „Moderne“ in Europa monolithisch auf der Fusion mit dem Islam beharrt und
trotz aller Libertinage und Pornographie die islamische Sexualität tabuisiert, die
bekanntlich den Koitus als obersten Gottesdienst noch über dem Gebet ansiedelt
(vgl. Raddatz, Allahs Frauen, 80ff. – München 2005).
Das wesentliche Kennzeichen des laufenden, islamo-europäischen Strukturwandels erschöpft sich nicht in der gemeinsamen Schizophrenie zwischen Infantilismus und Herrschaft, sexueller Omnipotenz und Tötungswillen; sie kommt ebenso in der Harmonie des Dhimmitums zum Vorschein, jener unterwürfigen
Seinsform, welche der Islam für solche Juden und Christen reserviert, die sich
den Stellvertretern Allahs unterwerfen und für ihr Überleben jährliche Kopfsteuer zahlen. Im Orient hat diese Praxis, die sich von der dhimma (arab.: Schutz,
Schuld), dem „Schutzvertrag“ für die jüdisch-christlichen Minderheiten herleitet,
227
zu deren schleichenden und nach wie vor geübten Beseitigung geführt. Sie wartet mit wachsenden Muslim-Massen auch auf die Europäer und schlägt sich bereits in den Tributen der EU an die Terrorgruppen in Palästina nieder. Die Union
fungiert als eine Art Großgeisel, die mit Lösegeld die Terroristen auf ihrem Gebiet (vorläufig) besänftigt, dabei zu den Terroranschlägen und Raketenangriffen
auf Israel schweigt und dessen Verteidigung als „Maßnahmen eines Terrorstaates“ verteufelt – die klassische Verhaltensform im janusköpfigen
Phobiephänomen. Dessen Universalität kommt freilich in der machttechnischen
Asymmetrie nur den Eliten zugute, die über die Geldnorm die Institutionen steuern.
Die komplexe, zum Teil paradoxe Situation läßt sich auch über den französischen Freud-Interpreten Jacques Lacan erhellen. Um des ersteren Biologismus
zu entschärfen, führte er durch die Hintertür die von Freud gemiedene, deutsche
Philosophie ein und mischte sie mit de Saussures Sprachanalyse. Daraus entstand eine strukturelle Angstlehre, in der die Phobie als „Signifikant“, als bezeichnendes Element fungiert, das die existentielle Grundangst in Richtung
zweier Objekte spaltet, auf den Sündenbock als Träger der Schuld und den Fetisch als Träger der Sexualität: „Um etwas durchzuführen, das sich nicht auf dem
Niveau unerträglicher Angst lösen läßt, bleibt dem Subjekt nichts anderes übrig,
als einen Papiertiger zu erschaffen“. (S. 796). Im vorliegenden Falle wird der
„Papiertiger“ durch die Bevölkerung gebildet, auf deren Rücken man die Manipulation des islamdominierten Strukturwandels austragen kann. Derweil wird die
sexuelle Perversion mit der politischen Neurose verdeckt, denn wie es heißt,
„garantiert der Fetisch den höchsten Genuß, während die Phobie vor dem Verschwinden des Wunsches schützt“ (Lacan). Das Paradox erscheint in der Demophobie, in der Angst der – stets männlich bestimmten – Macht vor dem Volk,
deren islamozentrische Utopie die Frau und die Heterosexualität zugunsten nicht
reproduktiver, auf den Mann fixierter Sexualformen zurückdrängt.
Der verteufelte, heterosexuelle Dissident, der sich auf sein Denken verläßt, kann
auf beides verzichten, weil er Verantwortung für sich selbst und die Familie
übernimmt, d.h. über den Geist der Unterscheidung verfügt, der die Geister unterscheidet und somit keine Magie braucht. Es ist diese Vernunft, die aufbaut
und nicht destruiert, aber durch die Umkehrprojektion des antizivilisatorischen
Totalitarismus, durch den „Geist, der Gutes will und Böses schafft“, den Menschen vom Opfer zum Täter und vom Normalen zum Abweichler wendet, womit
er dem Todesfetisch des Totalitären die maximale Befriedigung sichert. Ein
Islamophober ist also jemand, der es ablehnt, seine Lebensbedingungen durch
den Islam und seine Vollstrecker bestimmen zu lassen, und als Dissident gegen
die Machtform auftritt, die ihm solche Umstände aufzwingen will. Anders ausgedrückt: Wer unter den aktuellen Zwangs- und Zensurbedingungen des „interkulturellen Dialogs“ als denkender Mensch leben will, der selbst über den Sinn
seiner Existenz entscheidet, muß „islamophob“ sein!
2. Islamophobie als islamische Erfindung
228
Wie sich Bat Ye’ors gut dokumentierten Büchern über „Eurabien“ (2005) sowie
„Europas kommendes Kalifat“ (2011) entnehmen läßt, wird diese Deutungshoheit in zunehmendem Maße von den Hauptakteuren der islamischen Expansion
besetzt, der OIC als Nachbildung der UNO und ihrem Zwilling ISESCO (Islamic
Educational, Scientific and Cultural Organization), die dem Muster der
UNESCO folgt. Beide Organisationen haben ihren Einfluß auf ihre westlichen
Pendants in den letzten drei Jahrzehnten, speziell seit dem 9/11-Anschlag von
New York, kontinuierlich verstärkt und bilden heute die treibenden Kräfte in den
proislamischen Resolutionen und Beschlüssen, die permanent zu Lasten des
Westens und Israels formuliert werden. Seitens Europa wurden schon Mitte der
1970er Jahre mit dem Euro-Arab Dialogue (EAD) und der Parliamentary
Association for the Euro-Arab Cooperation (PAEAC) zwei Gremien gegründet,
die über die Jahre – an der Bevölkerung gänzlich vorbei – eine enge Kollaboration zwischen den Euro- und Islam-Eliten entwickelten. Heute kann man von einer
Abhängigkeit Europas sprechen, die sich in islamgesteuerter EU-Außen- und
Innenpolitik sowie weiteren, zunehmend kontrollierten Bereichen wie der Energie- und Industriepolitik auswirkt.
Unter dem Eindruck der dänischen Muhammad-Karikaturen, die Ende September 2005 eine konzertierte Wutwelle in der islamischen Welt auslösten und die
Euro-Führer in Angst und Schrecken versetzten, trafen am 7./8. Dezember 2005
die Oberhäupter der 56 OIC-Staaten zur 3. außerordentlichen Sitzung des „Islamischen Gipfels“ (Islamic Summit) in Mekka zusammen. Ihre Hauptaufgabe
bestand darin, die von der Islamophobie verursachten Probleme in Europa, die
Rechte muslimischer Immigranten in nichtmuslimischen Gastgeberländern und
die Dialogpolitik im Westen und Israel einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Weitere Themen behandelten die wirtschaftliche und kulturelle Erholung
der Muslimwelt, Bedenken hinsichtlich deren schwachen Solidarität und das
einheitliche Vorgehen in der globalen Geopolitik.
Die Delegierten und Ratgeber dieses Mekka-Gipfels gaben vor allem ihrer Sorge
Ausdruck über die in westlichen Ländern grassierende Islamophobie, die sie mit
Diskriminierung und Rassismus gleichsetzten. Sie „betonten die Notwendigkeit,
sie zu bekämpfen und auszurotten, um die Qualität des gegenseitigen Verstehens
zwischen verschiedenen Kulturen zu verbessern“. Sie forderten den Westen auf,
„Gesetze gegen die Islamophobie zu erlassen sowie bildungstechnische und
mediale Kanäle zu ihrer Bekämpfung einzusetzen“. Ihre Empfehlungen enthielten „eine verbesserte Koordination zwischen der OIC und zivilgesellschaftlichen
Gruppen im Westen, um gegen das Phänomen vorzugehen“. Diese Vorschläge
paßten perfekt zum Konzept der zahlreichen Bündnisse im euro-arabischen Dialog, der von der EU und der OIC gemeinsam vorangetrieben wird (vgl. Bat
Ye’or, Europe, Globalization, and the Coming Universal Caliphate, 40f. –
Lanham [Md.] 2011).
Die Konferenz forderte die OIC auf, die kulturellen und religiösen Rechte sowie
die Kulturidentität der muslimischen Immigranten zu schützen. Ebenso empfahlen sie wiederholt nicht nur den einfachen Kampf, sondern den internationalen
Kampf gegen die Islamophobie – durch die Kooperation der OIC mit anderen
229
Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, dem Europarat, der OSZE, der Afrikanischen Union etc. –, um den Schutz islamischer
Minderheiten und ihrer Identität in der westlichen Diaspora zu gewährleisten.
Dabei versteht sich, daß im Zuge des Dhimmitums die OIC-Länder keinen Gedanken daran verschwenden, auf ihrem Gebiet dieselben Rechte den Resten der
indigenen Religionsminderheiten zu gewähren, die den historischen Schleichgenozid überlebt haben.
Auch der OIC-Generalsekretär thematisierte das Potential der Islamophobie, das
sich in der westlichen Medienmacht für die Umma, die islamische Gemeinschaft,
enorm schädlich auswirke, aber deshalb auch in umgekehrter Stoßrichtung ungemein nützlich einsetzen ließe, „um ein positives Bild des Islam zu entwerfen
und die Interessen der Umma zu fördern“. Im „Dialog“ würde der OIC eine
zentrale Rolle zukommen, indem sie bei den Autoritäten des Westens insistieren
sollte, die Lehrinhalte auf allen Bildungsebenen auf ihren islamophoben Gehalt
zu überprüfen und die problematischen Stellen durch positive Aussagen zu ersetzen.
Daraus entstand ein noch heute laufendes „Zehnjahres-Aktionsprogramm“, das
die Innenpolitik der globalen Umma und deren Außenpolitik mit nichtmuslimischen Ländern bestimmt. Der Plan propagiert die Festigung der islamischen
Solidarität, um die Muslime in der internationalen Politik mit einer Stimme sprechen zu lassen, wobei einmal mehr der konsequente Einsatz gegen die
Islamophobie verlangt wird, deren Rassismus die Tradition des NaziAntisemitismus fortsetze. Daher sollten die Staaten, um diese Geißel der
Menschheit erfolgreich zu kriminalisieren, internationale Organisationen einschalten, die ihren Einfluß gezielt vernetzen könnten. Zudem würde die OIC eine
UN-Resolution herbeiführen, welche die Islamophobie verbietet und die Mitgliedsstaaten auffordert, entsprechende Gesetze zu erlassen und mit abschreckenden Sanktionen zu verbinden.
Diese Initiative ist zum festen Bestandteil aller Aktivitäten und Publikationen der
EU-Regierungen und aller nationalen und internationalen Organisationen geworden, die sich im Rahmen des „Dialogs“ mit der Vertretung islamischer Interessen
befassen. Auf breitest möglicher Front hat es sich zur obligatorischen Routine
entwickelt, die Islamophobie bei jeder Gelegenheit zu verdammen und von einer
bloßen Meinung zum Tatbestand eines Verbrechens zu kriminalisieren. Damit
schwenken die EU-Führungen in die Demutsbahn des Dhimmitums ein, die
ihnen die islamischen Chefetagen vorzeichnen:
„Auf der Basis dieser tiefen Überzeugung erneuern wir, die Könige, Staatsoberhäupter und Regierungschefs der Organisation der Islamischen Konferenz, unsere Verpflichtung, noch härter daran zu arbeiten, daß das wahre Bild des Islam
weltweit besser geschützt wird. Und dies im Einklang mit den Richtlinien des
Zehnjahres-Aktionsprogramms, die vom Dritten Außerordentlichen Gipfel im
geheiligten Mekka herausgegeben wurden und eine Islamophobie bekämpfen, die
nach der Verzerrung unserer Religion trachtet (S. 49).
230
Mithin ist die Islamophobie längst auch Leitschnur in den Vereinten Nationen, in
der UN-Vollversammlung und -Menschenrechtskommission, in den zahlreichen
Gremien der UNESCO sowie in den westlichen Medien, die mit den islamischen
Interessen auch die palästinensischen Gewaltgruppen und den Boykottkrieg
gegen Israel unterstützen. Der Einsatz gegen die pathologische Furcht vor dem
Islam, die nicht nur die Dissidenten umtreibt, sondern immer noch große Teile
der europäischen Bevölkerung infiziert, steht im Zentrum des „Dialogs“, der sich
als die dritte totalitäre Ideologie Europas nach dem Nationalsozialismus und dem
Kommunismus bestätigt. Wann immer ein westlicher Repräsentant sich pauschal
für den Islam als die Sache des Friedens und Respekts einsetzt, präsentiert er
sich als Gegner der Demokratie und darüber hinaus als Fürsprecher des Radikalismus, wenn er denn jenen Begriff der Islamophobie verwendet, der ihm von
den Muslimeliten verordnet wird.
Damit nicht genug, gab der Zweite OIC-Bericht Anfang 2008 die Absicht bekannt, eine Einrichtung für die Beobachtung der Islamophobie zu schaffen, und
im gleichen Jahr diskutierte die Parlamentarische Versammlung des Europarats
(EMPA) ein erweitertes Maßnahmenpaket für die islamische Immigration. Da es
Diskriminierung, Armut und soziale Ausgrenzung als Nährboden für Extremismus sah, forderte das Gremium die Euro-Regierungen dazu auf, diese Faktoren
konkret zu berücksichtigen und die Islamophobie rigoros zu bekämpfen. Die
Staaten des Europarats sollten Schritte unternehmen, die es den muslimischen
Zuwanderern und deren Kindern ermöglichten, sich durch den Zugang zu den
Einrichtungen des Gemeinwohls und öffentlichen Dienstes in die Gesellschaft zu
integrieren. Die Euro-Regierungen und die Gesellschaft hatten der sozialen
Diversität zu folgen und die Hindernisse für die Integration der Immigranten zu
beseitigen, um eine Bürgerschaft zu fördern, die aktiv am öffentlichen Leben
teilnahm. Da dies unter schariatischem Recht ablaufen soll, erlangt der zweideutige Begriff der „Integration“ eine eindeutige Richtung, weil nur noch die
dhimmitümliche Anpassung der Einheimischen in Frage kommen kann.
Im Weiteren verlangt die Versammlung, daß die EU-Mitgliedstaaten sich in
jedem Bereich gegen Diskriminierung, Islamophobie, das Schüren von Haß
sowie für die Entfernung von Schulbüchern einsetzen, die den Islam mit den
Stereotypen einer feindseligen, bedrohlichen Religion kenn- bzw. fehlzeichnen.
Sie drängt die Staaten, Informationen über den Beitrag zu verbreiten, den der
Islam seit der Renaissance zur Entwicklung der westlichen Zivilisation geleistet
hat, um solche Klischees zukünftig zu überwinden. Insofern bestehe Bedarf,
Menschen mit Islamhintergrund in den politischen Parteien, Gewerkschaften und
NGO’s zu installieren und eine offene Debatte über das Problem einer EUAußenpolitik zu beginnen, die den Islam nicht genügend einbezieht und somit
seine generelle Radikalisierung „provoziert“.
Diese Forderung drehte die Realität um, indem sie die Ursache des Radikalismus
vom islamischen System auf die europäische Politik übertrug. Diese kann mithin
der OIC-Erpressung nur entgehen, wenn sie sich ihren Forderungen unterwirft,
wenn sie den Terrorismus vom Islam trennt und dessen vermeintliche, epochale
Kulturleistungen zum zentralen Thema der Medien und Bildungsinhalte macht,
231
ansonsten sie selbst der Islamophobie und rassistischen Ausgrenzung schuldig
wird. Zur Kontrolle eben dieser Verpflichtung war die Beobachtung der
Islamophobie einzurichten, die mit dem Heer von „Beauftragten“, „Referenten“
und „Experten“ des Islam in den Institutionen für die Konditionierung der Ungläubigen sowie die Rückkehr der Denunziation sorgt. Indem die Dokumentation
der neuen „Beobachtung“ die Quellen der Islamkritik, ihre Zentren und Akteure
registriert (S. 135f.), schafft sie einen konformen Systempöbel, der das Internet
bevölkert und mit „Juden raus“ durch die Straßen zieht, sobald die Regisseure
des „Dialogs“ auf den Toleranzknopf drücken.
Was das zukünftig zu bedeuten hat, bedarf keiner Phantasie, zumal die Definitionen islamophoben Verhaltens festliegen. Sie bestehen in den Merkmalen der
westlichen Altzivilisation, in der Freiheit der Meinung, Medien, Wissenschaft,
Religion, Kunst etc., in der Loyalität zu kulturellen und religiösen Gewohnheiten, säkularen Rechten und humanitären Regeln, im Wunsch nach rechtsstaatlicher Sicherheit durch kontrollierte statt ungeregelter Zuwanderung, die im eigenen Land auch die Mitsprache über die bislang aufgezwungene Islamisierung
mitsamt ihres archaischen Rechtssystems bedingt. Alle diese Elemente und einiges mehr setzen sich in unterschiedlichem Maße zur „Islamophobie“ zusammen.
Sie wird zum zentralen Abwehrbegriff gegen das Recht auf selbstbestimmte
Existenz und rationales Gefahrenbewußtsein, das aber die „demokratischen“
Vertreter der EU und deren Staaten im Kielwasser ihrer muslimischen Taktgeber
zur Kampfarena gegen die eigene Bevölkerung machen.
3. Elitärer Djihad für die „radikale Demokratie“
Damit eignen sich die westlichen „Verantwortlichen“ die Djihad-Ideologie an,
welche den umfassenden Einsatz – von missionarischer Propaganda über Bedrohung zu kriegerischer Gewalt – für die Ausbreitung der islamischen Kultiviertheit und Friedensfülle verlangt. Indem sie von der westlichen Religionsfreiheit
geschützt und von den willigen Vollstreckern des „Dialogs“ getragen wird, kann
bzw. soll nicht zur Kenntnis genommen werden, daß es Frieden im Islam nur
zwischen Muslimen gibt, nicht zwischen Muslimen und Ungläubigen. Frieden in
Verbindung mit Nichtmuslimen bedeutet deren Konversion oder eben die
dhimmitümliche Unterwerfung mit allen Folgen der Demütigung und Auspressung.
In der koranischen Pflicht, die Erde zu islamisieren (34/28), geht es für den Muslim, der „auf dem Wege Allahs“ den Islam verbreitet, nicht um Krieg, sondern
um eine gerechte Handlung, die eine unverzichtbare Aufgabe erfüllt. Die Aggressoren sind die Nichtmuslime, welche die Islamisierung ihrer Völker zu verhindern suchen. Ihnen ist die „Schuld“ an den Kriegen anzulasten, die sie durch
ihren Widerstand gegen die muslimische Eroberung „provozieren“, denn hätten
sie sich nicht gewehrt, wären die Massaker des Glaubenskampfes (Djihad) zu
vermeiden gewesen. Der inflationäre Gebrauch des Schuldbegriffes verweist auf
den erwähnten arabischen Wortstamm des Dhimmitums (dhimma), der nicht nur
„Vertrag“, sondern auch „Schuld“ bedeutet. So kann überall Frieden herrschen,
232
wenn denn die Nichtmuslime ihrer Schuldigkeit Genüge tun und dem Ruf des
Islam (da’wa) durch Übertritt bzw. Annahme der Erniedrigung folgen. Djihad
entzieht sich jeder Kritik, weil er den Willen Allahs erfüllt. Es sind die Nichtmuslime, die sich „schuldig“ machen, weil sie durch ihren Trotz gegen Allahs
Willen den Krieg herausfordern und die Muslime zum Djihad zwingen. Diese
aus der Scharia abgeleitete Lehre steht im Zentrum des Manifests der
Muslimbruderschaft, der größten Organisation des praktischen Islam, deren
Einfluß sich somit auch im konzertierten, „arabischen Frühling“ von 2011 bemerkbar macht.
So wird die elitäre Metaphobie verständlicher, die „Angst“ vor der
Islamophobie, die es gewählten Volksvertretern angemessen erscheinen läßt, die
Aushöhlung und schleichende Beseitigung der „Stammtisch“-Bevölkerung in
Kauf zu nehmen. Denn da auch die erstarkende Linke nach dem Zweiten Weltkrieg an den Nazi-Orient-Seilschaften anknüpfte und sich im langen Marsch mit
dem „Blick nach Rechts“ das links-rechte Gesamtmonopol auf den Extremismus
aneignete, erfahren die heutigen Akteure den „Dialog“ mit dem Islam weniger
als Erpressung, sondern als glückhafte Fügung. Nach zwei Fehlversuchen sehen
sie die singuläre Chance, ihre Ideologie der gewaltbesetzten Feindschaft gegen
die jüdisch-christliche Altkultur mit der Religionsfreiheit für den islamischen
Djihad zu verstärken und unter den erprobten Euphemismen des „Friedens“ und
der „Toleranz“ die gehaßte Demokratie nebst dem Judenstaat im Orient zu entsorgen. Da islamophobes Sprechen und Handeln den laufenden Strukturwandel
und die historische Verankerung des Islam in Europa gefährdet, muß die herrschende Hierarchie, die sich in Großinvestoren/Amerika, UN-EU-OIC und globale Organisationen gliedert, dafür sorgen, daß Diffamierung und Gewalt andere
Bezeichnungen erhalten, solange sie den Islam voranbringen.
Dies wird nicht nur in der Dialogroutine deutlich, sondern auch in den Klischees,
mit denen man ungewöhnliche Ereignisse umschreibt. Dazu gehören die stereotypen Formeln, mit denen die Euro-Medien den arabischen Frühling als „erstaunliche Entwicklung“ beschwören, in der deutlich werde, wie die halbe arabische Welt den „friedlichen Umsturz“ zur Demokratie vollziehe, deren Entfaltung
die westliche „Schuld“ allzu lange verhindert habe. In diesem Gerede klingt
wiederholt der Begriff der „radikalen Demokratie“ an, mit dem eine Staatsform
suggeriert wird, in der die demokratischen Spielregeln, obwohl (oder weil) sie in
den EU-Parteidiktaturen ausfransen, nun besonders sorgfältig angewendet würden. Was hier angeblich im arabischen Zeitraffer ablief, hatten die EU-Staaten,
allen voran Frankreich und Deutschland, faktisch vorexerziert – nämlich den
Weg in die „radikale Demokratie“.
Dieser Begriff, der von Jean-Jacques Rousseau (gest. 1778) stammt und auch
bei den Jakobinern, den extremistischen Vollstreckern der Französischen Revolution, Verwendung fand, spielt eine große Rolle bei Jürgen Habermas, der ihn
einer prozeßhaften Staatsversion einverleibte, um die Entdemokratisierung
Deutschlands zur Parteienherrschaft als Dekadenz des Rechtsstaats zu verschleiern. Er unterzog diesen Ablauf einer Analyse, die das Bewußtsein durch kollektives, „kommunikatives Handeln“ im Sinne einer automatischen Prozedur erset233
zen will (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne – Frankfurt 1988).
Hier sollen sich die Subjekte nicht als „einsame Beobachter“ isolieren, sondern
ihre Existenz aus der Interaktion mit dem Anderen beziehen, eine Position, die er
gegen die Kritische Theorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno abgrenzt.
Ihm mißfällt die Deutlichkeit, mit der die beiden Aufklärungsskeptiker die moderne Vernunft als Machtinstrument dechiffrieren, die sich vor allem dem monetären Geltungsanspruch unterwirft und aus ihrer Sicht zu schlichter Kritikunfähigkeit degeneriert. Indem Habermas dies seiner Analyse entzieht, kann das
Individuum nicht mehr „beobachten“, also auch der Zweckverwendung nicht
entgehen: „Wohl verstärkt sich mit kapitalistischer Wirtschaft und modernem
Staat auch die Tendenz, alle Geltungsfragen in den beschränkten Horizont der
Zweckrationalität sich selbst erhaltender Subjekte oder bestanderhaltender Systeme einzuziehen. Mit dieser Neigung zur gesellschaftlichen Regression der
Vernunft konkurriert aber der unverächtliche, durch die Rationalisierung von
Weltbildern und Lebenswelten induzierte Zwang zu fortschreitender Differenzierung einer Vernunft, die darüber eine prozedurale Gestalt annimmt“. Das dem
genannten Werk entnommene Zitat umschreibt zutreffend die vorliegende Problematik: Was Habermas mit der Formel vom kommunikativen Handeln in einem
herrschaftsfreien Diskurs verdeckt, gerät in der Dressurpraxis des „Dialogs“ zum
umfassenden Diktat, das den „beschränkten Horizont“ der islamophoben, weil
auf den Selbsterhalt bedachten Subjekte in der prozeduralen Gestalt der oktroyierten Islamisierung aufgehen läßt. Dieser Ablauf der „regressiven Vernunft“ –
ein anderes Wort für Indoktrination – ist „unverächtlich“, d.h. der Kritik entzogen, weil er dem „induzierten Zwang“, also unausweichlicher Macht dient, womit er schließlich nicht weniger als die Qualität des Djihad erlangt.
Indem sich damit auch das individuelle Denken im Kollektiv des „kommunikativen Handelns“ auflöst, bekommt die Rede vom „Verschwinden des Subjekts“
ihren Sinn, die seit den cultural und linguistic turns der 1970er Jahre den politsoziologischen Diskurs beherrscht. Am Beispiel der neuen Rationalität, die das
normativ richtige Bewußtsein (Habermas) im von der Islamophobie gereinigten
Denken sieht, läßt sich die parasitäre Dynamik des pluralistischen Fortschritts
aufzeigen, die man auch als Pathologie der Moderne bezeichnen kann. Denn
vom Standpunkt der sich selbst behauptenden, individuellen Existenz, die sich
unter anderem auf das cogito ergo sum des René Descartes (gest. 1650) gründet,
wird die geldnormierte Moderne als eine unausweichliche prozedurale Gestalt
suggeriert, deren Funktion darin besteht, das individuelle Bewußtsein aufzulösen, um es den diversen Netzwerken der Arbeit, des Konsums, Entertainment,
Islam etc. nutzbar zu machen. Diese Verfaßtheit ist natürlich nicht fähig, die
enorme Dimension der EU/OIC-Strukturmanipulation zu erkennen, geschweige
denn sich ihr durch geeignete Maßnahmen zu entziehen.
Kaum jemand hat dies klarer erkannt als der Habermas-Konkurrent Niklas Luhmann (gest. 2002). Nach dessen Konzept nährt sich die selbstbezügliche Dynamik der modernen Gesellschaft an einer Schrumpfung des individuellen Denkens, an einer abnehmenden Distanz – oder auch Differenz – zwischen Selbst
und Welt, die das Verschwinden des Subjekts und Auftauchen des „richtigen“,
234
also zweckgerichteten Bewußtseins durch Autopoiese (Selbstschaffung) der
pluralistischen Differenzierung bedingt. Aus diesem Zirkel geht sein Credo hervor, das wesentlich in der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität besteht,
die in einer moralfreien, universell soziologischen Supertheorie der Tatsache
gerecht werden, daß mit dem Fortschritt des Wissensgewinns auch der Betrag
des Unwissens ansteigt, gleichwohl vom begrenzten Begriffsvermögen des Menschen erfaßbar bleiben müsse (Detlef Horster, Niklas Luhmann, 52 – München
2005). Daraus folgt, daß sich im Rahmen der unveränderbaren Asymmetrie der
Macht das Wachstum des Wissens bei den Eliten und der Unwissenheit und
Verdummung beim Volk konzentriert. Hier stellt sich Luhmanns Differenzkonzept der Denkschrumpfung auf eine Dauerfunktion, die zur Kultivierung des
Unwissens auffordert und sich in der Anwendung auf den Interkultur-Dialog im
Zwang ausdrückt, das Wissen auf islamförderndes Wissen zu reduzieren (Luhmann, Beobachtungen der Moderne, 163 – Wiesbaden 2006).
Wie Habermas bleibt auch Luhmann mit dem Subjekt verkettet, das er im zirkelhaften „Beobachten“ seines Systems nicht abschütteln kann. Mit der Differenz
zwischen System und Umwelt, die durch ständige Kommunikation Grenzen
schafft, aufhebt und verändert, gehen vielfältige Selbst- und Fremdbeobachtungen einher, die aber den paradoxen Endloszirkel bzw. „Blinden Fleck“ der sich
selbst beobachtenden Beobachtung nicht vermeiden können – das Patentrezept
des relativistischen Multikulturalismus. Denn es ist unmöglich, die Unterscheidung zu unterscheiden, mit der man unterscheidet, ebenso wie auch „die Realität
das ist, was man nicht erkennt, wenn man sie erkennt“ (Luhmann). Dennoch soll
all das durch den „Beobachter zweiter Ordnung“ gelöst werden, dessen Position
freilich nur der Systemwissende beziehen kann und somit macht-„gerecht“, weil
asymmetrisch die Führungsrolle der Elite begünstigt. Sie wird zwar immer wissender, aber auch immer anonymer und bildet eben jene Instanz, die in der so
prozeduralen wie monströsen Islamisierung Europas und dessen kulturellem
Verschwinden erkennbar wird.
Luhmann löscht die Individualität, indem er den Gesellschaftsprozeß als reflexive Produktion konformer Bewußtseine konzipiert, die sich als kompatibler
„Rohstoff“ in die geldnormierten Vernetzungen der Arbeits- und Konsumwelt
einspeisen. Seiner Aussage, daß „Recht ist, was das Recht als Recht bestimmt“,
kann man zustimmen, solange das Geld der erste Formfaktor bleibt. Hinzu
kommt der zirkuläre Charakter des Ablaufs, der seine eigene Realität erzeugt und
nicht scheitern kann, solange die Bewußtseine noch Raum zur Anpassung hergeben. Welche Maschinenmoral die differenztechnische Reflexivität auch immer
erzeugen mag – das „Recht“ dient der effizientesten Deutungsmacht, die sich als
klassisches Recht des Stärksten aus den Teilsystemen und ihrer jeweiligen Metabasis – Klasse, Rasse, Islam – herausfiltert.
Die Selbstreflexivität erscheint Luhmann so übermächtig, daß die Teilsysteme
(Institutionen) automatisch, sozusagen wertfrei und unterschiedslos miteinander
wechselwirken, wobei bis auf Ausnahmen (s.u.) das Geld eine merkwürdig geringe Rolle spielt. Armin Nassehi führt dies auf sein induktives Schlußverfahren
zurück, was eher auf den ideologischen Trend verweist, weil die Induktion die
235
Analyse meidet (Nassehi, Bourdieu und Luhmann, 41 – Frankfurt 2004). Die
monetäre Deutung drängt sich um so mehr auf, als der Paradefall der EuroIslamisierung an den Differenzachsen Akzeptanz-Ausgrenzung, Recht-Unrecht,
Palästina-Israel, Demokratie-Dhimmitum die Fusion von EU und OIC aufzeigt,
die mit Rechtsbeugung, Bürgertäuschung, Korruption und Utopie das konkrete
Ergebnis des selbstreflexiven Strukturwandels ist. So werden die ruinösen „Rettungsschirme“ der Eurozone zu Zeugen der Geldnorm, die den börsengestützten
Status Quo der Großinvestoren und die Aktienpakete der islamischen „Miteigner
Europas“ (EU-Kommission) absichern.
In diesem äußerst machtrelevanten Punkt löst der Makrosoziologe den Praxisbezug seiner Theorie scheinbar nicht ein, sorgt aber für überraschende, weil metaphysische Aufklärung. Das Defizit wird durch einen Dauerbetrug überbrückt, der
in der Nichtbeobachtbarkeit seines Differenzsystems besteht, aber sich mit der
paradoxen Umkehrung in einen „diabolischen“ Beobachter offenbart. Luhmann
benennt ihn freimütig und streng logisch mit Iblis, dem islamischen Teufel. Er ist
als der einzige Ungehorsame in Allahs Schöpfung derjenige, der die Gottheit zur
im Koran als „listige Ränke“ gelobten Täuschung der Gläubigen zwingt. Zugleich ist er auch der Lenker der Djinnen (Geister im Islam), die Bestandteil des
Volksislam sind und Iblis zum Verführer der Gläubigen, aber auch zu ihrem
Verbündeten machen, weil sie das Reich der okkulten Magie öffnen und von den
täglichen Vorschriften entlasten.
Ähnlich geht es den Teilnehmern an der modernen „Kommunikation“, die je
strikter sie den Codierungen der Korrektheit folgen, umso weniger Einfluß auf
den Prozeß haben, sondern sich um so fester in das Netz der Funktionen integrieren. Die systemgerechte Konformierung reduziert das Wissen auf Reflexe und
die Menschen auf Quasi-Automaten und „entsprechend hat das als wahr bezeichnete Wissen eine selbstreinigende Kraft – so wie das Geld“ (Luhmann). Als
Ausnahme im säkularen Diskurs gilt also eine metaphysische Dimension, die
Günter Schulte kommentiert hat (Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie –
Frankfurt 1993). Dabei fällt auf, daß Luhmann die Geldfunktion als „Reinigung“
sieht, womit sich der Humangeist als Störenfried aus dem Reflexbetrieb der
„multioptionalen“ Gesellschaft verabschieden muß. Unschwer erkennbar ist
Luhmanns Islamteufel der Beobachter des Systems, der zugleich die selbstbezügliche Islamisierung Europas zum Blinden Fleck macht, aber von den
islamophoben Dissidenten zur Preisgabe des Mysteriums gezwungen wird. Dieser Vorgang, der in der pluralistischen Dynamik nicht abschließbar ist und daher
den Islam automatisch importiert, trägt ihnen den entsprechend reflexhaften Haß
aller Dialogprofiteure ein und bildet logischerweise oberste Priorität im
OIC/ISESCO-Djihad-Programm. Kein Wunder also, daß die Muslime generell
die Islamophobie als Teil der Teufelsdomäne sehen, die mit dem Unglauben und
dem weiblichen Ungehorsam auch die höchsten Sicherheitsrisiken enthält.
Während Luhmanns Erkenntnis von den Dialog-Akteuren eisern verschwiegen
wird, wird auch die Unmöglichkeit erkennbar, die metaphysische Ebene der
Muslime mit der physischen Sichtweise der Europäer auf die viel beschworene
„Augenhöhe“ zu bringen. Während erstere in der Islamophobie die Inkarnation
236
des Unglaubens sehen, verteufeln letztere sie als verachtenswerte Version des
Rassismus, wissen sie aber gleichwohl als Machtmittel zu schätzen, womit sich
eine auf die Eliten begrenzte Übereinstimmung erreichen läßt. Die Gemeinsamkeit besteht im tödlichen Kampf gegen die jüdisch-christlichen Kultur, deren
Menschen sie ebenso leicht wie der Koran über die Klinge springen lassen. In
ihrer selektiven Toleranz macht sich die kuriose Unfähigkeit der Euro-Eliten
geltend, im Islam eine Dynamik zu erkennen, die ihnen ideologisch zwar sehr
nahe steht, sie aber selbst nicht verschonen wird, weil sie der gleichen Kultur
angehören, die sie mit Hilfe eben des Islam vernichten wollen.
Mithin zwingt das islamozentrische Heilsziel die neofeudalen EU-Führer, ihren
Bevölkerungen den Austausch der Demokratie gegen das Dhimmitum als ideales
Seinsgeschäft zu verkaufen, wobei sie eine weitere Version des platonischen
Sein-Schein-Paradoxes praktizieren. Denn der „moderne“ Herrschaftstrend präsentiert sich der Volkswahrnehmung in oft betrügerischen Formen, zuweilen
theaterhaften Inszenierungen, entzieht sich aber in der Komplexität des globalen
Datenkosmos zugleich der Nachprüfbarkeit, was sowohl dem „Blinden Fleck“
als auch der totalitären Machtmaschine Vorschub leistet. Davor hatte schon der
erwähnte Descartes gewarnt, der dem Menschen nahe legt, seinen Verstand zu
benutzen, um nicht dem „Betrügergott“, den Fallstricken der Mächtigen, anheim
zu fallen, die ihn geistig und zuweilen auch körperlich zum Verschwinden bringen wollen.
Somit erstaunt wenig, daß das kartesische Prinzip, das den denkenden Menschen
ins Zentrum der europäischen Zivilisation stellt, neben Kirche und Adel zum
dritten Feindbild der Aufklärer wurde und heute die links-rechten Extreme als
rotbraune Neo-Jakobiner dazu „provoziert“, die metaphysische Gewaltlizenz des
Islam radikaldemokratisch zu vollstrecken. Ihr wichtigster Exponent ist Martin
Heidegger, der als „größter Philosoph“ des 20. Jahrhunderts gilt, obwohl weite
Bereiche seiner Philosophie das Denken verbieten und seinen Einsatz für den
Nationalsozialismus zu erklären helfen. Die weltweite Resonanz auf seine Botschaft von der ultimativen Herrschaft über das „Seiende im Sein“ reflektiert die
ebenso weltweite Zunahme des Massenmords, wie sie Daniel Goldhagen belegt
(Schiller als Krieg, München 2009).
Zu dem gewaltigen Chor der globalen Zustimmung zu Heideggers totalitärem
Willen zur Macht gehören auch die Stimmen der prominentesten Philosophen,
Human- und Kulturwissenschaftler in Europa und Amerika, ein Who is Who der
westlichen Diskursforschung, die seiner Doktrin beipflichtet, ohne deren Gewaltpotential zu hinterfragen. Es ist diese elitäre Eigendynamik, die sich über die
Hebel der Dialog-Dressur einen neuen Totalitarismus aneignet und in ihren diversen Formen in Politik, Medien, Bildung und Kirchen das Thema des zweiten
Teils dieses Beitrags bilden.
Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher
Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und
den Dialog mit dem Islam.
237
238
Besprechungen
Katholisch konservativ
Der Publizist und Autor Gerd-Klaus
Kaltenbrunner, geboren 1939 in Wien,
verstorben 2011 in Lörrach, war eine
vielseitige Natur, ein Mann des Staunens, des Eifers und der Ehrfurcht, ein
spiritueller Idealist und Kompilator. Wer
ihn lediglich als Autor der „neuen Rechten“ betrachtet, wird seinen geistigen
Anliegen nicht gerecht.
Magdalena S. Gmehling, Leitstern am
geistigen Firmament. Erinnerungen
an Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Christiana-Verlag, Kisslegg 2012, 128 Seiten, 25 Fotos
Man verbindet mit seinem Namen aber
die „Rekonstruktion des Konservativismus“ in der Nach-1968er-Zeit, die Betonung von „Elite“ wider alle Egalisierung und die Formierung einer „Tendenzwende“, die sich vor allem in der
von ihm 1974 bis 1988 herausgegebenen
Taschenbuch-Reihe
„Herderbücherei
Initiative“ zu verschiedensten Themen
artikulieren konnte. Diese Bände behalten aufgrund der hervorragenden Einleitungen des immens Belesenen und der
profilierten Autoren ihre Gültigkeit über
den Tag hinaus, brachten ihm u.a. den
Konrad-Adenauer-Preis ein und sind
antiquarisch äußerst begehrt.
Kaltenbrunner ist kein Autor zu abgelegen oder unbedeutend, um sich ihm
nicht in seinen zahlreichen Porträts
europäischer Geister verständnisvoll zu
widmen. Begeistern konnte er sich für
vieles, nahezu schwärmerisch sich äussern, oft allzu frei von kritischer Distanz
gegenüber dem Objekt seiner Bewunderung. Diese Offenheit bereichert und
ermöglicht ästhetische Erfahrungen,
aber kann auch den hellen Blick trüben,
wenn etwa gnostische oder schrulligesoterische Protagonisten zu Ehren
kommen. Magdalena S. Gmehling, die
Verfasserin der nun vorliegenden Erinnerungen an „GKK“, ist seit 1992 mit
dem sich immer mehr in die Einsamkeit
und ein Eremitentum zurückziehenden
Privatgelehrten in intensivem Austausch, beschreibt seine Wohnumgebung
im Kanderner Ölmättle 12, seine Bibliophilie, seine Reliquiensammlung und
seinen Garten mit einer St-Anna-Kapelle
– wobei nie zu vergessen sei, daß „das
Unsichtbare alles beherrscht, was wir
sehen“ (Maurice Maeterlinck). Sie
schildert liebevoll und sprachlich ansprechend seine geistigen Schwerpunkte
und Sehnsüchte nach Heiligem, nach
Musik und Schweigen.
Überflüssig und teilweise überholt ist
die Wiedergabe eines galligen, mit nervigem name-dropping versehenen Essays in Würdigung Theodor Haeckers
(Seite 71-83). Vieles dort Beklagte hat
längst Fürsprecher gefunden, von Erik
Peterson liegt inzwischen eine vorbildliche Gesamtedition vor. Zu Recht betont
Gmehling jedoch Kaltenbrunners immer
inniger werdende Liebe zu den geistlichen
Versen
Johannes
Schefflers/Angelus Silesius‘, die er sich zuletzt
laut vorgelesen haben will, und verweist
auf sein bewußt unakademisches, aber
faszinierendes Hauptwerk „Dyonisius
vom Areopag. Das Unergründliche, die
Engel und das Eine“ (Zug 1996), in dem
er weit ausholend den ihm (neben Jakob
Böhme und Leopold Ziegler) wohl am
nächsten stehenden Theologen, Denker
und Mystiker einzufangen versucht.
Die Sehnsucht nach Stille in einer Zeit
des Lärms prägte die letzten Lebensjahre
Kaltenbrunners. Unmöglich, sich ihn
(wie einen Richard David Precht) in
einer Talkshow vorzustellen oder gar als
Aktivist im Internet. Als „Schlüssel zum
239
Tor der Weisheit“ (Seite 97-109) gilt
ihm in Gmehlings Erinnerungen Dantes
„Commedia“, der Gralshüter Johannes,
dem er ein Buch widmete, und die
Frömmigkeit der sieben heiligen Zufluchten nach dem Altarbild der Kirche
in Altlerchenfeld/Wien, das auch sein
Sterbebild abgibt.
Politisch ersehnte Kaltenbrunner eine
Reorganisation Europas auf christlichföderalistischer Grundlage, darin den
ihn fördernden „Zeitbühne“-Herausgebern William S. Schlamm und Otto von
Habsburg verwandt. Aus katholischer
Perspektive ist es bedauerlich, daß
Kaltenbrunners antimoderne Kulturund Kirchenkritik ihn schließlich in die
resignative
Sackgasse
des
„Sedisvakantismus“ führte, der Ansicht
also, daß seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Petrusamt nicht mehr
rechtmäßig besetzt sei. Das ist eine
unnötige und letztlich unkonstruktive
Isolierung, da Kaltenbrunners Anliegen
hierzulande ja etwa auch bei Hans Urs
von Balthasar, Robert Spaemann, Martin Mosebach und Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. selbst innerkirchliche
Fürsprecher fanden.
Vielleicht ist es die Tragik des dem
Rezensenten 1977/78 in Kirchzarten
freundschaftlich begegneten Autors, von
Kierkegaards ästhetischer Phase unter
Umgehung der Ethik gleich in die religiöse Phase springen zu wollen. Doch
war Gerd-Klaus Kaltenbrunner letztlich
auch im katholischen Sinne tief gläubig
und ließ sich an seinem Lebensende
durch den Augsburger Diözesanpriester
Georg Oblinger, der am 19. April 2011
(Tag der Wahl Benedikts XVI.) die (im
Buch abgedruckte) Predigt bei der Trauerfeier in Kandern hielt, geistlich begleiten. Durch die nun vorliegenden gut
geschriebenen und ansprechend mit
Fotos edierten „Erinnerungen“ einer
kongenialen Bekannten kann einem
240
eigenwilligen Anreger und Empfänger
europäischer Bildung bei aller nötigen
Hinterfragung die verdiente Aufmerksamkeit und Nachwirkung ermöglicht
werden. Ob er dann ein „Leitstern am
geistigen Firmament“ ist, bleibe dem
Urteil der Leser überlassen.
Stefan Hartmann
Konservative Publizistik
Caspar von Schrenck-Notzing (19272009) entstammte nicht nur einem der
ältesten Ratsgeschlechter der Stadt
München. Er war auch einer der bedeutendsten und einflußreichsten konservativen Publizisten der Bundesrepublik.
Daß
ihn
das
Online-Lexikon
„Wikipedia“ als „Vertreter der Neuen
Rechten“ ausweist, ist entweder als
Zeichen von Unkenntnis oder als ideologische Voreingenommenheit zu werten. Sein Name ist vor allem mit der
Zeitschrift Criticón verbunden, die intellektuelle Gegenpositionen zum linken
Mainstream der 70er, 80er und 90er
Jahre bezogen hat. Der ungewöhnliche
Name der Zeitschrift bezieht sich auf
den Titel eines Romans des spanischen
Moraltheologen Baltasar Gracián (1601
bis 1658).
Caspar von Schrenck-Notzing: Konservative Publizistik. Texte aus den
Jahren 1961 bis 2008. Ausgewählt und
herausgegeben von Patrick Neuhaus.
Mit einer Einleitung von Karlheinz
Weißmann. Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung, Berlin
2011, 480 Seiten
In Criticón veröffentlichten zwar unter
anderem auch Vertreter der „Neuen
Rechten“ (zum Beispiel Alain de
Benoist), aber vor allem auch Konservative jeglicher Couleur (Nationale, christliche Konservative, Liberalkonservative
etc.). Neben der zeitraubenden Tätigkeit
als Herausgeber der Zeitschrift, für die
unter anderem Armin Mohler, aber auch
C-Konservative wie Alexander Gauland
und andere zur Feder gegriffen haben,
ist Schrenck-Notzing als Autor von
Büchern wie „Charakterwäsche“ und
„Honoratiorendämmerung“ sowie als
Herausgeber von Werken wie „Konservative Köpfe“ oder „Lexikon des Konservatismus“ hervorgetreten. Als Begründer der Förderstiftung Konservative
Bildung und Forschung (FKBF) hat
Schrenck-Notzing ebenfalls eine Wirkung entfaltet, die bis heute anhält.
Der FKBF ist ein konservativer Prachtband zu verdanken, der jüngst erschienen ist. Patrick Neuhaus hat für die
Stiftung Texte Schrenck-Notzings aus
den Jahren 1961 bis 2008 zusammengestellt. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann hat eine kundig-knappe
Einleitung beigesteuert. Der Band
schließt mit einer Auswahlbiographie
des Criticón-Gründers, die zum Weiterlesen einlädt. Auf rund 500 engbedruckten Seiten findet sich eine Auswahl der
stärksten Texte aus Criticón, der Zeitschrift Der Monat, aus Konservativ
heute oder auch aus der Publikation
Unsere Agenda, die Schrenck-Notzing
herausgegeben hatte, nachdem er
Criticón in die Hände des Bonner Wirtschaftspublizisten Gunnar Sohn übergeben hatte.
Neben interessanten Portraits zumeist
konservativer Persönlichkeiten macht
uns der Band mit Beiträgen über den
Konservatismus, die deutsche Frage und
Identität, die sogenannte „Umerziehung“
durch die Amerikaner, den Parteienstaat,
die Kulturrevolution von 1968 sowie
Texten über Medien, Meinung und
Zensur vertraut. Schrenck-Notzing war
in erster Linie ein sehr belesener Intellektueller. Seine Versuche, eine Art
Sammelpolitik vorzubereiten, „die allen
Strömungen der Rechten jenseits der
Union und diesseits der ‚Neos‘ ein Forum schaffen sollte“ (Weißmann), scheiterten letztlich. Aber er war auch kein
Ideologe wie sein Schweizer Mitstreiter
Mohler, da für ihn die Ideologie endete,
„wo die Politik beginnt“. In seinem
Beitrag „Rückruf in die Geschichte –
zehn Jahr Criticón“ hat SchrenckNotzing sein publizistisches Credo gut
beschrieben: „Der Titel von 1970 legte
sich quer zu den von Befreiungstheologien und Konvergenztheorien, von Entspannungseuphorie und Reformfanfaren
begleiteten Zug der Utopisch-Naiven
(aus dem dann und wann – wie war man
doch überrascht! – die Gewaltsamen
ausbrachen. Inmitten der Hoffnungsphilosophen vertraten wir das konservative
Prinzip Wirklichkeit, inmitten der Berauschten die nüchterne Vernunft, inmitten der formierten Meinung der Medien
die ihrer Grenzen bewußte Gegenstimme, inmitten der Politik der Politiker
den Primat der Kultur.“
Angesichts des Meinungskonformismus,
dem wir heute ausgesetzt sind, fehlt eine
Stimme wie Criticón, auch wenn mittlerweile einige interessante Zeitungs-,
Zeitschriften- und Online-Projekte wider
den Stachel löcken und sich mit der
veröffentlichten öffentlich-rechtlichen
Meinungsmache nicht zufrieden geben
wollen. An die Stelle eines solch einflußreichen, intellektuell vielseitig interessierten und beschlagenen Kopfes wie
Schrenck-Notzing ist jedoch kein würdiger Nachfolger getreten. Vielleicht regt
der schöne Band der FKBF insbesondere junge Publizisten an, es einem großen
Vorbild gleich zu tun, ohne SchrenckNotzings singuläre Erscheinung kopieren zu wollen.
Ansgar Lange
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