Herausgeber: DIE NEUE ORDNUNG Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V. Redaktion: Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Wolfgang Hariolf Spindler OP Bernd Kettern begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Nr. 3/2012 Juni Redaktionsbeirat: 66. Jahrgang Editorial Wolfgang Ockenfels, Der Heilige Rock und die Piusbrüder Stefan Heid Martin Lohmann Andreas Püttmann Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Horst Schröder Redaktionsassistenz: 162 Andrea Wieland und Hildegard Schramm Druck und Vertrieb: Ursula Nothelle-Wildfeuer, Gerechtigkeit auf Zukunft hin. Generationengerechtigkeit 164 Ulrich Schlie, Streitkräfte als Instrument nationaler Sicherheitsvorsorge 178 Hans Braun, Immer gut beraten? Zur Rolle des Beratungswesens in unserer Gesellschaft 188 Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891 Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 25,- € Einzelheft 5,- € zzgl. Versandkosten ISSN 09 32 – 76 65 Bericht und Gespräch Bankverbindung: Hasso Heybrock – Rainer Kreuzhof, Zur Wirkung beschäftigungsfördernder Gesetze 199 Florian Josef Hoffmann, Soziale Wirtschaftspolitik 215 Hans-Peter Raddatz, Islamophobie. Kampfbegriff des kommenden Kalifats 224 Besprechungen 238 Deutsche Bank, Bonn Konto-Nr.: 0575670 (BLZ 380 700 59) Anschrift der Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 D-53113 Bonn e-mail: [email protected] Tel.: 0228/21 68 52 Fax: 0228/22 02 44 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck, elektronische oder photomechanische Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion http://www.die-neue-ordnung.de 161 Editorial Der Heilige Rock und die Piusbrüder Der Heilige Rock gehört nicht in die Kategorie religiöser Musik und bringt nicht den Glaubenssatz „Elvis lebt“ zum Klingen. Vielmehr „handelt“ es sich (auch hier sind Händler mit am Werk) um das Gewand Christi ohne Naht, das seit über 500 Jahren in Trier besonders dann erfolgreich verehrt wird, wenn es in Kirche und Welt drunter und drüber geht. Es gilt den Gläubigen als Symbol der Einheit der Christenheit. Und die Pilger, die dieses Jahr unerwartet zahlreich nach Trier kamen, beteten: „ ... und führe zusammen, was getrennt ist“. Dabei mögen sie besonders an die Einheit einer Christenheit gedacht haben, die konfessionell gespalten ist – und es vermutlich noch lange bleiben wird. Denn die Ökumene mit Protestanten, die sich vor allem darin einig sind, daß sie von Rom getrennt bleiben wollen, scheint ein utopisches Ziel zu sein, wenn es nicht einmal gelingen sollte, die innerkirchliche Einheit mit der Priesterbruderschaft St. Pius X. in Ordnung zu bringen. Die Piusbrüder und -schwestern sind weder Apostaten noch Häretiker und sehen sich selber auch nicht als Schismatiker an. Die Exkommunikation ihrer Bischöfe wurde vor wenigen Jahren aufgehoben, was einen Sturm der Entrüstung entfachte, weil einer von ihnen sich als „Holocaustleugner“ offenbarte. Hätte er den trinitarischen Glauben geleugnet, wäre er von den Massenmedien vielleicht als Häretiker gepriesen worden. Die Dinge verwirren sich weiter. Als Schismatiker soll inzwischen nicht einer gelten, der die innerkirchliche Spaltung vorantreibt, sondern sie zu verhindern trachtet. Das Einigungsanliegen Benedikts XVI. wird erwartungsgemäß desavouiert von Theologen wie Hans Küng, der dem Papst Spaltungsabsichten vorwarf, weil dieser sich angeblich vom „Gottesvolk“ entfernt habe. Wer die Spaltung da, wo sie überwindbar erscheint, auch überwinden will, gilt nach progressiv verdrehter Logik als Spalter, während die Trennung dort, wo sie sich antirömisch verfestigt hat, als leicht überwindbares Hindernis verharmlost wird. Freilich gibt Hans Küng den besseren, weil häretisch potenzierten Schismatiker ab, dem schon 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen werden mußte. Je weiter er sich von der römischen Weltkirche entfernt, desto mehr gerät er ins Abseits eines nationalkirchlichen „Gottesvolks“, als dessen intellektuellen Vordenker und zugleich demokratisch legitimierten Repräsentanten er sich berufen fühlt. Damit stellt er sich direkt gegen den Papst, dessen Anspruch auf Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat er freilich nicht für sich usurpieren kann, weil er die entsprechenden Glaubensdefinitionen des I. Vatikanischen Konzils ablehnt. Als Gegenpapst, der nur noch eine Art Ehrenpräsident der Christenheit darstellte, müßte Küng allerdings auch seinen akademischen Unfehlbarkeitsanspruch opfern, was eine große Zumutung für einen zeitgemäßen deutschen Theologieprofessor bedeuten würde. 162 Aber so besonders wichtig, wie er sich nimmt, ist Küng nicht. Er repräsentiert lediglich eine Gattung moderner Theologie, die sich die Deutungshoheit über die gesamte Theologie- und Kirchengeschichte anmaßt. Und zwar auf dem Wege einer Hermeneutik, die das Verständnis christlicher Ereignisse und Glaubenszeugnisse von den jeweiligen zeitgenössischen Situationen und Interpretationen abhängig macht, die aber nicht mehr das Kontinuum der gleichbleibenden Wahrheit des christlichen Glaubens in seiner kultur- und geschichtsübergreifenden Substanz darstellen kann. Deshalb ist diese Form der Theologie stets auf der Suche nach einer opportunistischen „Inkulturation“ des Glaubens, ohne zu wissen, was diesen Glauben inhaltlich-verbindlich kennzeichnet – und mit welchen der vielen Kulturen („Multikulti“) er überhaupt kompatibel erscheint. Zugegeben: Das hermeneutische ist gewiß eines der schwierigsten Kapitel der Theologie. Doch hat die Kirche von Anfang an das kirchliche Amt und nicht eine theologische Mehrheitsmeinung als Instanz zur Lösung dieses Problems anerkannt. Kein Wunder also, daß sich Apostasie, Häresie und Schisma immer an kirchlich-autoritativen Entscheidungen entzündet haben – oder vielmehr: daß jene durch diese zurückgedrängt wurden, wenn auch nicht immer erfolgreich. Für jede theologische Glaubensfrage entscheidend ist also der Kirchenbegriff. Schon deswegen, weil es die Kirche war, die den Kanon der Heiligen Schriften festlegte. Darum erstaunt es nicht, daß es im gegenwärtigen Streit vorrangig um das Kirchenverständnis geht. Küng und Genossen lehnen das I. Vatikanische Konzil wegen der Infallibilität ab und berufen sich irrtümlich auf das II. Vaticanum, während dieses von den Piusbrüdern irrtümlich unter Häresieverdacht gestellt wird, obwohl es keine dogmatischen Abstriche vorgenommen hat. Allerdings lassen verschwommen-doppeldeutige Formulierungen dieses Pastoralkonzils abenteuerliche Interpretationen zu. Weshalb gerade hier die verbindlich entscheidende Instanz Roms erforderlich ist, um Abspaltungen zu vermeiden. Spaltungen sind bedauerliche Folgen der Freiheit, während die forcierte Einheit oft auf Freiheitsverluste hinausläuft. Einheit ist auch in Politik und Gesellschaft kein Wert in sich, wenn dabei die Frage nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit ausgeklammert bleibt. An dieser Frage entscheidet es sich, wie sinnvoll ein Einigungsbemühen oder auch ein Trennungsbeschluß sein kann. Im Blick auf den Heiligen Rock könnte das Trierer Pilgergebet abgewandelt werden in: „… und trenne, was nicht zusammengehört“. Damit würde die kostbare Reliquie, die einem unansehnlichen Flickenteppich gleicht, zwar zum Symbol der Klarheit und Reinheit, zum Sinnbild eines historisch-kritischen Minimalismus, der die Unterscheidung zwischen echt und unecht archäologisch korrekt festlegen möchte. Dann gehörte die Reliquie nicht in die Kirche, sondern ins Museum. Aber was wäre das für ein puristischer Glaube, der sich gegen jede Verstrickung des Absoluten mit dem Kontingenten, gegen jede Verknüpfung von christlicher Wahrheit mit paganen Kulturelementen abgrenzen würde? Es wäre nicht der traditionelle Glaube der Kirche. Der Papst sucht als Pontifex Maximus die Einheit der Vielfalt und gerade deshalb auch die Einheit mit den Piusbrüdern. 163 Wolfgang Ockenfels Ursula Nothelle-Wildfeuer Gerechtigkeit auf Zukunft hin Sozialethische Aspekte der Generationengerechtigkeit Der Begriff „Generationengerechtigkeit“ ist ein schillernder Begriff, der unsere gesellschaftliche und öffentliche, aber auch in unterschiedlichen fachlichen Kontexten unsere wissenschaftliche Diskussion prägt. Es scheint ähnlich zu sein wie beim Begriff „soziale Gerechtigkeit“, der seit dem 19. Jahrhundert existiert, der aber erst im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zu einem wirklichen politischen Leitbegriff erster Güte geworden ist: nicht nur Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Begriff der Generationengerechtigkeit in vielfältigen Kontexten, sondern auch Politiker jeder Couleur bringen ihn gern zur Unterstützung ihrer jeweiligen Position ins Spiel, in keiner zukunftsorientierten Überlegung darf er fehlen. Bei diesem nahezu inflationären Gebrauch kommt es nun aber um so mehr darauf an, genau zu eruieren, was jeweils gemeint ist. I. Begriff; Bedeutung und Inhalt der Generationengerechtigkeit Gerade war von dem inflationären Gebrauch des Begriffs Generationengerechtigkeit die Rede. Warum eigentlich, so ist in diesem Kontext zu fragen, kommt es überhaupt dazu? Hat es nicht immer schon die Sorge um das Wohlergehen der nachfolgenden Generation bzw. Generationen gegeben? Haben nicht Mütter und Väter, Großmütter und Großväter immer, und im engen Lebenszusammenhang früherer Großfamilien vielleicht noch intensiver als heute, sich darum gesorgt, daß sie den Kindern und Enkelkindern Haus und Hof gut bestellt überließen, damit es ihnen – so die klassische Begründung – einmal besser ergehe als der eigenen Generation, als einem selbst. Das führte dann zu dem einseitigen „Bild von den zukünftigen Generationen als im Luxus schwelgenden Nutznießern der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Anstrengungen ihrer Vorfahren“ (Birnbacher et al. 2001, 7). Dieses Bild aber, so Birnbacher, ist inzwischen zu korrigieren: Kinder und Kindeskinder werden nicht mehr als nur reiche Erben gedacht, die von den Leistungen ihrer Vorfahren profitieren, sondern auch als unfreiwillige Opfer zeitlich früherer ökologischer, ökonomischer und sozialpolitischer Sünden, zu denen sie selbst nicht beigetragen haben und deren Folgelasten sie sich nicht [...] entziehen können.“ (Birnbacher et al. 2001, 7). Hieran schließt sich ein weiterer Aspekt an: Das Paradigma der Verantwortung für die Zukunft hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Es fand eine Verschiebung „vom optimistischen zum pessimistischen Pol“ statt. „Das optimistische Paradigma sah Verantwortung für zukünftige Generationen primär als Verpflichtung zur Verlängerung eines verläßlichen, auch ohne die Befolgung spezifisch zukunftsethischer 164 Normen, eintretenden Fortschrittsprozesses.“ In diesem Paradigma sind die zukünftigen Generationen prinzipiell besser gestellt als die gegenwärtigen. Im pessimistischen Paradigma dagegen „sind die zukünftigen Generationen ohne die Beachtung spezifisch zukunftsethischer Normen gegenüber der gegenwärtigen Generation schlechter gestellt.“ (Birnbacher, Schicha 2001, S. 19) Von daher liegt es nahe, daß „der Begriff ‚Generationengerechtigkeit‘ […] an normativer Dringlichkeit gewonnen [hat].“ (Birnbacher et al. 2001, 7). Der Begriff der Generationengerechtigkeit scheint auf der einen Seite ein hohes Maß an moralischer Überzeugungskraft zu implizieren, auf der anderen Seite wird aber auch seine Tauglichkeit bezweifelt: Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge sieht ihn eher als „politische(n) Kampfbegriff“ denn als „sinnvolle Neuinterpretation der sozialen Frage“ (Butterwegge 2006, 117.) Er sieht in diesem Begriff und seinem Erstarken das Bemühen, „‘Gerechtigkeit‘ nur noch horizontal oder temporal, aber nicht mehr vertikal (im Sinne der notwendigen Umverteilung von oben nach unten) zu denken und ihr damit jeden Stachel einer gesellschaftskritischen Fundamentalkritik und Alternativkonzeption zu nehmen.“ (Ebd.) Aus ethischer Perspektive stellt sich hier für manchen Zeitgenossen, so etwa Micha Brumlik (vgl. Brumlik 1995, 18), auf den später noch einmal zurückzukommen sein wird, die Frage, inwiefern wir eigentlich heute Verantwortung übernehmen können für die kommenden Generationen, für die, die noch nicht geborenen sind und die vielleicht auch nie geboren werden? Für andere wie etwa den Armutsforscher Richard Hauser (vgl. Hauser 2005) dagegen artikuliert sich in dem Begriff eine bislang unterbeleuchtete Facette des bereits erwähnten Begriffs der sozialen Gerechtigkeit. Es ist nun mein Anliegen, den Begriff der Generationengerechtigkeit innerhalb dieser breiten Palette an Verständnis- und Deutungsmöglichkeiten zu erläutern und zu verorten. Erschwerend für eine klare Begriffsdefinition kommt ein weitere Aspekt hinzu: Der Begriff der Generationengerechtigkeit wird für sehr unterschiedliche Zusammenhänge gebraucht: Wie bereits erwähnt, gibt es zunächst die ökologische Frage der Nachhaltigkeit – welchen Lebensraum hinterlassen wir unseren Kindern und Kindeskindern? Sodann geht es um die sozialpolitische Diskussion und die Frage, ob der derzeitige Modus der Altersabsicherung nach dem Umlageverfahren noch als gerecht angesehen werden kann, wie also die hier entstehenden Lasten auf die junge, mittlere und alte Generation gerecht verteilt werden kann. Schließlich geht es um einen dritten Bereich, der gerade gegenwärtig vor dem Hintergrund der aktuellen Banken-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die inzwischen zur Staatenkrise geworden ist, intensiv diskutiert wird, nämlich den der finanzwirtschaftlichen Perspektive und der Frage der Staatsverschuldung und der dadurch den nachkommenden Generationen hinterlassenen Schuldenlast. II. Christliche Sozialethik für Generationengerechtigkeit Die heute zu stellende (sozial-)ethische Frage ist nun nicht eine, die der Liste der bereits genannten vielfältigen Zugänge zur Problematik einen weiteren hinzufügt; Ethik ist nicht additiv zu sachlichen, politischen oder ökonomischen Fragen 165 zu verstehen, sondern stellt die Sichtweise dar, unter der die verschiedenen Aspekte geordnet und gewichtet werden, um sie dann wirksam werden zu lassen. Die christliche Sozialethik sieht sich in dieser Debatte in doppelter Weise verpflichtet: Es gehört zu ihrer spezifischen Signatur, daß sie keine eigenen und selbständigen technischen oder ökonomischen Lösungen anzubieten und Konzepte vorzulegen hat, kein spezifisches Modell etwa einer entsprechend ökologisch bzw. nachhaltig geprägten Sozialen Marktwirtschaft o.ä., dies ist Aufgabe der Politik bzw. der entsprechenden Fachwissenschaften. Wohl aber sieht sie sich mit den Menschen in dieser Welt und Zeit unterwegs und teilt mit ihnen ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihre Hoffnungen und Freude (vgl. GS 1). Die christliche Sozialethik ist die Disziplin innerhalb der Theologie, die mit philosophischen und theologischen Methoden nach der Gerechtigkeit von gesellschaftlichen Strukturen, Einrichtungen, Errungenschaften und Instrumenten fragt. Ob gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Vorgänge oder Strukturen dem Anspruch der Gerechtigkeit genügen, entscheidet sich dabei am Bezug auf die Würde des Menschen und auf das Gemeinwohl der Gesellschaft. Genau hier liegt auch der spezifisch theologische Anknüpfungspunkt: Der Kirche und ihrer Theologie geht es immer im Dialog mit den entsprechenden Fachwissenschaften um den Menschen, dessen Würde und Freiheit in der Gottebenbildlichkeit des Menschen und in seiner Geschöpflichkeit grundgelegt ist und die zum entscheidenden und bestimmenden Maßstab zu machen die Kirche als ihre vorrangige Aufgabe ansieht. Die Sorge um den Menschen ist es, die die Theologie als ihre spezifische Perspektive einbringt in Fragen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Maßstab ist das Humanum, auf das alles zentriert ist. Damit ist die zentrale Ausrichtung der christlichen Sozialethik auf den Menschen in seiner Würde und Freiheit, kurz: in seiner Personalität thematisiert. Der Mensch, so lautet der oberste Grundsatz kirchlicher Soziallehre, muß „der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. […] Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person.“ (MM 219 f.) III. Kontexte und Bereiche der Rede von Generationengerechtigkeit 1. Zur ökologischen Frage: Der Umgang des Menschen mit der Schöpfung Die Problematik der Generationengerechtigkeit wird bereits seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für das große Feld der Ökologie unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit diskutiert Es gibt eine Vielzahl von Aspekten, die für die ökologische Frage bedacht werden müssen, erwähnt sei hier nur allen voran der globale Klimawandel, denn er „ist bereits Realität. Die Menschen spüren seine Auswirkungen buchstäblich am eigenen Leib: Hitze und Dürre, Stürme und Starkniederschläge, Gletscherrückgang und Überschwemmungen, Ernteausfälle und Ausbreitung von Krankheiten. Der globale Klimawandel stellt die wohl umfassendste Gefährdung der Lebensgrundlagen der heutigen und in noch viel stärkerem Maße der kommenden Generationen sowie der außermenschlichen Natur dar.“ (Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. Kommission Weltkirche 2006; 2. Aufl. 2007, 5) 166 Weitgehend einhellig ist die Überzeugung, daß der Klimawandel und die damit einhergehende Bedrohung der Lebensgrundlagen der menschlichen und außermenschlichen Natur größtenteils von Menschen verursacht ist. Es gibt bereits vielfältige Maßnahmenkataloge, um eine Anpassung an die Folgen des anthropogenen, d.h. menschengemachten Klimawandels zu initiieren und die vom Klimawandel ausgehende Gefahr einzudämmen: Der Ausstoß von Treibhausgasen ist drastisch zu reduzieren, die systematische Abholzung der Regenwälder zu beenden, erneuerbare Energie zu beziehen etc. Das Problem des Klimawandels ist aber hinsichtlich unserer Frage gar nicht der Kern der Problematik, sondern vielmehr eine – allerdings sehr offenkundige und auch bedrohliche – Ausdrucksform eines individuellen Lebensstils und einer institutionellen und strukturellen Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, die in keiner Weise die angesprochenen Probleme in ihrer Tragweite im Blick hat. Im Hintergrund geht es um die fundamentale Erkenntnis, die die beiden Kirchen bereits 1997 gleich zu Beginn in ihrem gemeinsamen Sozialwort (Evangelische Kirche in Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz 1997) treffend formuliert haben: „Es genügt nicht, das Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu kurzfristigem Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative. Aber das individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht erschöpfen. Wer notwendige Reformen aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine existenzbedrohende Krise.“ (Nr. 1) Für den Bereich der ökologischen Frage, von Natur und Umwelt, impliziert dies die Frage, welche Welt, welche Schöpfung wollen wir den nachfolgenden Generationen übergeben? Im Kontext der ökologischen Thematik spielt nun die Sorge um die Natur als Schöpfung eine bedeutende Rolle, wobei die Rede von der Schöpfung als Gottes Schöpfung, dem Menschen als Lebens- und Entfaltungsraum gegeben und zum Bebauen und Kultivieren anvertraut, ein ursprünglich genuin christlicher Topos ist, der aber derzeit Konjunktur hat weit über den Umkreis derer hinaus, die sich einer solchen theistischen Weltdeutung verpflichtet fühlen (vgl. Honnefelder 2011, 1575). Christen können von ihrer Schöpfungsethik her und einer entsprechend geprägten Spiritualität und Grundhaltung der Natur gegenüber spezifische Impulse sowohl für ein individuelles Ethos als auch für eine angemessene strukturelle Gestaltung sozialer und wirtschaftlicher Ordnung geben. Nehmen wir nun den Maßstab ernst, der eben als Zentrum christlicher Sozialethik aufgezeigt wurde, nämlich den Menschen in seiner Würde, dann ergibt sich von daher eine weitere Präzisierung: Bei dem Bemühen um den Schutz der Schöpfung geht es sicherlich primär darum, dem Menschen seinen Lebensraum zu bewahren und zu erhalten. Um leben und überleben zu können, braucht der Mensch die Umwelt, er braucht alle anderen Kreaturen, er braucht die unbelebte Natur. Um des Menschen willen, der jetzt lebt, aber auch um des Menschen willen, der noch geboren werden wird, müssen Natur und Umwelt geschützt werden. Der Mensch als Geschöpf Gottes, von Gott mit Freiheit und Verantwortung ausgestattet, philosophisch gesprochen: als moralisches Subjekt, hat eine 167 immer schon mitzudenkende „Sonderstellung“, die aber wiederum – und das ist die Kehrseite dieser Medaille – auch die Verantwortung für diese Schöpfung impliziert. Diese Sonderstellung des Menschen ist ökologisch eingebunden und vernetzt. So weiß die christliche Ethik zugleich auch um den (abgestuften) Eigenwert der nichtmenschlichen Schöpfung, der nicht nur im Nutzen für den Menschen besteht. Es ist eine Gradwanderung, die Natur, hingeordnet auf den Menschen und sein Überleben, der aber wiederum die Natur in ihrem Eigenwert achtet und schützt. 2. Zur sozialpolitischen Frage: Der Umgang mit nachfolgenden Generationen „Generationen schließen keine Verträge; Generationen üben Solidarität“ (von Nell-Breuning 1981, 29) – dieser deutliche Satz stammt von keinem Geringeren als von dem berühmten Frankfurter Jesuiten und Sozialethiker Oswald von NellBreuning, der 1981 damit seine Position zur Frage intergenerationeller Gerechtigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Mit diesem Satz übte Nell-Breuning zugleich seine bekannte Kritik an dem Begriff und Konzept des Generationenvertrags, wie er von Wilfried Schreiber als Grundlage der Sozialversicherung für die Altersversorgung entwickelt und dann allerdings nur zur Hälfte von Konrad Adenauer übernommen wurde (die in dieser Struktur des Drei-GenerationenVertrags ebenfalls verortete Verantwortung für die jüngere Generation schob Adenauer mit dem berühmt gewordenen Bonmot beiseite: Kinder kriegen die Leute sowieso). Zu dieser Frage der Generationengerechtigkeit haben wir aus christlichtheologischer Perspektive Wesentliches beizutragen. Das vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ gibt dazu wichtige Hinweise: Wenngleich es in der jüngeren Tradition oftmals genutzt wurde als Unterstützung elterliche Autorität und Verstärkung kindlicher Gehorsamspflichten, so zielt es ursprünglich und primär auf die Versorgung alter Eltern durch die Erwachsenengeneration ab in einer nomadischen Gesellschaft, in der es keinerlei außerfamiliäre Versorgung gab. Aber das Verhältnis der Generationen insgesamt ist in diesem Gebot verpackt, es geht um die Altersversorgung, aber auch um die Achtung der jungen Menschen vor den Älteren, nicht zuletzt wegen ihres Vorsprungs an Erfahrung und Weisheit (Lehmann 2003, 24). Diese Achtung und Ehrerbietung ist auch nicht nur materiell gemeint. Zugleich geht es auch darum, daß die Älteren die Lebensmöglichkeiten der Jüngeren im Auge haben, sonst sind sie der Achtung nicht wert. Der Geist des Gebotes ist auf unsere pluralistische und individualisierte Gesellschaft zur spezifischen Charakterisierung des Generationenverhältnisses zu übertragen. Kommen wir zurück zum von Nell-Breuning kritisierten Begriff des Generationenvertrages. Er impliziert in seiner eigentlichen Bedeutung nicht einen Vertrag im juristischen Sinn, sondern eher „eine von den Generationen untereinander geübte und auch akzeptierte Solidarität.“ (Lehmann 2003, 14) Das Wesentliche dieses Vertrages in einem analogen Sinn ist, daß die mittlere, die erwerbstätige Generation sowohl an die ältere, nicht mehr erwerbstätige Generation als auch an 168 die jüngere, noch nicht erwerbstätige Generation einen Teil des eigenen Einkommens abgibt, um den alten Eltern und auch den eigenen Kindern die Existenz zu sichern. Zum Gelingen dieses Vertrages gehört notwendig und ursprünglich unausgesprochen die Voraussetzung dazu, daß die jetzt jüngere Generation, wenn sie einmal selbst die Generation der Erwerbstätigen stellt, erstens in gleicher Weise für die Generation ihrer Eltern sorgt und zweitens ebenfalls selbstverständlich für Nachwuchs und – um es ökonomisch auszudrücken – für die Reproduktion in der Gesellschaft sorgt. Geprägt ist dieses Modell einerseits von dem persönlichen Verantwortungsempfinden, das Eltern ihren Kindern und zugleich den eigenen Eltern gegenüber haben, zugleich aber auch von der daraus abgeleiteten strukturellen gesamtgesellschaftlichen Verpflichtungen der entsprechenden Generationen untereinander. Es geht nicht mehr nur um die Verantwortung in einer face-to-face-relation, sondern auch und vornehmlich um verläßliche Strukturen dieser Solidarität. Die erwerbsfähige Generation „vergilt“ einerseits der älteren Generation das, was sie zu Zeiten der eigenen Produktivität für die Kinder getan hat, sie investiert andererseits in die nachkommende Generation, damit diese dann für sie den Unterhalt im Alter bestreiten kann. Generationengerechtigkeit wird hier deutlich als strukturelle Gerechtigkeit gekennzeichnet. In der aktuellen sozialpolitischen Debatte zum Thema Generationengerechtigkeit taucht immer wieder der Hinweis auf die Notwendigkeit eines neuen Generationenvertrages auf. Ein neuer Generationenvertrag wird vor allem aufgrund des demographischen Wandels höchst dringlich, der (in Kombination mit anderen Faktoren wie Arbeitslosigkeit) diese Solidarität der Generationen untereinander auf eine deutliche Probe stellt. Es gibt ein zunehmendes Ungleichgewicht, ja deutliche Gerechtigkeitslücken im Verhältnis der drei Generationen zueinander. Zum einen wird aufgrund der zahlenmäßig stark anwachsenden älteren Generation die Belastung für die mittlere Generation größer, ja so groß, daß sie in absehbarer Zeit ohne Änderung wohl kaum noch zu schultern sein wird. Zum anderen gibt es vor allem im Blick auf Familien mit Kindern folgende Problematik: Solange Familie mit mehreren Kindern gesellschaftlich gesehen der „Normalfall“ waren und folglich die Leistungen, die diese „Keimzellen“ der Gesellschaft für eben diese Gesellschaft erbringen, selbstverständlich von fast allen (unentgeltlich) erbracht wurden, war dies auch ein unhinterfragter Bestandteil der Generationensolidarität, denn (nahezu) alle waren beteiligt an der Leistung für die Gesellschaft sowie auch an dem Profit, den die Gesellschaft davon hatte. Die gesellschaftlich relevanten Leistungen der Familie ergaben sich selbstverständlich und implizierten ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Diese Wechselseitigkeit ist heute aber einer starken Einseitigkeit gewichen, „die ‚Familienleistungen‘ (sind) nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der persönlichen Lebenspläne und des eigenen Glücks- und Wohlfahrtsstrebens der Menschen ..., sondern (werden) von einem zunehmend geringer werdenden Teil der Bürger ‚erbracht‘“ (Kleinhenz 1995, 125). Immer weniger Familien erbringen mithin diese Leistung für einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft. Die Familien sind also vor allem an der Erbringung der Leistungen beteiligt, kaum oder nicht 169 in genügendem Maße aber an den Effekten, speziell der sozialen Sicherung, die diese für die Gesellschaft haben: Kleinhenz (ebd., 120) spricht an dieser Stelle von der „‚Ausbeutung‘ der Familien“. Kinderlose erwerben mithin im Fall doppelter Erwerbstätigkeit durch ihre monetären Beiträge zur Rentenversicherung auch einen doppelten Anspruch auf Altersversorgung, wobei sie ihren generativen Beitrag, der für das Funktionieren des Umlagesystems konstitutiv ist und dem bereits zitierten Bonmot Konrad Adenauers zufolge selbstverständlich schien, nicht leisten. Hier wird zugleich offenkundig, daß diese große soziale Frage der Gegenwart nicht ausschließlich die Frage nach der intergenerationellen Gerechtigkeit, also nach der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, ist, sondern vielmehr auch die nach der intragenerationellen Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit also zwischen den Kinderlosen und den Eltern aus der jeweils gleichen Generation. Aus der Perspektive der Sozialpolitik stellt sich hier – und das sei nur angedeutet – die Frage, ob entweder die ältere Generation einen Teil der Belastungen selber übernehmen oder ob man das gesamte Verfahren ändern und auf ein kapitalgedecktes System umsteigen solle. (Vgl. Hauser 2005, 245.) Aber die sozialpolitische Sichtweise der Generationengerechtigkeit bleibt nicht allein auf das Verhältnis der – grob eingeteilt – drei jetzt lebenden Generationen beschränkt. Die Ansprüche auf künftige Rentenzahlungen werden als Staatsschuld im weiten Sinn zusammengefaßt und werden als Belastungen der kommenden Generationen bezeichnet und quantifiziert. Richard Hauser weist mit Recht darauf hin, daß „auch die öffentliche Diskussion […] immer mehr von der Vorstellung beherrscht (wird) daß wir ohne radikale Reformen unseren Kindern und Kindeskindern einen übermäßig hohen ‚Schuldenberg‘ hinterlassen würden.“ (Hauser 2005, 245.) Damit greift die Problematik der Generationengerechtigkeit auch in diesem Problemfeld über die jetzt Lebenden hinaus. 3. Zur finanzwirtschaftlichen Frage – Der Umgang mit der Staatsverschuldung Gerade angesichts der aktuellen Debatte um den Rettungsschirm für Griechenland, angesichts der EU-weiten Suche nach Möglichkeiten, Griechenland und weitere Länder im Euro-Raum mit Haushalts- und Verschuldungskrisen wie Irland, Portugal, Spanien und Italien vor dem Staatsbankrott zu bewahren, kommt die Frage der Staatsverschuldung verstärkt in den Blick – „die Staatsverschuldung, die in der Finanzwirtschaft und auch in der Politik als ein Instrument gesehen wird, eine bestimmte problematische Situation zu lösen. Wie jedes Politikinstrument hat auch die Staatsverschuldung bestimmte Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, die je nach Situation Probleme erzeugen oder aber lösen.“ (Gaschick 11.11.2011, 1.) Wie bereits erwähnt, wird in der Öffentlichkeit das Instrument der Staatsverschuldung weithin gleichgesetzt mit einem Schuldenberg, der den kommenden Generationen als Abzahlungslast ungerechtfertigter Weise aufgebürdet wird. Die Staatsverschuldung wird somit per se als Faktor großer Ungerechtigkeit angesehen – ob aber dadurch tatsächlich „Gerechtigkeitsprobleme zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft erzeugt werden“ (ebd., 2), ob also, das ist der 170 interessante Punkt in diesem Kontext, wirklich ein Gerechtigkeitsgefälle zwischen heute und zukünftig lebenden Generationen entsteht, ist aus wissenschaftlicher Perspektive erst noch einmal differenzierter zu untersuchen. Eine solche Untersuchung kann im Rahmen meines Beitrags selbstverständlich weder geleistet noch entsprechend differenziert dargestellt werden. Eine zu dieser Frage gerade entstehende Dissertation stellt heraus, daß man in diesem Kontext einerseits einen Blick auf die „impliziten Staatsschulden Deutschlands werfen“ könnte, wobei man dann „angesichts der großen Nachhaltigkeitslücke feststellen [würde]: Die heutigen Generationen leben auf Kosten der zukünftigen.“ (ebd., 2) Beim Blick auf die explizite, verbriefte Staatsverschuldung macht sie deutlich, daß es drei unterschiedliche Theorien gibt, die z.T. zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommen, was die Bewertung der Staatsverschuldung als Last für die kommenden Generationen angeht. Ihr Fazit lautet: „Wir können intergenerative Verteilungswirkungen nicht ausschließen, müssen also davon ausgehen, daß durch Staatsverschuldung zumindest eine gewisse Last in die Zukunft verschoben wird, daß sich mithin ein Gerechtigkeitsproblem zwischen heute lebenden und zukünftigen Generationen auftut.“ (ebd., 5). „Aus ökonomischer Sicht können wir feststellen: Die zukünftige Last besteht im geringeren Kapitalstock, im verlangsamten Wachstum, in weniger Realeinkommen, in weniger Konsum“. (ebd.) IV. Generationengerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit Nach diesen Überlegungen ist es an der Zeit, uns der Frage nach der ethischen Problematik genauer zu widmen. Was genau ist das Gerechtigkeitsproblem im Rahmen der aufgezeigten Bereiche, für die vor allem der Begriff der Generationengerechtigkeit Anwendung findet? Warum ist es ein Gerechtigkeitsproblem und welche Elemente sind für eine Lösung unverzichtbar mitzubedenken? Im Zentrum sozialethischer Reflexion steht die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, d.h. nach der Gerechtigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen. Im folgenden ist also zumindest kurz zu fragen nach dem christlichsozialethischen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das dem Stand der aktuellen gesellschaftlich-politischen und auch wissenschaftlichen Debatte entspricht. 1. Soziale Gerechtigkeit als Teilhabe und Teilnahme Diverse Untersuchungen zur christlichen Sozialethik heben seit einiger Zeit verstärkt darauf ab, daß ihr Kernbegriff, die soziale Gerechtigkeit, nicht, wie weithin in der gesellschaftlich-öffentlichen und in der Fachdiskussion (noch) verbreitet, primär als Frage der Herstellung ökonomischer Gerechtigkeitsverhältnisse (im Sinne der ökonomischen Gleichheit) und der staatlichen Verteilungspolitik bezeichnet werden kann. Zwar werden im klassischen Verständnis der Soziallehre – wie etwa bei Pius XI. – die Früchte der Bemühungen um mehr soziale Gerechtigkeit noch vorrangig im ökonomischen Bereich gesucht, doch hat die neuere Sozialverkündigung diese Konzentration allein auf ökonomische Fragestellungen auf der Basis ihres person-fundierten und -zentrierten, ethischen Ansatzes bereits deutlich als Engführung kenntlich gemacht. So interpretiert etwa 171 der hier wegweisend gewordene amerikanische Wirtschaftshirtenbrief von 1986 „Economic Justice for All“ die Formel von der „sozialen Gerechtigkeit“ durch die Formel von der „kontributiven Gerechtigkeit“ (contributive justice): Soziale Gerechtigkeit beinhaltet demnach, „daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft die Verpflichtung hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen.“ (Nationale Konferenz der Katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika 1986). Soziale bzw. kontributive Gerechtigkeit zielt also auf ein für jeden Menschen gegebenes Mindestmaß an Teilnahme und Teilhabe an Prozessen, Einrichtungen und Errungenschaften innerhalb der menschlichen Gesellschaft. M.a.W.: Jeder Mensch ist verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Gelingen (klassisch formuliert: zum gesellschaftlichen Gemeinwohl) zu leisten, und umgekehrt ist die Gesellschaft verpflichtet, eben dies zu ermöglichen. An dieser Stelle sei nur darauf verwiesen, daß hier das Sozialprinzip der Subsidiarität anklingt. Ähnlich urteilt die Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991, wo die Rede ist von der „Beteiligungsgerechtigkeit“, der „partizipativen Gerechtigkeit“ (Evangelische Kirche in Deutschland 1991). Eine ebenso umfassende Definition des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit findet sich in dem Sozialwort der beiden Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997, demzufolge der Begriff der sozialen Gerechtigkeit Folgendes besagt: „Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen.“ (Evangelische Kirche in Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz 1997, Nr. 111.) Es geht also letztlich darum, daß jeder Mensch eine menschenwürdige Existenz, frei von Exklusion und Demütigung, führen kann. 2. Der Bezug auf Freiheit und Menschenrechte Wird in ökonomisch verkürzender Weise der Begriff der sozialen Gerechtigkeit weitgehend mit Verteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt, dann besteht in diesem Denken die Funktion des Sozialstaates im wesentlichen darin, unter FairneßGesichtspunkten eine angemessene Umverteilung der Einkommen der Gesellschaft vorzunehmen. Für die Frage nach der Staatsverschuldung etwa oder der sozialpolitischen Problematik impliziert dies dann, daß der Sozialstaat nur darum bemüht ist und sein muß, die durch den Schuldendienst entstehenden Belastungen bzw. durch die höheren Ausgaben für die adäquate Versorgung der älteren Generation ggf. drohende materielle Mangelsituation der Betroffenen durch materielle Kompensation weitgehend auszugleichen. Die darüber hinausgehenden Folgen in ihrer personbezogenen Komplexität kommen hier gar nicht in den Blick. Die Erweiterung der Perspektive im Begriff der partizipativen Gerechtigkeit aber impliziert ein grundlegend anderes Verständnis: Nicht länger fordert Gerechtigkeit allein die (finanzielle) Kompensation von Mangelsituationen und Unfreiheit, sondern die Ermöglichung von Freiheit und die Eröffnung von Chancen. Nicht 172 länger geht es primär oder sogar ausschließlich um materielle Aspekte, sondern in der geänderten Perspektive ist das Anliegen – ohne die bleibende Notwendigkeit sozialstaatlicher Umverteilung gänzlich in Abrede stellen zu wollen – umfassender, nämlich Rahmenbedingungen bereitzustellen, die es ermöglichen, daß die Menschen ihre „Freiheits- und Partizipationsrechte überhaupt genießen und die im demokratischen Verfassungsstaat eröffneten Freiheitsräume gestalten (…) können.“ (Wildfeuer 2000, 304.) Soziale Gerechtigkeit meint also nichts anderes als „das fortgesetzte sittlichpraktische Bemühen um die Schaffung der Möglichkeitsbedingungen, unter denen sich Freiheit im sozialen Raum als Partizipation an allen sie betreffenden Vorgängen verwirklichen kann“ (Nothelle-Wildfeuer 1999, 85). Gehen wir von diesem Verständnis sozialer Gerechtigkeit aus, so stellt sich die Generationengerechtigkeit als die diachrone Dimension sozialer Gerechtigkeit dar. Es geht in der Tat darum, es auch den kommenden Generationen zu ermöglichen, daß sie ihre Freiheits- und Partizipationsrechte genießen und ihre Freiheitsräume gestalten können. Es geht um den Erhalt ihrer nicht nur physischen Lebensbedingungen. Anders als der eingangs bereits zitierte Armutsforscher Richard Hauser handelt es sich nach diesem hier vorgestellten Ansatz bei der Generationengerechtigkeit nicht um eine Facette der Sozialen Gerechtigkeit, die zu den bisher bekannten Facetten sozialer Gerechtigkeitsproblematik hinzukommt, sondern – umfassender – um deren diachrone Dimension, die notwendig mitzubedenken ist. Sie wird an den aufgezeigten Problemfeldern in besonderer Weise deutlich, ist aber nicht begrenzt auf diese. Sie trägt diese diachrone Dimension, die Zeitschiene, in alle Politikfelder als unverzichtbare Dimension ein. In diesem Sinne ist dann im Blick auf die Problematik der Last, die kommenden Generationen aufgebürdet wird, zu fragen, ob soziale Gerechtigkeit als Partizipation, als Realisierung der eigenen Würde und Freiheit für die kommenden Generationen, als Inanspruchnahme ihrer Menschen- und Grundrechte noch unverändert möglich ist, wenn die Staatsverschuldung zu Einbußen im Blick auf Wachstum, reales Einkommen und Konsummöglichkeiten führen, was dann aber auch und vor allem eine Einschränkung und Beschneidung des individuellen Handlungsspielraum bedeutet. Die im ersten Teil genannten Problemfelder von Generationengerechtigkeit sind also nicht ausschließlich, noch nicht einmal vorrangig aus finanziellen Gründen ein Gerechtigkeitsproblem, es geht nicht allein um Fragen der ökonomischen Gleichheit zwischen den jetzt und zukünftig Lebenden. Vielmehr geht es darüber hinaus um ihre freiheitlichen und der jeweiligen Würde entsprechenden Lebensmöglichkeiten. Aus spezifisch christlich-sozialethischer Perspektive geht es im Kontext der Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit immer auch um die Option für die Armen, für die, die am Rand der Gesellschaft stehen und die ihre eigenen Interessen, die Realisierung ihrer Freiheitsrechte, nicht artikulieren können. Von daher gibt es gerade für die kommenden Generationen aus dieser Option heraus eine besondere Verpflichtung, sich für sie und die Realisierungsmöglichkeit ihrer Rechte in der Zukunft verstärkt einzusetzen. 173 V. Anfragen an das Konzept von Generationengerechtigkeit Das so entwickelte Verständnis von Generationengerechtigkeit als diachrone Dimension von sozialer Gerechtigkeit muß sich innerhalb der gesellschaftlichen, politischen und auch wissenschaftlichen Debatte selbstverständlich diversen Anfragen stellen, auf die im folgenden noch kurz einzugehen ist. Wurde oben soziale Gerechtigkeit definiert als Bestreben, allen Menschen die Inanspruchnahme ihrer Freiheits- und Partizipationsrechte, d.h. ihrer Menschenund Grundrechte überhaupt zu ermöglichen, und impliziert die Rede von der Generationengerechtigkeit die Entfaltung dieses Ansatzes auch auf Zukunft hin, so bedeutet dies, „daß die kommenden Generationen Menschen- bzw. Grundrechte haben werden, die heute schon unmittelbare Konsequenzen für politisches Handeln besitzen.“ (Lienkamp 2008, 205.) An diesem Zusammenhang knüpft eine die ebenfalls einleitend bereits erwähnte zentrale Anfrage an, die der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Läßt sich gehaltvoll davon sprechen, daß Menschen, von denen heute niemand wissen kann, ob sie überhaupt jemals existieren werden, Rechte haben?“ (Brumlik 1995, 18) Eine Alternative zur Rede von Rechten stellt etwa die Rede von „Interessen“ der nachkommenden Generationen dar – so etwa in einem Gesetzesentwurf von 2006 von mehr als 100 Abgeordneten zur Einführung eines Artikels 20b im GG als Generationengerechtigkeitsgesetz –, oder die Rede von „Bedürfnissen“, etwa in Dokumenten der Vereinten Nationen. Brumlik gibt seine Antwort auf die von ihm formulierte Frage durch eine rhetorische Frage, die bereits seine Lösung der Problematik andeutet: „Wie soll andererseits eine langfristige Verantwortung für Natur und Gesellschaft gedacht werden, wenn den heute noch nicht bekannten, möglichen Menschen nicht mindestens ein schwacher moralischer Anspruch eingeräumt wird?“ (Brumlik 1995, 18). Das gemeinsame Sozialwort der beiden Kirchen von 1997 spricht darüber hinausgehend nicht nur von einem schwachen moralischen Anspruch, sondern vielmehr deutlich von dem Recht der künftigen Generationen auf ein Leben in intakter Umwelt. Daß dieses sog. Recht der dritten Generation in einem strikt juristischen Sinn wiederum höchst problematisch ist, liegt auf der Hand, ist doch nicht zu klären, wer der Adressat eines solchen Rechts sein kann. M.E. ist auch eher angemessen, wenn es tatsächlich um Rechte geht, hier die Freiheits- und Teilhaberechten der kommenden Generationen in den Blick zu nehmen. Entscheidend ist nach meinem Dafürhalten auf jeden Fall, daß selbstverständlich auch im Blick auf die kommenden Generationen und die zukünftig lebenden Menschen von Menschenrechten gesprochen werden kann, kommen diese doch aufgrund der für alle Menschen gleichen Menschenwürde auch allen Menschen gleichermaßen zu. Selbstverständlich impliziert die Universalität der Menschenrechte nicht nur die räumliche, globale, weltweite Ausweitung der Gültigkeit, sondern auch die zeitlich unbegrenzte Gültigkeit. Eine Begrenzung der Verpflichtung, diese Menschenrechte mit in den Blick zu nehmen, auf die nächsten zwei oder drei Generationen scheidet damit auch aus. Es kann keine Befristung oder abgestufte Gültigkeit geben. 174 Die eben erwähnte Rede von den Rechten der dritten Generation, wie z.B. Recht auf eine intakte Umwelt, das ein nicht einklagbares, nicht justitiables Recht darstellt und von daher eher eine moralische Verpflichtung impliziert, ist deswegen allerdings keineswegs unbedeutend. Gerade das Fehlen eins direkten Adressaten, dem gegenüber man dieses Recht einklagen könnte, macht zugleich deutlich, daß die Realisierung sozialer Gerechtigkeit auch in diachroner Perspektive nicht einfach nur eine Aufgabe des Staates ist, das würde eine etatistische Verkürzung des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit darstellen. Vielmehr ist es immer auch eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft, auch den kommenden Generationen eine Welt mit adäquaten Rahmenbedingungen zur Realisierung von Freiheit und Partizipation zu ermöglichen. Ein weiterer Einwand sieht die Rede von Rechten erst dann als gerechtfertigt und möglich an, wenn die Rechtssubjekte auch entsprechende Pflichten übernehmen können. Hier ist rein formal zunächst einzuwenden, daß dieses Argument so nicht haltbar ist, denn deutschen Rechtsordnung zufolge haben bereits ungeborene Menschen Rechte (z.B. das Recht auf Leben oder Erbrecht), ohne daß dem konkrete Pflichten korrespondieren. Aus einer systematischen Perspektive ist ferner darauf zu verweisen, daß zwar selbstverständlich Rechte und Pflichten miteinander korrespondieren, daß aber damit nicht die Engführung auf die Entsprechung in einer gleichen Generation gemeint ist. Vielmehr kann man mit Verweis auf das Konzept der Tauschgerechtigkeit des Tübinger Philosophen Otfried Höffe von einem phasenverschobenen Gerechtigkeitsverständnis sprechen: die zukünftig lebenden Menschen, für die heute bereits Rechte geltend gemacht werden, haben zu ihren Lebzeiten wiederum Pflichten den dann gegenwärtig und zukünftig lebenden Generationen gegenüber, genauso wie die jetzt lebenden Generationen bereits Rechte den damals Lebenden gegenüber hatten, als sie noch nicht existierten. Gelten Menschenrechte von Natur aus, also ohne Bindung an irgendwelche Konditionen oder Erfüllung von Voraussetzungen, dann sind sie selbstverständlich auch nicht abhängig davon, ob sie schon von den Rechtssubjekten selbst als Anspruch geltend gemacht werden können. Auch hier hilft der Blick auf die Rechte von Menschen mit Behinderung, von Säuglingen und Kindern etc. 6. Fazit: Generationengerechtigkeit als Prüfstein allen Handelns Generationengerechtigkeit meint in ethischer Hinsicht soziale Gerechtigkeit in diachroner Perspektive (vgl. Veith 2006, bes. 161-167). Es geht um die aus der universalen Geltung der Menschenrechte erwachsende Verpflichtung, dem heute schon geltenden Anspruch der nachfolgenden Generationen gerecht zu werden und ihnen Lebensräume offen zu halten, die ihnen die Realisierung ihrer individuellen Freiheit zu ihrer jeweiligen Zeit genauso ermöglichen wie es uns gegenwärtig ermöglicht wird. Dabei gibt es keine zeitliche Einschränkung und auch keine unterschiedliche Gewichtung der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft, wie es so häufig im politischen Handeln passiert. Keinesfalls geht es darum, daß mit diesem Verständnis von Generationengerechtigkeit den Menschen vorgeschrieben werden soll, welches konkrete Lebenskonzept sie leben 175 sollen, Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, daß aufgrund der allen gleichen und sich nicht prinzipiell ändernden condition humaine auch bei allen die annähernd gleichen basalen Bedürfnisse und Interessen zu unterstellen sind. Es geht um „Rechte auf Grundgüter, welche die Bedingung der Möglichkeit (guten) menschlichen Lebens darstellen“ (Lienkamp 2008, 206), um transzendentale bzw. konditionale Güter. Für das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Handeln bedeutet damit das Verständnis von Generationengerechtigkeit auch nicht das Hinzufügen eines weiteren Feldes, das neben vielen anderen auch – noch – bearbeitet werden muß, für das es spezifische Lösungskonzepte zu entwickeln gälte. Es geht vielmehr um die Perspektive, aus der heraus alle anstehenden Fragen zu bedenken sind: Wurde oben bereits gesagt, daß das Humanum der entscheidende Maßstab für alles Handeln ist, so gilt dies uneingeschränkt weiter, das Konzept der Generationengerechtigkeit zeigt nur dessen diachrone Dimension und die ethische Relevanz der Zeit in den Blick. Alles, was wir tun, ist auf die Konsequenzen für die kommenden Generationen hin zu prüfen – nicht mehr und nicht weniger besagt der Maßstab der Generationengerechtigkeit. Wir brauchen nicht nur ein gendermainstreaming, sondern auch ein intergenerational mainstreaming. Literatur Birnbacher, Dieter; Brudermüller, Gerd (Hg.) (2001): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann. Birnbacher, Dieter; Schicha, Christian (2001): Vorsorge statt Nachhaltigkeit. Ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung. In: Birnbacher, Dieter; Brudermüller, Gerd (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 17-33. Brumlik, Micha (1995): Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Frankfurt. Butterwegge, Christoph (2006): Generationengerechtigkeit – politischer Kampfbegriff oder sinnvolle Neuinterpretation der sozialen Frage? Kritische Anmerkungen zu einem Kernaspekt des aktuellen Gerechtigkeitsdiskurses in Deutschland. In: Eissel, Dieter; Grasse, Alexander; Ludwig, Carmen; Dietz, Berthold (Hg.): Soziale Gerechtigkeit. Reformpolitik am Scheideweg : Festschrift für Dieter Eissel zum 65. Geburtstag. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 117-128. Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. 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Nationale Konferenz der Katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika (1986): Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle: Die Katholische Soziallehre und die amerikanische Wirtschaft. o.O. (Bonn) (Stimmen der Weltkirche, Nr. 26). Nell-Breuning, Oswald von (1981): Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. In: Nell-Breuning, Oswald von; Fetsch, Cornelius G. (Hg.): Drei Generationen in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. Köln, S. 27-42. Nothelle-Wildfeuer, Ursula (1999): Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft. Paderborn: Schöningh (Abhandlungen zur Sozialethik, 42). Veith, Werner (2006): Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung. Stuttgart: Kohlhammer. Wildfeuer, Armin G. (2000): Um der Freiheit willen: Zur legitimationstheoretischen Rekonstruktion eines originären Erziehungs- und Bildungsauftrages des freiheitlichdemokratischen Verfassungsstaates. In: Nothelle-Wildfeuer, Ursula; Glatzel, Norbert (Hg.): Christliche Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Grafschaft: Vektor-Verlag, S. 297-316. Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Freiburg. 177 Ulrich Schlie Streitkräfte als Instrument nationaler Sicherheitsvorsorge Zur Neuausrichtung der Bundeswehr I. Wozu braucht Deutschland eigentlich Streitkräfte? Zehn Jahre, vom Kriegsende 1945 bis zum Beitritt in die Nordatlantische Allianz im Jahr 1955, ist Deutschland in Folge der politisch-militärischen Totalkapitulation und der moralischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ganz ohne Streitkräfte ausgekommen. Die Ausgangslage für die Bundeswehr – auch dieser Name ist den bescheidenen Ansprüchen einer besonderen politischen Konstellation geschuldet – war vor diesem Hintergrund nicht unbedingt günstig. Der Bruch mit den unheilvollen militärischen Traditionen der Wehrmacht und die Bindung des Dienstes in den Streitkräften an die Normen und Werte des Grundgesetzes wurden folglich zur Leitlinie bei der Aufstellung der Bundeswehr. Die Konzeption der Inneren Führung und das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform stehen dafür als einprägsame Formeln. „Die Bundeswehr schön friedlich“ war lange Zeit der Slogan in den Zeiten des Kalten Krieges. Für das Zeitalter, das mit den dramatischen Veränderungen nach dem 9. November 1989 – und erst recht seit dem 11. September 2001 angebrochen ist – war diese Formel indes nie tauglich. Wurde Anfang der 1990er Jahre noch in der Öffentlichkeit bisweilen über die nicht ausbezahlte Friedensdividende geklagt, so war bald darauf klar, daß sich das wiedervereinigte Deutschland einer Vielzahl insbesondere internationaler Verpflichtungen nicht entziehen konnte. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden zum Beschleuniger für die neue Rolle des wiedervereinigten Deutschland, und sie beschreiben eine allmähliche Entwicklung, die sich über Somalia, das ehemalige Jugoslawien, Afghanistan und die Küsten des Libanon bis in unsere Gegenwart fortgesetzt hat. Eine wirklich große Debatte über Sicherheitspolitik hat es indes in Deutschland seit 1990 nie gegeben, allenfalls punktuelle Diskussionen mit großer Anteilnahme, im Zusammenhang mit Flüchtlings- und humanitären Katastrophen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, 1995 in Bosnien-Herzegowina und 1999 im Kosovo. Wenn jetzt die Neuausrichtung der Bundeswehr durch Bundesminister de Maizière zu einem Nachdenken über den Auftrag, die Zielsetzung und die künftigen Herausforderungen für deutsche Streitkräfte führt, so liegt darin zugleich eine Chance für die Bundeswehr und für die Verbreiterung des sicherheitspolitischen Verständnisses der Deutschen insgesamt. Denn das Bewußtsein, daß Streitkräfte ein unentbehrliches Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes sowie Grundlage des Selbstbehauptungswillens und der Verteidigungsbereitschaft der Nation sind, ist Voraussetzung dafür, daß die richtigen Weichenstellungen getroffen wer178 den und die Besonderheiten soldatischen Dienens durch die Gesellschaft anerkannt und gewürdigt werden. Es schadet deshalb nicht, sich zunächst die grundlegenden Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik ins Gedächtnis zu rufen. II. Ziel deutscher Sicherheitspolitik ist seit jeher die Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand. Die Aufgaben der Bundeswehr leiten sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Auftrag und den Zielen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ab. Der Wandel der Streitkräfte vollzieht sich im Einklang mit den sicherheitspolitischen Grundentscheidungen und im festen Verständnis der bewährten Prinzipien und militärischen Traditionen. Bestimmend dafür bleibt, daß Deutschland sich als gestaltendes Mitglied zur atlantischen Allianz als dem Grundpfeiler seiner Verteidigung bekennt und zur Gestaltung und weiteren Vertiefung der Europäischen Union sowie zur Fortentwicklung und Stärkung der Vereinten Nationen beitragen wird. Das sich wandelnde strategische Umfeld, neue Risiken und Gefährdungen, auch jenseits des Militärischen, der internationale Terrorismus, zerfallende Staaten ebenso wie Krisen und Konflikte außerhalb der Europäischen Union und des Bündnisgebietes stellen Deutschland und seine Partner heute vor immer neue Herausforderungen. Sicherheit und Wohlstand hängen in einem immer stärkeren Maße als früher von den Entwicklungen der übrigen Welt ab. Damit eröffnen sich neue Gestaltungsspielräume, aber auch neue Gefährdungen treten hervor. Dies alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Fähigkeiten, Umfang und Strukturen der Streitkräfte und die Ausgestaltung der Wehrform. Zu den planerischen Unwägbarkeiten gehört, daß niemand die Zukunft vorhersagen kann, unvorhergesehene Ereignisse jederzeit zu Trendwendungen führen und neue Schwerpunktsetzungen hervorrufen können. Umso wichtiger ist es, über eine klare Vorstellung seiner Interessen und Ziele zu verfügen und zu wissen, mit welchen Streitkräften am besten auf die Szenarien von heute und morgen reagiert werden kann. Der strategische Rahmen für den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr als Teil der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien beschrieben. Sie formulieren die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und die langfristigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Sie gründen auf einer Beurteilung der gegenwärtigen Lage, beziehen gegenwärtige sowie wahrscheinliche künftige Entwicklungen ein und sind Ausgangspunkt für eine Überprüfung der gegenwärtigen Fähigkeiten, Verfahren und Strukturen der Bundeswehr, die auch weiterhin in regelmäßigen Abständen erfolgt. Sie bilden die verbindliche Grundlage für die Konzeption der Bundeswehr und für alle weiteren Folgearbeiten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011 stehen in der logischen Folge des Weißbuches der Bundesregierung von 2006 als nationalem Dachdokument, das den strategischen Rahmen für den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr als Teil gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge beschreibt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien stellen zu Recht heraus, daß Deutschlands Sicherheit untrennbar 179 mit der politischen Entwicklung Europas und der Welt verbunden ist. Der Gedanke, daß Deutschland seine sicherheitspolitischen Ziele und Interessen nur zusammen mit seinen Partnern erreichen kann, ist deshalb leitend für die Aufgaben und das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und bildet den roten Faden der Neuausrichtung. Die strategischen Überlegungen folgen einer sicherheitspolitischen Bedrohungsanalyse, der Beurteilung der geostrategischen Lage, und sie haben unmittelbare Rückwirkungen auf Streitkräfte, insbesondere auf deren Umfang, Strukturen, Wehrform und Ausrüstung. Die gestaltende Mitwirkung in den internationalen Organisationen ist unmittelbar mit der nationalen Sicherheit verbunden und damit auch Garant für den Wohlstand des Landes. Dies setzt eine enge Abstimmung mit den Partnern voraus. Fähigkeitsorientierte und im multinationalen Rahmen einsetzbare Streitkräfte werden künftig in deutlich größerem Umfang als bisher in der Lage sein, den Bündnisverpflichtungen Deutschlands nachzukommen. Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr orientieren sich an einem neuen, breiteren Verständnis von Sicherheit sowie von Risiken und Bedrohungen. Strategische Unwägbarkeiten erfordern heute von den Streitkräften der Zukunft höhere Flexibilität. Das Ziel bleibt die Wahrung deutscher Sicherheitsinteressen. Diese ergeben sich aus der Geschichte, der geographischen Lage und den internationalen Verflechtungen der Ressourcenabhängigkeit des Landes als Hochtechnologiestandort und rohstoffarme Exportnation. Sie sind nicht statisch, sondern müssen an das sich wandelnde strategische Umfeld angepaßt werden. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien legen erstmals einen nationalen „Level of Ambition“ als verbindliche Grundlage für die Konzeption der Bundeswehr und gesamte Ausplanung der Streitkräfte fest. Die Fähigkeit, auf zusätzliche Herausforderungen angemessen reagieren zu können, ist Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit. Dazu ist das Spektrum des Fähigkeitsprofils „breit“ angelegt, kann im Umfang und nach Einsatzdauer jedoch differenziert ausgeplant werden. Die Durchhaltefähigkeit ist dabei von der Form des Einsatzes abhängig. Bestimmte Kräfte werden nur in der Anfangs- oder Endphase einer Operation benötigt, andere dauerhaft. Der Einsatz der Streitkräfte im Rahmen von Krisenvorsorge und bewältigung bleibt strukturbestimmend. Hierzu sind zukünftig streitkräftegemeinsame, eskalations- und durchsetzungsfähige Kräfte erforderlich, die gleichzeitig für Einsätze in unterschiedlichen Einsatzgebieten zur Verfügung stehen. Dafür wird die Bundeswehr zeitgleich rund 10.000 Soldaten durchhaltefähig vorhalten. Darüber hinaus sind auch weiterhin Kräfte für deutsche Anteile an der NATO Response Force, der EU Battlegroup, dem United Nations Standby Arrangement-System, zur Rettung, Evakuierung und Geiselbefreiung im Ausland sowie zur Überwachung und Sicherheit im deutschen Luft- und Seeraum vorgesehen. III. Damit sind die Ausgangslage und der Auftrag der von Bundesminister zu Guttenberg begonnenen und von seinem Nachfolger de Maizière fortgesetzten Neuausrichtung der Bundeswehr beschrieben. Ganz wesentlich hat sie zum Ziel, 180 die Bundeswehr so aufzustellen, daß sie auf die strategischen Herausforderungen der Welt der Gegenwart ausgerichtet ist, und dies bedeutet in der Praxis, die Bundeswehr so aufzustellen, daß sie ihre Aufgaben künftig besser erfüllen kann als bisher. Es geht deshalb darum, Fähigkeiten, Strukturen und Prozesse konsequent und umfassend auf die Erfordernisse des Einsatzes auszurichten. Leitidee ist dabei das Verständnis, daß Deutschland Streitkräfte braucht, die modern, leistungsstark, wirksam und finanzierbar sind, die auf die gegenwärtigen Situationen reagieren können und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen anzupassen. In den im Mai 2011 verabschiedeten „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ ist die inhaltlich-strategische Begründung für die Neuausrichtung auf die einprägsame Formel „Nationale Interessen wahren – internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten“ gebracht worden. Im Herbst folgten die Stationierungsentscheidungen nach. Die endgültige Einnahme der neuen Struktur wird voraussichtlich fünf bis sieben Jahre dauern. Die Konturen indes stehen fest. Dazu zählt der künftige Gesamtumfang von 185.000 Soldaten, der sich aus 170.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie einem festen Anteil von 5.000 freiwilligen Wehrdienstleistenden und einem variablen Anteil von bis zu 10.000 weiteren freiwillig Dienstleistenden zusammensetzt. Die neuen Umfangszahlen der Teilstreitkräfte und militärischen Organisationsbereiche tragen dem in den Verteidigungspolitischen Richtlinien umrissenen Auftrag der Bundeswehr Rechnung: Das Heer ist mit 55.750 Soldaten, die Luftwaffe mit 22.550 Soldaten, die Marine mit 13.050 Soldaten, der Sanitätsdienst mit 14.620 Soldaten und die Streitkräftebasis mit 36.750 Soldaten ausgeplant. Hinzu kommen künftig 30.460 Soldatinnen und Soldaten, die sich turnusmäßig in Ausbildung befinden oder in den anderen Organisationsbereichen (insbesondere Personal, Infrastruktur und Dienstleistungen sowie Rüstung, Nutzung, Informationstechnologie) zugeordnet werden. Zudem wird es künftig nur noch 55.000 zivile Mitarbeiter – Beamte, Angestellte und Arbeiter – gegenüber heute knapp 100.000 geben. Wer eine Vergleichsrechnung anstellt, wird diese Zahl zum Gesamtumfang hinzuaddieren müssen. Die Bundeswehr liegt damit im internationalen Vergleich nahezu gleichauf mit den britischen Streitkräften, deren Gesamtstärke von 264.300 sich in einem militärischen Anteil von 178.500 sowie in einen sich auf 85.800 belaufenden Anteil für Zivilpersonal aufteilt. Im Verhältnis zwischen Militär zu Zivilpersonal – grosso modo in Deutschland schon vor der Neuausrichtung 3:1 – schneidet die Bundeswehr im Vergleich mit Großbritannien (2:1) und den USA (1,5:1) sogar deutlich besser ab. Die Bundeswehr wird also durch die jetzt erfolgte Reform weder „verzwergt“, noch wird sie in ihrer Aufgabenwahrnehmung begrenzt. Manche kritische journalistische Zuspitzung in diese Richtung entbehrt ihrer Grundlage. IV. Die konsequente Einsatzorientierung und Erfüllung der Bündnisverpflichtungen, insbesondere mit Blick auf eine größere europäische Lastenteilung und eine Steigerung der Wirksamkeit der europäischen Verteidigungsausgaben, ist dabei bestimmendes Prinzip. Die durchgängige bundeswehrgemeinsame Auftragserfüllung 181 mit dem Ziel größtmöglicher Effizienz zählt zu den leitenden Prinzipien der Neuausrichtung der Bundeswehr. Die Prämisse, daß Deutschland seine Interessen maßgeblich wahrnimmt über seinen gestaltenden Beitrag zu den Bündnissen und Organisationen, denen es angehört – insbesondere Nordatlantische Allianz, Europäische Union und Vereinte Nationen, hat in der Praxis weitreichende Konsequenzen. Für alle Bündnisse und supranationalen Organisationen gilt zunächst: Sie sind nur so stark, wie es das Engagement ihrer Mitglieder zuläßt. Bündnissolidarität, Bündnistreue, Bündnispflege sind seit jeher die organisierenden Prinzipien deutscher Sicherheitspolitik. Innere Ordnung und übernationales Zusammenwirken sind miteinander verbunden. Deutschlands Platz ist die Wertegemeinschaft des Westens, ein starkes Europa, das politisch zusammenfindet, Alleingängen und Gegenmachtphantasien eine Absage erteilt hat und den Vereinigten Staaten echter Partner ist. Vor diesem Hintergrund ist es deshalb naheliegend, daß die Entwicklungen in der Nordatlantischen Allianz und der Europäischen Union bestimmend für die Neuausrichtung der Bundeswehr sind. Im Atlantischen Bündnis bildet insbesondere der im Herbst 2010 auf dem Lissabonner Gipfel mit dem Strategischen Konzept bekräftigte Konsens dafür die Richtschnur. Im neuen Strategischen Konzept der Allianz wird der Bedrohungsrahmen der Gegenwart beschrieben, und es werden Folgerungen für die Aufgaben des Bündnisses im 21. Jahrhundert gezogen. Kollektive Verteidigung, Krisenbewältigung und kooperative Sicherheit durch Ausweitung der Partnerschaftspolitik stellen dabei und auch künftig die wesentlichen Aufgaben. Damit wird der sich seit Jahren abzeichnende Trend der Transformation der Nordatlantischen Allianz von einer einst rein militärisch geprägten Verteidigungsorganisation zu einem weltweit agierenden Bündnis beschrieben. Die Aufgaben der kooperativen Sicherheit gewinnen dabei immer mehr an Gewicht. Dies bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Anforderungen an Streitkräfte mit Blick auf Einsatzfähigkeit, Mobilität und Durchhaltefähigkeit, und es steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anspruchsrahmen der Allianz, grundsätzlich über Fähigkeiten zu verfügen, die großangelegte und mehrere kleinere gemeinsame Streitkräfte– Operationen im gleichen Zeitraum und im gesamten Intensitätsspektrum zu ermöglichen. Im Herbst 2010 wurde deshalb in Lissabon ein ganzes Bündel Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeiten verabschiedet und im „Lisbon Capability Package“ zusammengefaßt. Die strategische und operative Luftaufklärung, Seetransport, Lufttransport mit Transportflugzeugen und mittleren Transporthubschraubern einschließlich der Luftbetankung, Combat Search and Rescue, Spezialkräften Cyber Operation Forces: auf all diesen Feldern ist die europäische und transatlantische Arbeitsteilung noch ausbaufähig. Mit ihrer Partnerschaftspolitik hat die Allianz zudem bewiesen, daß sie jenseits der Vollmitgliedschaft über Kooperationsangebote und -formen verfügt, die sie in die Lage versetzt, jenes weltweite Netz der Sicherheit zu spannen, von dem einst Zbigniew Brzezinski gesprochen hat. Ohne Partner könnte die Allianz heute ihre Missionen – nicht nur in Afghanistan – nicht erfüllen. Der Kern der Allianz ist seit jeher die transatlantische Partnerschaft, und 182 es trifft sich gut, daß diese Kernpartnerschaft heute um eine Vielzahl von Partnerschaften „across the globe“ ergänzt wird. Denn nur im Rahmen der „Kooperativen Sicherheit“, wo nötig auch mit entfernten Partnern „across the globe“, kann den neuen globalen Bedrohungen entgegengetreten werden. Wenn überall der Ruf nach Effizienz und Wirtschaftlichkeit ergeht, dann ist es konsequent, daß in Europa die Verteidigungsanstrengungen noch mehr gebündelt, Aufgaben gemeinsam oder arbeitsteilig wahrgenommen werden. Denn kein Staat in Europa kann seine Sicherheit langfristig aus eigener Kraft gewährleisten. Es wäre deshalb an der Zeit, auch bei Fragen der Sicherheit und Verteidigung in der Zusammenarbeit zu einem großen Sprung anzusetzen und Europa zu der Rolle zu befähigen, die seinem wirtschaftlichen und strategischen Gewicht als Partner Amerikas entspricht. Dies hätte zweifelsohne weitreichende industriepolitische und politisch-strategische Auswirkungen. Wie viele auch weltanschaulich begründete Vorbehalte dabei noch zu überwinden sind, zeigt das Thema der Verbesserung der Planungs- und Führungsfähigkeit der EU. Ohne permanente und somit eingespielte zivil-militärische Hauptquartiere ist die Führung komplexer Operationen nicht möglich. Konsequenterweise werden deshalb als Ergebnis der Gent-Initiative von 2010 Paketlösungen sowohl auf der strategischen als auch auf der operativen Führungsebene untersucht, die insgesamt die Fähigkeit der EU zum vernetzten Handeln deutlich erhöhen. Im Fokus steht dabei insgesamt eine Priorisierung von Fähigkeiten entlang dreier zentraler Fragestellungen: 1. Wie können wir Redundanzen abbauen, z.B. Ausbildung gemeinsam effizienter und effektiver gestalten? 2. Welches sind unsere jeweiligen nationalen militärischer Kernfähigkeiten, die wir auch künftig in nationaler Verantwortung stellen wollen, wie z.B. militärische Evakuierungsoperationen? 3. Auf welche Fähigkeiten könnten wir künftig national verzichten, weil sie besser von anderen Partnern erfüllt werden können? Die Ergebnisse fließen in die konkrete Streitkräfteplanung ein, und sie haben natürlich unmittelbare Folgerungen für die nationale Rüstungsindustrie genauso wie für die nationale Streitkräfteplanung. Vor dem Hintergrund von Kürzungen der Verteidigungshaushalte in den meisten Staaten und im Bewußtsein, daß von gemeinsamem militärischem Handeln entscheidende Impulse für die europäische Einigung ausgehen, orientiert sich die Neuausrichtung an den europäischen Streitkräftezielen. Dies bringt es mit sich, daß insbesondere in den Bereichen Beschaffung, Ausbildungsorganisation, Logistik, Transport, Aufklärung und Nachrichtengewinnung in noch stärken Maße als bisher mit dem Ziel der Schaffung gemeinsamer Streitkräftestrukturen zwischen den Nationen zusammen gearbeitet wird. Die Erfordernisse des Wirkens von deutschen Kontingenten in multinationalen Verbänden und die Pflege der Fähigkeit zur Übernahme von Führungsfunktionen in multinationalen Verbänden sind dabei von besonderer Bedeutung. Ein weiteres Aufgabengebiet bildet die Fortentwicklung des EU Battlegroup Konzepts. Eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, etwa im Format des Weimarer Dreiecks, könnte hier den Weg in die Zukunft skizzieren. 183 Der ganzheitliche zivil-militärische Ansatz in der internationalen Krisenbewältigung ist eine weitere der Lehren aus allen Einsätzen der letzten Jahre in NATO und EU, auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan. Streitkräfte können zwar die Voraussetzungen für politische Lösungen schaffen, sind aber nicht in der Lage, diese zu ersetzen. Besonders der Afghanistan-Einsatz hat gezeigt, daß Streitkräfte allein keinen Frieden stiften können. Es gibt heute kaum eine militärische Operation, die nicht mit einer breiten zivilen Anstrengung verbunden ist. Umgekehrt braucht ziviler Aufbau in Krisenregionen zumeist militärische Unterstützung und Schutz. In diesem ganzheitlichen Ansatz, dem Comprehensive Approach, ist die EU der NATO grundsätzlich überlegen. Jene verfügt über eine Palette an Instrumenten, die der NATO fehlen, für effektives Krisenmanagement aber unerläßlich sind: Einen weltweit aufgestellten auswärtigen Dienst, enorme Mittel zur wirtschaftlichen Unterstützung, für humanitäre und Entwicklungshilfe, Polizeikontingente und Streitkräfte. Die Allianz wiederum besitzt ein unübertroffenes militärisches Potential und sichert den Europäern die Unterstützung Nordamerikas. Der ganzheitliche Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ verbindet die konzeptionellen Vorgaben der Nordatlantischen Allianz mit den Entscheidungen der Neuausrichtung der Bundeswehr. Die neue Übergangsstrategie für Afghanistan ist dafür im besten Sinne Beispiel. Damit die NATO effizient mit anderen Organisationen zusammenarbeiten oder selbst einige zivile Aufgaben übernehmen kann, wenn sie muß, erhalten ihre militärischen Hauptquartiere jetzt auch eine Analyse- und Planungskapazität aus zivilen Experten. V. Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat damit nicht zuletzt signifikante Auswirkungen auf die materielle Ausstattung in Qualität und Quantität. Militärische Anforderungen, abgeleitet aus den Einsatzerfahrungen und den Analysen zu wahrscheinlichen künftigen Einsätzen, fordern auch weiterhin eine kontinuierliche Anpassung und Modernisierung. Der Bedarf der Streitkräfte ist daher der Maßstab für die Ausstattung und bestimmend für die Kooperationen mit der Industrie. Die entscheidende Ressource der Bundeswehr von morgen bleibt indes ihr Personal: Gut ausgebildete, motivierte, leistungsfähige Menschen sind und bleiben das Rückgrat jeder Streitkräfte. Eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr besteht deshalb darin, sie als attraktiven Arbeitgeber zu erhalten. Unter den gegebenen demographischen Entwicklungen ist dies eine strategische Herausforderung. Attraktivität kann indes nur erzielt werden, wenn eine aktive Personalpolitik und Fürsorge Anreize zu schaffen versteht und ein gesamtgesellschaftliches Klima sichergestellt ist, in dem das Ansehen der Streitkräfte erhalten und die Besonderheiten des soldatischen Dienens auf angemessene Weise gewürdigt werden. Damit die Angehörigen der Bundeswehr unterstützt werden, die reformbedingten Belastungen zu bewältigen und um eine sozialverträgliche Personalanpassung zu erreichen, hat Bundesminister de Maizière in einem Bundeswehrreform-Be- 184 gleitgesetz Maßnahmen und Instrumente zusammengefaßt, die wesentlich für die Verwirklichung der Neuausrichtung sind. Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat weitreichende Auswirkungen auf das militärische und zivile Personal. Neben einer deutlichen Reduzierung des Gesamtumfangs der Streitkräfte sowie des zivilen Personals ist eine grundlegende Umstrukturierung des gesamten Personalkörpers erforderlich, damit das Ziel einer stärkeren Einsatzausrichtung und Effizienzsteigerung erreicht werden kann. Dieser personelle Anpassungsprozeß ist durch den Dreiklang von Abbau, Umbau und Aufbau gekennzeichnet. Eckpunkt der Reform ist dabei die notwendige Umfangreduzierung im Bereich der Berufssoldaten und Beamten, die bis zum Jahr 2017 erreicht werden soll. Vorrangig wird für das Personal, das in den neuen Strukturen der Bundeswehr keine originären Aufgaben mehr finden kann, die Weiterbeschäftigung angestrebt. Dabei gilt es, die Möglichkeiten des Binnenarbeitsmarktes der Bundeswehr zu nutzen sowie Beschäftigungsmöglichkeiten bei anderen Ressorts und anderen öffentlichen Arbeitgebern oder auf dem privaten Arbeitsmarkt zu identifizieren. Das Reformbegleitgesetz stellt zudem weitere Instrumente zur Unterstützung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bereit: - mit den Beurlaubungsregelungen für Soldaten und Beamte auf Antrag zur Förderung anderweitiger Verwendungen im öffentlichen Dienst oder außerhalb der öffentlichen Dienstes und - ein finanzieller Ausgleich, der für den Fall der Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst mit Einkommenseinbußen vorgesehen ist. Weiterhin sind konkrete Maßnahmen vorgesehen, die die Personalausgliederung erleichtern und die Belastungen für die Betroffenen mildern sollen. Sie umfassen: - Ausgleichszahlungen für Berufssoldatinnen und Berufssoldaten, deren Dienstverhältnis in das einer Soldatin auf Zeit oder eines Soldaten auf Zeit umgewandelt wird, in Höhe von 7.500 Euro pro bereits geleistetes Dienstjahr, - die Ausgliederung von Soldaten ab dem 40. Lebensjahr mit der bis dahin erdienten Versorgung in Verbindung mit einer Einmalzahlung in Höhe von 7.500 Euro (vor Steuern) für jedes Jahr, um das die Versetzung in den Ruhestand vor dem Zeitpunkt der regulären Zurruhesetzung liegt, - Vorruhestandsregelungen für Soldaten ab dem 50. Lebensjahr (Unteroffiziere) und ab dem 52. Lebensjahr (Offiziere), Vorruhestandsregelungen für Beamte ab dem 60. Lebensjahr und - die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen für vorzeitig ausscheidende Berufssoldaten und Beamte. Zudem sind bereits in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, die mit konkreten Erleichterungen für die betroffenen Angehörigen der Bundeswehr verbunden sind. Dazu zählen: - die Möglichkeit der Nutzung von Kasernenunterkünften für Pendler, - die Einrichtung der ersten von insgesamt 300 Eltern-Kind-Zimmern, - Erst- und Weiterverpflichtungsprämien für Mannschaftsdienstgrade, 185 - die vorläufig befristete Wahlmöglichkeit zwischen Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld; - das gegenwärtig noch im Stadium der Erarbeitung befindliche Programm zur Verbesserung der Wohnungsvermittlung sowie - Prämien zur Gewinnung von Fachkräften. Ausdrücklich sieht das Gesetz auch die Überprüfung der Wirksamkeit der Instrumente zum Ende des Jahres 2014 vor, damit entsprechende Neujustierungen vorgenommen werden können. VI. Die Aussetzung der Verpflichtung zur Einberufung zum Grundwehrdienst ist mit Wirkung vom 1. Juli 2011 durch einfachgesetzliche Regelung in Kraft getreten. Die verfassungsrechtlich verankerte Allgemeine Wehrpflicht besteht indes auch künftig unverändert fort. Die Verpflichtung zur Ableistung des Grundwehrdienstes kann damit, wenn die Umstände – etwa im Spannungs- und Verteidigungsfall – es erfordern, jederzeit wieder aufleben. Mit der Aussetzung der Einberufung zum Grundwehrdienst wurde im breiten Bewußtsein der Öffentlichkeit ein tiefer Einschnitt vollzogen, der vielfach auch als Abschied von althergebrachten, scheinbar unverrückbaren Glaubenssätzen empfunden wurde. Die Entscheidung dazu fiel insbesondere in den Unionsparteien von CDU und CSU schwer, doch sie war insgesamt notwendig, weil die veränderten sicherheitspolitischen und demographischen Rahmenbedingungen ein Festhalten an der Verpflichtung der Einberufung zum Grundwehrdienst nicht mehr gerechtfertigt haben. Es kommt hinzu, daß eine kosteneffiziente Umsetzung der Neuausrichtung beim Festhalten an der Einberufung zum Grundwehrdienst kaum aufrechtzuerhalten wäre. Schon in den letzten Jahren war nur ein geringer Teil aller wehrpflichtigen jungen Männer wirklich eingezogen worden. Vor dem Jahr 2010 etwa leisteten etwa nur noch knapp 17% der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs Wehrdienst. Dies beschreibt eine Wirklichkeit, die sich immer weiter von den deklamierten Grundsätzen entfernt hat und dadurch in ihrer Akzeptanz immer mehr einbüßen mußte. An die Stelle der Verpflichtung zum Grundwehrdienst trat deshalb folgerichtig zum 1. Juli 2011 ein neuer Freiwilliger Wehrdienst, der jungen Frauen und Männern die Möglichkeit eröffnet, für einen Zeitraum von 12 bis 23 Monaten freiwillig Dienst in den Streitkräften zu leisten und damit ein Angebot umreißt, daß sich auf besondere Weise in die auf aktives Bürgerengagement gerichtete Konzeption der Bundesregierung einfügt. Der Freiwillige Wehrdienst ist ein attraktives Angebot an junge Menschen, die offen und gewillt sind, einen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Sie bekommen die Möglichkeit, den Soldatenberuf und die Bundeswehr als Arbeitgeber kennenzulernen, und in dieser Zeit die Bindungen zu den Streitkräften zu vertiefen. Die Probezeit für den ersten Durchgang der Freiwillig Wehrdienstleistenden endete am 31. Dezember 2011. Bereits jetzt läßt sich indes absehen, daß manche der geäußerten Befürchtungen nicht eingetreten sind. So verfügen die Freiwilligen 186 Wehrdienstleistenden fast alle über einen Schulabschluß; über die Hälfte von ihnen kann das Abitur oder den Nachweis der Allgemeinen Fachhochschulreife vorweisen. Die Bewerber verteilen sich auf das gesamte Bundesgebiet, von einem geographischen Schwerpunkt kann deshalb nicht die Rede sein. Die Bundeswehr befragt die Freiwilligen regelmäßig zu ihrer Motivation. Aus diesen Ergebnissen ist ersichtlich, daß Geld- und Sachbezüge bei der Entscheidung zum Freiwilligen Wehrdienst nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr fühlen sich die jungen Wehrdienstleistenden insbesondere von Kameradschaft und der Aussicht auf eine abwechslungsreiche, körperlich anspruchsvolle Tätigkeit angezogen und geben nicht selten an, daß es für sie wichtig sei, etwas für ihr Land zu tun. Aus der in der Tat vermeintlich hohen Abbrechungsquote von 25% – sie liegt indes im gesamtgesellschaftlichen Trend – kann nicht auf eine angeblich mangelnde Akzeptanz geschlossen werden. Durch den Übergang der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee fallen ganz zwangsläufig manche Berührungspunkte zwischen Bundeswehr und Gesellschaft weg. Gerade deshalb sind die Bemühungen der Bundeswehrführung darauf ausgerichtet, der jungen Generation einen fordernden und perspektivischen Dienst anzubieten, der es trotz zeitlicher Befristung erlaubt, die Besonderheiten des soldatischen Dienstes in ihrer Breite kennenzulernen. VII. Das innere Gefüge und der Charakter der Bundeswehr verändern sich mit dem Übergang von der Wehrpflichtarmee zur reinen Freiwilligenarmee ohne Zweifel. Das Prinzip der inneren Führung besteht indes unverändert fort: Es garantiert, daß der Dienst in den Streitkräften an die Normen und Werte des Grundgesetzes gebunden bleibt. Denn die Soldaten der Bundeswehr sind und bleiben „Staatsbürger in Uniform“ – im besten Sinne. Sie sind Teil dieser Gesellschaft, und sie übernehmen mit ihrem Beruf besondere Verantwortung für die ganze Nation. Mit der Aussetzung der Verpflichtung zur Einberufung zum Grundwehrdienst wächst die Herausforderung, die Bande zwischen Streitkräften und Gesellschaft weiter zu vertiefen. Der Freiwillige Wehrdienst, eine neue Reservistenkonzeption, eine engagierte Veteranenpolitik, ein auf Geschichtsbewußtsein, politische Bildung, Ethik und Traditionspflege gründendes soldatisches Selbstverständnis können dazu wesentlich beitragen. Entscheidend wird es sein, daß in einem freiheitlich demokratischen Staat der Dienst des einzelnen am Gemeinwohl, das Eintreten für Recht und Freiheit, die Besonderheit soldatischen Dienens, die im Äußersten mit der Gefährdung von Leib und Leben verbunden ist, durch Staat und Gesellschaft als Ganzes gewürdigt wird. Dies ist zugleich die beste Voraussetzung dafür, daß die Streitkräfte dort verbleiben, wo sie hingehören und am besten aufgehoben sind: in der Mitte der Gesellschaft. Dr. Ulrich Schlie ist Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung, Berlin. 187 Hans Braun Immer gut beraten? Zur Rolle des Beratungswesens in unserer Gesellschaft I. Beratung allenthalben Auch wer nicht beruflich oder privat Beratungsleistungen in Anspruch nimmt, wird nahezu täglich mit dem Phänomen „Beratung“ konfrontiert. Da gibt im Fernsehen eine Ernährungsberaterin Hinweise zur richtigen Zusammenstellung unserer täglichen Mahlzeiten, ein Unternehmensberater spricht in einem Interview über seine Erfahrungen bei der Neuausrichtung von Firmen, eine EtiketteBeraterin äußert sich im Lebensstil-Teil unserer Tageszeitung zur Frage, wer bei einem Hochzeitsessen neben wem zu sitzen hat, und ein Erziehungsberater setzt sich in einer über den Rundfunk ausgestrahlten Diskussionsrunde mit Anpassungsproblemen von Schulanfängern auseinander. Die medial vermittelten Auftritte von Beraterinnen und Beratern haben über die Verbreitung von Sachinformationen hinaus auch den Effekt, daß die Öffentlichkeit implizit etwas über das Leistungsspektrum der jeweiligen Berufsgruppe erfährt. Und die Zahl der in den unterschiedlichsten Bereichen tätigen Berater und die finanzielle Dimension der erbrachten Leistungen sind beachtlich. Hierzu nur ein Beispiel: In einer im Februar 2011 veröffentlichten Mitteilung des Bundesverbandes Deutscher Unternehmensberater heißt es, die mehr als 87.000 deutschen Unternehmensberater hätten im Jahre 2010 einen Branchenumsatz von 18,9 Milliarden Euro erzielt.1 Beraten werden auch gemeinnützige Institutionen, politische Parteien, Ministerien und ihnen nachgeordnete Behörden. Neben Unternehmensberatern spielen in diesen Bereichen Wissenschaftler eine Rolle, die an Hochschulen sowie in „Think Tanks“ oder politischen Stiftungen tätig sind. Der personelle Umfang und das finanzielle Volumen der wissenschaftlichen Politikberatung sind allerdings weitaus schwieriger auszumachen, als dies im Hinblick auf die Unternehmensberatungsbranche möglich ist. Das gleiche gilt auch für die technisch orientierte Beratung und die im Sozialbereich angesiedelte personen- und gruppenbezogene Beratung. Und kaum zu erfassen dürften der personelle Umfang und das finanzielle Volumen dessen sein, was man als Lebensstilberatung bezeichnen könnte. II. Was ist Beratung? Unter Beratung wird gemeinhin ein Prozeß verstanden, in dem es darum geht, angesichts einer anstehenden Aufgabe fehlendes Wissen oder fehlende Erfahrung aufseiten eines Klienten in der Interaktion mit einem Berater auszugleichen.2 188 Vom Erteilen von Ratschlägen, wie es tagtäglich implizit oder explizit, erbeten oder auch nicht erbeten durch Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen erfolgt, unterscheidet sich Beratung durch einen gewissen Grad der Professionalisierung. Berater verfügen nicht nur über ein Expertenwissen, sie sind auch darauf bedacht oder sollten darauf bedacht sein, bei ihrem Tun das Wissen der Klienten zu berücksichtigen und den Beratungsprozeß selbst zu reflektieren. Sieht man einmal von einer von dritter Seite, etwa einem Gericht, angeordneten Beratung ab, dann geht die Initiative zum Eintritt in einen Beratungsprozeß in der Regel vom Klienten aus. Auch wenn ein Berater von sich aus auf einen Kunden zugeht, kann er erst aktiv werden, wenn der Kunde das Angebot sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf das unter Umständen fällige Honorar akzeptiert hat. Die gängige Vorstellung geht dahin, daß Beratung in Anspruch genommen wird, weil sich der Kunde bzw. der Klient davon einen Beitrag zur Lösung eines Problems verspricht. Die Aufgabe des Beraters besteht dann darin, die Präferenzen des Auftraggebers zu eruieren sowie Handlungsalternativen aufzuzeigen und diese hinsichtlich ihrer finanziellen, politischen. ökologischen, psychischen oder sozialen Kosten zu bewerten und nach erfolgter Auswahl bei der Erarbeitung von Handlungsstrategien mitzuwirken. Tatsächlich ist es aber oftmals so, daß der Beratung Suchende gar nicht sagen kann, was sein Problem eigentlich ist, sondern nur den mehr oder weniger unbestimmten Eindruck hat, etwas sei im Unternehmen, in der sozialen Umgebung oder in seinen persönlichen Lebensumständen nicht in Ordnung. Hier kommt es darauf an, ein Problem überhaupt erst einmal zu identifizieren. Dabei stellt sich nicht selten heraus, daß das, was der Kunde oder der Klient für sein Problem hält, gar nicht das eigentliche Problem darstellt. Eine solche Einsicht dem Auftraggeber vermitteln zu wollen, kann unter Umständen massive Abwehrreaktionen hervorrufen, weil damit Sachverhalte berührt werden, die das Selbstbild einer Person oder einer Institution in Frage stellen. Beratung in ihrer Idealform besteht darin, Handlungsmöglichkeiten in Zusammenarbeit mit dem Adressaten aufzuzeigen, dessen Handlungssouveränität aber unberührt zu lassen. Insofern unterscheidet sie sich von stellvertretendem Handeln aufgrund eines Mandats auf der einen Seite und Therapie auf der anderen Seite. In beiden Fällen verzichtet der Kunde oder Klient bewußt ganz oder teilweise auf seine Handlungssouveränität. Gute Beratung zeichnet sich hingegen dadurch aus, daß dem Adressaten die Gewißheit vermittelt wird, Herr seiner Entscheidungen zu sein und daß er darin bestärkt wird, von seiner Entscheidungsfreiheit auch Gebrauch zu machen. Wie mandatiertes Handeln und Therapie basiert aber auch Beratung auf Vertrauen. Der Klient muß darauf vertrauen, daß der Beauftragte, der Therapeut oder eben der Berater zum einen über die Qualifikationen verfügt, die für die Erfüllung seiner Aufgabe erforderlich sind, und daß er zum anderen auch tatsächlich im Interesse des Kunden oder Klienten handelt. 189 Worauf aber gründet sich solches Vertrauen? Drei Faktoren spielen hier vor allem eine Rolle.3 Es ist dies zunächst einmal, um bei der Beratung zu bleiben, die Reputation des Beraters oder der Institution, der er angehört. Reputation ersetzt persönliche Erfahrung, über die wir ja nur in einem kleinen Ausschnitt der für uns relevanten Wirklichkeit verfügen. Sie basiert auf den akkumulierten Urteilen von Menschen, die wir persönlich kennen oder die in der Rolle des Experten als Meinungsführer weitgehend akzeptiert sind. Vertrauen basiert weiterhin auf positiven Erfahrungen, die wir selbst in der Vergangenheit mit Menschen, in unserem Falle also einer Beraterin bzw. einem Berater, oder einer Institution, etwa einer Beratungsstelle, gemacht haben. Wenn wir in der Vergangenheit mit der erbrachten Leistung, insbesondere bei wiederholter Inanspruchnahme, zufrieden waren, ziehen wir den durchaus naheliegenden Schluß, daß wir auch in Zukunft die Leistung erhalten werden, die wir uns wünschen. Schließlich ist eine Grundlage für Vertrauen das, was wir gewöhnlich als Sympathie bezeichnen. Es ist nun einmal eine Erfahrung, die wir immer wieder machen, daß wir uns nämlich zu einem Menschen stärker hingezogen fühlen als zu einem anderen. So ist es auch im Verhältnis zu denjenigen, die uns als Berater oder Beraterin entgegentreten. Es sind also sowohl rationale als auch nichtrationale Faktoren, auf die sich Vertrauen als Voraussetzung für eine gelingende Beratung gründet. III. Zunehmende Nachfrage nach Beratung Daß Menschen nicht nur beiläufig, sondern explizit die Rolle des Ratgebers für andere übernehmen, ist kein Phänomen unserer Tage. Die Geschichte kennt viele Beispiele, wie Herrscher bei wichtigen Entscheidungen Ratgeber hinzugezogen haben. Schließlich ist es nun einmal eine Tatsache, daß beim Aufspüren von Handlungsalternativen und bei der Einschätzung der möglichen Folgen zu treffender Entscheidungen die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Sichtweisen gewöhnlich zu besseren Ergebnissen führt als ein Agieren im Alleingang. Dies gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart, wobei heute allerdings noch ein weiteres Moment hinzukommt: die wachsende Komplexität unserer Lebensverhältnisse. Sie ist einmal gekennzeichnet durch rasant verlaufende technische Innovationen, deren Folge, so Alois Hahn, eine „Explosion von denkbaren Zukünften“ ist, „die sich hier und jetzt als Entscheidungsbedarf aufdrängen“4. Zum anderen haben wir es zu tun mit weltweiten wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Verflechtungen sowie dem zeitnahen Zugang zu Informationen jedweder Art vermittels der neuen Medien. Dazu kommen die abnehmende Verbindlichkeit von über Jahrhunderte hinweg den Alltag der Menschen prägenden Normen und die Lockerung der Bindekraft traditioneller Sozialformen wie Ehe, Familie oder Kirchengemeinde. Damit einher geht eine Erweiterung der Handlungsoptionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich. Nicht von ungefähr wird unsere Gesellschaft ja auch als „Multioptionsgesellschaft“ charakterisiert.5 Das damit verbundene „Auswahl-Paradox“6 macht es aber den Men190 schen nicht nur in ihrer Funktion als wirtschaftliche und politische Entscheider, sondern auch in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen zunehmend schwerer, sich zurechtzufinden. Konnte der Leiter eines familiengeführten Unternehmens oder das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft vor hundert Jahren aufgrund eigener persönlicher Erfahrungen oder aufgrund der Erfahrungen langjährig beschäftigter leitender Angestellter weitgehend noch selbst beurteilen, welche organisatorischen Maßnahmen erforderlich waren, um ein neues Produkt herzustellen und es erfolgreich zu vertreiben, so sind die entscheidungsrelevanten Informationen heute oftmals nur noch durch Hinzuziehung externer Experten zu erlangen. Konnten sich die Beamten eines Ministeriums bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs auf ihre Fachkennnisse verlassen, oder glaubten zumindest, dies zu können, so sind heute in anderen Ländern gemachte Erfahrungen, wirtschaftliche, soziale und ökologische Auswirkungen sowie im Hinblick auf die Akzeptanz wichtige Kommunikationsstrategien zu bedenken, was ohne die Expertise von einschlägig erfahrenen Beratern vielfach nicht mehr möglich ist. Ähnliches gilt für die konkreten Lebensumstände der Menschen. War es bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein noch üblich, daß junge Menschen den Beruf erlernten, der sie zur Fortführung des elterlichen Betriebs befähigte oder den ihre Eltern aus einer überschaubaren Zahl von Berufsbildern für sie ausgesucht hatten, so sehen sich Jugendliche heute einer kaum mehr überschaubaren Vielzahl an beruflichen Ausbildungsgängen gegenüber. Von daher ist die Inanspruchnahme der Berufsberatung für viele junge Menschen eine Selbstverständlichkeit. Dabei geht es nicht nur um die Information über Berufsbilder und entsprechende Ausbildungsgänge, sondern auch um die Ermittlung von berufsrelevanten Interessen und Fähigkeiten der Ratsuchenden. Und auch die Beziehungen zwischen Ehepartnern sowie zwischen Eltern und Kindern werden von den Beteiligten heute vielfach als nicht mehr durchschaubar und damit der professionellen Klärung bedürftig empfunden. Dies ist einmal eine Folge der hohen Erwartungen, die heute an solche Beziehungen gestellt werden und die mit einer abnehmenden Tendenz einhergehen, Enttäuschungen auszuhalten, wie sie im Zusammenleben von Menschen nun einmal unvermeidlich sind.7 Zum anderen spielt hier die Tatsache eine Rolle, daß die Beteiligten einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Einflüsse im Beruf, in der Schule, im Freundes- und Bekanntenkreis, bei ihren Freizeitaktivitäten und in den Medien ausgesetzt sind, die sich in ihrem Denken und Handeln niederschlagen. Hier kann die Familienberatung dazu beitragen, daß Erwartungen und Enttäuschungen artikuliert werden, daß aber auch die Fähigkeit entwickelt wird, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Die Sinnhaftigkeit der Inanspruchnahme ist nicht nur in diesem Fall, sondern auch in vielen anderen Fällen unbestritten. Und dennoch hat das mittlerweile hochentwickelte Beratungswesen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich Begleiterscheinungen, die nicht unproblematisch sind. Dazu gehören die Instrumentalisierung von Beratung und das rasch voranschreitende Ausgreifen des Beratungswesens auf die Lebenswelt. 191 IV. Die Instrumentalisierung von Beratung Wer als Unternehmer, Manager, Politiker oder Beamter in leitender Position Beratung in Anspruch nimmt, wird dies in der Regel damit begründen, daß es um Unterstützung bei der Analyse eines Problems, bei der Formulierung von Handlungsalternativen und bei der Auswahl einer geeigneten Handlungsstrategie geht. Nicht immer wird diese Begründung aber tatsächlich zutreffend sein. Mit der Inanspruchnahme von Beratung können sich auch ganz andere Absichten verbinden. So kann es etwa darum gehen, in einer Konfliktsituation durch die Einschaltung eines Beratungsunternehmens eine gewisse Beruhigung der erregten Gemüter zu erreichen. Beratung, insbesondere in Form eines Gutachtens, stellt dann gleichsam eine „taktische Waffe“ dar.8 Nicht das Ergebnis des Beratungsprozesses steht dabei also im Vordergrund als vielmehr die Tatsache, daß dieser Prozeß Zeit in Anspruch nimmt, in der die involvierten Parteien ihre Position noch einmal überdenken können. Unter Umständen steht dahinter auch die Erwartung, daß durch den Zeitablauf Tatsachen geschaffen werden, welche bestimmte Lösungen gar nicht mehr zulassen, die in der vorangegangenen Diskussion vorgeschlagen wurden, aber den Vorstellungen der Auftraggeber zuwiderlaufen. Nicht nur der Beratungsprozeß, sondern auch das als Ergebnis vorgelegte Gutachten kann aber instrumentalisiert werden, wenn sich Entscheidungsträger gleichsam hinter der Expertise verstecken. Dies ist etwa der Fall, wenn Politiker die ihnen nun einmal übertragene Verantwortung nicht zu übernehmen bereit sind, da sie ja, so ihre Argumentation, auf der Grundlage eines von einer renommierten Beratungsfirma erstellten Gutachtens entschieden haben. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an eine Investition in ein Großprojekt, das sich im nachhinein als wirtschaftlicher Fehlschlag erweist. Das gleiche kann natürlich auch in einem Unternehmen ablaufen, mit dem Unterschied freilich, daß der leitende Angestellte, der seine Fehlentscheidung mit dem Gutachten einer Beratungsfirma begründet, sich wahrscheinlich weniger lange halten wird als ein Politiker. Um eine Instrumentalisierung von Beratung handelt es sich schließlich auch da, wo diese zur Legitimation einer bereits getroffenen Entscheidung eingesetzt wird. So machen etwa Unternehmensberater mitunter die Erfahrung, daß ein Mitglied eines Entscheidungsgremiums faktisch schon über eine bestimmte Maßnahme entschieden hat, diese Entscheidung aber den übrigen Mitgliedern des Gremiums erst kommuniziert wird, wenn ein entsprechendes Gutachten einer Beratungsfirma vorliegt. Die Chance, ein solches Gutachten zu erhalten, ist natürlich umso größer, je besser die „Beratungstendenzen“ der einzelnen Firmen bekannt sind. Auch in diesen Fällen wird ein „hilfreiches“ Gutachten aber nicht zu erhalten sein, wenn der Berater, um es vorsichtig zu formulieren, nicht bereit ist, sich bis zu einem gewissen Grad auf die „Sichtweise“ des Auftraggebers einzulassen. Damit ist die Frage nach dem Ethos des Beraters aufgeworfen. Gewiß wird die ganz große Mehrheit der Berater darin übereinstimmen, daß es ethisch nicht 192 vertretbar und mit ihrem professionellen Selbstverständnis unvereinbar sei, wider besseres Wissen bestimmte Empfehlungen auszusprechen. In Dantes Divina Commedia finden sich derartige „unlautere Ratgeber“ im übrigen im achten Kreis des Inferno wieder.9 Aber auch wem diese Strafe unbekannt ist, weil er etwa Dante nicht kennt oder mit dem Begriff „Hölle“ nichts mehr anzufangen weiß, wird nicht bewußt falsch beraten. Darum geht es also im Beratungsalltag nicht. Es geht um die vielfältigen Möglichkeiten, durch entsprechende Wortwahl (das Gutachten soll ja gut lesbar sein), durch Weglassen von Gesichtspunkten (der Bericht soll ja übersichtlich sein) oder durch die Anordnung der Argumente (der Kunde soll ja schlußendlich zu einer Entscheidung befähigt werden) ein Ergebnis zu präsentieren, das eine positive Aufnahme beim Auftraggeber findet. Und ein Beratungsergebnis, das „gut ankommt“, dürfte nun einmal die Chance erhöhen, einen Folgeauftrag zu erhalten – eine vielleicht gar nicht bewußt angestellte Überlegung, die aber durchaus nachvollziehbar ist, versetzt man sich in die Lage dessen, der von seiner Beratungstätigkeit lebt. Indessen dürfen die angesprochenen Versuchungen, denen Berater dann und wann ausgesetzt sein mögen, natürlich nicht den Blick dafür verstellen, daß die ganz große Mehrheit von ihnen ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen in einem wirtschaftlichen und politischen Umfeld erfüllt, in dem man in vielen Bereichen ohne externe Beratung gar nicht mehr auskommt. V. Das Ausgreifen auf die Lebenswelt Daß Fehlentwicklungen und Orientierungsdefizite im alltäglichen Zusammenleben und in der Arbeitswelt die Problemlösungskapazität vieler Menschen übersteigen, ist eine Tatsache. Eine Reaktion hierauf sind unter anderem der Auf- und Ausbau der Erziehungsberatung, der Eheberatung, der Berufsberatung oder der Schuldnerberatung. Mittlerweile greifen die Beratungsangebote aber auf viele andere Bereiche über und begleiten uns auf unserem Lebensweg. Noch ehe ein Mensch das Licht der Welt erblickt, können die Eltern die Angebote der Geburtsberatung in Anspruch nehmen. Anschließende Hilfe bietet die Säuglingsund Kleinkindberatung. Bei der Wahl der Schule ist die Schulberatung behilflich. Wer sich um einen Arbeitsplatz bewerben möchte, erhält entsprechende Unterstützung von der Bewerbungsberatung. Für die schon Arrivierten, die noch weiter nach oben kommen wollen, ist die Karriereberatung da. Und da im Beruf wie in anderen Lebensbereichen auch viel von der äußeren Erscheinung abhängt, gibt es die Farb- und Stilberatung. Wenn es darum geht, die Zeit, in der man nicht arbeitet, „optimal“ auszufüllen, steht die Freizeitberatung zur Verfügung.10 Die kann sich dann auch des Themas „Ferien“ annehmen, von denen der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler sagt, es handle sich dabei um die „Verheißung einer anderen Wirklichkeit“11. Noch mehr an „Optimierung“ läßt die Glücksberatung erwarten. Sollte es im Beruf dann einmal doch nicht so laufen, wie man es sich vorgestellt hat, kommen die Dienste der Burnout-Beratung und, falls es gar nicht anders geht, der OutplacementBeratung ins Spiel. Wer mit seinem Ehepartner, Nachbarn oder Arbeitskollegen 193 nicht zurechtkommt, wendet sich an die Konfliktberatung. Für subtilere Probleme im privaten Bereich ist unter anderem die Beziehungsberatung zuständig. Wem trotz beruflichen Erfolgs oder wegen erlittener Niederlagen der Sinn seines Lebens verborgen bleibt oder abhanden gekommen ist, dem hilft die philosophische Beratung oder auch die esoterische Beratung weiter. Im fortgeschrittenen Lebensalter tritt schließlich die Seniorenberatung auf den Plan. Für nahezu jedes dieser Beratungsangebote gibt es sicherlich eine Nachfrage, sonst würden die Anbieter ja wohl aufgeben oder sich auf andere Geschäftsfelder verlegen. Allerdings dürfte es im konkreten Fall schwer auszumachen sein, ob es sich um eine ursprüngliche Nachfrage in dem Sinne handelt, daß Menschen von sich aus nach einschlägiger Beratung suchen, oder ob mit einem bestehenden Angebot überhaupt erst eine Nachfrage geweckt wird. Von viel größerer Tragweite ist indessen die Frage, was die Nutzung der Angebote für die Menschen bedeutet. Aus Sicht der Anbieter ist die Antwort einfach: Es handelt es sich um eine Erweiterung des Aufmerksamkeitshorizonts, um eine Schärfung des Blicks für bislang wenig beachtete Optionen und damit letztlich auch um eine Erhöhung der Handlungskompetenz. Dies wird, wenn die Beratung gut verlaufen ist, auch der Klient so sehen. Wie wird er sich aber weiter verhalten? Wird er mit seiner erhöhten Handlungskompetenz in den Alltag zurückkehren und die in Anspruch genommene Beratung zunächst einmal als einmaliges Ereignis betrachten oder wird er angesichts des subjektiv wahrgenommenen Beratungserfolgs bei einem ähnlichen, unter Umständen aber gar nicht so schwerwiegenden Problem wiederum den Berater bzw. die Beraterin konsultieren? Tut er das, kann es zu einer Bindung des Ratsuchenden an den Berater oder die Beraterin kommen. Eine solche Klientelisierung kann durch Denkweisen und Verhaltensdispositionen des Ratsuchenden begünstigt werden, sie kann aber bis zu einem gewissen Grad auch vom Leistungsanbieter beeinflußt werden. Noch weitreichender sind die Konsequenzen, wenn der erfolgreich Beratene seine aus seiner Sicht positive Erfahrung generalisiert und die Vorstellung entwickelt, eine adäquate Lösung von Problemen gleich in welchem Bereich sei ohne professionelle Beratung gar nicht mehr möglich. Über die konkrete Klientelisierung im Verhältnis des einzelnen Ratsuchenden zu seinem Berater hinaus hätten wir es dann mit einer abstrakten Klientelisierung im Verhältnis von Ratsuchenden und dem Beratungswesen als solchem zu tun. Dies könnte aber über die bereits bestehende und letztlich unvermeidliche Abhängigkeit von Experten auf dem Gebiet der Technik, der Medizin, der Wirtschaft oder dem Rechtswesen hinaus zu neuen Abhängigkeiten führen. Und das ausgerechnet in solchen Lebensbereichen, in denen dem modernen Menschen seine Autonomie ganz besonders wichtig ist! Dazu kommt, daß bei einem so vielgestaltigen und sich auf nahezu jeden Lebensbereich erstreckenden Beratungsangebot, wie es sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten herausgebildet hat, der einzelne sich in bestimmten Situationen einem Druck seiner sozialen Umgebung ausgesetzt fühlen mag, angesichts bestimmter sozialer oder psychischer Konstellation auch von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Die zugrun194 deliegende Botschaft lautet dann: Warum willst du dich quälen und uns die Stimmung verderben, wenn es doch Experten für dein Problem gibt, etwa bei Irritationen im Verhältnis zum Ehepartner den Beziehungsberater, bei vergrößerter oder auch bei knapper gewordener Freizeit den Freizeitberater und bei, wie man heute gerne sagt, „suboptimaler“ Lebensfreude den Glücksberater. Sollten sich derartige Denkweisen durchsetzen, so liefe dies auf der individuellen Ebene auf einen schleichenden Verzicht hinaus, unter Nutzung eigener Ressourcen und in oftmals sicherlich mühsamer Weise auf die Klärung einer Problemlage hinzuarbeiten. Dem entspräche, nimmt man die gesellschaftliche Ebene in den Blick, eine Erosion von Problemlösungspotentialen, die im Nahbereich der Menschen angesiedelt sind, auf Vertrautheit und persönlichem Vertrauen basieren und ein zentrales Element dessen sind, was wir üblicherweise als Sozialkapital bezeichnen. VI. Auf dem Weg in die beratene Gesellschaft? Es ist unbestritten, daß heute in vielen Bereichen auf professionelle Beratung nicht mehr verzichtet werden kann. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für viele Felder der Politik und der Technik. Der Grund liegt zum einen in der Komplexität von Strukturen und Prozessen und damit in der immer schwerer abzuschätzenden Reichweite von Entscheidungen. Zum anderen reduziert sich die „Halbwertzeit“ von in der Ausbildung vermitteltem Wissen und persönlicher Erfahrung bei den handelnden Personen erheblich. Externe Beratung kompensiert hier bis zu einem gewissen Grade solche Defizite. Problematisch wird es allerdings, wie bereits angesprochen, wenn externe Beratung instrumentalisiert wird, insbesondere wenn sich Akteure gleichsam hinter einem Gutachten verstecken. Gerade was den Bereich der Politik anbelangt, so liegt in der Demokratie letztlich die Verantwortung für Entscheidungen bei vom Volk gewählten Vertretern und der von ihnen getragenen Regierung. In Gesellschaften wie der unseren, in der die Menschen angesichts einer abnehmenden Bindekraft sozialer Beziehungen zunehmend ungeschützt einer Vielzahl von Einflüssen, Erwartungen und Handlungsoptionen ausgesetzt sind, kann auch nicht auf Beratungsangebote verzichtet werden, die sich auf Erziehung, Ehe, Familie, Gesundheit usw. erstrecken.12 Und bei 3,15 Millionen überschuldeten Haushalten im Jahr 2010 reagiert ganz gewiß auch die Schuldnerberatung auf eine gesellschaftliche Herausforderung.13 Solche Beratungsangebote sind gewöhnlich Bestandteil des Sozialleistungssystems. War Sozialpolitik zunächst darauf ausgerichtet, denen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften bestreiten konnten, eine elementare Existenzsicherung zu gewähren, den arbeitenden Menschen einen gewissen rechtlichen Schutz im Verhältnis zum Arbeitgeber zu verschaffen, die finanziellen Folgen des Verlusts der Arbeitsfähigkeit und der Arbeitsmöglichkeit abzumildern und den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu ermöglichen, so hat sich insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Aufgabenspektrum erheblich erweitert. Zwar dominiert immer noch die „Einkommensstrategie“, also die Organisation von Trans195 ferzahlungen, doch kommt der „Dienstleistungsstrategie“ eine wachsende Bedeutung zu, wie Bernhard Badura und Peter Gross schon 1976 in ihrer bahnbrechenden Arbeit zeigten.14 Dabei geht es um Behandlung, Betreuung, Pflege und eben Beratung. Umgesetzt wird die Dienstleistungsstrategie im sogenannten sozialstaatlichen Dreieck, das aus Leistungsempfänger, Leistungserbringer und Kostenträger besteht.15 Traditionell spielen in Deutschland bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen die freien Träger eine große Rolle. Übernommen werden die damit verbundenen Kosten allerdings weitgehend von Institutionen, die der staatlichen Sphäre zuzurechnen sind: Gebietskörperschaften, Zweige der Sozialversicherung, Versorgungssysteme. Insbesondere bei Beratungsleistungen wird deutlich, wie wichtig eine solche Trennung von öffentlichen Kostenträgern und Leistungserbringern ist. Schließlich haben wir es hier, anders als etwa bei der Energieberatung oder der Etikette-Beratung, gewöhnlich mit sensiblen psychischen und sozialen Konstellationen zu tun, für deren Bearbeitung es unerläßlich ist, daß der Klient sich dem Berater gegenüber bis zu einem gewissen Grad offenbart. Dies bedeutet wiederum, daß der Berater bei seinem Tun, wenn auch nicht bestimmend, so doch empfehlend darauf Einfluß nimmt, wie Menschen ihre Lage wahrnehmen, ihr Handeln ausrichten und ihr Verhältnis zu anderen gestalten. Ein staatliches Beratungsmonopol würde, nicht nur in Diktaturen, hier aber in besonderem Maße, Möglichkeiten eröffnen, über die Standardisierung der Bearbeitung von psychischen und sozialen Problemlagen auch zu einer gewissen Vereinheitlichung von Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen zu gelangen. Angesichts der Erfahrung zweier autoritärer Systeme in einem Jahrhundert ist dies gerade in Deutschland eine beunruhigende Perspektive. Die Erbringung von Beratungsleistungen im Sozialbereich durch eine Vielzahl freier Träger, die sich zudem noch bis zu einem gewissen Grad durch ihre Herangehensweise und das dahinter stehende Menschenbild unterscheiden, ist deshalb ein Modell, das zu bewahren nicht nur im Interesse der betroffenen Menschen, sondern auch im Interesses der Gesellschaft ist. Weniger eindeutig fällt aus Sicht des Sozialwissenschaftlers das Urteil über jene Beratungsangebote aus, die sich auf die „Optimierung“ von Lebensgefühlen und Lebensstilen erstrecken. Natürlich muß es in einer freiheitlichen Gesellschaft jedem freigestellt sein, die Dienste eines Freizeitberaters, eines Beziehungsberaters oder eines Glücksberaters in Anspruch zu nehmen. Und es mag auch durchaus Menschen geben, deren Lebenssituation sich durch die Inanspruchnahme derartiger Angebote verbessert. Die Vermutung ist allerdings nicht ganz unbegründet, daß unter den Angeboten auch solche sind, die heutigen Menschen insofern entgegenkommen, als sie Anleitungen zu einem gelingenden Leben versprechen, ohne sich moralischen Anforderungen stellen zu müssen, die insbesondere, „wenn sie mit Anstrengung und Verzicht verbunden sind, weitgehend als freiheitseinschränkende Zumutungen empfunden werden…“16 Zudem gilt es zu sehen, daß mit der Ausweitung der Beratungsangebote auf Lebensgefühle und Lebensstile einer Verflachung sozialer Beziehungen Vor196 schub geleistet wird, wenn die Beteiligten nicht mehr gefordert sind, sich im alltäglichen Miteinander zumindest implizit auch mit Fragen der Lebensführung und des Lebenssinns auseinanderzusetzen. Überdies besteht die Gefahr, daß mit einschlägigen Angeboten Erwartungen geweckt werden, die letztlich nicht erfüllt werden können. Nehmen wir das Beispiel „Glück“. Wir leben in einer Gesellschaft, in der, nicht zuletzt bedingt durch den Rückgang transzendenter Bezüge, Glück nicht nur zu einem Thema in den Medien geworden ist, sondern auch dabei ist, zu einem Gut zu werden, auf das man einen Anspruch zu haben glaubt.17 Heinrich Heine hat dies bereits 1844 in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ in die Formel gekleidet: Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten […] Wir wollen auf Erden glücklich sein und wollen nicht länger darben…“18 Mittlerweile liegt für Deutschland sogar schon ein „Glücksatlas“ vor, in dem es bei näherem Zusehen allerdings etwas bescheidener um Zufriedenheit geht.19 Dies ist, nicht nur für den Buchmarkt, wiederum bezeichnend: Glück verkauft sich einfach gut. Vermutlich wird auch ein Glücksberater, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nicht erklären, er sei in der Lage, dem Klienten zum persönlichen Glück zu verhelfen. Wohl aber wird er sich mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert sehen, die er, wenn er sein Geschäft redlich betreibt, wohl meist enttäuschen muß. Und dies wird auf vielen Gebieten der Lebensführung und des Lebenssinns der Fall sein. Sind wir nun also auf dem Weg in die beratene Gesellschaft? In vielen Bereichen sind wir nicht mehr auf dem Weg dorthin, sondern sind schon längst angelangt. In der Wirtschaft und in der Politik ist von Experten geleistete Beratung, sicherlich in unterschiedlichem Maße, unentbehrlich geworden, wenn auch nicht immer, wie wir gesehen haben, auf die Sache selbst bezogen, sondern instrumentalisiert. Weitgehend unverzichtbar sind auch jene Formen der Beratung, die auf die Hilfe bei der Bewältigung individueller und zwischenmenschlicher Probleme ausgerichtet sind. Daß solche Probleme nicht mehr innerhalb der alltäglichen Lebenszusammenhänge gelöst werden können, sondern der externen Expertise bedürfen, mag man bedauern. Es ist nun aber einmal eine Tatsache in unserer Gesellschaft. Beratung wird auch aller Voraussicht nach weiter auf die Lebenswelt ausgreifen. Eine solche Entwicklung sollten wir indessen kritisch beobachten. Schließlich birgt Beratung auf dem Gebiet der Lebensgefühle und der Lebensstile in ganz besonderer Weise immer auch die Gefahr in sich, daß die Adressaten nicht nur sensibilisiert, sondern, vielleicht unbeabsichtigt, auch gelenkt werden. Anmerkungen 1) http://www.bdu/pesse_474html, Zugriff am 09.10.2011. 2) Elke Groß: Beratungsleistungen für soziale Organisationen. Der Wissenstransfer im Beratungsprozeß. Frankfurt am Main 2000, S. 58. 3) Zum folgenden siehe Hans Braun: Vertrauen als Ressource und als Problem. In: Die Neue Ordnung, 4/2008, S. 253 ff. 197 4) Alois Hahn: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft. Opladen 2003, S. 27. 5) So auch Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main 1994. 6) Rolf Dobelli: Klarer Denken. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen. München 2011, S. 85-87. 7) Siehe hierzu Hans Braun: Familien in Deutschland. Strukturen und Entwicklungstendenzen. In: Wolfgang Ockenfels (Hrsg.): Familien zwischen Risiken und Chancen. Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, S. 11-16. 8) Arnd Morkel, Politik und Wissenschaft. Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Beratung in der Politik. Hamburg 1967, S. 117. 9) Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie. I Inferno / Hölle. Italienisch / Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart 2010, XXVI. und XXVII. Gesang, S. 384-419. 10) Zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit im historischen Wandel siehe Michael Jäckel: Zeitzeichen. Einblicke in den Rhythmus der Gesellschaft. Weinheim, Basel 2012, S. 3051. 11) Karlheinz A. Geißler: Zeit – Verweile doch….Lebensformen gegen die Hast. Freiburg, Basel, Wien 2008, S. 195-203. 12) Für eine erste Annäherung an die Thematik bot diese Zeitschrift dem Verfasser bereits 1974 ein Forum. Siehe Hans Braun: Orientierungsprobleme in der modernen Gesellschaft. Der Aufbau von Beratungshilfen als sozialpolitische Aufgabe. In: Die Neue Ordnung, 4/1974, S. 285-294. 13) Hartmut May: Und noch einmal: Chancen der sozialen Schuldnerberatung in der säkularen Krise. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 12/2011, S. 535. 14) Bernhard Badura, Peter Gross: Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen. München 1976. 15) Siehe hierzu Hans Braun: Die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen im „wohlfahrtsstaatlichen Dreieck“. In: Martin Dabrowski, Judith Wolf (Hrsg.): Aufgaben und Grenzen des Sozialstaats. Paderborn 2007, S. 131-140. 16) Wolfgang Ockenfels: Was kommt nach dem Kapitalismus? Augsburg 2011, S. 54. 17) Siehe hierzu Hans Braun: Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen. In: Alfred Bellebaum, Robert Hettlage (Hrsg.): Glück hat viele Gesichter. Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung. Wiesbaden 2010, S. 449-452. 18) Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Herausgegeben von Werner Bellmann. Stuttgart 2011, S. 12. 19) Renate Köcher, Bernd Raffelhüschen: Glücksatlas Deutschland 2011. München 2011. Prof. em. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier. 198 Bericht und Gespräch Hasso Heybrock - Rainer Kreuzhof „Die Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen. Das muß die Wirtschaft tun.“1 Zur Wirkung beschäftigungsfördernder Gesetze im Handwerk 1. Einleitung Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der damit einhergehenden finanziellen Probleme der sozialen Sicherungssysteme, der durch die Globalisierung der Wirtschaft härter gewordenen wettbewerblichen Situation der deutschen Wirtschaft und schließlich der gedämpften konjunkturellen Situation beschloß der deutsche Gesetzgeber ab dem Jahr 2003 mit der agenda 2010 ein Bündel von gesetzgeberischen Reformen, um unter anderem die Wachstumskräfte der Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken.2 Neben Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung und Bildung, Kranken- und Rentenversicherung sowie der Familienpolitik lagen Schwerpunkte der beschlossenen Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Hier wurden Leistungen an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger neu geregelt; dort wurden arbeitgeberfreundliche angebotspolitische Ideen umgesetzt, um die Wirtschaftsbedingungen für Unternehmen (z.B. durch Senkung der Lohnnebenkosten, Steigerung der Flexibilität im Personalbereich) zu verbessern. Im europäischen Kontext spiegeln diese Reformen das Bestreben wieder, einerseits das Arbeits- und Wirtschaftsrecht zu deregulieren und zu flexibilisieren, ohne andererseits die soziale Absicherung der Beschäftigten zu vernachlässigen. Wie der Widerstreit zwischen Flexibilisierung und sozialer Absicherung ausgewogen gestaltet werden kann, ist auch Gegenstand der noch nicht abgeschlossenen Debatte um das „Flexicurity-Konzept“ der Europäischen Kommission.3 Nach diesem Konzept sind folgende Komponenten wichtige Lösungsansätze: flexible und sichere vertragliche Vereinbarungen, umfassende Strategie lebenslangen Lernens, wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und moderne Systeme der sozialen Sicherheit. Die konkrete Ausfüllung dieses Handlungsrahmens soll dabei den jeweiligen nationalen Akteuren in dem sogenannten Verfahren der „offenen Metho199 de der Koordinierung“ überlassen bleiben. Dieses Verfahren berücksichtigt die rechtlich-institutionellen Unterschiede der Mitgliedsstaaten und will durch Formulierung einheitlicher Ziele auf EU-Ebene die Mitgliedsstaaten und deren nationale Sozialpartner zu eigenen nationalen Lösungen führen, wobei die EU-Kommission via Monitoring für ein wechselseitiges Lernen unter den Staaten einstehen will. Mit diesem Verfahrensvorschlag der EU-Kommission ist die im Titel angedeutete Frage aufgeworfen, nicht nur wie, sondern insbesondere durch wen aktuelle Probleme des Arbeitsmarktes in welchem Verfahren gelöst werden sollen und welcher Unterstützungsmaßnahmen es dabei bedarf, um einseitige ungerechte und langfristig unvernünftige Ergebnisse zu vermeiden. Diese Fragestellung ist Anlaß für die nachfolgend dargestellte Untersuchung, mit der die kurz- und langfristigen Wirkungen eines nationalen (deutschen) Ausgleichs von Flexibilisierung und sozialer Sicherung exemplarisch anhand eines Beispiels aufgezeigt werden sollen. Mit der agenda 2010 hat in Deutschland der Gesetzgeber eine Lösung versucht, die im Kern neben einer Verschärfung der Regelungen für Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit eine Öffnung des Arbeitsrechts hinsichtlich atypischer Beschäftigung (Befristung, Leiharbeit, Mini-, Midijobs, Teilzeitarbeit etc.) vorsah. Mit Blick auf den Ansatz der EU-Kommission stellt sich damit die Frage, ob Politik den aktuellen Problemen durch Gesetzgebung begegnen sollte, oder ob die Verantwortung dafür dem freien Kräftespiel der Wirtschaft überlassen werden kann. Dies führt zu der Frage nach den Wirkungen der Reform. Zur Frage, ob die mit den Reformen der agenda 2010 angestrebten Ziele erreicht wurden, gibt es ein Meinungsspektrum, das je nach Betrachtungswinkel von uneingeschränkter Zustimmung bis zur vollständigen Negation reicht. Überwiegender Meinung nach wird in dem Reformpaket ein richtiger Schritt zur damaligen Zeit gesehen, in dem es darum ging, dem vorausgegangenen wirtschaftlichen Abwärtstrend der deutschen Volkswirtschaft mit Maßnahmen zu begegnen, doch sei der Maßnahmenkatalog zu zaghaft ausgestaltet, um die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherung, der Besteuerung und der öffentlichen Haushalte zu lösen.4 In puncto Wirtschafts- und Arbeitspolitik müsse es daher zukünftig darum gehen, die Verkrustungen des deutschen Arbeitsmarktes aufzubrechen und durch Flexibilisierung des Arbeits-, Betriebsverfassungs- und Tarifrechts neue Anreize für Beschäftigung zu setzen.5 Will man jedoch eine Reform reformieren, ist zuvor zu klären, ob das mit der Reform bekämpfte Problem verschwunden oder zumindest wirksam angegangen ist oder ob alternative Ansätze das Problem besser gelöst hätten. Wird Problemlösung durch Rechtsetzung betrieben, ist diese zunächst hinsichtlich ihrer systematischen und teleologischen Stimmigkeit im Ganzen zu überprüfen. Darüber hinaus ist aber eine ganzheitliche und interdisziplinäre Überprüfung notwendig. Diese ist aber wegen der Vielfältigkeit der juristischen sowie volks-, betriebs- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhänge für die Agenda als Ganzes außerordentlich schwierig und im Hinblick auf die Aussagefähigkeit erwarteter Ergebnisse möglicherweise auch fragwürdig. 200 Daher erscheint es sinnvoll, in Teiluntersuchungen zu Teilergebnissen zu kommen, um diese für die weitere Gestaltung der Problemlösung zu nutzen. Zu diesem Zweck wurden im Rahmen einer Pilotstudie die in der agenda 2010 angestrebten beschäftigungsfördernden Wirkungen der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik gegenständlich und örtlich begrenzt untersucht. In dem hier zugrundeliegenden Projekt ging es dabei speziell um die Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe. 2. Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe Warum wurden gerade die Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe untersucht? Handwerksbetriebe sind in unserer Volkswirtschaft eine tragende Säule, insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung von Arbeitnehmern. Gleichzeitig werden diese Betriebe in der betriebswirtschaftlichen und besonders in der personalwirtschaftlichen Forschung in ihrer Besonderheit weitgehend vernachlässigt.6 Dies gilt in der Personalwirtschaftslehre auch dann, wenn klein- und mittelständische Unternehmen Gegenstand der Betrachtung sind.7 Daß bei dieser Forschung gar noch interdisziplinär rechts- und sozialwissenschaftlich vorgegangen wird, dürfte noch seltener sein. Hierfür lassen sich verschiedene Gründe nennen: - Da in Handwerksbetrieben nur wenig Akademiker beschäftigt werden, fehlt den Forschern die entsprechende Sozialisation, um diesen Forschungsgegenstand als bedeutsam wahrzunehmen.8 - Da der einzelne Handwerksbetrieb aufgrund seiner geringen Machtkonzentration als wenig bedeutsam erscheint, gilt er als wenig lohnenswertes Untersuchungsobjekt für die Betriebswirtschaftslehre.9 - Da Handwerksbetriebe aufgrund ihrer Größe – von Ausnahmen einmal abgesehen – kein professionalisiertes Personalmanagement vorweisen können, fehlt auf den ersten Blick ein Bezugspunkt für mögliche Gestaltungsempfehlungen.10 - Da eine interdisziplinäre rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung zumindest in Deutschland noch vergleichsweise selten ist,11 kann nicht erwartet werden, daß sie ausgerechnet Handwerksbetriebe in den Blick nimmt. 1. Regionale Handwerksbetriebe im Focus der Betrachtung Angesichts dieser Voraussetzungen konnte es in der hier vorgelegten Pilotstudie nur um eine erste Sondierung des Untersuchungsfeldes gehen, bei der inhaltliche und methodische Aspekte für ein konkretes Thema exemplarisch in den Focus genommen wurden. Der hier gewählte Ansatz bietet die Möglichkeit, über eine abstrakte Erörterung grundsätzlicher Möglichkeiten hinauszugehen und Forschungsprobleme aufzuweisen, die nur im Zuge des Operationalisierens zutage treten. Das hier zu untersuchende Forschungsfeld läßt sich durch folgende Merkmale eingrenzen: 201 - Gegenstand der Betrachtung sind Handwerksbetriebe unterschiedlicher Gewerke, da in Bezug auf atypische Beschäftigungsverhältnisse deutliche Unterschiede zu erwarten sind. - Räumlich konzentriert sich die Untersuchung auf Betriebe in der deutschdänischen Grenzregion, da die deutlich unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Regelungen in diesen beiden Ländern zu Wechselbeziehungen am Arbeitsmarkt führen könnten. Zudem besteht mit dem dänischen „Flexicurity“-Konzept12 ein alternativer Entwurf arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Ordnung, der gemessen am Grad der Beschäftigung der Bevölkerung erfolgversprechend erscheint. - Die Bezugnahme auf atypische Beschäftigungsverhältnisse erscheint besonders interessant zu sein, da es sich um ein vergleichsweise neues Flexibilisierungsinstrument am Arbeitsmarkt handelt, dessen Auswirkungen möglicherweise noch nicht hinreichend untersucht sind. 2. Betriebs- und Politikberatung als Zielsetzung Schon bei der Bestimmung der Untersuchungsziele zeigen sich die Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes. Da Handwerksbetriebe gerade im Bereich des Personalmanagements aufgrund ihrer Größennachteile nur sehr begrenzt als unmittelbarer Ansprechpartner zur Verfügung stehen, gilt es, überbetriebliche Institutionen der Handwerksorganisation, wie Handwerkskammern und Innungen, als professionalisierte Träger der Gewerbe- und Handwerksförderung verstärkt einzubeziehen.13 Diese Institutionen können auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse zielgerichtete Unterstützungsmaßnahmen der Beratung, Qualifizierung etc. bereitstellen, so daß für den einzelnen Handwerksbetrieb größenspezifische Nachteile ausgeglichen werden. Mit Blick auf die Diskussionen um das „FlexicurityKonzept“ der EU-Kommission ist hier anzumerken, daß derartige überbetriebliche Institutionen nicht in allen Mitgliedsstaaten in der beschriebenen Form bestehen. Gerade bei den hier gewonnenen Erkenntnissen aus der Rechtsfolgenabschätzung bietet sich eine Nutzung in Richtung Politikberatung an. Wenn Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik einen Sinn haben soll, dann doch nur, wenn die bezweckten Ziele erreicht und insbesondere kontraintentionelle Gesetzesfolgen14 vermieden werden. Dabei nutzen jedoch reine modelltheoretische Erörterungen nur wenig, vielmehr gilt es die konkreten Auswirkungen entsprechender Maßnahmen zu berücksichtigen. Und hier zeigt gerade die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte angesichts der bestehenden Wirtschaftskrise, daß Handwerksbetriebe einen besonderen Nachholbedarf im Hinblick auf die Berücksichtigung ihrer betriebs- und gewerkespezifischen Besonderheiten haben. Auch hier bieten sich wiederum die Institutionen der Handwerksorganisation als Träger der Politikberatung an. 3. Ökonomische Analyse des Rechts als Methodik Die klassische positivistische Rechtstheorie befaßt sich meist mit der formalen Stimmigkeit rechtlicher Aussagen und führt in der Folge zu einer Normenlogik.15 Im Rahmen dieser Untersuchung bedeutet das, daß beispielsweise zu prüfen wäre, - ob die Rechtsnormen zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen mit den durch die Verfassung gegebenen Grundnormen der Wirtschaftsordnung vereinbar sind, 202 - ob die Rechtsnormen intrasystematisch schlüssig, also Rechtsnormen zu den verschiedenen atypischen Beschäftigungsverhältnissen, logisch und systematisch widerspruchsfrei sind. Die ökonomische Analyse des Rechts in ihrer normativen Variante geht darüber hinaus und fragt nach den Auswirkungen rechtlicher Normen. Sie unternimmt den Versuch, das Recht als Solches an der Optimierung seiner gesamtwirtschaftlichen Folgen auszurichten; das Recht soll mit Hilfe von ökonomischen Effizienz- oder Optimierungskriterien bewertet werden.16 Dabei wird aber nicht ein einzelnes Gesetz daraufhin betrachtet, welche Wirkungen es hat, um dann z.B. zum Ergebnis zu gelangen, daß es ungerecht sei. Stattdessen wird geprüft, wie die Individuen, die Adressaten des Gesetzes, auf die Gesetzgebungsalternative A reagieren werden. Dann wird überprüft, wie die Individuen sich unter der Gesetzgebungsalternative B verhalten werden. Schließlich werden die Verhaltensauswirkungen der Gesetzgebungsalternativen verglichen, um zu ermitteln, welche der beiden Folgen aus Sicht des Gesetzgebers attraktiver sind.17 Der ökonomischen Effizienz durch diesen normativen Ansatz der ökonomischen Analyse des Rechts den Vorrang vor traditionellen Kriterien der Gerechtigkeit einzuräumen, greift jedoch zu kurz.18 Mit einem pragmatischen Ansatz von Law and Economics könnte der Weg zu einer umsichtigen Rechtsetzung und Rechtsanwendung, die stets auch nach ihrem wirtschaftlichen Sinn zu beurteilen sind, bereitet werden. Neben dem Effizienzkriterium sollen nach diesem pragmatischen Verständnis etablierte Gerechtigkeitskriterien, die betroffene Individuen davor schützen, einschneidende Einschränkungen ihrer Rechtspositionen zur Steigerung der volkswirtschaftlichen Effizienz hinnehmen zu müssen, gewahrt bleiben.19 Nur so wird dem das deutsche Privatrecht prägenden Gedanken einer umfassenden nur durch sich selbst und dem Gleichheitsgrundsatz beschränkten Vertragsfreiheit gebührend Rechnung getragen. Bezogen auf den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand führt dieser pragmatische Ansatz zu folgenden Fragen: - Benutzen die Handwerksbetriebe atypische Beschäftigungsverhältnisse dem durch die Gesetzesmotivation vorgegebenen Zweck entsprechend? - In welchem Maße und in welcher Weise nutzen die Handwerksbetriebe der Region der Handwerkskammer Flensburg die rechtlichen Möglichkeiten zu den verschiedenen atypischen Beschäftigungsverhältnissen und mit welchen betriebswirtschaftlichen und personellen Folgen ist dabei zu rechnen. - Welche alternativen gesetzlichen Möglichkeiten bestehen bei der Arbeitsflexibilisierung derzeit (z.B. intern Flexibilisierung durch Überstunden/Kurzarbeit, oder extern Einstellung/Entlassung) bzw. zukünftig (Orientierung am dänischen Arbeitsrecht). Die ökonomische Analyse des Rechts, so wie sie hier dargelegt wurde, dient allerdings lediglich der Politikberatung. Das bedeutet, daß die Handwerksorganisationen mit den hier gewonnenen Erkenntnissen aufzeigen können, ob und gegebenenfalls wie gesetzliche Regelungen zu gestalten wären, damit Handwerksbetriebe erfolgreich wirtschaften können. Im Zuge der Wirkungsanalyse bietet sich aber bei 203 entsprechender Gestaltung des Untersuchungsdesigns die Möglichkeit zu erkennen, ob unerwünschte Folgen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse sich eventuell auch aus dem Fehlen von Unterstützungsmaßnahmen für die Handwerksbetriebe ergeben, so daß hier beide Untersuchungsziele angestrebt werden können. 3. Untersuchungsdesign der ökonomischen Rechtsanalyse 1. Zielsetzung und Vorgehensweise der rechtswissenschaftlichen Untersuchung Es sollen die gesetzgeberische Intention für die rechtliche Legitimation (altbekannter und neuer) atypischer Beschäftigungsverhältnisse untersucht sowie die Zulässigkeitsgrenzen nach der jeweiligen Gesetzesmotivation erarbeitet werden. Mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen sind in einer negativen Abgrenzung zum Normalarbeitsverhältnis all jene Beschäftigungsformen gemeint, die nicht in Vollzeit, unbefristet und in die sozialen Sicherungssysteme integriert sind sowie in Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber ausgeübt werden.20 Hierzu zählen, nachfolgend in der Reihenfolge ihres Aufkommens gemessen an der Gesamtbeschäftigung: Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung.21 Inhalt der rechtlichen Untersuchung ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen und damit beständige rechtliche Grundwerte und Grundsätze (Arbeitnehmerschutz vs. Vertragsfreiheit; Umgehungsverbot vs. wirtschaftlicher Interessen; Kündigungsschutzinteresse vs. Vertragsbindung; Ausbildung vs. Investition etc.) festzustellen. Dazu werden atypische Beschäftigungsverhältnisse in ihren wichtigsten Erscheinungsformen dargestellt. Ihre rechtlichen Grundlagen werden hinsichtlich des Normzwecks untersucht und daraus die Gesetzesintention abgeleitet. Die anschließende empirische Untersuchung soll die praktizierte Bedeutung atypischer Beschäftigungsverhältnisse in den maßgeblichen Branchen aufzeigen, um anschließend im Kontext des rechtlichen Rahmens Nutzung und Folgen atypischer Beschäftigung zu thematisieren. 2. Interpretationsmodell der sozialwissenschaftlichen Untersuchung Um nicht nur die Auswirkungen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im Handwerk, sondern auch den Wirkungszusammenhang zwischen der betrieblichen und der gesellschaftlichen Ebene abschätzen zu können, bedarf es eines Interpretationsmodells zu diesem Zusammenhang. Hier bietet sich das aus der Moralökonomie des Wirtschaftsethikers Karl Homann stammende Modell der Verhaltenssteuerung an. In seiner Argumentation unterscheidet er zwischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie. Auf der Ebene der Handlungstheorie strebt der Einzelne mit Hilfe geeigneter Mittel seine Ziele unter bestimmten Bedingungen an. In unserem Falle versucht der Handwerksmeister mit Hilfe von atypischen Beschäftigungsverhältnissen seine Kosten- bzw. Flexibilisierungsziele zu erreichen. Als Bedingungen gelten hier zum einen die Rechtslage zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen und zum anderen die Unterstützungsangebote der Handwerksorganisationen (zum Beispiel der Handwerkskammer). Im Ergebnis wird der Handwerksbetrieb erfolgreich oder nicht erfolgreich sein. Hinzu kommt noch die Arbeitszufriedenheit bzw. Arbeitsbeanspruchung der Mitarbeiter durch die atypi204 sche Beschäftigung als Arbeitsbedingung, die wiederum ihrerseits Einfluß auf den Unternehmenserfolg haben kann. Die Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse als Handlung auf der einzelbetrieblichen Ebene führt in der Summe zu Handlungen auf der gesellschaftlichen Ebene. In Verbindung mit der Rechtsprechung (Regeln/Institutionen) und dem Gesetzgebungssystem als Rahmenbedingung zeigen sich gesellschaftliche Ergebnisse im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung bzw. den Arbeitsschutz.22 Mit Hilfe dieses Interpretationsmodells und entsprechender empirischer Untersuchungsmethoden können nun einerseits die Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und deren Folgen abgeschätzt und andererseits mögliche einzelbetriebliche Motive und Informationslagen etc. erfaßt werden. 3. Die Teiluntersuchungen im Zusammenhang Im Rahmen der hier vorliegenden Pilotstudie galt es, bei der Auswahl der Untersuchungsmethoden einerseits darauf zu achten, daß vorhandene Erkenntnisse optimal genutzt werden, um die Belastungen für die zu Befragenden in Grenzen zu halten, und andererseits eine größtmögliche Interpretationsoffenheit vor allem im Hinblick auf subjektive Sichtweisen von Entscheidern zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund boten sich für die notwendigen zwei Teiluntersuchungen (betriebliche / gesellschaftliche Ebene) unterschiedliche methodische Ansätze an: Auf der gesellschaftlichen Ebene ging es darum, objektive Aussagen über diese Ebene zu gewinnen. Als empirische Methodik wurde hier die Sekundäranalyse genutzt, bei der vorhandenes Material unabhängig von dem ursprünglichen Zweck und Bezugsrahmen der Datensammlung ausgewertet wird.23 Die Sekundäranalyse zu „Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe“ beschränkt sich auf empirische Untersuchungen im Themenfeld. Ziel war, die Struktur und Entwicklung atypischer Beschäftigungsverhältnisse zu analysieren und ihre betriebswirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen auf Handwerkbetriebe der Handwerkskammer Flensburg einzuschätzen. Um die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen einschätzen zu können, gehörten auch die Wechselwirkungen zwischen dem deutschen und dänischen Arbeitsmarkt zum Untersuchungsfeld. Folgende Teilbereiche wurden in die Untersuchung einbezogen: 1. Daten zur Struktur der Handwerksbetriebe der Handwerkskammer Flensburg nach Betriebsgrößenklassen und Gewerken 2. Daten zur Struktur und Entwicklung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im Handwerk bzw. in Schleswig Holstein 3. Daten zu den Wechselwirkungen zwischen deutschem und dänischem Arbeitsmarkt 4. Daten zu den betriebswirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen der atypischen Beschäftigungsverhältnisse Auf der betrieblichen Ebene dieser Studie ging es – wie bereits dargelegt – auch um subjektive Motive und Sichtweisen, so daß hier der Zugriff auf qualitative problemzentrierte Interviews als empirische Methodik geeignet erschien.24 Befragt 205 wurden fünf Obermeister von Innungen, die jeweils exemplarisch Auskünfte zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen von Gewerken ähnlicher Struktur geben konnten. Es war also beispielsweise zu vermuten, daß sich die Nutzung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen bei Bäckern und Fleischern nicht grundsätzlich unterscheiden werde, so daß nur ein Obermeister zu befragen war. Da die Obermeister für das jeweilige Gewerk als Experten gelten konnten, wurde auf die Befragung einer Vielzahl von Handwerksmeistern verzichtet. Die Interviews wurden nach einem Anschreiben und der Terminabsprache jeweils von zwei Interviewern durchgeführt und die Aussagen der Obermeister sind sowohl schriftlich durch Notizen als auch informationstechnisch durch Aufnahmegerät festgehalten worden. Anschließend haben die Interviewer jeweils das Protokoll erstellt und ausgewertet.25 4. Die Untersuchungsergebnisse zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen 1. Struktur der Auswertung Bevor einzelne Untersuchungsergebnisse vorgestellt werden können, ist noch auf die Struktur der Auswertung einzugehen. Hierbei werden bereits auf dieser Ebene Erkenntnisdefizite und damit Handlungspotentiale sichtbar. Auch wenn letztlich eine integrative rechts- und sozialwissenschaftliche Untersuchung angestrebt wurde, ist zunächst zwischen beiden Aspekten zu unterscheiden. In der rechtwissenschaftlichen Untersuchung ging es erst einmal darum, die Intentionen des Gesetzgebers für die einzelnen Gesetze und Normen zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu ermitteln. Dabei zeigte sich, daß der Gesetzgeber seinerseits auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Annahmen zur Wettbewerbs- und Familiensituation etc. in der Gesetzesbegründung zurückgegriffen hat. Aus den Intentionen des Gesetzgebers lassen sich nun in der Folge Fragen zur Nutzung und Wirkung der Rechtsnormen ableiten. Wurden also die Möglichkeiten zur Befristung oder zur Zeitarbeit beispielsweise genutzt und zeigten sich dabei die angestrebten Wirkungen, wie Flexibilität der Betriebe oder erhöhte Beschäftigungsmöglichkeiten für die Arbeitnehmer? In der parallel durchgeführten sozialwissenschaftlichen Untersuchung galt es, im Rahmen der Sekundäranalyse zu ermitteln, welche Erkenntnisse zur Nutzung und Wirkung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse im regionalen Handwerk bereits vorliegen. Und hier zeigen sich erste interessante strukturelle Unterschiede, da die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nur Teilbereiche der sich aus den Intentionen ergebenden Fragestellungen abdecken, andererseits aber zusätzliche Aspekte behandeln. Das bedeutet zweierlei: Zum einen hat der Gesetzgeber die möglichen Wirkungen der Gesetze im Vorfeld nur unzureichend abgeschätzt und zum anderen orientieren sich Sozialwissenschaftler bei der Untersuchung der Wirkungen von Rechtsnormen nur unzureichend an den jeweiligen Intentionen des Gesetzgebers bzw. die Wirkungen sind nur schwer oder gar nicht zu erfassen. Letzteres hängt möglicherweise mit der subjektiven Situationswahrnehmung, Begründung und Wirkungsabschätzung der einzelwirtschaftlichen Handlungsträger 206 bei der Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse zusammen, wie die qualitativen Interviews im Rahmen dieser Studie vermuten lassen. 2. Zusammenfassung der Teiluntersuchungsergebnisse Folgende Ergebnisse zeigen sich im Einzelnen: Bei den Intentionen des Gesetzgebers wurde deutlich, daß vor allem die Flexibilität der Betriebe, die Beschäftigungsförderung der Arbeitnehmer und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert werden sollten. Diese sehr pauschale Sicht auf die Wirtschaft als Ganzes berücksichtigt aber beispielsweise die dieser Untersuchung zugrundeliegende spezifische Problematik regionaler Handwerksbetriebe nur unzureichend. Bei der Nutzung und Wirkung kann ein international agierender Automobilkonzern nicht mit einem regional arbeitenden Bäckereibetrieb gleichgesetzt werden. Aus den ermittelten Intentionen ergeben sich daher zunächst einmal Fragen nach der differenzierten Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse nach Größe, Branche und Standort der Betriebe sowie Qualifikationsstruktur und Geschlecht der nutzenden Arbeitnehmer. Darüber hinaus erscheint ein Abgleich von Intention des Gesetzgebers und Nutzungsbegründung von Unternehmern und Mitarbeitern bedeutsam. Und schließlich gilt es auch, die betriebs- und personalwirtschaftlichen Wirkungen der Nutzung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu ermitteln.26 Die Ergebnisse der Sekundäranalyse zeigen dabei, daß die regionalen Handwerksbetriebe atypische Beschäftigungsverhältnisse nur in sehr begrenztem Maße nutzen. Vor allem Befristungen und Leiharbeit werden kaum genutzt. Die Unternehmen des Baugewerbes beschäftigen aufgrund der Rechtslage stattdessen Subunternehmer. Lediglich im Verkauf bzw. bei handwerklichen Dienstleistungen werden Teilzeitarbeit und Mini-Jobs verstärkt eingesetzt. Bezüglich der betriebs- und personalwirtschaftlichen Wirkungen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse liegen zwar Erklärungsmodelle, aber kaum tragfähige empirische Erkenntnisse vor. Lediglich bei den gesundheitlichen Folgen gibt es erste allgemeine Untersuchungen, die zeigen, daß Teilzeitarbeit bzw. Mini-Jobs zu einer Verschlechterung der sozialen Sicherung führen und daß Leiharbeit bzw. Befristungen die Lebensplanung beeinträchtigen. Warum liegt aber in diesem Bereich so wenig Datenmaterial vor? Für den Bereich des Handwerks zeigen die Ergebnisse der qualitativen Interviews, daß sich die Handwerksmeister zwar durch die Kreishandwerkerschaften gut informiert fühlen, allerdings kaum Vorstellungen über die Möglichkeiten der Nutzung und vor allem die gesundheitlichen und sozialen Wirkungen dieser Beschäftigungsformen haben. Handwerksbetriebe scheinen zuallererst technikorientiert zu sein; betriebswirtschaftliche oder gar personalwirtschaftliche Fragen treten nur in begrenztem Maße in das Blickfeld dieser Entscheidungsträger. 3. Rekonstruktion eines integrativen Erklärungsmodells Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung läßt sich das nachfolgende integrative Erklärungsmodell zur Nutzung und Wirkung atypischer Beschäftigungsverhältnisse rekonstruieren: 1. Ausgangspunkt ist dabei das Gesetzgebungsverfahren zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen. In diesem nimmt der Gesetzgeber Anstöße aus der sozialen Wirklichkeit in die Gesetzesbegründung auf. Idealerweise sollte dabei 207 eine fundierte empirische Datenlage vorhanden sein und es sollten auch umfassende Rechtsfolgenabschätzungen vorgenommen werden. 2. Nach dem Inkrafttreten der Gesetze nutzen die betrieblichen Entscheidungsträger – in diesem Fall aus den regionalen Handwerksbetrieben – diese rechtlichen Möglichkeiten. Dabei haben die Unternehmer und Mitarbeiter entsprechende Zielsetzungen bzw. Intentionen. Idealerweise sollten auch hier fundierte Kenntnisse sowohl bezüglich der Rechtslage als auch der wirtschaftlichen Lage vorliegen. Dies beinhaltet auch die einzelfallbezogene Abschätzung der betriebs- und personalwirtschaftlichen sowie gesundheitlichen und sozialen Folgen der Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse. 3. Im Idealfall nutzen die Entscheider die rechtlichen Möglichkeiten entsprechend der wirtschaftlichen Lage bzw. sozialen Situation und die Wirkungen entsprechen der Rechtsfolgenabschätzung. 4. Allerdings dürfte dies nur selten vollständig gelingen, so daß eine Rückkoppelung zum Gesetzgebungsverfahren notwendig wird. Maßstab für eine erfolgreiche Gesetzeseinführung ist also die möglichst weitgehende Annäherung an das zuvor beschriebene Idealmodell. Wozu dient nun dieses integrative Erklärungsmodell? In Beantwortung dieser Frage ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß dieses Modell als Basis für eine umfassende empirische Rechtsfolgenabschätzung dienen kann. Darüber hinaus können bei entsprechender Datenlage aber auch Handlungspotentiale sowohl für die Betriebe als auch für die Politikberatung aufgezeigt werden.27 5. Schlußfolgerungen aus der ökonomischen Rechtsanalyse Die Untersuchung zeigt, daß in einem bedeutenden Bereich des deutschen Wirtschaftssystems gesetzgeberische Intentionen nicht vollständig erreicht beziehungsweise verfehlt werden. 1. Handlungspotentiale für die Handwerksorganisationen Die deutschen Handwerksorganisationen (Handwerkskammer, Kreishandwerkerschaften, Innungen) haben einen bedeutenden Einfluß auf die Umsetzung und Gestaltung der durch Recht gesetzten Wirtschaftsbedingungen in Deutschland. Daher ist zu prüfen, welche Schlußfolgerungen aus der hier vorgelegten Pilotstudie im Hinblick auf Handlungspotentiale für die Handwerksorganisationen gezogen werden können. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, daß es sich hier um eine Pilotstudie handelt, deren Aussagekraft begrenzt ist. Allerdings konnte exemplarisch gezeigt werden, daß Problemlösungsdefizite bei den Handlungsträgern im regionalen Handwerk im Hinblick auf atypische Beschäftigungsverhältnisse vorliegen. Diese umfassen sowohl die Situationswahrnehmung als auch die Nutzungsbegründung einschließlich der Wirkungsabschätzung. Dies ist auch nachvollziehbar, da – wie bereits eingangs dargestellt – Handwerksbetriebe eher technikorientiert sind und aufgrund ihrer Größe keine ausreichende Personal- und Arbeitsrechtskompetenz besitzen. Aus diesem Grund erscheinen überbetriebliche Unterstützungsmaßnahmen in diesem Bereich sinnvoll. Und dies gilt natürlich nicht nur für den speziellen Themenbereich der atypischen Beschäftigung, denn bereits hier 208 führt die Diskussion zu alternativen Flexibilisierungsstrategien und damit zu Fragen eines allgemeinen Personalmanagements. Die verschiedenen Träger der Gewerbe- und Handwerksförderung, wie Kammern, Kreishandwerkerschaften und Innungen, stellen auch in Schleswig Holstein aber bereits eine Vielzahl von Weiterbildungs- und Beratungsangeboten in diesem Bereich zur Verfügung. Was jedoch fehlt, ist eine bedarfsorientierte Zusammenführung dieser Angebote, so daß der Nutzer nicht den Überblick verliert. Eine Zentralisierung erscheint dabei aber weder möglich noch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sinnvoll zu sein. Vielmehr geht es eher darum, regionale Netzwerke aufzubauen, die verschiedene Servicefunktionen wahrnehmen. Diese Netzwerke zum Personalmanagement bei den Handwerkskammern anzusiedeln ist von Vorteil, weil nicht nur Unternehmens- und Mitarbeiterinteressen aufgegriffen würden, sondern auch die Aufgabe der Kammern, Politikberatung zu betreiben, gefördert würde. Auf diese Weise könnten diese Netzwerke die Verknüpfung im Sinne eines Wissensmanagements und einer Lotsenfunktion leisten. Übertragen auf das „Flexicurity-Konzept“ der EU-Kommission und die darin vorgeschlagene offenen Methode der Koordinierung (OMK) bedeutete dies, wertvolle Unterstützungsarbeit für die nationalen Akteure (Kammern, Verbände, Gewerkschaften) zu leisten. Was könnte ein regionales Netzwerk Personalmanagement im Handwerk leisten? - Die Unterstützungsangebote könnten gebündelt werden. Ein Netzwerkbeauftragter führt dabei die Handwerksmeister als Lotse durch die verschiedenen Unterstützungsangebote der Handwerkskammern und auch anderer Institutionen. - Bei der Weiterbildung könnten „maßgeschneiderte“ Qualifizierungsmaßnahmen für spezifische Gruppen von Handwerksbetrieben konzipiert werden. - Ein Frühwarnsystem könnte entwickelt werden, das Erkenntnisse über wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklungen, die Einfluß auf das Personalmanagement haben, sammelt und aufbereitet. Insgesamt führten diese Maßnahmen zu einem integrierten Unterstützungsangebot, das die bereits bestehenden Ansätze erst in vollem Umfang wirksam werden läßt. 2. Handlungspotentiale für die Politik Wie bereits bei den Handlungspotentialen der Handwerksorganisationen dargelegt, gehören die Politikberatung und in der Folge auch die Lobbyarbeit zu den Aufgaben dieser Institutionen. Lobbyarbeit als Interessenpolitik gilt zwar im Rahmen der politischen Theorie grundsätzlich als legitim, unterliegt aber in ihrer Art und Weise zunehmender Kritik. Weitgehend unproblematische Mittel sind in diesem Zusammenhang aber die Information und Kommunikation.28 Dies gilt zumindest, solange die zugrundeliegenden Sachinformationen die soziale Wirklichkeit realistisch abbilden. Und hier bietet der im Rahmen dieser Studie entwickelte Ansatz zur Rechtsfolgenabschätzung im Zusammenhang mit den angestrebten regionalen Netzwerken zum Personalmanagement einige Vorteile: - Aus einem Netzwerk Personalmanagement erhält die Politik fundiert Informationen über existente Probleme und deren mögliche Ursachen. Folge: Politik handelt informiert (rational). 209 - Lösungsvorschläge und damit politische Forderungen erfolgen zielgruppennah. Folge: Politik handelt problemlösungsorientiert. - Fehl- und Folgewirkungen gesetzgeberischer Lösungen werden sichtbar und könnten korrigiert werden. Folge: Politik nimmt Freiheitsauftrag wahr; z.B. Deregulierung als Alternative. In dieser Pilotstudie wurde eingangs die ökonomische Analyse des Rechts als methodische Basis der Untersuchung vorgestellt. Bisher konnten jedoch nur erste Hinweise zu einer Rechtsfolgenabschätzung im Hinblick auf die atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Bereich der regionalen Handwerksbetriebe vorgelegt werden. In einer vollständigen ökonomischen Analyse des Rechts wäre aber auch die Beurteilung rechtlicher Alternativen Gegenstand der Betrachtung. Die Prüfung, wie sich im Vergleich zur gesetzgeberischen Lösung rechtliche Alternativen auswirken würden, ist mit Blick auf Art. 2 GG geboten, sobald freiheitsbeschränkende Regelungen gesetzt werden sollen. Für die Politik bedeutet dies ein weiteres wichtiges Handlungspotential. Unter Betrachtung der nahezu allen atypischen Beschäftigungsverhältnissen innewohnenden Gesetzesintention der Flexibilisierung auf sowohl Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite böte sich auf den ersten Blick das dänische Flexicurity-Konzept an. In diesem Konzept ist der Arbeitsmarkt durch Absenkung des Kündigungsschutzes bei gleichzeitiger Verstärkung der sozialen Sicherung in der Arbeitslosigkeit höchst flexibel gestaltet und die Arbeitslosigkeit gilt in der Folge im europäischen Vergleich als sehr gering.29 Im Rahmen dieser Studie zeigten sich zunächst einmal keine besonderen Wechselbeziehungen zwischen dem dänischen und dem deutschen Arbeitsmarkt im Bereich der atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Frage lautet jedoch: Wäre eine Absenkung des Kündigungsschutzes bei gleichzeitiger Verbesserung der sozialen Sicherung für das Handwerk in Deutschland eine Alternative zu der bisherigen sehr differenzierten Ausgestaltung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse? Angesichts der Defizite bei der subjektiven Wahrnehmung der Rechtslage und der sozialen Wirkung durch die Handlungsträger gerade im Handwerk erscheint das Flexicurity-Konzept auf den ersten Blick vorteilhaft. Und auch aus Sicht der Gewerkschaften bietet dieser Ansatz interessante Lernmöglichkeiten für andere Länder zum Abbau von Arbeitslosigkeit.30 Bei genauerer Betrachtung zeigt aber gerade das hier vorgelegte Konzept zur Rechtsfolgenabschätzung, daß eine solche Beurteilung nicht so einfach ist. Denn zunächst einmal darf der Fokus nicht immer nur auf wenige Intentionen bzw. Wirkungen – hier Arbeitslosigkeit bzw. Vertragsfreiheit – gelegt werden, da sonst ungeplante Nebenwirkungen den Erfolg beeinträchtigen oder gar verhindern. In diesem Zusammenhang ist möglicherweise an die unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnisse im Rahmen der Arbeitskultur und deren Wirkungen auf die Leistung zu denken. Und darüber hinaus legen die hier vorgelegten Untersuchungsergebnisse die Einschätzung nahe, daß die in diesem Fall notwendige Prognose der Wirkungen äußerst schwierig und aufwendig sein dürfte und daher im Rahmen dieser Studie natürlich nicht geleistet werden kann. Doch bleibt zu prüfen, ob trotz des Aufwands die Prognose der Wirkungen nicht betrieben werden muß, um weitrei210 chende Folgen – zum Beispiel demographische Veränderungen – zu erkennen und gegebenenfalls zu vermeiden. 3. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts Zum Abschluß dieser Studie erscheint es sinnvoll zu sein, noch einmal auf die Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts einzugehen. Die ökonomische Analyse des Rechts wurde in dieser Untersuchung verstanden als eine Überprüfung der gesetzgeberischen Intention – hier der atypischen Beschäftigungsverhältnisse – in Bezug auf Ziel- und Zweckerreichung bzw. Fehl- und Folgewirkungen. Dabei konnten die Funktionsweise und Wirkung einer gesetzgeberischen Lösung für einen speziellen Wirtschaftsbereich – hier das regionale Handwerk – aufgezeigt werden. Eine Überprüfung der gesetzgeberischen Intention insgesamt kann aber erst nach einer gewissen Dauer durchgeführt werden, wenn hinreichend statistisches Material vorliegt. Hierbei zeigte sich, daß die Aussagen dann begrenzt sind, wenn die gesetzgeberische Lösung eines Problems in bestimmten Zielgruppen – hier der Handwerksmeister – überhaupt nicht bekannt ist. In diesem Fall wird die gesetzgeberische Intention oft nicht nachgefragt und die Lösung zweckentfremdet verwendet. Darüber hinaus können die Wechselwirkung gesetzgeberischer Intentionen und Lösungen auf verschiedenen Gebieten einzelnen Intentionen zuwiderlaufen. Idealtypisch geht es aber bei der ökonomischen Analyse des Rechts um die prognostizierten Verhaltenswirkungen31 und hier besteht eine erste Schwierigkeit. Ex ante lassen sich diese Wirkungen vor allem in ihrer Vielschichtigkeit über mehrere Gesetzesalternativen hinweg nur mit großem Aufwand prognostizieren, so daß die Gefahr besteht, daß alternative Gesetzesausprägungen ausgeschlossen und einzelne erhoffte Wirkungen stärker in den Fokus genommen werden. Aus diesem Grund gilt es, die informationellen Rahmenbedingungen in diesem Bereich zu verstärken, so daß die Gefahr von interessenbezogenen Einseitigkeiten und in der Folge Fehlentscheidungen begrenzt wird. Die angestrebten regionalen Netzwerke zum Personalmanagement stehen dafür als Instrument zur Verfügung. Neben dem zuvor angesprochenen Erkenntnisproblem der ökonomischen Analyse des Rechts verweist die hier vorgelegte Studie noch auf eine zweite Fragestellung. Im Rahmen der Hinweise zur Politikberatung wurde bereits auf das Problem des Lobbyismus hingewiesen. Das hier vorgelegte Verständnis zur Rechtsfolgenabschätzung bot dabei durch Einbeziehung möglichst aller Haupt- und Nebenwirkungen und damit indirekt aller Interessen eine weitgehende Begrenzung dieses Problems. Die klassische Form der ökonomischen Analyse des Rechts führt uns aber zu dem für dieses Konzept konstitutiven Verständnis des Menschenbildes des homo oeconomicus, der lediglich seinen eigenen Nutzen anstrebt. Diese Fiktion des homo oeconomicus erscheint in der traditionellen Diktion aber weder normativ noch empirisch begründbar. Allerdings kann die Präferenzstruktur des Handelnden natürlich auch um soziale Bedürfnisse einschließlich des Wunsches nach Gerechtigkeit etc. erweitert werden, so daß eine ideologische Verengung vermieden wird und Raum für Freiheit und Verantwortung entsteht.32 Bezogen auf die ökonomische Analyse des Rechts stellt sich damit wieder die Frage nach den Entschei211 dungsträgern in der Politik, also nach den Politikern und Lobbyisten mit ihren Interessen und Nutzenvorstellungen. Und hier sind natürlich die zuvor genannten Schwächen des Utilitarismus zu vermeiden. Die im Rahmen dieser Studie vorgelegten Erkenntnisse und Handlungsoptionen helfen – wie bereits dargelegt –, dieses Problem zu mildern. Übrigens führen diese Hinweise – wenn auch auf Umwegen – wieder zu der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit.33 Bezogen auf die Nutzung atypischer Beschäftigungsverhältnisse im regionalen Handwerk kann also gesagt werden, daß die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft langfristig erfolgreich und verantwortungsbewußt handeln, wenn sie sich über alle Alternativen und Wirkungen umfassend informieren und damit indirekt auch alle Interessen einbeziehen.34 6. Resümee Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit das nachfolgende Resümee überregional bzw. übernational verwertbar ist. Natürlich gibt es Spezifika, die ein pauschales Übertragen der Schlußfolgerungen verbieten. Dennoch meinen die Autoren, daß die Verdeutlichung der Wechselwirkungen von Rechtssetzung und Rechtsanwendung ein internationales Bemühen um die Verbesserung der Bedingungen lohnt. Die im Titel angedeutete Frage, nicht nur wie, sondern insbesondere durch wen aktuelle Probleme des Arbeitsmarktes in welchem Verfahren gelöst werden sollen und welcher Unterstützungsmaßnahmen es dabei bedarf, um einseitige ungerechte und langfristig unvernünftige Ergebnisse zu vermeiden, ist mit den Ergebnissen dieser Untersuchung sicher nicht beantwortet. Zum Verfahren läßt sich jedoch folgendes sagen: Wenn wir uns die Aussage des damaligen Bundeskanzlers Schröder vor Augen führen, so scheint es richtig zu sein, daß die Politik keine Arbeitsplätze schaffen kann, sondern das dieses Ziel durch Andere erreicht werden muß. Dies kann nur gelingen, wenn der durch Rechtsetzung vorgegebene Rahmen vom Rechtsanwender in der intendierten Weise genutzt wird und auch genutzt werden kann. Rechtsnormen müssen intrasystematisch schlüssig und als Konfliktlösungsmodelle alternativ am effizientesten sein, um nicht bereits dadurch kontraintentionelle Wirkungen auszulösen. Die im Rechtsetzungsprozeß zu stellende Prognose zur Mitwirkung des Rechtsanwenders und der damit verbundenen Folgen muß interdisziplinär (überwiegend durch: Rechts-, Volks-, Betriebs-, Sozialwissenschaften) begründet sein und bedarf der regelmäßigen Überprüfung. Korrekturen sollten möglich, aber nur als Ausnahmereaktion vorgesehen sein. Höchstrichterlich angemahnte Rechtssetzungskorrekturen und die damit angestrebte Beseitigung oft jahrelang bewirkten Unrechts sind zumindest teilweise Ausdruck mangelhaften Handwerks im Rechtssetzungsprozeß und bestenfalls durch einen Wandel gesellschaftlicher Wertauffassungen vertretbar. Auf der anderen Seite muß der Rechtsanwender den Intentionen folgen. Dazu muß er diese kennen und sicher sein, daß sie effizient, sozial und gerecht sind, also ihm nutzen. Die Forderung an den Rechtsanwender, den gesetzten rechtlichen Rahmen verantwortungsvoll – also im Sinne der Intentionen – zu nutzen, setzt das Wissen 212 um die Intentionen und das Bewußtsein darüber voraus, daß durch unsachgemäße Rechtsanwendung verursachten kontraintentionellen Gesetzesfolgen durch neue Rechtsetzungsakte begegnet werden wird. Und diese haben wiederum Auswirkungen auf das wirtschaftliche Handeln der Akteure. Rechtsetzung und Rechtsanwendung bedürfen also der wechselseitigen umfassenden und nachhaltigen Information und Beratung über die Intentionen und Wirkungen. Angesichts der weitreichenden Folgen mangelhafter Rechtsetzung und unverantwortlicher Rechtsanwendung auf die Gesellschaft lohnt sich der Aufwand. Anders formuliert: Nur gemeinsam können Politik und Wirtschaft Arbeitsplätze schaffen. Anmerkungen Die Quellen der rechts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchung werden hier nicht eigens angeführt, sie können bei den Autoren angefordert werden. 1) Überschrift-Zitat: Schröder, Gerhard (2003): Antworten zur Agenda 2010, hrsg. v. Presse und Informationsamt der Bundesregierung, S. 10. 2) Vgl. Schröder, Gerhard, ebenda, S. 4. 3) Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2007): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen: Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten: Mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und Sicherheit, download unter: http://ec.europa.eu/employment_social/employment_strategy/ pdf/flex-comm-de.pdf. 4) Vgl. Hüther, Michael; Scharnagel, Benjamin (2005): Die Agenda 2010: Eine wirtschaftspolitische Bilanz, Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 32-33, 23-30, S. 23. 5) Vgl. Hennecke, Hans-Jörg (2005): Von der „Agenda 2010“ zur „Agenda Merkel“?, Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 32/33, S. 19. 6) Vgl. Rohrlack, Kirsten (2008): Analyse des betrieblichen Verhaltens von Handwerksbetrieben im Hinblick auf demographische Entwicklungen, München und Mering, S. 1. 7) Vgl. Kreuzhof, Rainer; Rohrlack, Kirsten (2009): Personalmanagement im Handwerk – Beratung der Berater, Ein Modellprojekt zur Stärkung von Handwerksbetrieben, in: Studien zum Personalmanagement im Handwerk, Nr. 1, Fachhochschule Flensburg, S. 4. 8) Vgl. Rohrlack, Kirsten (2008): a.a.O., S. 1. 9) Vgl. ebenda. 10) Vgl. Kreuzhof, Rainer; Rohrlack, Kirsten (2009): a.a.O., S. 4. 11) Vgl. Kirstein, Roland (2003): Ökonomische Analyse des Rechts, Center for the Study of Law and Economics, Discussion Paper 06, S. 2. 12) Vgl. Braun, Thorsten (2003): Ein neues Modell für Flexicurity – der dänische Arbeitsmarkt, in: WSI Mitteilungen 2, 92-99. 13) Vgl. Semper, Lothar u.a. (2006): Die Neue Handwerkerfibel für die Vorbereitung auf die Meisterprüfung / Prüfung Technischer Fachwirt (HWK), Band 1: Rechnungswesen / Controlling – Grundlagen wirtschaftlichen Handelns im Betrieb, 45 Aufl., Bad Wörishofen, S. 220. 14) Vgl. Martinek, Michael (2000): Unsystematische Überregulierung und kontraintentionelle Effekte im Europ. Verbraucherschutzrecht oder: Weniger wäre mehr; in: Grund- 213 mann, Stefan (Hg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europ. Privatrechts, Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht, Tübingen, 511-557, S. 511. 15) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig; Mona, Martino (2006): Rechtsphilosophie – Rechtstheorie – Rechtssoziologie, Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bern u.a., S. 39, 104. 16) Vgl. Pforten, Dietmar von der (2001): Rechtsethik, München, S. 349. 17) Vgl. Kirstein, Roland (2003): a.a.O, S. 5. 18) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig/Mona, Martino (2006): Rechtsphilosophie – Rechtstheorie – Rechtssoziologie, Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bern u.a., S. 239. 19) Vgl. ebenda, S. 240. 20) Vgl. Mückenberger, U. (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses – Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft? In: Zeitschrift für Sozialreform, H. 31, S. 415-434, 457-475. 21) Vgl. Keller, Berndt; Seifert, Harmut (2008): Flexicurity: Ein europäisches Konzept und seine nationale Umsetzung, in Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung, Friedrich Ebert Stiftung, S. 16. 22) Vgl. Homann, Karl (1997): Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 21, 1997, 13-21, S. 15. 23) Vgl. Friedrichs, Jürgen (1973): Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek bei Hamburg, S. 353. 24) Vgl. Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung, 4. Aufl., Weinheim, S. 363. 25) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009): Auswirkungen atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf regionale Handwerksbetriebe, in: Studien zum Personalmanagement im Handwerk, Nr. 3, Flensburg, S. 6. 26) Vgl. ebenda, S. 10-13. 27) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009) a.a.O., S. 13-14. 28) Vgl. Alemann, Ulrich von; Eckert, Florian (2006): Lobbyismus als Schattenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 15/16, S. 3 29) Vgl. Hansen, Jørgen (2006): Dänisches Jobwunder: Ohne Flexicurity undenkbar, in: Kennzeichen DK, 12, 5–7, S. 5. 30) Vgl. Braun, Thorsten (2003): a.a.O., S. 98. 31) Vgl. Kirstein, Roland (2003): a.a.O, S. 7. 32) Vgl. Kerber, Walter (1991): Homo oeconomicus, Zur Rechtfertigung eines umstrittenen Begriffs, in: Bievert, Bernd; Held, Martin (Hg.): Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Zur Natur des Menschen, Frankfurt a.M./New York, 56-75, S. 59. 33) Vgl. Kunz, Karl-Ludwig; Mona, Martino (2006): a.a.O, S. 238. 34) Vgl. Heybrock, Hasso; Kreuzhof, Rainer (2009): a.a.O., S. 15-19. Prof. Dr. jur. Hasso Heybrock, Wirtschaftsrecht und Prof. Dr. rer. pol. Dr. phil. Rainer Kreuzhof, Human Resource Management und Wirtschaftsethik, Dr. Werner Jackstädt Zentrum für Unternehmertum und Mittelstand der Fachhochschule und Universität Flensburg. 214 Florian Josef Hoffmann Soziale Wirtschaftspolitik Ideen regieren die Welt. Ideen sind für Prosperität verantwortlich, aber auch für Schieflagen. Vor allem in Krisensituationen entwickeln sich neue Ideen. Der Spekulationskrise von 1873 verdanken wir die Historische Schule, der Krise von 1929 die Freiburger Schule, Karl Schillers mittlerweile vergessene „Konzertierte Aktion“ ist ein Produkt der Identitätskrise der späten 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. „Ökonomie neu denken“ schlagen der „Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft“ und andere heute vor. Eines der Ergebnisse des ‚neuen Denkens‘ ist die Wiederentdeckung des ‚alten‘ Fachs Wirtschaftsgeschichte, das an vielen deutschen Universitäten schon vor Jahren gestrichen wurde. Ein Paradigmenwechsel liegt in der Luft. Die wissenschaftliche Mainstream wäre in Frage zu stellen. Die Neoklassik ist der Standardlehrstoff an den Universitäten, angereichert durch spieltheoretische Ansätze und Institutionen-ökonomische Theoriemodelle. Bewegt hat sich in einem halben Jahrhundert im Grunde fast nichts, außer daß man sich in den Theorien festgebissen hat, im Kreise dreht und die Theoriengebäude in luftige Höhen geschraubt hat. Vor allem seit dem Beginn der Krise 2008 merken alle, daß die Theorie keine Antworten mehr liefert, überfordert ist, daß sie sich nicht weiterentwickelt hat und von der Realität überholt wurde, daß Menschen wie Politiker heute vor einer Blackbox stehen, die ihnen keinen Durchblick und damit keine Entscheidungshilfe mehr liefert. Und gleichzeitig befindet sich die Welt immer mehr in einer Schieflage, nein, nicht in einer Schieflage, in vielen Schieflagen. Die wahrscheinlich gravierendste Schieflage ist die ökologische Schieflage, eine, deren Neigung vermutlich schon so gravierend ist, daß Teile des Ökosystems der Erde dabei sind, abzurutschen. Das Schmelzen der Gletscher, der Polkappen und des Grönlandschildes sind wohl schon nicht mehr aufzuhalten. Der Astrophysiker Harald Lesch fand dafür den Begriff des „sozialen Meteoriteneinschlags“. Eine neue Unsicherheit überzieht vor allem die Polregionen und ihre Nachbarschaft. Die Anrainerstaaten rüsten ihre Streitkräfte gewaltig auf. Nicht minder bedeutend ist die humanitäre Schieflage, eine Schieflage die schon deshalb schwer zu beschreiben ist, weil sie so viele Gesichter hat: Da sind die wachsende Zahl der Armenküchen bei uns, der Suppenküchen und der Sozialmarkenempfänger in den USA, da gibt es das Wachstum der Slums und ihrer unsäglichen Bedingungen in mehreren Teilen der Welt (Indien, Südamerika, etc.), einer Entwicklung, die sogar Mutter Theresa an Gott zweifeln ließ, da gibt es die globale Entwurzelung von Milliarden von Menschen, getrieben vom Wachstumszwang einer Industriegesellschaft (China), die die Worte Ruhe, Muße und Gleichgewicht nicht mehr kennt. 215 Und schließlich ist da die ökonomische Schieflage, die zwei Gesichter hat, die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung und die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung. „99%“ ist der Aufschrei der Occupy-Habenichtse, die sich von einem Prozent über den Tisch gezogen fühlen. Von der demographischen Schieflage ganz zu schweigen. Aber die Empörung allein reicht nicht, Ursachenforschung ist gefragt. Weshalb ist der Zustand so, wie er ist? Welches sind die geistigen Konzepte, die die Gegenwart begleiten und die den jetzigen Zustand herbeigeführt haben - oder wo fehlen sie? Und am Ende stehen die entscheidenden Fragen: Wie kann man die Fehlentwicklung berichtigen? Dazu nachfolgend eine strukturierte Darstellung der zentralen Ideen der Wirtschaftstheorie, die im Grunde alle Sozialtheorien sind, so die These. I. Theorie: Der Wirtschaftsliberalismus Die wichtigste Theorie ist die Adam Smiths, des Begründers der Nationalökonomie, bekannt geworden durch dessen Standardwerk, „Der Wohlstand der Nationen“. Und natürlich ist der Wohlstand der Menschen das Ziel seiner Überlegungen, auch wenn der Titel den Wohlstand der Nationen benennt. Smiths Sozialkonzept beruht zum einen auf der Optimierung der Versorgung durch Freihandel. Zum anderen hatte er in Schottland die Wirkung der Öffnung der Märkte nach Amerika beobachtet und daraus die Vorstellung entwickelt, daß der Kunde, der Nachfrager, der Konsument durch seine Nachfrage das Angebot und die Produktion steuert, woraus sich funktional eine optimierte Belohnung (kommt von „Lohn“) ergibt, sowie ein optimaler Einsatz der Ressourcen – und das alles wunderbar gesteuert von einer „unsichtbaren Hand“. Adam Smith war als Kind seiner Zeit Anhänger der Ideen Isaac Newtons, der die Naturgesetze der Physik entdeckt hatte. Seine Vermutung war, daß es auch in der Wirtschaft Naturgesetze gibt (z. B. „der natürliche Preis“, das „natürliche Gleichgewicht“). Eine logische und plausible, aber nur scheinbar zutreffende Argumentationsbasis für den Wirtschaftsliberalismus war geboren. Es handelte sich um einen fundamentalen Irrtum, weil es in der Wirtschaft keine Naturgesetze gibt: Das Wirtschaftsgeschehen, der Austausch von Leistungen bzw. Leistungsergebnissen beruht ausschließlich auf Konventionen. Die Fehlerhaftigkeit seines Denkens sollte sich schon bald herausstellen, denn die Logik wurde ein halbes Jahrhundert später im Zuge die Industrialisierung widerlegt. Viele Produkte hatten durch die industrielle Produktionsweise und neue Transportsysteme plötzlich keine natürliche Knappheit mehr, keine Mengenbegrenzungen, keine Transportgrenzen, keine Saisonabhängigkeiten. Die industriell hergestellten Produkte, weil wesentlich billiger, überfielen traditionelle, eingespielte Märkte, überschwemmten sie, schwemmten sie nicht selten gleich weg, was große Not erzeugte. Dadurch verlor der Laissez-faire-Liberalismus schon mit Beginn des Industriezeitalters vielfach seine Akzeptanz und eine Suche nach anderen Lösungen begann. Natürlich schaffte das Mehr an Waren auch ein Mehr an Wohl- 216 stand, aber der Zuwachs auf der einen Seite war mit massiver Entwurzelung auf der anderen Seite verbunden. II. Theorie: Der Sozialismus Not und Elend dieser Zeit sind bekannt – verbunden mit dem prosperierenden Aufstieg des Bürgertums, der Bourgeoisie, von Marx und Engels dann angeprangert als Ausbeuter der Arbeiterklasse. Daraus entstand die zweite Sozialtheorie, das zweite soziale Wohlstandsförderkonzept, der marxistische Sozialismus, ein philosophisches Sozialprogramm. Seine Grundideen sind das Prinzip der demokratisch-bürokratisch gesteuerten Güterproduktion und der direkten Güterverteilung. Um die „Ausbeutung“ der „Arbeiterklasse“ durch die „Bourgeoisie“ zu beenden, wird die Produktion vergesellschaftet, „demokratisch“ gelenkt und die gemeinsam erstellten Güter „gerecht“ verteilt. Das Geld verliert damit seine Steuerungs- und Verteilungsfunktion komplett, es soll am Ende im Kommunismus ganz verschwinden. Der Anreiz, maximale Leistung zu erbringen, wird nicht mehr in Geld belohnt, sondern in Ehre. Der „Mehrwert“ der Arbeit soll die „Wertschöpfung“ ersetzen. Aber das bürokratische Lenkungssystem funktioniert nicht. Selbst achtzehn Wirtschaftsministerien der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren nicht in der Lage, die Versorgung für ein Volk von achtzehn Millionen Menschen auch nur ansatzweise zu sicherzustellen. Die Durchsetzung der Idee, dieser abstrusen Ideologie, hatte in vielen Ländern der Erde unsägliches Leid, Abermillionen von Toten und die jahrzehntelange Spaltung der Welt zur Folge. Noch heute sind ihre katastrophalen Folgen schier unbeschreiblich – Nordkorea läßt grüßen. III. Theorie: Die Soziale Marktwirtschaft (Solidarität) Die Soziale Marktwirtschaft beruht wirtschaftlich auf dem Prinzip der Solidarität.1 Wirtschaftlich gesehen, ist das Prinzip der Solidarität quasi eine Eigenentwicklung der Wirtschaftssubjekte, beginnend bei den Haushalten, also einer Art internen Solidarität der Familienmitglieder, die dann auch extern einen wirtschaftlichen Zusammenhalt organisiert. Die externe wirtschaftliche Solidarität hat ihren Ursprung in den Selbstorganisationen von Handwerkern und Händlern in den Städten des Mittelalters. Das enge Nebeneinander schuf die Möglichkeit, sich berufsständisch zu organisieren. Gleichzeitig offenbarte sich die Notwendigkeit, mit gemeinsamen Regeln ein für alle gedeihliches Miteinander zu sorgen. Das erfolgte durch Zusammenschlüsse von Handwerkern in „Zünften“ (auch: Innungen) und von Kaufleuten in „Gilden“ oder „Bruderschaften“, gelegentlich tituliert als „Vereinigungen für wohltätige Zwecke“, wohl eher gemeint als Solidargemeinschaften zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Zünfte und Gilden sahen ihre Aufgabe aber auch darin, innerstädtisch wohltätig zu sein – eine Barmherzigkeit –, auch aus Dankbarkeit dafür, daß ihnen die gewerbliche Tätigkeit einen derartigen Wohlstand bescherte. Aus dem Prinzip der Solidarität entwickelten sich im 19. Jahrhundert zwei Ausprägungen, die private und die 217 staatliche Solidarität, wobei bei der staatlichen Solidarität zu unterscheiden ist, zwischen der vertikalen Zuwendung und Fürsorge (von oben nach unten) und der horizontalen Solidarität, also der staatlichen Organisation von Solidargemeinschaften.2 a) Die private Solidarität (horizontal) Die Systeme horizontaler, privat organisierter Solidarität sind die wichtigste eigenwirtschaftliche Komponente in der Sozialen Marktwirtschaft. Aus dem mittelalterlichen Vorbild der Zünfte und Gilden entwickelten sich im Industriezeitalter regionale und überregionale Organisationen in Form von Wirtschaftsverbänden. Vorbild waren u. a. die Büchergilden und deren Preisabsprachen, die schon früh deren wirtschaftliche Grundlage überregional sicherten. Manche Verbandsregeln nannten sich Kartelle – in Anlehnung an die kleinen Regelkärtchen (la cart > cart'elle) des Mittelalters bei Ritterspielen. Die Solidarität mit den Mitbewerbern sichert allen Beteiligten Marktchancen und Einkommen. Vor allem verhindert die Solidarität mit den Mitbewerbern die Übermacht einzelner. Auch was die Macht der Verbände anlangt, so wird sie durch die Einbindung in Dachverbände, gleichfalls Solidargemeinschaften, gebändigt. Dachverbände wiederum, suchen die Abstimmung mit der Politik (Stichwort: Korporatismus). Die gewerbliche Wirtschaft war in Anwendung des so nützlichen und erfolgreichen Solidaritätsgedankens nicht allein. Hatten sich im Mittelalter vor allem die Kirchen und Klöster aus Barmherzigkeit der Armen und Ärmsten angenommen, so erzwang das Massenelend am Rande oder im Zentrum der Industriegesellschaft größere Hilfseinheiten und -maßnahmen. Begrifflich war aus der mittelalterlichen „Barmherzigkeit“ in einer Übergangszeit die politische „Brüderlichkeit“ (franz.: fraternité) geworden, im beginnenden Industriezeitalter mutierte diese sodann zur „Solidarität“. Und das auf mehreren Ebenen. Zur Bekämpfung des Elends der Arbeiter bildeten sich Arbeiterkartelle, d. h. Gewerkschaften. Im Finanzbereich und bei der Versorgung der Bauern und Winzer sorgte die Gründung von Genossenschaften für Sicherheit und solidarischen Ausgleich wirtschaftlicher Risiken. Man kann sagen: Die Eroberung des Systems der Solidargemeinschaften gebar die breite wirtschaftliche Basis des Siegeszuges der Industriegesellschaft in der Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Viele private Initiativen (so die AbbéStiftung der Firma Zeiss, Jena) zeugen von einer tiefen Verankerung des Prinzips im Bewußtsein der verantwortlichen Akteure der Wirtschaft, also auch der Unternehmer. Andere institutionalisierte Erscheinungsformen der innerbetrieblichen Solidarität sind Betriebsräte und die sogenannte Mitbestimmung. b) Die staatliche Solidarität (vertikal und horizontal) Die Systeme staatlicher Solidarität in der Sozialen Marktwirtschaft existieren in zwei Ausprägungen, zum einen der direkten vertikalen Solidarität in Form der Sozialhilfe und unmittelbarer Sozialfürsorge und anderer Individualsubventionen (Schulen, Wohngeld, Bafög, Kindergeld, etc.), zum anderen in der Form der staatlichen Organisation horizontaler Solidarsysteme, sozusagen private Solidarität (Versicherung) unter staatlicher Obhut. Bei den Bismarckschen Sozialgeset218 zen (Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung) handelt es sich im Prinzip um die Schaffung privater Solidargemeinschaften in Form verbindlicher Versicherungen unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle. Der Staat hatte sich zuvor bis tief ins 19. Jahrhundert aus der sozialen Frage herausgehalten und ihre Lösung den Kirchen und Klöstern überlassen bzw. privater Initiative. Erst das Auftauchen des Sozialismus als Gefahr für die Staatsmacht veranlaßte den Preußischen Staat bzw. deren Kanzler Bismarck, sich mit Unterstützung des Reichstages, insbesondere des Zentrums3, auf ein Gegenkonzept einzulassen. Ohne daß es den Staat wirklich etwas kostete, nutzte er das Prinzip der Versicherung als Solidargemeinschaft als Selbsthilfesystem für die arbeitende Bevölkerung. IV. Theorie: Die Wettbewerbstheorie Die vierte und vorläufig letzte Sozialidee ist – wie der Sozialismus – aus einem durchaus nicht unberechtigten Sozialneid geboren und zwar um 1890 in den USA, niedergelegt im Sherman Antitrust Act, der Grundnorm des sogenannten kollektiven Wettbewerbsrechts, bei uns Kartellrecht genannt (das eigentlich Antikartellrecht heißen müßte). Der Grundgedanke des Kartellrechts basiert auf der Definition des Begriffs „Wettbewerb“. Der Wettbewerb ist von den Volkswirten nicht positiv, sondern negativ definiert mit „keine Abreden und kein Mißbrauch von Marktmacht“. Die Definition ist damit deckungsgleich mit den Grundnormen des Kartellrechts, in dem vor allem das generelle Verbot von Abreden der Kaufleute untereinander, insbesondere das Verbot von Preisabsprachen, kodiert ist. Damit soll verhindert werden, daß die (eh schon reichen) Kaufleute nicht zu hohe oder noch höhere Gewinne machen und diese von der Bevölkerung, insbesondere von den ärmeren Schichten, durch ‚überhöhte Preise‘ aufgebracht werden müssen. Der Grundgedanke des Kartellrechts ist schon bei Adam Smith angelegt, dem das Getuschel der Kaufleute untereinander „bei allen Gelegenheiten, bei Hochzeiten und anderen Festen“4 suspekt war. Vom Namen her richtete sich der Sherman Antitrust Act gegen die „Trusts“ der amerikanischen Wirtschaft, eine eng gestaltete Gesellschaftsform für Banken, der sich auch Industrie-Unternehmer bedienten. Der heute bekannteste von ihnen war David Rockefeller. In der Tat hat Rockefeller im Texas des wilden Westens sich möglicherweise ab und an mit rüden Methoden durchgesetzt (1891 wurde auch Sitting Bull getötet!), wenn man sich nicht an die Abreden seines Montags-Clubs hielt. Aber auch die anderen „Giganten“ dieser Zeit sind bekannt: Carnegie, Morgan, Guggenheim etc. Dem daraus resultierenden Macht- und Einkommensungleichgewicht sollte mit dem Sherman Antitrust Act ein Ende bereitet werden. Ludwig Erhards Motivation, das Kartellrecht in 1957 in Deutschland einzuführen, war vor allem aus dem Gedanken geboren, daß der freie Markt, der Wettbewerb vieler untereinander, das beste Mittel ist, um die Macht des einzelnen Teilnehmers zu beschränken (Franz Böhm: „geniales Mittel“), wobei die Forderung nach Beschränkung der Marktmacht schon eine der Grundforderungen Walter 219 Euckens war. Eucken wie Erhard und Böhm und andere schätzten jedoch die Wirkung eines befreiten Wettbewerbs falsch ein. Aus dem Wettbewerb entsteht im freien Markt ein Wettkampf, in welchem der Stärkste gewinnt, d. h. es tritt genau das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung ein: Die Marktmacht konzentriert sich. Man kann im nachhinein die damalige Einschätzung durch Ludwig Erhard und seiner Weggefährten verstehen, da die USA sowohl wirtschaftlich wie technologisch und militärisch die führende Macht der westlichen Welt waren. Davon ist heute jedoch wenig übrig, was eine andere Beurteilung erlaubt. Eine weitere Begründung ergibt sich aus dieser Überlegung: Das kollektive Wettbewerbsrecht ähnelt dem Sozialismus. Hier wird lediglich die ‚ausgebeutete Arbeiterklasse‘ durch den ‚betrogenen Verbraucher‘ ersetzt. Während der „erste“ Sozialismus die Wertschöpfung in Geld prinzipiell verachtet bzw. ignoriert und durch eine Kommandowirtschaft ersetzt, mit dem Ziel die Ausbeutung der Arbeiterschaft zu beenden, dirigiert das Kartellrecht die Wertschöpfung durch bürokratisch angeordnete Preissenkungen oder Bußgelddrohungen (auf der Suche nach dem „natürlichen Preis“) nach unten in Richtung Null-Gewinn-Grenze mit dem Ziel, die vermeintliche Übervorteilung des Verbrauchers zu beenden. Die Konsequenz jedoch ist: Der Kaufmann, der aktiv Preise senken muß (Preiswettbewerb = ruinöser Wettbewerb) und der deshalb weniger verdient, dessen Wertschöpfung zerstört wird, kann infolge dessen dann auch nur reduziert einkaufen, weniger Steuern zahlen, niedrigere Löhne oder weniger Mitarbeiter bezahlen, weniger investieren und muß am Ende auch noch die Qualität seiner Produkte senken. Im „zweiten“ wie im „ersten“ Sozialismus zahlt „die Arbeiterklasse“ dann erst recht die Zeche, weil das kollektive Wettbewerbsrecht übersieht, daß der Verbraucher in der Masse zugleich der Arbeitnehmer in der Masse ist, also der, der am Ende am meisten unter niedrigen Preisen leidet. Oder anders ausgedrückt: Das kollektive Wettbewerbsrecht, d. h. das Kartellrecht, verhindert kollektiv die Wohltaten solidarischen Verhaltens und erzeugt auf diese Weise Armut. Deshalb läßt sich auch behaupten, daß das Kartellrecht eine verschärfte Form des ursprünglichen Wirtschaftsliberalismus darstellt bzw. fördert, weil die Marktakteure nicht nur frei sind, sondern von ihrer Verantwortung und Solidarität den übrigen Marktteilnehmern, ihren Kollegen gegenüber befreit sind, weil sie keine marktregulierenden, marktbegrenzenden Abreden mit den anderen Marktteilnehmern, auch nicht zu deren Schutz (Schutz der Schwächeren), treffen dürfen. Marktregeln, fair play, Rücksichtnahme und aktive Solidarität sind gesetzlich verboten, der Raubtierkapitalismus ist mit dem Kartellrecht institutionalisiert – zum wirklich zweifelhaften Vorteil des Verbrauchers. Das herausragende Beispiel in der Welt als Opfer des „zweiten Sozialismus“ sind die USA, das Ursprungsland des ‚Raubtierkapitalismus‘, wo das Kartellrecht schon seit 1890 wirkt. Deren Infrastruktur ist marode, die Menschen leben mit qualitativ minderwertigen Produkten, die industrielle Infrastruktur ist ausgedünnt, der Mangel an Margen und entsprechende Verteilungsmöglichkeiten lassen die Menschen verarmen. Der „zweite Sozialismus“ hat sich bis heute so sehr in die wirtschaftlichen Verteilungssysteme hineingefressen, daß ganze Sozi220 algruppen verarmt sind und staatliche Grundversorgung mit Essen (Essensmarken, Suppenküchen) beziehen. Schlußfolgerungen Die gedankliche Strukturierung der sozialen Ansätze in vier Grundsäulen, in Liberalismus, Sozialismus, Soziale Marktwirtschaft und Wettbewerbstheorie, läßt nur eine Schlußfolgerung zu: Der „Sieger“ der Systeme ist die Soziale Marktwirtschaft. Der Kern einer guten Wirtschaftspolitik ist daher die bewußte und konzentrierte Pflege der Solidarsysteme, also der Verbände, der Kammern und der Gewerkschaften. Der Sozialismus fällt als soziales System erkennbar völlig aus. Auch der „zweite“ Sozialismus, das Kartellrecht, basierend auf der Wettbewerbstheorie, verstärkt einen Liberalismus, dessen Verwirklichung in totaler Freiheit ohnehin fragwürdig ist (Laissez-faire-Liberalismus). Ein sehr guter Liberalismus hingegen ist der, der Vertragsfreiheit so interpretiert, daß sich der Markt nicht nur Regeln zu unterwerfen hat, um die Freiheit aller Teilnehmer zu gewährleisten, sondern daß auch die freiwillige Vereinbarung selbstbeschränkender Regeln erlaubt sind – wobei die Beschränkung in aller Öffentlichkeit, also unter Kontrolle der Öffentlichkeit, geschieht, vergleichbar mit den strengen Regeln bei diversen Sportarten und der Verbandsorganisation der Ligen. Der ‚gute‘ Liberalismus basiert damit eben nicht auf der Wettbewerbstheorie. Dieser Liberalismus in Kombination mit Sozialer Marktwirtschaft ist am Ende wohl als das optimale System zu bezeichnen. Im Grunde kann man sogar behaupten, daß der ‚gute‘ Liberalismus integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ist.5 Das Verbot privater Abreden, wie es das Kartellrecht vorschreibt, ist hingegen mit liberalem rechtsstaatlichem Denken unvereinbar. Es stellt eine gravierende Verletzung der Privatautonomie dar. Die zerstörerischen Folgen des Kartellrechts und damit im Grunde der Wettbewerbstheorie sind nicht nur in den USA, sondern auch bei uns zu beobachten. Auch bei uns wächst in der Bevölkerung der Unmut und der Zweifel, ob wir überhaupt noch eine Soziale Marktwirtschaft haben, derweil die Politik nicht aufhört, das Hohe Lied der Sozialen Marktwirtschaft zu singen. Ihre Reformvorschläge bekommen sie von den Ökonomen geliefert. Die Grundtendenz ist: „Wir haben eine Soziale Marktwirtschaft und das ist gut so“, und die Reformvorschläge lauten regelmäßig „zurück zu Ludwig Erhard“. Wissenschaft und Politik weigern sich bisher, die Ursachen der Fehlentwicklung zur Kenntnis zu nehmen. Eine Ursache hierfür läßt sich gleichfalls orten: In Deutschland erfolgt das ökonomische Denken in erster Linie an Universitäten, wo angesehene Gelehrte – teils auch „Weise“ genannt – die geistige Grundlage für politisches Handeln liefern. Liefern sollen. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten unserer Universitäten aus zwei Fraktionen bestehen, zwischen denen Sprachlosigkeit herrscht: zwischen den Volkswirten und den Betriebswirten. Weshalb die Kommunikation nicht funktioniert und nicht funktionieren kann ist diagnostizierbar: Die Volkswirte rechnen in Buch221 staben, die Betriebswirte hingegen in Zahlen, die Volkswirte pflegen ihre mathematischen Modelle, die Betriebswirte beschreiben die Realität. An einem Beispiel erläutert: Die BWL sieht sich absolut überfordert, künftige Preisentwicklungen vorherzusagen, während die VWL in einer wenn/dann-Funktion sofort die künftige Preisentwicklung an die Wand malt. Während die BWL mit dem Phänomen kämpft, daß sich die Produktions- und Verteilungsprozesse für jedes Produkt unterschiedlich gestalten, es also jeweils eines eigenen Branchenexperten bedarf, hat die VWL für alles schon einen Experten gefunden: sich. Hinter der argumentativen Stärke der VWL steckt eine epochale gedankliche Weichenstellung, die auf Adam Smith zurückzuführen ist. Wie bereits ausgeführt, war der Begründer der Volkswirtschaftslehre als Kind seiner Zeit (geb. 1726) ein großer Bewunderer Isaac Newtons, des Entdeckers der Naturgesetze. Er glaubte, auch in der Wirtschaft „Naturgesetze“ entdeckt zu haben, weshalb er die Theorie von den „natürlichen Preisen“ und vom „natürlichen Gleichgewicht“ entwickelte, was wiederum die Ökonomen der folgenden Jahrhunderte dazu verführte, physikalisch-mathematische Modelle (Neoklassik) daraus abzuleiten. Da die Wirtschaft jedoch ausschließlich aus Konventionen besteht und keine Naturgesetze kennt, ist der Ansatz realitätsfern und völlig verfehlt. Trotzdem liefert die Neoklassik die Sprache der Nationalökonomie, was bei den Studenten der ersten Semester VWL eine Art Gehirnwäsche erforderlich macht. Erst danach, so meint der Uni-Ökonom Rüdiger Bachmann, seien sie richtige Ökonomen.6 Aus diesem Selbstverständnis heraus verdrängen die Volkswirte die Betriebswirte aus der politischen Diskussion. Von der negativen Entwicklung gleichfalls wenig beeindruckt, ist eine weitere bedeutende deutsche Institution der Ökonomik: Der aus der Freiburger Schule entwickelte Ordoliberalismus und seine österreichische Schwester, der Neoliberalismus, beide auf neutralem Schweizer Boden vereinigt in der Mont Pelerin Gesellschaft. Walter Eucken, Ludwig Erhard und andere sind im politischen Bewußtsein als „Väter“ der Sozialen Marktwirtschaft implementiert. Aber auch bei deren heutigen Statthalter, einigen wissenschaftlichen und politischen Stiftungen, hört man leider kein Wort davon, daß Erhard bei der Einführung des US-amerikanischen Kartellrechts (Sherman Antitrust Act von 1891) in Deutschland geirrt haben könnte, weil es nicht nur das Ziel der Verhinderung von Machtkonzentration nicht erreicht, sondern weil es – für jeden Betriebswirt erkennbar – das Gegenteil bewirkt. Die von der Freiburger Schule zu Recht intendierte Entmachtung der Wirtschaft wird ins Gegenteil verkehrt. Das Vorbild Amerika – das zu Erhards Zeiten sicherlich noch galt – hat ausgedient. Ein Blick über den Atlantik genügt. Unbeeindruckt von der Demonstration des amerikanischen Desasters, fordern Liberale wie Ordoliberale permanent eine Stärkung und Verschärfung des Kartellrechts. Würden sie die häufig genannten Worte ‚Ordnung‘ und ‚Wettbewerbsordnung‘ hingegen ernst nehmen, so würden sie Branchenkartelle (genauso wie die Handwerksordnung oder Gebührenordnungen für Anwälte, Notare, etc.) bei öffentlicher (!) Transparenz aller Abreden als freiwillige Marktordnungen 222 befürworten, analog der Wirkungsweise der Tarifparteien für den Arbeitsmarkt – also wie vom Grundgesetz anerkannte Kartelle (Art. 9 III GG). Richtig wäre auch die Befürwortung einer Wiedereinführung des Rabattgesetzes als Ordnungsmittel, dessen Abschaffung im Jahr 2003 unter der Parole „Deregulierung und Liberalisierung“ stattfand, die diese unsägliche „Geiz ist geil“Kampagne provoziert hat. Die Abschaffung des Rabattgesetzes ist es auch, die in der Automobilbranche ein Sterben mittelständischer Händler und Zulieferer ausgelöst hat. Und schließlich gäbe es noch das seit dem Jahr 1974 gültige ‚Verbot der Preisbindung der Zweiten Hand‘. Das Verbot war und ist nicht nur ein fragwürdiger Eingriff in die Privatautonomie, sondern zugleich verantwortlich für den Preis- und Qualitätsverfall in der Lebensmittelbranche (Stichwort: Jahresgespräch). Eine vergleichbare Entwicklung ist dem Buch- und Zeitschriftenmarkt erspart geblieben, weil hier die Buchpreisbindung erhalten blieb. Es gibt also viele Denkansätze, den Wettbewerb besser zu ordnen und damit das System ‚Wirtschaft‘ im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft – auch im Bewußtsein der Bevölkerung – wieder zu stabilisieren. Anmerkungen 1) Politisch beruht die Soziale Marktwirtschaft auf dem Prinzip der Subsidiarität, d. h. staatliche Einmischung nur, wenn eine private Regelung nicht möglich ist. Genaueres in: Florian Josef Hoffmann, „Soziale Marktwirtschaft – neu definiert“, WSI-Mitteilungen 10/2011, S. 556-558. 2) In der Reihe neben „Liberalismus“ und „Sozialismus“ müßte die Soziale Marktwirtschaft eigentlich „Solidarismus“ heißen. Da sich der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ eingebürgert hat, wird er auch hier beibehalten. 3) Maßgeblichen Einfluß in der politischen Diskussion hatte der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. 4) Adam Smith, Wealth of Nations, Book I, Chapter X, Part II: Inequalities occasioned by the policies of Europe: “People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices.” 5) Andere Begriffsvariante: Liberalismus + Solidarismus = Soziale Marktwirtschaft. 6) „Lernt unsere Sprache, bevor Ihr mitredet“, Beitrag von Rüdiger Bachmann in SpiegelOnline, 5. Januar 2012. Florian Josef Hoffmann ist Rechtsanwalt und leitet das European Trust Institute in Düsseldorf. 223 Hans-Peter Raddatz Islamophobie Kampfbegriff des kommenden Kalifats Der aus der Psychoanalyse entlehnte Terminus der Islamophobie hat in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs erheblich an Bedeutung gewonnen. Er konnte dabei seiner Täuschungsfunktion gerecht werden, nämlich dem ohnehin islamgünstigen „Dialog“ einen zusätzlichen Schub in die totalitäre Richtung zu geben. Während das bisherige Hauptgebot der „Toleranz“ dem nichtmuslimischen Bürger noch die Illusion der Entscheidung über die „Duldung“ der anderen Kultur vorgaukelte, drängt die Islamophobie den selbständig Denkenden und kritisch Prüfenden in die passive, bereits vorverurteilte Position des Abnormen, des krankhaft Abweichenden, der entsprechender Behandlung bedarf. Da diese Sichtweise integraler Teil der herrschenden Deutungsmacht in der EU und ihren Staaten geworden ist, soll der Frage nachgegangen werden, wie es zu einer derartigen Radikalität kam, die sich den Mantel der europäischen Freiheitstradition umhängt, aber immer tiefer in die Praktiken der neuen Tradition, nämlich des modernen Totalitarismus, verstrickt. Im ersten Teil des Beitrags werden die Grundlagen dieser ideologischen Verhärtung dargelegt und im zweiten Teil aktuelle Beispiele vorgestellt, welche die globale Drift der Demokratie und ihrer Vertreter in eine „radikale Demokratie“ verdeutlichen, die eine so geldnormierte wie diktatorische Herrschaftsform vorbereitet. Zunehmend islamisch geprägt, richtet sie sich immer gewaltbetonter gegen die jüdisch-christliche Zivilisation und reaktiviert Antisemitismus und Christen- bzw. Kirchenfeindschaft, die den beiden modernen Extremismen, den oft totgesagten, aber höchst lebendigen, rotbraunen Epigonen der jakobinischen Massenmordmentalität innewohnen. Teil I: Islamophobie als Angriff auf die westliche Existenz 1. Islamophobie – Systembegriff des Dhimmitums Etwa ab Mitte der 2000er Jahre machte das bis dahin weniger geläufige Wort von der Islamophobie erstaunlich rasche Karriere. Sie verdankte sich den interkulturellen bzw. interreligiösen „Dialogen“ der westlichen Institutionen, die nun die EU-Staaten und die gesamte Union erfaßt haben, mit der Welt des Islam, vertreten durch die OIC (Organization of the Islamic Cooperation – bis 2011 Conference). Bei näherem Hinsehen konnte sich die Logik des Erfolgs ebenso rasch offenbaren, weil der Begriff weitaus effizienter als alle anderen Schlüsselworte des „Dialogs“ der herrschenden Ideologie dient. Denn sie arbeitet auf eine schleichende Transformation Europas in ein islamisch kontrolliertes Siedlungs- 224 gebiet hin, das auch mit dem provokanten Namen „Eurabien“ umschrieben wird (vgl. Bat Ye’or, Eurabia, The Euro-Arab Axis). Den obersten Platz in der Rangliste der nicht abschließbaren Schutzworte gegen Kritik an dieser Unterwanderung hielt bislang die islamophile Triade „Frieden – Toleranz – Respekt“, die den Widerstand gegen die muslimische Zwangsimmigration und Moschee-Expansion als „völkischen Stammtisch“, „Rechtsradikalismus“, zumindest als „Fremdenfeindlichkeit“, brandmarkt. Die Führung in der Förderung des subversiven Prozesses scheint nun von der Islamophobie übernommen, die diese Funktion auch besser erfüllt, weil sie eine psychische Dimension öffnet und den gesamten, denkenden Menschen mit all den Eigenschaften und Fähigkeiten diffamiert, die ihn zum Menschen machen und vom Tier unterscheiden. Auch mit der Billigung des deutschen Bundesverfassungsgerichts sind kritisches Denken und die Abwehr von Gewalt zum Schutz rechtsstaatlicher Grundfreiheiten nicht mehr am Argument bzw. auf dem Papier geltenden Recht, sondern an der Konformität mit den Regeln der Scharia, des islamischen Rechts, in der Sprache des Gerichts an den „imperativen Glaubenssätzen der Muslime“ zu messen. Damit ist der Weg frei, Skepsis oder gar Kritik in Bezug auf den ungehemmten Import wachsender Muslim-Massen einschließlich ihrer gewaltbesetzten Religion, Tradition und Rechtssystematik in den Bereich der Psychostörung zu verweisen. Wer heute in den maßgeblichen Institutionen der EU-Staaten – Parteien, Wirtschaft, Stiftungen, Justiz, Kirchen und vor allem in den Medien – Karriere machen will, kann diesem Vorhaben dienen, wenn er/sie jedwede Kritik am politideologischen Mainstream und dessen Formen des „Dialogs“ nicht nur als Intoleranz und Rechtsradikalismus, sondern auch als Islamophobie, möglichst in Funktionseinheit mit „Rassismus“, kennzeichnet. Um diese Ideologie der Öffentlichkeit einzutrichtern, wurden über den Standard-Dialog hinaus EU-weit so genannte „Islamkonferenzen“ eingerichtet, die bei einem Muslimanteil von knapp 10 Prozent paritätisch, d.h. überproportional islamisch besetzt sind. Indem sie eine öffentliche Scheindiskussion inszenieren, propagieren sie den „Frieden“ des Islam und bereiten mit einer weiterhin erzwungenen Toleranz den Weg der unbelehrbaren Abweichler in die Psychiatrie vor. Gerade auch im Islam hat dieses Verfahren verpflichtenden Charakter, weil die koranisch verankerten Systemfeinde, die Vertreter der jüdisch-christlichen Wertevorstellungen, mit Affen und Schweinen verglichen und überall, wo es Islam gibt, bekämpft werden müssen. Dieses Feindbild verbindet den Islam mit den totalitären Herrschaftssystemen der Moderne. Deren aktuelle Nachfolger, die entdemokratisierten Parteiführungen der EU-Staaten sowie deren Leitungsebenen aus rechts-links-extremistischer Tradition (Hallstein, Delors, Prodi, Solana, Barroso etc.), betreiben einen weichen, „politische Korrektheit“ genannten Totalitarismus, der den Ambitionen seiner ideologischen Vorgänger nacheifert und die bürgerliche Altkultur nebst Christentum und Israel als Exponenten des Judentums, insgesamt als „rassistische“ Existenzform bekämpft. Diese Praxis ist alles andere als neu, sondern wurde auch außerwestlich von totalitären Systemen wie der Sowjetunion und China vorexerziert, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg insofern „mäßigten“, 225 als sie neben der einfachen Liquidierung ihre prominenteren Dissidenten in „Heilanstalten“ internierten, um ihnen neben Folter auch auf pharmazeutischem Wege die „korrekte“ Denkweise beizubringen. Die abweichende Systembeurteilung galt nicht als das Ergebnis historischer Analysen, politischer Vergleiche und logischer Schlüsse, sondern konnte nur das Symptom einer geistigen Störung sein, sozusagen einer Systemophobie, die dazu zwang, die Betroffenen zu isolieren, und dies nicht nur, um sie der erforderlichen Behandlung zu unterziehen, sondern auch die Bevölkerung vor ihren abwegigen Ideen zu schützen, die nichts als Verwirrung und Aufruhr verursachen konnten. Eben dieser Aufruhr durch systemfremdes Denken ist auch die Quelle der Furcht im Islam, die mit dem Begriff der fitna (arab.: Sünde, Aufruhr) die Gläubigen davor warnt, auch nur um ein Jota von den Scharia-Vorschriften abzuweichen, ansonsten sowohl im Jenseits die Höllenstrafen warten, als auch auf Erden mit den einschlägigen Körperstrafen bis hin zur Hinrichtung zu rechnen ist. Zwischen Dies- und Jenseits schiebt sich noch die Grabesstrafe, die den Verstorbenen den Keulenschlägen zweier Todesengel aussetzt, um keinen Irrtum über die vollkommene Auslieferung des Gläubigen aufkommen zu lassen. Dies gilt speziell für die ebenso lückenlose Verwertung der Frau, deren Status zwischen Mensch und Sache bzw. Tier steht und ihre ungeteilte Sexualität für den biologischen Bestand der Gemeinschaft requiriert, anderenfalls sie der Tradition gemäß als „Hure“ und/oder „Hund“, zumindest als ehrverletzendes Element einzustufen und auch schon hienieden zu beseitigen ist. Dissidenten betätigen sich erkennbar als umso lästigere und tötungswertere Störfaktoren, je radikaler die jeweilige Machtform ihre Herrschaft etabliert. Das gemeinsame Merkmal der Abweichung besteht in der Unfähigkeit, sich den Regeln des Macht- bzw. Korrektheitssystems, z.B. des islaminduzierten Totalitarismus der Moderne, anzupassen und dessen Anweisungen ohne Nachdenken auszuführen. Wo der Vorwurf der Islamophobie ins Spiel kommt, kann jedes logische, geschweige denn demokratische und rechtsstaatliche Argument entfallen, weil sich derjenige, der sie ins Feld führt, bereits Teil des herrschenden Meinungsstroms ist, damit höchste Legitimation genießt und mit deren gewaltbesetzter Immunität resistent gegen jede geistige Auseinandersetzung wird. Das Ergebnis ist ein reflexhaftes Denken und Verhalten, das schon die Aufklärer als „Pöbelherrschaft“ verachteten. Zwischen Magie und Biologie fixiert, sehen die solcherart Eingeengten im Systemgegner nicht nur Affen und Schweine, sondern wie es in reaktivierter Nazimanier ein deutscher Islamvertreter ausdrückte, auch „islamfeindliche Krebsgeschwüre“. Wie so oft in solchen Fällen hilft auch ein Blick in das linguistisch-sachbezogene Bedeutungsspektrum weiter, das mit der Islamophobie den gesamten Komplex des Islam sowie das weite Feld der Phobie, der psychisch bedingten Angst umfaßt. Im Wörterbuch der Psychoanalyse (E. Roudinesco / M. Plon [Hrsg.] – Wien / New York 1997) wird dazu einführend bemerkt: „Aus dem Griechischen (phobos, Schrecken) entlehnter Ausdruck, der gegen 1870 erstmals in der Psychiatrie benutzt wurde, um eine Neurose zu bezeichnen, deren Leitsymptom in einer sich zwanghaft aufdrängenden Angst besteht, die sich auf ein belebtes oder 226 unbelebtes Objekt oder eine Situation richtet, die eigentlich keine reale Gefahr beinhalten. Für die Psychoanalyse gilt die Phobie nicht als eine bestimmte Neurose, sondern als Symptom, z.B. als zentrales Symptom der Angsthysterie…“ (S. 794). Demnach wäre Islamophobie also als übersteigerte Furchtform zu sehen, die sich hysterisch auf den Islam als eine eigentlich gar nicht existente Gefahr fixiert, ganz ähnlich den Dutzenden von Angstkrankheiten, die seit Freud entdeckt und teilweise auch „allgemein bekannt geworden sind, wie z.B. … die Agoraphobie (Angst vor öffentlichen Orten) und die Klaustrophobie (Furcht vor geschlossenen Räumen)“. Nun verbindet sich allerdings mit den einzelnen Phobien untrennbar auch die Metaphobie, die Angst vor der Phobie, die sich der Machtpsyche gemäß als Angst vor Machtverlust ausdrückt. Sie kommt in der Verwandlung des Menschen ins Tier, des Engels in den Teufel, des Guten ins Böse etc. zum Vorschein (S. 795) und muß unbedingt auf den jeweils anderen – als Affe, Schwein, Hund, Ungeziefer, Geschwür – projiziert werden, wobei sich die Ekelpalette beliebig, z.B. um die populäre Ratte, erweitern ließe. Ob wie das Wörterbuch feststellt, die Phobie gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich „aus dem religiösen Denken befreit“ wurde, darf mit Blick auf die Ungeziefer-Ideologie des Holocaust und die nachfolgend dargestellten Zusammenhänge bezweifelt werden, die auf die massive Islamisierung Europas als erweiterten Kampf gegen die jüdisch-christliche Zivilisation verweisen. So erscheint besonders interessant die Bemerkung, daß es auch kollektive Phobien gibt, die geographisch konzentriert auftreten, wobei „existentielle Angst und Phobien nach wie vor nicht leicht voneinander zu unterscheiden“ sind (ebd.). Ebenso bemerkenswert ist der Hinweis darauf, „da Tiere als phobische Objekte in der infantilen Neurose eine besondere Rolle spielen“, denn immerhin ist die Moderne insgesamt für die streßbedingte Produktion eines infantilen Narzißmus bekannt. Der jagt in politischer und sexueller Omnipotenz der utopischen Vorstellung nach, mit dem Bruch der alten Seinsform – speziell im aktuellen Gender Mainstream – auch sämtliche politischen und sexuellen Regeln und Tabus bis hin zum Inzest brechen zu können. So erhärtet sich Freuds These, nach der die Sexualität Kern des phobischen Phänomens ist und sich heute mit zwei unmodernen Aspekten bestätigt. Sie weichen von der geforderten Diversität ab, indem die „Moderne“ in Europa monolithisch auf der Fusion mit dem Islam beharrt und trotz aller Libertinage und Pornographie die islamische Sexualität tabuisiert, die bekanntlich den Koitus als obersten Gottesdienst noch über dem Gebet ansiedelt (vgl. Raddatz, Allahs Frauen, 80ff. – München 2005). Das wesentliche Kennzeichen des laufenden, islamo-europäischen Strukturwandels erschöpft sich nicht in der gemeinsamen Schizophrenie zwischen Infantilismus und Herrschaft, sexueller Omnipotenz und Tötungswillen; sie kommt ebenso in der Harmonie des Dhimmitums zum Vorschein, jener unterwürfigen Seinsform, welche der Islam für solche Juden und Christen reserviert, die sich den Stellvertretern Allahs unterwerfen und für ihr Überleben jährliche Kopfsteuer zahlen. Im Orient hat diese Praxis, die sich von der dhimma (arab.: Schutz, Schuld), dem „Schutzvertrag“ für die jüdisch-christlichen Minderheiten herleitet, 227 zu deren schleichenden und nach wie vor geübten Beseitigung geführt. Sie wartet mit wachsenden Muslim-Massen auch auf die Europäer und schlägt sich bereits in den Tributen der EU an die Terrorgruppen in Palästina nieder. Die Union fungiert als eine Art Großgeisel, die mit Lösegeld die Terroristen auf ihrem Gebiet (vorläufig) besänftigt, dabei zu den Terroranschlägen und Raketenangriffen auf Israel schweigt und dessen Verteidigung als „Maßnahmen eines Terrorstaates“ verteufelt – die klassische Verhaltensform im janusköpfigen Phobiephänomen. Dessen Universalität kommt freilich in der machttechnischen Asymmetrie nur den Eliten zugute, die über die Geldnorm die Institutionen steuern. Die komplexe, zum Teil paradoxe Situation läßt sich auch über den französischen Freud-Interpreten Jacques Lacan erhellen. Um des ersteren Biologismus zu entschärfen, führte er durch die Hintertür die von Freud gemiedene, deutsche Philosophie ein und mischte sie mit de Saussures Sprachanalyse. Daraus entstand eine strukturelle Angstlehre, in der die Phobie als „Signifikant“, als bezeichnendes Element fungiert, das die existentielle Grundangst in Richtung zweier Objekte spaltet, auf den Sündenbock als Träger der Schuld und den Fetisch als Träger der Sexualität: „Um etwas durchzuführen, das sich nicht auf dem Niveau unerträglicher Angst lösen läßt, bleibt dem Subjekt nichts anderes übrig, als einen Papiertiger zu erschaffen“. (S. 796). Im vorliegenden Falle wird der „Papiertiger“ durch die Bevölkerung gebildet, auf deren Rücken man die Manipulation des islamdominierten Strukturwandels austragen kann. Derweil wird die sexuelle Perversion mit der politischen Neurose verdeckt, denn wie es heißt, „garantiert der Fetisch den höchsten Genuß, während die Phobie vor dem Verschwinden des Wunsches schützt“ (Lacan). Das Paradox erscheint in der Demophobie, in der Angst der – stets männlich bestimmten – Macht vor dem Volk, deren islamozentrische Utopie die Frau und die Heterosexualität zugunsten nicht reproduktiver, auf den Mann fixierter Sexualformen zurückdrängt. Der verteufelte, heterosexuelle Dissident, der sich auf sein Denken verläßt, kann auf beides verzichten, weil er Verantwortung für sich selbst und die Familie übernimmt, d.h. über den Geist der Unterscheidung verfügt, der die Geister unterscheidet und somit keine Magie braucht. Es ist diese Vernunft, die aufbaut und nicht destruiert, aber durch die Umkehrprojektion des antizivilisatorischen Totalitarismus, durch den „Geist, der Gutes will und Böses schafft“, den Menschen vom Opfer zum Täter und vom Normalen zum Abweichler wendet, womit er dem Todesfetisch des Totalitären die maximale Befriedigung sichert. Ein Islamophober ist also jemand, der es ablehnt, seine Lebensbedingungen durch den Islam und seine Vollstrecker bestimmen zu lassen, und als Dissident gegen die Machtform auftritt, die ihm solche Umstände aufzwingen will. Anders ausgedrückt: Wer unter den aktuellen Zwangs- und Zensurbedingungen des „interkulturellen Dialogs“ als denkender Mensch leben will, der selbst über den Sinn seiner Existenz entscheidet, muß „islamophob“ sein! 2. Islamophobie als islamische Erfindung 228 Wie sich Bat Ye’ors gut dokumentierten Büchern über „Eurabien“ (2005) sowie „Europas kommendes Kalifat“ (2011) entnehmen läßt, wird diese Deutungshoheit in zunehmendem Maße von den Hauptakteuren der islamischen Expansion besetzt, der OIC als Nachbildung der UNO und ihrem Zwilling ISESCO (Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization), die dem Muster der UNESCO folgt. Beide Organisationen haben ihren Einfluß auf ihre westlichen Pendants in den letzten drei Jahrzehnten, speziell seit dem 9/11-Anschlag von New York, kontinuierlich verstärkt und bilden heute die treibenden Kräfte in den proislamischen Resolutionen und Beschlüssen, die permanent zu Lasten des Westens und Israels formuliert werden. Seitens Europa wurden schon Mitte der 1970er Jahre mit dem Euro-Arab Dialogue (EAD) und der Parliamentary Association for the Euro-Arab Cooperation (PAEAC) zwei Gremien gegründet, die über die Jahre – an der Bevölkerung gänzlich vorbei – eine enge Kollaboration zwischen den Euro- und Islam-Eliten entwickelten. Heute kann man von einer Abhängigkeit Europas sprechen, die sich in islamgesteuerter EU-Außen- und Innenpolitik sowie weiteren, zunehmend kontrollierten Bereichen wie der Energie- und Industriepolitik auswirkt. Unter dem Eindruck der dänischen Muhammad-Karikaturen, die Ende September 2005 eine konzertierte Wutwelle in der islamischen Welt auslösten und die Euro-Führer in Angst und Schrecken versetzten, trafen am 7./8. Dezember 2005 die Oberhäupter der 56 OIC-Staaten zur 3. außerordentlichen Sitzung des „Islamischen Gipfels“ (Islamic Summit) in Mekka zusammen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die von der Islamophobie verursachten Probleme in Europa, die Rechte muslimischer Immigranten in nichtmuslimischen Gastgeberländern und die Dialogpolitik im Westen und Israel einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Weitere Themen behandelten die wirtschaftliche und kulturelle Erholung der Muslimwelt, Bedenken hinsichtlich deren schwachen Solidarität und das einheitliche Vorgehen in der globalen Geopolitik. Die Delegierten und Ratgeber dieses Mekka-Gipfels gaben vor allem ihrer Sorge Ausdruck über die in westlichen Ländern grassierende Islamophobie, die sie mit Diskriminierung und Rassismus gleichsetzten. Sie „betonten die Notwendigkeit, sie zu bekämpfen und auszurotten, um die Qualität des gegenseitigen Verstehens zwischen verschiedenen Kulturen zu verbessern“. Sie forderten den Westen auf, „Gesetze gegen die Islamophobie zu erlassen sowie bildungstechnische und mediale Kanäle zu ihrer Bekämpfung einzusetzen“. Ihre Empfehlungen enthielten „eine verbesserte Koordination zwischen der OIC und zivilgesellschaftlichen Gruppen im Westen, um gegen das Phänomen vorzugehen“. Diese Vorschläge paßten perfekt zum Konzept der zahlreichen Bündnisse im euro-arabischen Dialog, der von der EU und der OIC gemeinsam vorangetrieben wird (vgl. Bat Ye’or, Europe, Globalization, and the Coming Universal Caliphate, 40f. – Lanham [Md.] 2011). Die Konferenz forderte die OIC auf, die kulturellen und religiösen Rechte sowie die Kulturidentität der muslimischen Immigranten zu schützen. Ebenso empfahlen sie wiederholt nicht nur den einfachen Kampf, sondern den internationalen Kampf gegen die Islamophobie – durch die Kooperation der OIC mit anderen 229 Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, dem Europarat, der OSZE, der Afrikanischen Union etc. –, um den Schutz islamischer Minderheiten und ihrer Identität in der westlichen Diaspora zu gewährleisten. Dabei versteht sich, daß im Zuge des Dhimmitums die OIC-Länder keinen Gedanken daran verschwenden, auf ihrem Gebiet dieselben Rechte den Resten der indigenen Religionsminderheiten zu gewähren, die den historischen Schleichgenozid überlebt haben. Auch der OIC-Generalsekretär thematisierte das Potential der Islamophobie, das sich in der westlichen Medienmacht für die Umma, die islamische Gemeinschaft, enorm schädlich auswirke, aber deshalb auch in umgekehrter Stoßrichtung ungemein nützlich einsetzen ließe, „um ein positives Bild des Islam zu entwerfen und die Interessen der Umma zu fördern“. Im „Dialog“ würde der OIC eine zentrale Rolle zukommen, indem sie bei den Autoritäten des Westens insistieren sollte, die Lehrinhalte auf allen Bildungsebenen auf ihren islamophoben Gehalt zu überprüfen und die problematischen Stellen durch positive Aussagen zu ersetzen. Daraus entstand ein noch heute laufendes „Zehnjahres-Aktionsprogramm“, das die Innenpolitik der globalen Umma und deren Außenpolitik mit nichtmuslimischen Ländern bestimmt. Der Plan propagiert die Festigung der islamischen Solidarität, um die Muslime in der internationalen Politik mit einer Stimme sprechen zu lassen, wobei einmal mehr der konsequente Einsatz gegen die Islamophobie verlangt wird, deren Rassismus die Tradition des NaziAntisemitismus fortsetze. Daher sollten die Staaten, um diese Geißel der Menschheit erfolgreich zu kriminalisieren, internationale Organisationen einschalten, die ihren Einfluß gezielt vernetzen könnten. Zudem würde die OIC eine UN-Resolution herbeiführen, welche die Islamophobie verbietet und die Mitgliedsstaaten auffordert, entsprechende Gesetze zu erlassen und mit abschreckenden Sanktionen zu verbinden. Diese Initiative ist zum festen Bestandteil aller Aktivitäten und Publikationen der EU-Regierungen und aller nationalen und internationalen Organisationen geworden, die sich im Rahmen des „Dialogs“ mit der Vertretung islamischer Interessen befassen. Auf breitest möglicher Front hat es sich zur obligatorischen Routine entwickelt, die Islamophobie bei jeder Gelegenheit zu verdammen und von einer bloßen Meinung zum Tatbestand eines Verbrechens zu kriminalisieren. Damit schwenken die EU-Führungen in die Demutsbahn des Dhimmitums ein, die ihnen die islamischen Chefetagen vorzeichnen: „Auf der Basis dieser tiefen Überzeugung erneuern wir, die Könige, Staatsoberhäupter und Regierungschefs der Organisation der Islamischen Konferenz, unsere Verpflichtung, noch härter daran zu arbeiten, daß das wahre Bild des Islam weltweit besser geschützt wird. Und dies im Einklang mit den Richtlinien des Zehnjahres-Aktionsprogramms, die vom Dritten Außerordentlichen Gipfel im geheiligten Mekka herausgegeben wurden und eine Islamophobie bekämpfen, die nach der Verzerrung unserer Religion trachtet (S. 49). 230 Mithin ist die Islamophobie längst auch Leitschnur in den Vereinten Nationen, in der UN-Vollversammlung und -Menschenrechtskommission, in den zahlreichen Gremien der UNESCO sowie in den westlichen Medien, die mit den islamischen Interessen auch die palästinensischen Gewaltgruppen und den Boykottkrieg gegen Israel unterstützen. Der Einsatz gegen die pathologische Furcht vor dem Islam, die nicht nur die Dissidenten umtreibt, sondern immer noch große Teile der europäischen Bevölkerung infiziert, steht im Zentrum des „Dialogs“, der sich als die dritte totalitäre Ideologie Europas nach dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus bestätigt. Wann immer ein westlicher Repräsentant sich pauschal für den Islam als die Sache des Friedens und Respekts einsetzt, präsentiert er sich als Gegner der Demokratie und darüber hinaus als Fürsprecher des Radikalismus, wenn er denn jenen Begriff der Islamophobie verwendet, der ihm von den Muslimeliten verordnet wird. Damit nicht genug, gab der Zweite OIC-Bericht Anfang 2008 die Absicht bekannt, eine Einrichtung für die Beobachtung der Islamophobie zu schaffen, und im gleichen Jahr diskutierte die Parlamentarische Versammlung des Europarats (EMPA) ein erweitertes Maßnahmenpaket für die islamische Immigration. Da es Diskriminierung, Armut und soziale Ausgrenzung als Nährboden für Extremismus sah, forderte das Gremium die Euro-Regierungen dazu auf, diese Faktoren konkret zu berücksichtigen und die Islamophobie rigoros zu bekämpfen. Die Staaten des Europarats sollten Schritte unternehmen, die es den muslimischen Zuwanderern und deren Kindern ermöglichten, sich durch den Zugang zu den Einrichtungen des Gemeinwohls und öffentlichen Dienstes in die Gesellschaft zu integrieren. Die Euro-Regierungen und die Gesellschaft hatten der sozialen Diversität zu folgen und die Hindernisse für die Integration der Immigranten zu beseitigen, um eine Bürgerschaft zu fördern, die aktiv am öffentlichen Leben teilnahm. Da dies unter schariatischem Recht ablaufen soll, erlangt der zweideutige Begriff der „Integration“ eine eindeutige Richtung, weil nur noch die dhimmitümliche Anpassung der Einheimischen in Frage kommen kann. Im Weiteren verlangt die Versammlung, daß die EU-Mitgliedstaaten sich in jedem Bereich gegen Diskriminierung, Islamophobie, das Schüren von Haß sowie für die Entfernung von Schulbüchern einsetzen, die den Islam mit den Stereotypen einer feindseligen, bedrohlichen Religion kenn- bzw. fehlzeichnen. Sie drängt die Staaten, Informationen über den Beitrag zu verbreiten, den der Islam seit der Renaissance zur Entwicklung der westlichen Zivilisation geleistet hat, um solche Klischees zukünftig zu überwinden. Insofern bestehe Bedarf, Menschen mit Islamhintergrund in den politischen Parteien, Gewerkschaften und NGO’s zu installieren und eine offene Debatte über das Problem einer EUAußenpolitik zu beginnen, die den Islam nicht genügend einbezieht und somit seine generelle Radikalisierung „provoziert“. Diese Forderung drehte die Realität um, indem sie die Ursache des Radikalismus vom islamischen System auf die europäische Politik übertrug. Diese kann mithin der OIC-Erpressung nur entgehen, wenn sie sich ihren Forderungen unterwirft, wenn sie den Terrorismus vom Islam trennt und dessen vermeintliche, epochale Kulturleistungen zum zentralen Thema der Medien und Bildungsinhalte macht, 231 ansonsten sie selbst der Islamophobie und rassistischen Ausgrenzung schuldig wird. Zur Kontrolle eben dieser Verpflichtung war die Beobachtung der Islamophobie einzurichten, die mit dem Heer von „Beauftragten“, „Referenten“ und „Experten“ des Islam in den Institutionen für die Konditionierung der Ungläubigen sowie die Rückkehr der Denunziation sorgt. Indem die Dokumentation der neuen „Beobachtung“ die Quellen der Islamkritik, ihre Zentren und Akteure registriert (S. 135f.), schafft sie einen konformen Systempöbel, der das Internet bevölkert und mit „Juden raus“ durch die Straßen zieht, sobald die Regisseure des „Dialogs“ auf den Toleranzknopf drücken. Was das zukünftig zu bedeuten hat, bedarf keiner Phantasie, zumal die Definitionen islamophoben Verhaltens festliegen. Sie bestehen in den Merkmalen der westlichen Altzivilisation, in der Freiheit der Meinung, Medien, Wissenschaft, Religion, Kunst etc., in der Loyalität zu kulturellen und religiösen Gewohnheiten, säkularen Rechten und humanitären Regeln, im Wunsch nach rechtsstaatlicher Sicherheit durch kontrollierte statt ungeregelter Zuwanderung, die im eigenen Land auch die Mitsprache über die bislang aufgezwungene Islamisierung mitsamt ihres archaischen Rechtssystems bedingt. Alle diese Elemente und einiges mehr setzen sich in unterschiedlichem Maße zur „Islamophobie“ zusammen. Sie wird zum zentralen Abwehrbegriff gegen das Recht auf selbstbestimmte Existenz und rationales Gefahrenbewußtsein, das aber die „demokratischen“ Vertreter der EU und deren Staaten im Kielwasser ihrer muslimischen Taktgeber zur Kampfarena gegen die eigene Bevölkerung machen. 3. Elitärer Djihad für die „radikale Demokratie“ Damit eignen sich die westlichen „Verantwortlichen“ die Djihad-Ideologie an, welche den umfassenden Einsatz – von missionarischer Propaganda über Bedrohung zu kriegerischer Gewalt – für die Ausbreitung der islamischen Kultiviertheit und Friedensfülle verlangt. Indem sie von der westlichen Religionsfreiheit geschützt und von den willigen Vollstreckern des „Dialogs“ getragen wird, kann bzw. soll nicht zur Kenntnis genommen werden, daß es Frieden im Islam nur zwischen Muslimen gibt, nicht zwischen Muslimen und Ungläubigen. Frieden in Verbindung mit Nichtmuslimen bedeutet deren Konversion oder eben die dhimmitümliche Unterwerfung mit allen Folgen der Demütigung und Auspressung. In der koranischen Pflicht, die Erde zu islamisieren (34/28), geht es für den Muslim, der „auf dem Wege Allahs“ den Islam verbreitet, nicht um Krieg, sondern um eine gerechte Handlung, die eine unverzichtbare Aufgabe erfüllt. Die Aggressoren sind die Nichtmuslime, welche die Islamisierung ihrer Völker zu verhindern suchen. Ihnen ist die „Schuld“ an den Kriegen anzulasten, die sie durch ihren Widerstand gegen die muslimische Eroberung „provozieren“, denn hätten sie sich nicht gewehrt, wären die Massaker des Glaubenskampfes (Djihad) zu vermeiden gewesen. Der inflationäre Gebrauch des Schuldbegriffes verweist auf den erwähnten arabischen Wortstamm des Dhimmitums (dhimma), der nicht nur „Vertrag“, sondern auch „Schuld“ bedeutet. So kann überall Frieden herrschen, 232 wenn denn die Nichtmuslime ihrer Schuldigkeit Genüge tun und dem Ruf des Islam (da’wa) durch Übertritt bzw. Annahme der Erniedrigung folgen. Djihad entzieht sich jeder Kritik, weil er den Willen Allahs erfüllt. Es sind die Nichtmuslime, die sich „schuldig“ machen, weil sie durch ihren Trotz gegen Allahs Willen den Krieg herausfordern und die Muslime zum Djihad zwingen. Diese aus der Scharia abgeleitete Lehre steht im Zentrum des Manifests der Muslimbruderschaft, der größten Organisation des praktischen Islam, deren Einfluß sich somit auch im konzertierten, „arabischen Frühling“ von 2011 bemerkbar macht. So wird die elitäre Metaphobie verständlicher, die „Angst“ vor der Islamophobie, die es gewählten Volksvertretern angemessen erscheinen läßt, die Aushöhlung und schleichende Beseitigung der „Stammtisch“-Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Denn da auch die erstarkende Linke nach dem Zweiten Weltkrieg an den Nazi-Orient-Seilschaften anknüpfte und sich im langen Marsch mit dem „Blick nach Rechts“ das links-rechte Gesamtmonopol auf den Extremismus aneignete, erfahren die heutigen Akteure den „Dialog“ mit dem Islam weniger als Erpressung, sondern als glückhafte Fügung. Nach zwei Fehlversuchen sehen sie die singuläre Chance, ihre Ideologie der gewaltbesetzten Feindschaft gegen die jüdisch-christliche Altkultur mit der Religionsfreiheit für den islamischen Djihad zu verstärken und unter den erprobten Euphemismen des „Friedens“ und der „Toleranz“ die gehaßte Demokratie nebst dem Judenstaat im Orient zu entsorgen. Da islamophobes Sprechen und Handeln den laufenden Strukturwandel und die historische Verankerung des Islam in Europa gefährdet, muß die herrschende Hierarchie, die sich in Großinvestoren/Amerika, UN-EU-OIC und globale Organisationen gliedert, dafür sorgen, daß Diffamierung und Gewalt andere Bezeichnungen erhalten, solange sie den Islam voranbringen. Dies wird nicht nur in der Dialogroutine deutlich, sondern auch in den Klischees, mit denen man ungewöhnliche Ereignisse umschreibt. Dazu gehören die stereotypen Formeln, mit denen die Euro-Medien den arabischen Frühling als „erstaunliche Entwicklung“ beschwören, in der deutlich werde, wie die halbe arabische Welt den „friedlichen Umsturz“ zur Demokratie vollziehe, deren Entfaltung die westliche „Schuld“ allzu lange verhindert habe. In diesem Gerede klingt wiederholt der Begriff der „radikalen Demokratie“ an, mit dem eine Staatsform suggeriert wird, in der die demokratischen Spielregeln, obwohl (oder weil) sie in den EU-Parteidiktaturen ausfransen, nun besonders sorgfältig angewendet würden. Was hier angeblich im arabischen Zeitraffer ablief, hatten die EU-Staaten, allen voran Frankreich und Deutschland, faktisch vorexerziert – nämlich den Weg in die „radikale Demokratie“. Dieser Begriff, der von Jean-Jacques Rousseau (gest. 1778) stammt und auch bei den Jakobinern, den extremistischen Vollstreckern der Französischen Revolution, Verwendung fand, spielt eine große Rolle bei Jürgen Habermas, der ihn einer prozeßhaften Staatsversion einverleibte, um die Entdemokratisierung Deutschlands zur Parteienherrschaft als Dekadenz des Rechtsstaats zu verschleiern. Er unterzog diesen Ablauf einer Analyse, die das Bewußtsein durch kollektives, „kommunikatives Handeln“ im Sinne einer automatischen Prozedur erset233 zen will (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne – Frankfurt 1988). Hier sollen sich die Subjekte nicht als „einsame Beobachter“ isolieren, sondern ihre Existenz aus der Interaktion mit dem Anderen beziehen, eine Position, die er gegen die Kritische Theorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno abgrenzt. Ihm mißfällt die Deutlichkeit, mit der die beiden Aufklärungsskeptiker die moderne Vernunft als Machtinstrument dechiffrieren, die sich vor allem dem monetären Geltungsanspruch unterwirft und aus ihrer Sicht zu schlichter Kritikunfähigkeit degeneriert. Indem Habermas dies seiner Analyse entzieht, kann das Individuum nicht mehr „beobachten“, also auch der Zweckverwendung nicht entgehen: „Wohl verstärkt sich mit kapitalistischer Wirtschaft und modernem Staat auch die Tendenz, alle Geltungsfragen in den beschränkten Horizont der Zweckrationalität sich selbst erhaltender Subjekte oder bestanderhaltender Systeme einzuziehen. Mit dieser Neigung zur gesellschaftlichen Regression der Vernunft konkurriert aber der unverächtliche, durch die Rationalisierung von Weltbildern und Lebenswelten induzierte Zwang zu fortschreitender Differenzierung einer Vernunft, die darüber eine prozedurale Gestalt annimmt“. Das dem genannten Werk entnommene Zitat umschreibt zutreffend die vorliegende Problematik: Was Habermas mit der Formel vom kommunikativen Handeln in einem herrschaftsfreien Diskurs verdeckt, gerät in der Dressurpraxis des „Dialogs“ zum umfassenden Diktat, das den „beschränkten Horizont“ der islamophoben, weil auf den Selbsterhalt bedachten Subjekte in der prozeduralen Gestalt der oktroyierten Islamisierung aufgehen läßt. Dieser Ablauf der „regressiven Vernunft“ – ein anderes Wort für Indoktrination – ist „unverächtlich“, d.h. der Kritik entzogen, weil er dem „induzierten Zwang“, also unausweichlicher Macht dient, womit er schließlich nicht weniger als die Qualität des Djihad erlangt. Indem sich damit auch das individuelle Denken im Kollektiv des „kommunikativen Handelns“ auflöst, bekommt die Rede vom „Verschwinden des Subjekts“ ihren Sinn, die seit den cultural und linguistic turns der 1970er Jahre den politsoziologischen Diskurs beherrscht. Am Beispiel der neuen Rationalität, die das normativ richtige Bewußtsein (Habermas) im von der Islamophobie gereinigten Denken sieht, läßt sich die parasitäre Dynamik des pluralistischen Fortschritts aufzeigen, die man auch als Pathologie der Moderne bezeichnen kann. Denn vom Standpunkt der sich selbst behauptenden, individuellen Existenz, die sich unter anderem auf das cogito ergo sum des René Descartes (gest. 1650) gründet, wird die geldnormierte Moderne als eine unausweichliche prozedurale Gestalt suggeriert, deren Funktion darin besteht, das individuelle Bewußtsein aufzulösen, um es den diversen Netzwerken der Arbeit, des Konsums, Entertainment, Islam etc. nutzbar zu machen. Diese Verfaßtheit ist natürlich nicht fähig, die enorme Dimension der EU/OIC-Strukturmanipulation zu erkennen, geschweige denn sich ihr durch geeignete Maßnahmen zu entziehen. Kaum jemand hat dies klarer erkannt als der Habermas-Konkurrent Niklas Luhmann (gest. 2002). Nach dessen Konzept nährt sich die selbstbezügliche Dynamik der modernen Gesellschaft an einer Schrumpfung des individuellen Denkens, an einer abnehmenden Distanz – oder auch Differenz – zwischen Selbst und Welt, die das Verschwinden des Subjekts und Auftauchen des „richtigen“, 234 also zweckgerichteten Bewußtseins durch Autopoiese (Selbstschaffung) der pluralistischen Differenzierung bedingt. Aus diesem Zirkel geht sein Credo hervor, das wesentlich in der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität besteht, die in einer moralfreien, universell soziologischen Supertheorie der Tatsache gerecht werden, daß mit dem Fortschritt des Wissensgewinns auch der Betrag des Unwissens ansteigt, gleichwohl vom begrenzten Begriffsvermögen des Menschen erfaßbar bleiben müsse (Detlef Horster, Niklas Luhmann, 52 – München 2005). Daraus folgt, daß sich im Rahmen der unveränderbaren Asymmetrie der Macht das Wachstum des Wissens bei den Eliten und der Unwissenheit und Verdummung beim Volk konzentriert. Hier stellt sich Luhmanns Differenzkonzept der Denkschrumpfung auf eine Dauerfunktion, die zur Kultivierung des Unwissens auffordert und sich in der Anwendung auf den Interkultur-Dialog im Zwang ausdrückt, das Wissen auf islamförderndes Wissen zu reduzieren (Luhmann, Beobachtungen der Moderne, 163 – Wiesbaden 2006). Wie Habermas bleibt auch Luhmann mit dem Subjekt verkettet, das er im zirkelhaften „Beobachten“ seines Systems nicht abschütteln kann. Mit der Differenz zwischen System und Umwelt, die durch ständige Kommunikation Grenzen schafft, aufhebt und verändert, gehen vielfältige Selbst- und Fremdbeobachtungen einher, die aber den paradoxen Endloszirkel bzw. „Blinden Fleck“ der sich selbst beobachtenden Beobachtung nicht vermeiden können – das Patentrezept des relativistischen Multikulturalismus. Denn es ist unmöglich, die Unterscheidung zu unterscheiden, mit der man unterscheidet, ebenso wie auch „die Realität das ist, was man nicht erkennt, wenn man sie erkennt“ (Luhmann). Dennoch soll all das durch den „Beobachter zweiter Ordnung“ gelöst werden, dessen Position freilich nur der Systemwissende beziehen kann und somit macht-„gerecht“, weil asymmetrisch die Führungsrolle der Elite begünstigt. Sie wird zwar immer wissender, aber auch immer anonymer und bildet eben jene Instanz, die in der so prozeduralen wie monströsen Islamisierung Europas und dessen kulturellem Verschwinden erkennbar wird. Luhmann löscht die Individualität, indem er den Gesellschaftsprozeß als reflexive Produktion konformer Bewußtseine konzipiert, die sich als kompatibler „Rohstoff“ in die geldnormierten Vernetzungen der Arbeits- und Konsumwelt einspeisen. Seiner Aussage, daß „Recht ist, was das Recht als Recht bestimmt“, kann man zustimmen, solange das Geld der erste Formfaktor bleibt. Hinzu kommt der zirkuläre Charakter des Ablaufs, der seine eigene Realität erzeugt und nicht scheitern kann, solange die Bewußtseine noch Raum zur Anpassung hergeben. Welche Maschinenmoral die differenztechnische Reflexivität auch immer erzeugen mag – das „Recht“ dient der effizientesten Deutungsmacht, die sich als klassisches Recht des Stärksten aus den Teilsystemen und ihrer jeweiligen Metabasis – Klasse, Rasse, Islam – herausfiltert. Die Selbstreflexivität erscheint Luhmann so übermächtig, daß die Teilsysteme (Institutionen) automatisch, sozusagen wertfrei und unterschiedslos miteinander wechselwirken, wobei bis auf Ausnahmen (s.u.) das Geld eine merkwürdig geringe Rolle spielt. Armin Nassehi führt dies auf sein induktives Schlußverfahren zurück, was eher auf den ideologischen Trend verweist, weil die Induktion die 235 Analyse meidet (Nassehi, Bourdieu und Luhmann, 41 – Frankfurt 2004). Die monetäre Deutung drängt sich um so mehr auf, als der Paradefall der EuroIslamisierung an den Differenzachsen Akzeptanz-Ausgrenzung, Recht-Unrecht, Palästina-Israel, Demokratie-Dhimmitum die Fusion von EU und OIC aufzeigt, die mit Rechtsbeugung, Bürgertäuschung, Korruption und Utopie das konkrete Ergebnis des selbstreflexiven Strukturwandels ist. So werden die ruinösen „Rettungsschirme“ der Eurozone zu Zeugen der Geldnorm, die den börsengestützten Status Quo der Großinvestoren und die Aktienpakete der islamischen „Miteigner Europas“ (EU-Kommission) absichern. In diesem äußerst machtrelevanten Punkt löst der Makrosoziologe den Praxisbezug seiner Theorie scheinbar nicht ein, sorgt aber für überraschende, weil metaphysische Aufklärung. Das Defizit wird durch einen Dauerbetrug überbrückt, der in der Nichtbeobachtbarkeit seines Differenzsystems besteht, aber sich mit der paradoxen Umkehrung in einen „diabolischen“ Beobachter offenbart. Luhmann benennt ihn freimütig und streng logisch mit Iblis, dem islamischen Teufel. Er ist als der einzige Ungehorsame in Allahs Schöpfung derjenige, der die Gottheit zur im Koran als „listige Ränke“ gelobten Täuschung der Gläubigen zwingt. Zugleich ist er auch der Lenker der Djinnen (Geister im Islam), die Bestandteil des Volksislam sind und Iblis zum Verführer der Gläubigen, aber auch zu ihrem Verbündeten machen, weil sie das Reich der okkulten Magie öffnen und von den täglichen Vorschriften entlasten. Ähnlich geht es den Teilnehmern an der modernen „Kommunikation“, die je strikter sie den Codierungen der Korrektheit folgen, umso weniger Einfluß auf den Prozeß haben, sondern sich um so fester in das Netz der Funktionen integrieren. Die systemgerechte Konformierung reduziert das Wissen auf Reflexe und die Menschen auf Quasi-Automaten und „entsprechend hat das als wahr bezeichnete Wissen eine selbstreinigende Kraft – so wie das Geld“ (Luhmann). Als Ausnahme im säkularen Diskurs gilt also eine metaphysische Dimension, die Günter Schulte kommentiert hat (Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie – Frankfurt 1993). Dabei fällt auf, daß Luhmann die Geldfunktion als „Reinigung“ sieht, womit sich der Humangeist als Störenfried aus dem Reflexbetrieb der „multioptionalen“ Gesellschaft verabschieden muß. Unschwer erkennbar ist Luhmanns Islamteufel der Beobachter des Systems, der zugleich die selbstbezügliche Islamisierung Europas zum Blinden Fleck macht, aber von den islamophoben Dissidenten zur Preisgabe des Mysteriums gezwungen wird. Dieser Vorgang, der in der pluralistischen Dynamik nicht abschließbar ist und daher den Islam automatisch importiert, trägt ihnen den entsprechend reflexhaften Haß aller Dialogprofiteure ein und bildet logischerweise oberste Priorität im OIC/ISESCO-Djihad-Programm. Kein Wunder also, daß die Muslime generell die Islamophobie als Teil der Teufelsdomäne sehen, die mit dem Unglauben und dem weiblichen Ungehorsam auch die höchsten Sicherheitsrisiken enthält. Während Luhmanns Erkenntnis von den Dialog-Akteuren eisern verschwiegen wird, wird auch die Unmöglichkeit erkennbar, die metaphysische Ebene der Muslime mit der physischen Sichtweise der Europäer auf die viel beschworene „Augenhöhe“ zu bringen. Während erstere in der Islamophobie die Inkarnation 236 des Unglaubens sehen, verteufeln letztere sie als verachtenswerte Version des Rassismus, wissen sie aber gleichwohl als Machtmittel zu schätzen, womit sich eine auf die Eliten begrenzte Übereinstimmung erreichen läßt. Die Gemeinsamkeit besteht im tödlichen Kampf gegen die jüdisch-christlichen Kultur, deren Menschen sie ebenso leicht wie der Koran über die Klinge springen lassen. In ihrer selektiven Toleranz macht sich die kuriose Unfähigkeit der Euro-Eliten geltend, im Islam eine Dynamik zu erkennen, die ihnen ideologisch zwar sehr nahe steht, sie aber selbst nicht verschonen wird, weil sie der gleichen Kultur angehören, die sie mit Hilfe eben des Islam vernichten wollen. Mithin zwingt das islamozentrische Heilsziel die neofeudalen EU-Führer, ihren Bevölkerungen den Austausch der Demokratie gegen das Dhimmitum als ideales Seinsgeschäft zu verkaufen, wobei sie eine weitere Version des platonischen Sein-Schein-Paradoxes praktizieren. Denn der „moderne“ Herrschaftstrend präsentiert sich der Volkswahrnehmung in oft betrügerischen Formen, zuweilen theaterhaften Inszenierungen, entzieht sich aber in der Komplexität des globalen Datenkosmos zugleich der Nachprüfbarkeit, was sowohl dem „Blinden Fleck“ als auch der totalitären Machtmaschine Vorschub leistet. Davor hatte schon der erwähnte Descartes gewarnt, der dem Menschen nahe legt, seinen Verstand zu benutzen, um nicht dem „Betrügergott“, den Fallstricken der Mächtigen, anheim zu fallen, die ihn geistig und zuweilen auch körperlich zum Verschwinden bringen wollen. Somit erstaunt wenig, daß das kartesische Prinzip, das den denkenden Menschen ins Zentrum der europäischen Zivilisation stellt, neben Kirche und Adel zum dritten Feindbild der Aufklärer wurde und heute die links-rechten Extreme als rotbraune Neo-Jakobiner dazu „provoziert“, die metaphysische Gewaltlizenz des Islam radikaldemokratisch zu vollstrecken. Ihr wichtigster Exponent ist Martin Heidegger, der als „größter Philosoph“ des 20. Jahrhunderts gilt, obwohl weite Bereiche seiner Philosophie das Denken verbieten und seinen Einsatz für den Nationalsozialismus zu erklären helfen. Die weltweite Resonanz auf seine Botschaft von der ultimativen Herrschaft über das „Seiende im Sein“ reflektiert die ebenso weltweite Zunahme des Massenmords, wie sie Daniel Goldhagen belegt (Schiller als Krieg, München 2009). Zu dem gewaltigen Chor der globalen Zustimmung zu Heideggers totalitärem Willen zur Macht gehören auch die Stimmen der prominentesten Philosophen, Human- und Kulturwissenschaftler in Europa und Amerika, ein Who is Who der westlichen Diskursforschung, die seiner Doktrin beipflichtet, ohne deren Gewaltpotential zu hinterfragen. Es ist diese elitäre Eigendynamik, die sich über die Hebel der Dialog-Dressur einen neuen Totalitarismus aneignet und in ihren diversen Formen in Politik, Medien, Bildung und Kirchen das Thema des zweiten Teils dieses Beitrags bilden. Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und den Dialog mit dem Islam. 237 238 Besprechungen Katholisch konservativ Der Publizist und Autor Gerd-Klaus Kaltenbrunner, geboren 1939 in Wien, verstorben 2011 in Lörrach, war eine vielseitige Natur, ein Mann des Staunens, des Eifers und der Ehrfurcht, ein spiritueller Idealist und Kompilator. Wer ihn lediglich als Autor der „neuen Rechten“ betrachtet, wird seinen geistigen Anliegen nicht gerecht. Magdalena S. Gmehling, Leitstern am geistigen Firmament. Erinnerungen an Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Christiana-Verlag, Kisslegg 2012, 128 Seiten, 25 Fotos Man verbindet mit seinem Namen aber die „Rekonstruktion des Konservativismus“ in der Nach-1968er-Zeit, die Betonung von „Elite“ wider alle Egalisierung und die Formierung einer „Tendenzwende“, die sich vor allem in der von ihm 1974 bis 1988 herausgegebenen Taschenbuch-Reihe „Herderbücherei Initiative“ zu verschiedensten Themen artikulieren konnte. Diese Bände behalten aufgrund der hervorragenden Einleitungen des immens Belesenen und der profilierten Autoren ihre Gültigkeit über den Tag hinaus, brachten ihm u.a. den Konrad-Adenauer-Preis ein und sind antiquarisch äußerst begehrt. Kaltenbrunner ist kein Autor zu abgelegen oder unbedeutend, um sich ihm nicht in seinen zahlreichen Porträts europäischer Geister verständnisvoll zu widmen. Begeistern konnte er sich für vieles, nahezu schwärmerisch sich äussern, oft allzu frei von kritischer Distanz gegenüber dem Objekt seiner Bewunderung. Diese Offenheit bereichert und ermöglicht ästhetische Erfahrungen, aber kann auch den hellen Blick trüben, wenn etwa gnostische oder schrulligesoterische Protagonisten zu Ehren kommen. Magdalena S. Gmehling, die Verfasserin der nun vorliegenden Erinnerungen an „GKK“, ist seit 1992 mit dem sich immer mehr in die Einsamkeit und ein Eremitentum zurückziehenden Privatgelehrten in intensivem Austausch, beschreibt seine Wohnumgebung im Kanderner Ölmättle 12, seine Bibliophilie, seine Reliquiensammlung und seinen Garten mit einer St-Anna-Kapelle – wobei nie zu vergessen sei, daß „das Unsichtbare alles beherrscht, was wir sehen“ (Maurice Maeterlinck). Sie schildert liebevoll und sprachlich ansprechend seine geistigen Schwerpunkte und Sehnsüchte nach Heiligem, nach Musik und Schweigen. Überflüssig und teilweise überholt ist die Wiedergabe eines galligen, mit nervigem name-dropping versehenen Essays in Würdigung Theodor Haeckers (Seite 71-83). Vieles dort Beklagte hat längst Fürsprecher gefunden, von Erik Peterson liegt inzwischen eine vorbildliche Gesamtedition vor. Zu Recht betont Gmehling jedoch Kaltenbrunners immer inniger werdende Liebe zu den geistlichen Versen Johannes Schefflers/Angelus Silesius‘, die er sich zuletzt laut vorgelesen haben will, und verweist auf sein bewußt unakademisches, aber faszinierendes Hauptwerk „Dyonisius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (Zug 1996), in dem er weit ausholend den ihm (neben Jakob Böhme und Leopold Ziegler) wohl am nächsten stehenden Theologen, Denker und Mystiker einzufangen versucht. Die Sehnsucht nach Stille in einer Zeit des Lärms prägte die letzten Lebensjahre Kaltenbrunners. Unmöglich, sich ihn (wie einen Richard David Precht) in einer Talkshow vorzustellen oder gar als Aktivist im Internet. Als „Schlüssel zum 239 Tor der Weisheit“ (Seite 97-109) gilt ihm in Gmehlings Erinnerungen Dantes „Commedia“, der Gralshüter Johannes, dem er ein Buch widmete, und die Frömmigkeit der sieben heiligen Zufluchten nach dem Altarbild der Kirche in Altlerchenfeld/Wien, das auch sein Sterbebild abgibt. Politisch ersehnte Kaltenbrunner eine Reorganisation Europas auf christlichföderalistischer Grundlage, darin den ihn fördernden „Zeitbühne“-Herausgebern William S. Schlamm und Otto von Habsburg verwandt. Aus katholischer Perspektive ist es bedauerlich, daß Kaltenbrunners antimoderne Kulturund Kirchenkritik ihn schließlich in die resignative Sackgasse des „Sedisvakantismus“ führte, der Ansicht also, daß seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Petrusamt nicht mehr rechtmäßig besetzt sei. Das ist eine unnötige und letztlich unkonstruktive Isolierung, da Kaltenbrunners Anliegen hierzulande ja etwa auch bei Hans Urs von Balthasar, Robert Spaemann, Martin Mosebach und Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. selbst innerkirchliche Fürsprecher fanden. Vielleicht ist es die Tragik des dem Rezensenten 1977/78 in Kirchzarten freundschaftlich begegneten Autors, von Kierkegaards ästhetischer Phase unter Umgehung der Ethik gleich in die religiöse Phase springen zu wollen. Doch war Gerd-Klaus Kaltenbrunner letztlich auch im katholischen Sinne tief gläubig und ließ sich an seinem Lebensende durch den Augsburger Diözesanpriester Georg Oblinger, der am 19. April 2011 (Tag der Wahl Benedikts XVI.) die (im Buch abgedruckte) Predigt bei der Trauerfeier in Kandern hielt, geistlich begleiten. Durch die nun vorliegenden gut geschriebenen und ansprechend mit Fotos edierten „Erinnerungen“ einer kongenialen Bekannten kann einem 240 eigenwilligen Anreger und Empfänger europäischer Bildung bei aller nötigen Hinterfragung die verdiente Aufmerksamkeit und Nachwirkung ermöglicht werden. Ob er dann ein „Leitstern am geistigen Firmament“ ist, bleibe dem Urteil der Leser überlassen. Stefan Hartmann Konservative Publizistik Caspar von Schrenck-Notzing (19272009) entstammte nicht nur einem der ältesten Ratsgeschlechter der Stadt München. Er war auch einer der bedeutendsten und einflußreichsten konservativen Publizisten der Bundesrepublik. Daß ihn das Online-Lexikon „Wikipedia“ als „Vertreter der Neuen Rechten“ ausweist, ist entweder als Zeichen von Unkenntnis oder als ideologische Voreingenommenheit zu werten. Sein Name ist vor allem mit der Zeitschrift Criticón verbunden, die intellektuelle Gegenpositionen zum linken Mainstream der 70er, 80er und 90er Jahre bezogen hat. Der ungewöhnliche Name der Zeitschrift bezieht sich auf den Titel eines Romans des spanischen Moraltheologen Baltasar Gracián (1601 bis 1658). Caspar von Schrenck-Notzing: Konservative Publizistik. Texte aus den Jahren 1961 bis 2008. Ausgewählt und herausgegeben von Patrick Neuhaus. Mit einer Einleitung von Karlheinz Weißmann. Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung, Berlin 2011, 480 Seiten In Criticón veröffentlichten zwar unter anderem auch Vertreter der „Neuen Rechten“ (zum Beispiel Alain de Benoist), aber vor allem auch Konservative jeglicher Couleur (Nationale, christliche Konservative, Liberalkonservative etc.). Neben der zeitraubenden Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift, für die unter anderem Armin Mohler, aber auch C-Konservative wie Alexander Gauland und andere zur Feder gegriffen haben, ist Schrenck-Notzing als Autor von Büchern wie „Charakterwäsche“ und „Honoratiorendämmerung“ sowie als Herausgeber von Werken wie „Konservative Köpfe“ oder „Lexikon des Konservatismus“ hervorgetreten. Als Begründer der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung (FKBF) hat Schrenck-Notzing ebenfalls eine Wirkung entfaltet, die bis heute anhält. Der FKBF ist ein konservativer Prachtband zu verdanken, der jüngst erschienen ist. Patrick Neuhaus hat für die Stiftung Texte Schrenck-Notzings aus den Jahren 1961 bis 2008 zusammengestellt. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann hat eine kundig-knappe Einleitung beigesteuert. Der Band schließt mit einer Auswahlbiographie des Criticón-Gründers, die zum Weiterlesen einlädt. Auf rund 500 engbedruckten Seiten findet sich eine Auswahl der stärksten Texte aus Criticón, der Zeitschrift Der Monat, aus Konservativ heute oder auch aus der Publikation Unsere Agenda, die Schrenck-Notzing herausgegeben hatte, nachdem er Criticón in die Hände des Bonner Wirtschaftspublizisten Gunnar Sohn übergeben hatte. Neben interessanten Portraits zumeist konservativer Persönlichkeiten macht uns der Band mit Beiträgen über den Konservatismus, die deutsche Frage und Identität, die sogenannte „Umerziehung“ durch die Amerikaner, den Parteienstaat, die Kulturrevolution von 1968 sowie Texten über Medien, Meinung und Zensur vertraut. Schrenck-Notzing war in erster Linie ein sehr belesener Intellektueller. Seine Versuche, eine Art Sammelpolitik vorzubereiten, „die allen Strömungen der Rechten jenseits der Union und diesseits der ‚Neos‘ ein Forum schaffen sollte“ (Weißmann), scheiterten letztlich. Aber er war auch kein Ideologe wie sein Schweizer Mitstreiter Mohler, da für ihn die Ideologie endete, „wo die Politik beginnt“. In seinem Beitrag „Rückruf in die Geschichte – zehn Jahr Criticón“ hat SchrenckNotzing sein publizistisches Credo gut beschrieben: „Der Titel von 1970 legte sich quer zu den von Befreiungstheologien und Konvergenztheorien, von Entspannungseuphorie und Reformfanfaren begleiteten Zug der Utopisch-Naiven (aus dem dann und wann – wie war man doch überrascht! – die Gewaltsamen ausbrachen. Inmitten der Hoffnungsphilosophen vertraten wir das konservative Prinzip Wirklichkeit, inmitten der Berauschten die nüchterne Vernunft, inmitten der formierten Meinung der Medien die ihrer Grenzen bewußte Gegenstimme, inmitten der Politik der Politiker den Primat der Kultur.“ Angesichts des Meinungskonformismus, dem wir heute ausgesetzt sind, fehlt eine Stimme wie Criticón, auch wenn mittlerweile einige interessante Zeitungs-, Zeitschriften- und Online-Projekte wider den Stachel löcken und sich mit der veröffentlichten öffentlich-rechtlichen Meinungsmache nicht zufrieden geben wollen. An die Stelle eines solch einflußreichen, intellektuell vielseitig interessierten und beschlagenen Kopfes wie Schrenck-Notzing ist jedoch kein würdiger Nachfolger getreten. Vielleicht regt der schöne Band der FKBF insbesondere junge Publizisten an, es einem großen Vorbild gleich zu tun, ohne SchrenckNotzings singuläre Erscheinung kopieren zu wollen. Ansgar Lange 241 242