Andreas Lipsch Evangelische Kirche in pluraler Gesellschaft Vortrag beim Fachgespräch „Evangelische Familienzentren als Orte der Begegnung“ am 11.2.2009 in Wuppertal Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema, das Sie mir aufgegeben haben – „die Rolle der Evangelischen Kirche in einer pluralen Gesellschaft“ - hat mich einerseits besorgt, andererseits war ich dankbar dafür. Besorgt hat es mich, weil es so groß und umfangreich ist, dass es als Thema einer Doktorarbeit vermutlich abgelehnt würde. Auch auf 300 Seiten könnte es nicht hinreichend erörtert werden. Dankbar war und bin ich für dieses Thema, weil es erlaubt, unterschiedliche Aspekte und Dimensionen der gegenwärtigen Transformation dieser Gesellschaft in eine globalisierte Einwanderungsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dass das in der mir eingeräumten Zeit nur sehr holzschnittartig möglich ist, werden Sie mir hoffentlich nachsehen. Drei Schritte habe ich mir vorgenommen. Zunächst möchte ich einige aktuelle Befunde der pluralen Gesellschaft erheben und die damit verbundenen Herausforderungen für die kirchliche Arbeit zu beschreiben versuchen (1). In einem zweiten Schritt werde ich auf die (meist allerdings gar nicht wirklich geführte) Diskussion um das Evangelische Profil und eine Interkulturelle Öffnung kirchlicher Einrichtungen eingehen und sie in einen weiteren Kontext stellen (2). Drittens schließlich möchte ich einige zentrale Bezugspunkte nennen, an denen sich aus meiner Sicht eine Evangelische Kirche in pluraler Gesellschaft orientieren könnte und sollte (3). 1. Pluralisierung und Spaltung – Befunde und Herausforderungen Wenn Sie den Begriff „Plurale Gesellschaft“ googeln, sind Sie schon beim fünften Eintrag mitten in der Debatte um das Kopftuch muslimischer Frauen. Das ist kein zufälliger Befund. Wenn es um die Pluralisierung dieser Gesellschaft geht, steht die Auseinandersetzung mit dem Islam als der drittgrößten und immer deutlicher sichtbaren Religion in Deutschland ganz oben auf der Agenda. Am Umgang mit dem Islam und muslimischen Bürgerinnen und Bürgern zeigt sich, ob diese Gesellschaft nicht nur plural sondern auch pluralistisch ist, und die gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Interessen, Lebensstile und nun eben auch religiöser Lebensformen gewährleistet. Praktisch ist das offenbar schwerer als theoretisch. Der Abschied von der Vorstellung einer christlichen Gesellschaft (ich lasse hier mal dahingestellt, ob es so etwas jemals gegeben hat) fällt manchem nicht leicht. Und selbst, wer sich für nicht religiös hält, die christliche Prägung dieser Gesell- 2 schaft aber durchaus akzeptieren kann, hat Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass sie nun auch noch muslimisch geprägt werden soll. Aber genau das wird der Fall sein. Menschen muslimischen Glaubens werden diese Gesellschaft mit gestalten, auch wenn es ihnen jetzt vielfach noch verwehrt wird. Angekommen aber sind sie, mitten in der Gesellschaft und auch mitten in vielen kirchlichen und diakonischen Diensten und Einrichtungen. In der Schwangerenberatungsstelle ist heute fast jede zweite Ratsuchende eine Muslimin. Und wie viele muslimische Kinder und Jugendliche heute den Alltag in Kindertagesstätten, Familienzentren und in der Jugendarbeit prägen, wissen Sie besser als ich. In dieser religionspluralen Gesellschaft steht die Evangelische Kirche vor einer doppelten Herausforderung. Auf der einen Seite muss sie ein neues Selbstverständnis entwickeln, insofern die christliche fortan eine Religion unter anderen ist. Diese Selbstverständigung hat in den vergangenen Jahren eine Mehrzahl von Profildebatten nach sich gezogen. Auf der anderen Seite muss die Kirche in ihren Diensten und Einrichtungen, die für die ganze Gesellschaft da sein und sie prägen wollen, mit einer neuen Vielfalt rechnen und interkulturell sensibel mit ihr umgehen lernen. Diese doppelte Herausforderung irritiert offenbar. Die Evangelische Kirche in der pluralen Gesellschaft ist auch eine verunsicherte Kirche, die sehr unterschiedliche und manchmal widersprüchliche Signale aussendet. Jedenfalls stehen seit einiger Zeit Forderungen nach einer evangelischen Profilierung auf der einen und einer interkulturellen Öffnung auf der anderen Seite weitgehend unvermittelt nebeneinander. Ich komme darauf zurück. Zunächst aber möchte ich noch einige andere Aspekte der pluralen Gesellschaft in den Blick nehmen. Die Pluralisierung der Gesellschaft erschöpft sich nämlich nicht in der Präsenz einer neuen Religion in Deutschland. Wer allein durch diese Brille schaut und die Frage des Umgangs mit dem Islam und mit Muslimen zur Kardinalfrage der Integration macht, sieht zu wenig. Plural geworden sind wir nicht nur durch die religiös Anderen, plural geworden sind wir als Evangelische Kirche längst auch selbst und in unserem Innern. Vor allem die letzte Kirchenmitgliedschaftsstudie 1 hat das deutlich gemacht: In der Kirche gibt es eine enorme Vielfalt sozio-kultureller Milieus, die relativ unvermittelt nebeneinander existieren und zwischen denen eine weitgehende Sprach- und Beziehungslosigkeit herrscht. Dieser Befund hat viele Diskussionen nach sich gezogen, sowohl über eine notwendige Pluralisierung kirchlicher Angebote als auch über Möglichkeiten, diese innerkirchliche Vielfalt zu integrieren. Ein Integrationsproblem hat die Kirche also auch im Blick auf ihre eigenen Mitglieder. Dies ist ein weiterer Aspekt der Pluralisierung, der den Alltag in kirchlichen Einrichtungen prägt und die Frage aufwirft, wie milieuübergreifend gearbeitet und kommuniziert und eine notorische Mittelstandsorientierung überwunden werden kann. 1 Wolfgang Huber, Johannes Friedrich, Peter Steinacker (Hrsg.): „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh, 2006. 3 Zur innerchristlichen Vielfalt tragen auch und in zunehmendem Maß sogenannte Migrationsgemeinden bei, die andere christliche Frömmigkeits- und Lebensstile mitgebracht und vor allem in den Städten zu einer mehrsprachigen Präsenz christlicher Religion geführt haben. Mit einheimischen Gemeinden haben sie – von Ausnahmen abgesehen – meist wenig Kontakt. Angesichts dieser innerchristlichen Pluralisierung steht die verfasste Kirche nicht nur vor der Frage, wie bessere Beziehungen aufgebaut und theologische Fragen bearbeitet werden können, sondern auch vor der Herausforderung, diese „anderen Christen“ in der Kirche partizipieren zu lassen. Die plural gewordene Einwanderungsgesellschaft ist also nicht nur durch eine Mehrzahl von Kulturen und Religionen geprägt, sondern mindestens ebenso stark durch eine zunehmende Pluralität innerhalb von Kulturen und Religionen. Und das gilt selbstverständlich auch und sogar in besonderem Maße für den Islam in Deutschland, was gerne übersehen wird, um bequemer von „den“ Muslimen sprechen zu können. Noch komplexer wird es, wenn wir nicht mehr nur „Kulturen“ und „Religionen“ sondern einzelne Biografien in der globalisierten Einwanderungsgesellschaft in den Blick nehmen. Dann erscheinen mehr und mehr patchworks: Menschen, die sich über Nationalstaatsgrenzen hinweg mehrfach zugehörig fühlen, Menschen, die in bikulturellen und immer öfter auch bireligiösen Beziehungen und Familien leben, Menschen die kulturell und religiös kreativ geworden sind und ihre Sinnbezüge und Lebensbilder aus unterschiedlichen religiösen und kulturellen Quellen speisen. Wie immer man diese Bricolagen bewertet, mit solchen kulturellen und religiösen Mehrfachidentitäten muss heute gerechnet werden. In der pluralen Gesellschaft werden Menschen kulturell und religiös eigensinnig, und das trifft, wie schon gesagt, auch auf die eigenen Kirchenmitglieder zu, die das Maß und die Form ihrer Kirchlichkeit selbst bestimmen. Wer mit einer derart vielfältigen Vielfalt rechnet, der wird vorsichtig werden, Menschen zu schnell in Kategorien ein- und unterschiedlichen Kulturen und Religionen zuzuordnen. Heute begegnen sich nicht nur „Deutsche“ und „Türken“, „Christen“ und „Muslime“, sondern unterschiedlich verschiedene Menschen. Begegnungen in der pluralen Gesellschaft finden nicht zwischen „uns“ und den „anderen“ statt. Ein anderer bin ich auch selbst, und „Wir“ sind immer Verschiedene. In der pluralen Gesellschaft begegnen sich vielmehr einander Fremde. Toleranz, Respekt und Anerkennung gebührt darum nicht nur den religiös Anderen, sondern jeder und jedem von uns. Jeder und jede hat eine ganz eigene und ziemlich komplexe „Lebensmelodie“ 2 , die ich nicht begreife, wenn ich ein Etikett draufklebe. Die Lebensmelodie des Anderen kann ich nur nach und nach, und durch genaues Zuhö- 2 Diesen Begriff verdanke ich Werner Höbsch, dem Leiter des Referats für interreligiösen Dialog und Weltanschauungsfragen im Erzbistum Köln. 4 ren, lernen. Das ist schwer genug. Noch schwieriger aber wird es, wenn wir einander nicht auf Augenhöhe begegnen können. Genau das aber ist in dieser Gesellschaft oft der Fall, die eben nicht nur durch kulturelle und religiöse Verschiedenheit, sondern zunehmend auch durch soziale Ungleichheit geprägt ist. Und das ist der letzte Befund, den ich hier ansprechen möchte. In der pluralen und globalisierten Gesellschaft finden nicht mehr nur Pyramidenbildungen von denen „da unten“ bis zu denen „ganz oben“ statt. Immer deutlicher wird eine Spaltung dieser Gesellschaft. Den in Arbeitsmärkte und Privilegiensysteme Integrierten steht eine größer werdende Zahl sozial Desintegrierter gegenüber, die aus ökonomischer Sicht schlicht überflüssig sind. Um die „gated communities“, die gut bewachten Viertel, wo die Gewinner wohnen, wachsen die abgehängten Stadtteile der Verlierer. Die produktiven Eliten lassen sich das Beste servieren, während sich die „Überflüssigen“ an Tafeln abholen dürfen, was nicht mehr gebraucht wird. Ich muss das hier nicht näher ausführen, diese Entwicklungen nehmen wir alle wahr. Worauf ich allerdings hinweisen möchte: beide Phänomene, zunehmende Ungleichheit und zunehmende Vielfalt stehen nicht unverbunden nebeneinander. Die gegenwärtigen Desintegrationsprozesse haben vielmehr einen ethnischen Index. Menschen mit Migrationsgeschichte sind eben deutlich häufiger arm als solche ohne Migrationsgeschichte. Sie arbeiten häufiger in Niedriglohnsektoren. Nicht selten war es ihnen aufgrund absurder ausländerrechtlicher Bestimmungen sogar über Jahre hinweg verboten, überhaupt zu arbeiten. Und eine nicht gerade kleine Gruppe – Schätzungen reichen von 500.000 bis zu einer Million – arbeiten als Menschen ohne Aufenthaltspapiere illegal, aber gern gesehen im Baugewerbe, in der Gastronomie und immer öfter in Privathaushalten. Und noch in einem anderen Sinne gibt es eine Klammer zwischen sozialer Desintegration und kultureller Identifikation. Wo die Integration in die Gesellschaft offenbar nicht mehr funktioniert, gewinnen „sekundäre Integrationspotentiale“ an Bedeutung. Informelle Netze von Familien, Nachbarn, Freunden und informelle Ökonomien werden wichtiger. Man besinnt sich zurück auf ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten, weil soziale Bindekräfte hier in der Regel am stärksten sind. Zugleich lassen ethnische und religiöse Gruppen dem Einzelnen die Anerkennung zukommen, die einem Arbeitslosen in dieser Gesellschaft in der Regel versagt bleibt. Das ist ein sehr ambivalenter Befund, weil diese Einbindung in kulturelle und religiöse Netzwerke die Gefahr birgt, sich nach außen abzuschließen. Das wird dann schnell als Parallelgesellschaft kritisiert, was aber nicht viel hilft, wenn sich die sozialen Bedingungen nicht verändern. 5 Solche kulturellen und religiösen Einbettungen werden aber nicht nur „unten“, für zunehmend desintegrierte Menschen und Gruppen wichtiger. Auch manch einer, der sich in „vorglobalisierten“ Zeiten noch über eine erfolgreiche Erwerbsbiografie und Standesbewusstsein definierte, greift angesichts der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse auf kulturell oder religiös geprägte Selbstdefinitionen zurück. Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialem Abstieg führt zu Unterscheidungsbedürfnissen nach „unten“. Mit dieser Entwicklung schwindet die Bereitschaft, die Lebenslagen anderer Gruppen als der eigenen wahrzunehmen, merklich. Die Welten unterschiedlicher sozialer Gruppen driften auseinander und haben immer weniger miteinander zu tun. Keine leichten Zeiten also für milieuüberschreitende Begegnungen. Soweit die vorläufigen Befunde. Was aber bedeutet das nun alles für die Evangelische Kirche und ihre Einrichtungen? Ich komme zurück zur doppelten Herausforderung, vor der eine Evangelische Kirche in pluraler Gesellschaft heute steht. 2. Interkulturelles Profil und evangelische Öffnung – Debatten, Konflikte und ein gutes Beispiel Wie gesagt: Derzeit sendet die Evangelische Kirche unterschiedliche Signale aus. Auf der einen Seite wird – wie in einer gerade erschienenen Handreichung – die interkulturelle Öffnung aller kirchlichen und diakonischen Arbeitsfelder angeregt und angestoßen. Das Ziel sind Dienste und Einrichtungen, die angesichts zunehmender Verschiedenheit und Ungleichheit etwas zur Integration dieser Gesellschaft beitragen. Dienste und Einrichtungen, die allen Menschen offen stehen und sensibel und kompetent sowohl mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Orientierungen als auch mit sozialer Ungleichheit umgehen können. Auf der anderen Seite wird ein schärferes evangelisches Profil der Kirche gefordert, das auch in ihren Einrichtungen Gestalt gewinnen müsse. Im Wettbewerb der Religionen müsse die Evangelische Kirche erkennbarer werden, erklärt zum Beispiel der einflussreiche Theologe Thies Gundlach. „Pluralität ist kein Marktvorteil“ rief er im vergangenen Jahr einer Landessynode zu. Und noch schärfer: „Der Kampf um die Seelen hat erst begonnen.“ Das klingt beinahe beängstigend. Zieht man aber mal die neuerdings bei Kirchens gepflegte Unternehmersprache, die in „Marktvorteilen“ zu denken scheint, ab, und denkt man sich diesen millenaristischen Unterton weg, dann wird hier natürlich ein richtiges Anliegen formuliert. Evangelische Einrichtungen sollten als evangelische erkennbar und erfahrbar sein. Wie das allerdings gelingen und konkret aussehen soll, wird in solchen Generalaufrufen selten erläutert. An der Basis jedenfalls kommt eine merkwürdige Doppelbotschaft an. Einrichtungen sollen sich interkulturell öffnen und mit der zunehmenden Vielfalt sensibel und 6 gerecht umgehen. Zugleich soll, „wo evangelisch draufsteht, auch evangelisch drin sein“, wie neuerdings gerne und flott formuliert wird. Übersetzt wird das dann meist in die Forderung, vor allem Mitarbeiter einzustellen, die Mitglied der Evangelischen Kirche sind. Das jedenfalls ist die Stoßrichtung der sogenannten Loyalitätsrichtlinie, die in manchen Landeskirchen nicht von ungefähr auch Profilierungsrichtlinie genannt wird. Solche irritierenden Doppelbotschaften führen nicht wirklich weiter. Was wir viel mehr brauchen, ist eine intensive Diskussion darüber, wie evangelische Einrichtungen interkulturell offen werden und interkulturell offene Einrichtungen evangelisch bleiben können. Das hieße aber, einen Grundkonflikt zu bearbeiten, der nicht erst heute auftritt, sondern die Kirche seit ihren Anfängen begleitet. Dieser Grundkonflikt gehört konstitutiv zur Kirche. Denn die Kirche hat eine universale Botschaft und ist zugleich partikular verfasst. Sie sieht in jedem Menschen Gottes Ebenbild, eine Person, die eine unverlierbare Würde hat und grundsätzlich zur Gottesbeziehung fähig ist, und unterscheidet zugleich zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen. Sie bezeugt, dass Gott im Leben und Sterben Jesu Christi die ganze Menschheit mit sich und die Menschen untereinander versöhnt hat, und unterscheidet zugleich zwischen Getauften und Ungetauften. Die Kirche ist gefordert, hinaus in die Welt zu gehen und das Evangelium aller Kreatur zu verkünden (Markus 16,15). Wo sie es einer Beliebigkeit der Meinungen und Interessen, kultureller und religiöser Orientierungen preisgibt, verfälscht sie das Evangelium (die Deutschen Christen in der Nazidiktatur sind ein gutes Beispiel dafür). Wo sie sich aber verschließt, um eine (vermeintlich) evangelische Binnenkultur zu pflegen, wird sie dem Evangelium nicht mehr gerecht. Diese Spannung zwischen partikularer Verfassung und universaler Botschaft der Kirche kann und darf nicht aufgelöst werden. Sie muss vielmehr immer wieder neu bearbeitet werden. Erst in diesem Prozess gewinnt die Kirche ihre konkrete Gestalt und ihr Profil. Grundsätzlich aber gilt – jetzt will ich auch mal salopp formulieren –: „Wo evangelisch drauf steht, muss Evangelium drin sein.“ Wie müssten evangelische Einrichtungen heute aussehen, damit in einer pluralen, durch Verschiedenheit und Ungleichheit geprägten Gesellschaft das Evangelium vernehmbar und erfahrbar wird? Das ist die Frage, die wir zuerst beantworten müssen, bevor wir als interkulturelle Öffner oder evangelische Profiler tätig werden. Vielleicht können wir von der alten bzw. noch ganz jungen Kirche im 3. und 4. Jahrhundert etwas lernen. Immerhin war die damalige gesellschaftliche Situation unserer heutigen gar nicht so unähnlich. Damals war auch das Römische Reich eine multikulturelle, multireligiöse und von extremer sozialer Ungleichheit geprägte Gesellschaft. Und mitten in dieser heterogenen Gesellschaft tauchte eine kaum bekannte Minderheitsreligion namens Christentum auf, die ihren Ursprung in ei- 7 nem kleinen Landstrich in einer Randprovinz des römischen Reiches hatte, sich dann aber in atemberaubender Geschwindigkeit ausbreitete. Warum? Wahrscheinlich ist, das vor allem fünf Gründe dafür ausschlaggebend waren. Der erste: Das Christentum war eine durch und durch globalisierte Religion, die ihre Identität nicht durch Abgrenzung, sondern in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Religionen und kulturellen Ausdrucksformen gefunden hatte. Auch ihre sozialen Gestalten und sogar ihre Erkenntnis der Wahrheit waren das Ergebnis interkultureller und interreligiöser Begegnungen und Austauschprozesse. Von Anfang an war die christliche Religion anders als ihre Konkurrenten (um auch mal unternehmerisch zu sprechen) eine übersetzende Religion. Im übertragenen, aber auch im buchstäblichen Sinn. Schon sehr früh wurden die heiligen Schriften in die gängigen Sprachen übersetzt, um interkulturell und interreligiös sprachfähig zu werden. Zugleich wandte sich die frühe Kirche mit ihrer Botschaft, anders als andere Religionen ihrer Zeit, nicht nur an die sozialen Eliten, sondern an alle sozialen Schichten und gezielt an die am Rande der Gesellschaft. Der zweite Grund: Diese frühe interkulturelle Öffnung wurde von einer institutionellen Öffnung begleitet, die sich einer in der antiken Religionsgeschichte geradezu revolutionären Tat des Apostels Paulus verdankte. Der nämlich hatte sich geweigert, die sogenannten Heidenchristen der Beschneidung zu unterwerfen. Damit verzichtete die frühe Kirche auf ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit. Das dritte, was die frühe Kirche tat: Sie integrierte die Individuen in stabile und große Netzwerke. Sie organisierte Solidarität, sowohl lokal als auch reichsweit und quer zu allen sozialen Statusgruppen. Viertens organisierte die junge Kirche eine effektive Sozialdiakonie in großem Maßstab, die Witwen, unverheiratete Frauen, Gefangene, Kranke, Behinderte, Arme und Durchreisende unterstütze, unabhängig von deren Zugehörigkeit zur Kirche. Fünftens schließlich schaffte die Kirche schon damals ganz unterschiedliche Bildungsinstitutionen, mit denen sie Gebildete wie Ungebildete zu erreichen versuchte. Auf der einen Seite führte sie komplizierte theologischen Debatten, auf der anderen Seite wurde das Evangelium im Blick auf alltägliche ethische Fragen elementarisiert. Eine frühe Bildungsoffensive, wenn Sie so wollen. Das war es, was dem frühen Christentum ein offenbar sehr überzeugendes Profil verlieh: die interkulturelle und interreligiöse Kommunikation des Evangeliums, eine institutionelle und soziale Öffnung, die weder Griechen noch Juden, weder Beschnittene noch Unbeschnittene kennen will, und die sich weigert, Menschen in Nichtgriechen, Skythen, Knechte und Freier einzuteilen, sondern alle zusammen 8 ins Antlitz Christi hineindenkt. Und nicht zuletzt: die Bereitschaft, über die traditionellen Funktionen der Religion hinaus auch kommunale und bürgerschaftliche Aufgaben zu übernehmen und in die kirchliche Arbeit zu integrieren. Die junge Kirche hatte ein interkulturelles Profil und betrieb eine evangelische, eine am Evangelium orientierte Öffnung. Kann man das in die heutige Situation einer Evangelischen Kirche in pluraler Gesellschaft übersetzen? Ich will es zumindest versuchen. 3. Das Evangelium darstellen – Evangelische Kirche in pluraler Gesellschaft Gerade in einer pluralen Gesellschaft hat die Kirche das Evangelium zu verkünden. Es muss aber auch drin sein, in allem, was sie tut. Sie wird die frohe Botschaft darum nicht nur weitererzählen, sondern auch darzustellen versuchen und in ihren eigenen Einrichtungen Gestalt annehmen lassen. Die frohe Botschaft, dass Gott in der Welt Wohnung genommen und im Leben und Sterben Jesu der ganzen Menschheit das Angebot der Versöhnung gemacht hat (und nicht etwa der Kirche das Angebot der Differenz) wird die Evangelische Kirche als Aufforderung begreifen, ebenfalls Wohnung zu nehmen mitten in der Welt, in der Stadt und im Stadtteil, um zur Integration des Gemeinwesens beizutragen. Sie wird darum versuchen, die Heterogenität der Bevölkerung auch in ihren eigenen Einrichtungen abzubilden. Die Angebote ihrer Gemeinden werden sich nicht nur an die eigenen Mitglieder richten, sondern den ganzen Sozialraum in den Blick nehmen, um der Stadt und des Stadtteils Bestes zu suchen. Die frohe Botschaft, dass wir Geschöpfe Gottes sind, unser Leben nicht uns selbst verdanken, dass wir vor und unabhängig von aller Leistung anerkannt sind, mit unseren Fehlern und Irrtümern ganz schön arm dastehen vor Gott und trotzdem mit Erbarmen und Gottes neuschaffender Kraft rechnen dürfen, (die frohe Botschaft also, dass unsere Seelen längst gerettet sind), wird in einer Evangelischen Kirche Gestalt bekommen, in der Mitarbeitende anderen und vermeintlich Fremden gegenüber nicht nur Toleranz üben, sondern sie mit ihrer spezifischen Biografie, ihren patchworks und bricolagen anerkennen. Dazu gehört auch, mit der eigenen bricolage, dem eigenen Irrtum und der eigenen kulturellen Befangenheit zu rechnen. Wo Anerkennung und Selbstreflexion zusammen kommen, wird es am ehesten gelingen, die Lebensmelodie des Anderen nach und nach zu lernen und die eigene neu zu hören. Eine Kirche in pluraler Gesellschaft wird Ernst damit machen, dass sich Identität – auch evangelische Identität – nur in Kommunikation entwickeln kann. 9 Der frohen Botschaft, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist, mit unbedingter Würde begabt und grundsätzlich zur Gottesbeziehung fähig, wird die Evangelische Kirche Profil und Gestalt verleihen, indem sie eine Kirche mit Anderen wird, die darauf achtet, dass die Menschen in ihren Einrichtungen – unabhängig von Herkunft, kultureller und religiöser Prägung – gleich behandelt werden und zugleich – gerade im Hinblick auf Herkunft, kulturelle und religiöse Prägungen – unterschiedlich bleiben dürfen. Sie setzt darauf, dass Heterogenität Identitäten stärkt und damit auch das evangelische Profil ihrer Einrichtungen schärft. Einer Kirche mit Anderen geht es nicht nur um Gastfreundschaft. Was sie anstrebt, ist Konvivenz, das Zusammenleben der Verschiedenen, die nach dem suchen, was als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ für alle Menschen erscheint . Konvivenz zielt nicht auf Einheit, sondern auf Gegenseitigkeit. Jenseits der falschen Alternativen von Assimilation oder gleichgültiger Toleranz beschreibt Konvivenz eine Praxis des Zusammenlebens, in dem kulturell und religiös unterschiedliche Menschen für ihre eigene Perspektive werben und zugleich Perspektivenwechsel einüben. Eine Kirche mit Anderen wird sich darum auch institutionell für Mitarbeitende anderer kultureller und religiöser Prägung öffnen. Die frohe Botschaft, dass alle Lebensverhältnisse und die ganze Ökosphäre auf Heilung hin angelegte Schöpfung sind, dass Gottes treibende Kraft nicht auf Konkurrenz und Selektion zielt, sondern auf Kooperation und Integration, die gute Nachricht, dass alles Leben gehalten ist und in jedem Fremden, Obdachlosen und Gefangenen das Antlitz Christi erkennbar ist, nimmt in einer Evangelischen Kirche Gestalt an, die nicht zuerst Leuchttürme baut, sondern mit ihren Gemeinden und Einrichtungen tragfähige Netze knüpft, in der Arme, Ausgegrenzte, vermeintlich Überflüssige, Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere nicht nur aufgefangen sondern aufgerichtet werden. Das Netzwerk Kirche versucht, Exklusionen rückgängig zu machen und setzt sich auch politisch für eine solidarische Gesellschaft ein, in der keiner verloren geht. Eine Evangelische Kirche in pluraler Gesellschaft versucht, dem Weg Jesu zu folgen, der sich ganz dem Anderen, dem Fremden und Befremdlichen ausgesetzt hat. Eine solche Kirche riskiert, sich tiefgreifend zu verändern. Aber gerade das ist ja das Profil einer „ecclesia semper reformanda“. Man könnte das fortsetzen, und genau dazu wollte ich Sie hier nur ermutigen. Lassen Sie uns hier und heute, aber auch morgen und in Ihrem Alltag darüber nachdenken und diskutieren, wie das Evangelium in unserer Arbeit und in unseren Einrichtungen Gestalt gewinnen kann. Ich bin sicher, dass sich manche der eher oberflächlichen Diskussionen über das Evangelische Profil und die Interkulturelle Öffnung erübrigen, wenn wir ernsthaft versuchen, die Gleichnisse vom Reich Gottes nicht nur weiter zu erzählen, sondern – in unseren Einrichtungen und unserer Praxis – selber zum Gleichnis zu werden.