1. Hors d’œuvre Nicht allein in Rechnungssachen Soll der Mensch sich Mühe machen; Sondern auch der Weisheit Lehren Muss man mit Vergnügen hören. Wilhelm Busch Max und Moritz (4. Streich) 1.1 Grundbausteine der Materie Bei der Suche nach den fundamentalen Bausteinen der Materie sind Physiker zu immer kleineren Konstituenten vorgedrungen, die sich später als teilbar erwiesen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wusste man, dass alle Materie aus Atomen besteht. Die Existenz von fast 100 Elementen mit sich periodisch wiederholenden Eigenschaften war jedoch ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Atome eine innere Struktur haben und nicht unteilbar sind. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, besonders durch die Experimente von Rutherford, gelangte man zu dem modernen Bild des Atoms. Das Atom enthält einen dichten Kern, der von einer Elektronenwolke umgeben ist. Der Kern lässt sich wiederum in noch kleinere Teile zerlegen. Seit der Entdeckung des Neutrons 1932 bestand kein Zweifel mehr daran, dass die Kerne aus Protonen und Neutronen (die man zusammenfassend als Nukleonen bezeichnet) aufgebaut sind. Zu Elektron, Proton und Neutron kam noch ein viertes Teilchen hinzu, das Neutrino. Das Neutrino wurde 1930 postuliert, um den βZerfall in Einklang mit den Erhaltungssätzen für Energie, Impuls und Drehimpuls zu bringen. So hatte man Mitte der 30er Jahre vier Teilchen, mit denen man die bekannten Phänomene der Atom- und Kernphysik beschreiben konnte. Zwar stellen diese Teilchen auch aus heutiger Sicht die Hauptbestandteile der Materie dar, das einfache und abgeschlossene System dieser damals als elementar angesehenen Teilchen erwies sich später jedoch als unzureichend. In den 50er und 60er Jahren stellte sich durch Experimente an Teilchenbeschleunigern heraus, dass Proton und Neutron nur Vertreter einer großen Teilchenfamilie sind, die man heute Hadronen nennt. Mehr als 100 Hadronen, manchmal auch als Hadronen-Zoo“ bezeichnet, wurden bis heute nach” gewiesen. Da diese Hadronen, wie auch die Atome, in Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften auftreten, nahm man an, dass sie nicht als fundamentale Bausteine der Materie anzusehen sind. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre brachte das Quark-Modell Ordnung in den Hadronen-Zoo“. Man konnte alle ” bekannten Hadronen als Kombinationen von zwei oder drei Quarks erklären. 2 1. Hors d’œuvre Atom 3.0 Kern 0 10 -10 Abbildung 1.1. Längenskalen und Hierarchie der Strukturen im Atom. Daneben sind typische Anregungsenergien und -spektren gezeigt. Je kleiner die gebundenen Systeme sind, desto größer sind ihre Anregungsenergien. [eV] m Na-Atom [MeV] Kern 3.0 Protonen und Neutronen 0 208 10 -14 m Pb-Kern [GeV] Proton 0.3 Quark 0 10 -15 m Proton Abbildung 1.1 zeigt die verschiedenen Längenskalen in der Hierarchie der Struktur der Materie. Wenn man das Atom mit wachsender Vergrößerung betrachtet, werden immer kleinere Strukturen sichtbar: der Kern, die Nukleonen und schließlich die Quarks. Leptonen und Quarks. Es gibt zwei Arten von fundamentalen Bausteinen: die Leptonen, zu denen Elektron und Neutrino gehören, und die Quarks. Streuexperimente haben gezeigt, dass sie kleiner als 10−18 m sind, möglicherweise sind sie punktförmige Teilchen. (Zum Vergleich: ein Proton ist ca. 10−15 m groß.) Leptonen und Quarks tragen den Spin 1/2, sind also Fermionen. Im Gegensatz zu Atomen, Atomkernen und Hadronen hat man zu den Quarks und Leptonen bislang auch keine angeregten Zustände gefunden. Sie scheinen also elementar zu sein. Allerdings kennen wir heute 6 Leptonen und 6 Quarks sowie die zugehörigen Antiteilchen, die man nach bestimmten Kriterien in sogenannte Gene” rationen“, auch Familien“ genannt, einordnen kann. Diese noch recht große ” Zahl und die Tatsache, dass sich die Eigenschaften der Teilchen in jeder Generation wiederholen, wird von einigen Physikern als Hinweis darauf angesehen, dass mit den Leptonen und Quarks doch noch nicht die elementarsten Bausteine der Materie gefunden sind. Es wird dem Experiment überlassen bleiben, darüber ein Urteil zu fällen. 1.2 Die fundamentalen Wechselwirkungen 3 1.2 Die fundamentalen Wechselwirkungen Parallel zu unserer Vorstellung über die elementaren Teilchen hat sich auch die Vorstellung über die Grundkräfte in der Natur und über die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen gewandelt. Um 1800 galten vier Kräfte als Grundkräfte: Gravitation, Elektrizität, Magnetismus und die wenig verstandenen Kräfte zwischen Atomen und Molekülen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass Elektrizität und Magnetismus lediglich zwei Erscheinungsformen derselben Kraft, des Elektromagnetismus, sind. Dann wies man nach, dass Atome eine innere Struktur besitzen und aus einem elektrisch geladenen Kern und Elektronen bestehen. Zusammengehalten werden Kern und Elektronen durch die elektromagnetische Kraft. Insgesamt sind Atome neutral; auf kurze Distanzen kompensieren sich die Ladungen der Konstituenten jedoch nicht vollständig, und benachbarte Atome und Moleküle beeinflussen sich gegenseitig. Die verschiedenen Arten der chemischen Kräfte“ (z. B. Van-der-Waals-Kräfte) konnten ” damit auf die elektromagnetische Kraft zurückgeführt werden. Mit der Entwicklung der Kernphysik kamen zwei neue Kräfte mit kurzer Reichweite hinzu: die Kernkraft, die zwischen Nukleonen herrscht, und die schwache Kraft, die sich im Kern-β-Zerfall manifestiert. Heute wissen wir, dass die Kernkraft nicht fundamental ist. Ähnlich, wie man die Kräfte zwischen Atomen auf die elementare elektromagnetische Kraft zurückführt, die auch die Atome selbst zusammenhält, basiert die Kernkraft auf der starken Kraft, die die Quarks zu Protonen und Neutronen bindet. Diese Grundkräfte führen zu entsprechenden fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen. Austauschbosonen. Wir kennen somit vier fundamentale Wechselwirkungen, auf denen alle physikalischen Phänomene beruhen: – – – – die die die die Gravitation, elektromagnetische Wechselwirkung, starke Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung. Die Gravitation ist zwar wichtig für die Existenz von Sternen, Galaxien und Planetensystemen (und unser tägliches Leben), im subatomaren Bereich spielt sie jedoch keine nennenswerte Rolle, da sie viel zu schwach ist, um die Wechselwirkung zwischen Elementarteilchen merklich zu beeinflussen, und wir werden sie nur hin und wieder, der Vollständigkeit halber, erwähnen. Nach der heutigen Vorstellung werden die Wechselwirkungen durch den Austausch von Vektorbosonen, d. h. Teilchen mit Spin 1, vermittelt. Im Falle der elektromagnetischen Wechselwirkung sind das die Photonen, bei der starken Wechselwirkung die Gluonen und im Falle der schwachen Wechselwirkung die W+ -, W− - und Z0 -Bosonen. Die folgenden Skizzen stellen Beispiele für die Wechselwirkung zwischen zwei Teilchen durch Vektorbosonenaustausch dar: 4 1. Hors d’œuvre γ g Photon Masse=0 Gluon Masse=0 W Z0 W-Boson 2 Masse≈80 GeV/c Z-Boson 2 Masse≈91 GeV/c In unseren Skizzen symbolisieren wir Leptonen und Quarks durch gerade Linien, Photonen durch Wellenlinien, Gluonen durch Spiralen und die W± und Z0 -Bosonen durch gestrichelte Linien. Zu jeder dieser drei Wechselwirkungen gehört eine Ladung, die elektrische Ladung, die schwache Ladung und die starke Ladung. Letztere wird auch Farbladung oder kurz Farbe genannt. Ein Teilchen unterliegt dann und nur dann einer Wechselwirkung, wenn es die entsprechende Ladung trägt: – Leptonen und Quarks tragen eine schwache Ladung. – Elektrisch geladen sind die Quarks und einige der Leptonen (z. B. die Elektronen). – Farbladung tragen nur die Quarks, nicht aber die Leptonen. Die W- und Z-Bosonen sind mit MW ≈ 80 GeV/c2 und MZ ≈ 91 GeV/c2 sehr schwer. Als virtuelle Austauschteilchen bei Streuprozessen dürfen sie nach der Heisenberg’schen Unschärferelation nur für extrem kurze Zeit erzeugt werden. Daher ist die Reichweite der schwachen Wechselwirkung sehr gering. Das Photon hat die Ruhemasse Null, darum ist die Reichweite der elektromagnetischen Wechselwirkung unbegrenzt. Die Gluonen haben wie das Photon die Ruhemasse Null. Während das Photon jedoch ungeladen ist, tragen Gluonen selbst eine Farbladung. Daher können sie untereinander koppeln. Wie wir später sehen werden, führt dies dazu, dass auch die starke Wechselwirkung nur eine sehr kurze Reichweite hat. 1.3 Symmetrien und Erhaltungssätze Symmetrien spielen eine große Rolle in der Physik. So lassen sich die Erhaltungssätze der klassischen Physik (Energie, Impuls, Drehimpuls) darauf 1.4 Experimente 5 zurückführen, dass die Wechselwirkungen gegenüber den kanonisch konjugierten Größen (Zeit, Ort, Winkel) invariant sind, dass also die physikalischen Gesetze unabhängig davon sind, zu welcher Zeit, an welchem Ort und mit welcher räumlichen Orientierung ein Ereignis stattfindet. In der nichtrelativistischen Quantenmechanik kommt die Spiegelsymmetrie als wichtige Eigenschaft hinzu.1 Je nachdem, ob sich bei Spiegelung das Vorzeichen der Wellenfunktion ändert oder nicht, spricht man von negativer bzw. positiver Parität (P ). So hat die Ortswellenfunktion gebundener Systeme mit Drehimpuls die Parität P = (−1) . Wenn die Naturgesetze rechts-links-symmetrisch sind, also invariant gegenüber einer Raumspiegelung P, bleibt die Paritätsquantenzahl P des Systems erhalten. Die Erhaltung der Parität führt z. B. in der Atomphysik zu Auswahlregeln für elektromagnetische Übergänge. In der relativistischen Quantenmechanik wird dieses Konzept erweitert. Es gibt Teilchen und Antiteilchen, denen man eine intrinsische Parität P zuordnet. Diese ist für Bosonen und Antibosonen gleich, für Fermionen und Antifermionen hingegen entgegengesetzt. Eine weitere wichtige Symmetrie ist die Analogie zwischen Teilchen und Antiteilchen. Man führt den Operator C ein, der aus Teilchen Antiteilchen macht und umgekehrt. Da sich dabei u. a. das Vorzeichen der Ladung umkehrt, spricht man von der Ladungskonjugation. Eigenzustände von C tragen die Quantenzahl C-Parität, die erhalten bleibt, falls die Wechselwirkung symmetrisch bezüglich C ist. Eine weitere Symmetrie ergibt sich daraus, dass sich Gruppen ( Multi” pletts“) von Teilchen bezüglich der starken oder schwachen Wechselwirkung analog verhalten. Man kann die Teilchen in solch einem Multiplett als verschiedene Zustände desselben Teilchens beschreiben. Diese Zustände charakterisiert man mit einer Quantenzahl, die man als starken bzw. schwachen Isospin bezeichnet. Auch für diese Größen gibt es Erhaltungssätze. 1.4 Experimente Mit wenigen Ausnahmen sind Experimente in der Kern- und Teilchenphysik nur an Beschleunigern möglich. Das Vordringen zu den Elementarteilchen wurde ausschließlich durch Entwicklung und Bau von Beschleunigern mit immer höheren Energien und Strahlintensitäten ermöglicht. Eine kurze Beschreibung der wichtigsten Beschleunigertypen und Beschleunigungsprinzipien ist im Anhang gegeben. Vereinfacht kann man die Experimente in zwei Gruppen aufteilen, wobei die Grenzen fließend sind: die Streuexperimente und die Spektroskopie. 1 Die Spiegelung an einem Punkt ist bekanntlich äquivalent zur Spiegelung an einer Ebene in Verbindung mit einer Rotation um eine zu dieser Ebene senkrechte Achse. 6 1. Hors d’œuvre Streuung. Bei Streuexperimenten richtet man auf das zu untersuchende Objekt einen Strahl von Teilchen mit bekannter Energie und Impuls, die mit dem Objekt in Wechselwirkung treten. Aus der dabei hervorgerufenen Änderung dieser kinematischen Größen erfahren wir etwas über die Eigenschaften des Objekts und der Wechselwirkung. Als Beispiel betrachten wir die elastische Elektron-Streuung, die sich im Falle der Kernphysik als die Methode der Kernradien-Vermessung bewährt hat. Wegen der Beugungseffekte erkennt man die Struktur des Objekts erst dann, wenn die De-Broglie-Wellenlänge λ = h/p des Elektrons vergleichbar ist mit der Größe des Objekts. Das Beugungsbild der gestreuten Teilchen gibt ein genaues Maß der Kerngröße an. In Abb. 1.1 ist die geometrische Ausdehnung der Objekte skizziert. Um die Größe eines Atoms zu bestimmen, reicht es aus, Röntgenstrahlen von ca. 104 eV zu benutzen; Kernradien werden mit Elektronen von ca. 108 eV vermessen; bei Protonen verwendet man Elektronen von einigen 108 bis 109 eV; für eine Substruktur der Quarks und Leptonen gibt es auch mit den heute erreichten Energien der beschleunigten Teilchen (9 · 1010 eV für Elektronen, 1012 eV für Protonen) keine Anzeichen. Spektroskopie. Unter dem Begriff Spektroskopie“ fasst man die Experi” mente zusammen, die sich vornehmlich auf die Bestimmung der Zerfallsprodukte angeregter Zustände konzentrieren. Hierbei lernt man etwas über die Eigenschaften der angeregten Zustände und die Wechselwirkung zwischen den Konstituenten. Wie wir aus Abb. 1.1 entnehmen, sind die Anregungsenergien eines Systems um so größer, je kleiner die Längendimension des Systems ist. Um diese angeregten Zustände zu erzeugen, braucht man ebenfalls hochenergetische Teilchen. Für Streuexperimente zur Bestimmung der Größe eines Systems und zur Erzeugung angeregter Zustände braucht man vergleichbare Energien der Strahlteilchen. Detektoren. Die Wechselwirkung von geladenen Teilchen mit Gas, Flüssigkeit sowie amorphen und kristallinen Festkörpern wird in allen möglichen Varianten ausgenutzt, um Teilchen nachzuweisen. Im Endeffekt werden in diesen Medien elektrische oder optische Signale erzeugt. Ungeladene Teilchen werden indirekt über sekundäre Teilchen nachgewiesen: Photonen erzeugen durch Photoeffekt, Comptoneffekt und Paarbildung freie Elektronen bzw. Elektron-Positron-Paare; Neutronen und Neutrinos erzeugen geladene Teilchen durch Reaktionen mit Atomkernen. Die Detektoren zum Nachweis von Teilchen lassen sich in verschiedene Kategorien einordnen: – Szintillatoren liefern schnelle Zeitinformation bei moderater Ortsauflösung; – Gaszähler, die zu flächendeckenden Vieldrahtkammern zusammengefasst werden, liefern gute Ortsinformation und werden im Zusammenhang mit Magnetfeldern zur Impulsbestimmung verwendet; 1.5 Einheiten 7 – Halbleiterzähler liefern eine sehr gute Energie- und Ortsinformation; – Čerenkov- und Übergangsstrahlungszähler dienen zur Teilchenidentifikation; – Kalorimeter messen bei hohen Energien die Gesamtenergie. Die grundlegenden Typen der Zähler zum Nachweis geladener Teilchen sind im Anhang zusammengestellt. 1.5 Einheiten Die in der Kern- und Teilchenphysik gebräuchlichen Einheiten für Länge und Energie sind Femtometer (fm, bisweilen auch Fermi genannt) und Elektronvolt (eV). Der Femtometer ist eine standardmäßige SI-Einheit, definiert als 10−15 m, und entspricht in etwa der Größe eines Protons. Das Elektronvolt ist die Energie, die ein Teilchen mit der Ladung 1e beim Durchlaufen einer Potentialdifferenz von 1 V bekommt: 1 eV = 1.602 · 10−19 J . (1.1) Man verwendet die gängigen Bezeichungen für die Vielfachen dieser Maßeinheit, keV, MeV, GeV etc. Es ist üblich, Massen von Teilchen gemäß der Masse-Energie-Äquivalenz E = mc2 in eV/c2 (bzw. MeV/c2 , GeV/c2 ) anzugeben. Die Längen- und Energieskalen in der subatomaren Physik sind durch die Unschärferelation verknüpft. Die Planck-Konstante ist besonders einprägsam in der Form · c ≈ 200 MeV · fm . (1.2) Eine weitere Größe, die wir häufig benutzen werden, ist die Kopplungskonstante der elektromagnetischen Wechselwirkung, die durch α= 1 e2 ≈ 4πε0 c 137 (1.3) definiert ist. Aus historischen Gründen wird sie auch Feinstrukturkonstante genannt. In der Elementarteilchenphysik benutzt man oft ein System physikalischer Größen, in dem Masse, Impuls, Energie, inverse Länge und inverse Zeit die gleiche Dimension haben. In solch einem System kann man die Einheiten so definieren, dass = c = 1 ist. Während man in der Atomphysik meist 4πε0 = 1 und somit α = e2 wählt (Gauß-System), ist in der Teilchenphysik die Konvention ε0 = 1 und α = e2 /4π geläufiger (Heavyside-Lorentz-System). Wir werden uns aber an das in der gesamten übrigen Physik verwendete SISystem [SY78] halten und die Konstanten jeweils mitführen. http://www.springer.com/978-3-540-36685-0