Die philosophischen und biologischen Probleme einer

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Dr. Dietmar Pils
Theresiengasse 18/12
A-1180 WIEN
Email: [email protected]
MatrNr: 5801206
Masterstudiengang: Philosophie – Philosophie im europäischen Kontext
Hausarbeit: Modul III – Prinzipienfragen
Präsenzseminar:
Evolution und Moral
Prof. Dr. Hubertus Busche
Budapest, 26.10.2007 bis 28.10.2007
Referat: „Edward O. Wilsons Thesen zum Altruismus –
Ihre Bedeutung und Grenzen für Moral“
Prüfer: Prof. Dr. Hubertus Busche
Die philosophischen und biologischen Probleme einer Naturalisierung der
Moralbegründung nach E. O. Wilsons Ansprüchen
Dietmar Pils
21.03.2008
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung................................................................................................................3
E. O. Wilsons Konzeption einer biologischen Moralbegründung .....................5
Kritik des weitgehenden Anspruchs der Naturalisierung der Ethik als
angewandte Wissenschaft der Biologie ..............................................................13
Philosophischer Einwand...................................................................................13
Biologischer Einwand ........................................................................................14
16 Seiten – 5.100 Wörter – 38.392 Zeichen
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Einleitung
Ethik als philosophische Theorie wurde schon in der Antike als Teil der
praktischen Philosophie (neben Politik) begründet und als Begriff von Aristoteles
– der darunter die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und
Gebräuchen1 verstand – eingeführt. Ethik lässt sich modern wie folgt definieren:
„Lehre von der Moral im Sinne der handlungsleitenden Sitten und Gebräuche (der
Mores), Gewohnheiten und Institutionen. Die Ausgangs- und Hauptfrage der
Ethik ist die nach der Möglichkeit einer guten Moral, d. h. einer solchen Moral,
nach der wir gut leben, gerecht handeln und vernünftig über unser Handeln und
Leben entscheiden oder urteilen können.“2
Die Aufgaben der Ethik kann man in eine deskriptive, als Beschreibung
historischer oder lokaler Normensysteme (deskriptive Ethik) und eine normative,
als Möglichkeit der Bestimmung des Guten (normative Ethik) einteilen. Als noch
junge Disziplin ist die Metaethik dazugekommen, die sich der wertneutralen
Analyse allgemein logischer, semantischer und pragmatischer Gesichtspunkte
moralischer Urteile verschrieben
hat
(hauptsächlich
im
Rahmen
einer
Sprachphilosophie).3
Hauptaufgabe der normativen Ethik (entspricht dem landläufigen
Verständnis von Ethik) ist die Begründung und Kritik der moralischen Urteile,
insbesondere wie/wenn man sie als ‚gut’ verstehen kann/soll. Für diese
Bestimmung „Was ist gut?“ hat es in der Philosophiegeschichte unzählige
Antwortversuche gegeben, die bei kritischer Analyse alle Unvollständigkeiten
aufweisen und Fragen offen ließen und lassen. Im Wesentlichen kann man die
normative Ethik anhand ihres Begründungsprinzips grob in zwei Ansätze einteilen
(neben zahlreichen anderen Einteilungsmöglichkeiten wie z. B. kognitivistische
vs. nonkognitivistische Ethik oder universalistische vs. partikulare Ethik):
teleologischer versus deontologischer Begründungsversuch. Ersterer zeichnet sich
dadurch aus, dass Handlungen dann als moralisch richtig bezeichnet werden,
wenn sie einen Beitrag zur Realisierung oder Erhaltung eines (zu bestimmenden)
Guten beitragen (daher auch konsequentialistisch genannt) und zweiterer
1
M. Düwell, Ch. Hübenthal, M. H. Werner: Handbuch Ethik, 12002, 1 (im folgenden kurz: HbE).
2
J. Mittelstraß: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 11980-1996 (4 Bde), 22005(6 Bde, bisher 2), Artikel: 2Ethik, 404 (im folgenden kurz: 1,2EPhW).
3
HbE, 2-3.
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impliziert die Auffassung, dass Handlungen aus anderen Gründen als der ihrer
Folgen als moralisch richtig zu beurteilen sind (z. B. Pflichten).
Innerhalb der kognitivistischen Ethiktheorien, die im Gegensatz zu
nonkognitivistischen Theorien davon ausgehen, dass moralische Urteile, d. h.
präskriptive Sätze der Ethik, eine kognitive Funktion haben und echte Urteile
sind,
kann
man
naturalistische,
intuitionistische
und
konstruktive
Ethikkonzeptionen unterscheiden. Dem Naturalismus zufolge werden moralische
Urteile Urteilen über natürliche Tatsachen gleichgesetzt, wohingegen die
intuitionistische Gegenposition moralische Urteile als unmittelbar (intuitiv)
einsehbare Grundwahrheiten betrachtet. Beide stimmen jedoch in der realistischen
Auffassung überein, dass moralische Urteile als etwas Objektives zu betrachten
sind. Der konstruktivistische Ansatz hingegen verneint die Vorstellung, dass es
moralische Tatsachen oder Wahrheiten unabhängig von den (sprachlichen)
Urteilen gäbe, über die sie getroffen werden.
In dieser Arbeit geht es um eine Konzeption der Moralbegründung, die als
naturalistisch im engeren Sinne zu bezeichnen wäre. Sie geht über die
obenstehende Bestimmung als naturalistische Theorie (im weiteren Sinne) noch
insofern hinaus, als sie zusätzlich zur Annahme, dass moralische Urteile
empirischen Urteilen über Tatsachen gleichzustellen sind, noch die Behauptung
aufstellt, aus empirischen Beobachtungen (deskriptiven Sachverhalten) liessen
sich präskriptive Urteile ableiten. Wohingegen die naturalistische Theorie im
weiteren Sinne schon von G. E. Moores Argument der offenen Frage4 negativ
betroffen ist, lassen sich gegn eine naturalistische Ethik im engeren Sinne, d. h.
gegn einen Versuch der Ableitung von inhaltlichen Bestimmungen von ‚gut’ aus
empirisch
gewonnenen
Sachverhalten,
weitere
philosophische
und
naturwissenschaftliche Einwände erheben. Und um diese, speziell um Einwände
gegen die weitgehenden Ansprüche E. O. Wilsons, soll es in dieser Arbeit gehen.
4
Dieses Argument wird häufig auch etwas irreführend als Naturalistischer Fehlschluss bezeichnet
und lautet wie folgt: Das Wort ‚gut’ kann ebensowenig wie das Wort ‚gelb’ durch
(natur)wissenschaftliche oder empirische Tatsachen definiert werden. So wie die Quale ‚gelb’
nicht mit dem auf das Auge auftreffende Licht einer bestimmten Wellenlänge identisch ist, ist
‚gut’ nicht mit irgendeiner anderen Eigenschaft, natürlicher oder übernatürlicher (metaphysischen)
Art, identisch, und daher auch nicht mit dieser gleichzusetzen, bzw. zu definieren (G. E. Moore:
Principia Ethica, Oxford, 1903).
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E. O. Wilsons Konzeption einer biologischen Moralbegründung
E. O. Wilson hat mit seinem Buch „Sociobiology – The New Synthesis“5
aus dem Jahre 1975 und dem für ein breiteres Publikum geschriebenen Buch „On
Human Nature“6 (1978) das Primat der naturwissenschaftlichen Disziplin
Biologie über alle andere den Menschen betreffenden wissenschaftlichen
Disziplinen inklusive der Soziologie und der Ethik angemeldet. Diese neu zu
begründende Disziplin Soziobiologie ist
„… eine wissenschaftliche Disziplin, definiert als die systematische
Erforschung der biologischen Grundlage jeglicher Formen des Sozialverhaltens bei
allen Arten von sozialen Organismen einschließlich des Menschen.“7
Und über die Funktion von menschlicher Moral schreibt Wilson:
„Das menschliche Verhalten ist, genau wie die tiefverwurzelten Anlagen zur
emotionalen Reaktion, die es antreiben und lenken, das an Umwegen und Einfällen
reiche Verfahren der Natur, durch das sie das menschliche Erbmaterial intakt
gehalten hat und intakt halten wird. Eine andere nachweisbare Funktion hat die
Moral letzten Endes nicht“ (Hervorhebung durch DP)8
Die konkrete Durchführung dieses Anspruches hat er zusammen mit dem
Wissenschaftsphilosophen Michael Ruse in dem Artikel „Moral Philosophy as
Applied Science“9 beschrieben, den ich nun kurz vorstellen werde:
Der Artikel ist in neun Punkte aufgeteilt, wobei im ersten beklagt wird,
dass die Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts (bis 1986, dem Zeitpunkt der
Veröffentlichung) unter dem Zwang der mutmaßlich absoluten Lücke zwischen
Sein und Sollen stand („moral philosophy has been constrained by the supposed
absolute gap between is and ought, …“, 173, Hervorhebung im Original10) und
dass der Glaube an außerkörperliche moralische Wahrheiten („extrasomatic moral
truths“, 173) und eben diese absolute Trennung in Sein und Sollen falsch sei.
Moralische Prämissen beziehen sich ausschließlich auf unsere physische Natur
und sind das Resultat einer idiosynkratischen genetischen Geschichte und daher
ist es Zeit, dass die Moralphilosophie zu einer angewandten Naturwissenschaft
werden muss (173).
5
Edward O. Wilson: Sociobiology – The New Synthesis, Belknap Press, 1975
Edward O. Wilson: On Human Nature, Harvard University Press, 1978 (Dt: Biologie als
Schicksal, Ullstein, 1980)
7
Edward O. Wilson: Biologie als Schicksal, 6 und etwas verändert 202 (Glossar)
8
a.a.O., 159
9
Michael Ruse and Edward O. Wilson: Moral Philosophy as Applied Science, Philosophy 61,
1986, 173-192
10
Alle Seitenzahlen beziehen sich auf den Artikel a.a.O.
6
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Im Punkt zwei wird der Mensch unter ein absolutes materialistisches und
evolutionsbiologisches Postulat gestellt („Everything human, including the mind
and culture, has a material base and originated during the evolution of the human
genetic constitution…”, 173) und der Glaube bestärkt, dass durch die enormen
Fortschritte der biologischen Wissenschaften die Conditio Humana eventuell bis
auf ihre Fundamente verstanden werden kann, inklusive der Ursachen für
moralisches Denken (174).
Unter Punkt drei wird die darwinsche Evolutionstheorie der natürlichen
Selektion kurz in ihren Grundzügen vorgestellt (Variation und Selektion), mit
besonderer Betonung darauf, dass die Selektion auf Merkmalsebene („traits“)
erfolgt und zu einer Verschiebung der Allelfrequenzen und -kombinationen führt.
Allfällige Diskussionen über die Gültigkeit der Evolutionstheorie für alle bisher
untersuchten Lebewesen werden zurückgewiesen, auch mit dem Hinweis auf
neuere Ansätze wie der Verwandten- und Gruppenselektion („kin or possibly
group selection“ (174-176).
Punkt vier bezieht jetzt ausdrücklich auch den Menschen (die menschliche
Evolution) mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten (Stichwort Nervensystem)
in diese „modern synthesis“ der Evolutionstheorie mit ein, und erwähnt als Beleg
dafür ein paar genetische Erkrankungen, wie das Lesch-Nyhan-Syndrom, bei dem
es durch eine Mutation in einem Allel (bei Männern, da das Gen auf dem XChromosom
liegt)
zu
psychischen
und
intellektuellen
pathologischen
Veränderungen kommt. Damit wird die Disziplin der Verhaltensgenetik
begründet, mit dem weitgehenden Postulat, dass Verhalten beim Menschen (inkl.
Erkenntnisfähigkeit, „cognition“ und Willensbildung, „decision making“) auch
durch Gene gesteuert wird, wenn auch durch einen sehr komplexen Mechanismus
und multifaktoriell (d. h. von mehreren Genen gleichzeitig abhängig). Es wird
zwar zugegeben, dass die Genetik nicht alles erklären wird können, sondern die
Umwelt auch einen Einfluss hat, aber beide letztendlich doch in einer
deterministischen Art und Weise (176-178).
Im Punkt fünf wird nun versucht, die menschliche Moral ausschließlich
unter die biologische Grundverfasstheit des Menschen zu bringen, beginnend mit
der Behauptung, dass alle Menschen einen Sinn für richtig und falsch, gut und
schlecht (böse) haben und dieser nur manchmal mit dem Glauben an
übersinnliche Wesen (Götter oder Geister) verbunden ist. Moralische Forderungen
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sind präskriptiv und erlegen uns gewisse Verpflichtungen auf, um anderen zu
helfen und mit anderen in verschiedensten Weisen zu kooperieren. Weiters wird
die Moral benützt, persönliche Wünsche und Verlangen zu transzendieren und in
allgemeine Formeln zu verpacken: ‚Töten ist falsch’ ist die wirksamere
moralische Forderung als ‚ich mag töten nicht’. Dazu wird auch postuliert, dass
moralische Aussagen eine objektive Referenz haben, entweder der Wille eines
übersinnlichen Wesens oder eine ewige Wahrheit, erkannt durch Intuition. Die
darwinsche Biologie wurde nun als Antithese zur wahren Moralität erklärt (d. h.
der
Wettstreit
um
Ressourcen
und
daraus
abgeleiteter
wechselnder
Fortpflanzungserfolg können kein Grund für gut oder schlecht sein).
Dagegen wird nun eingewandt, dass die moderne Biologie durchaus
moralisches Verhalten erklären könne, z. B. den Altruismus. Dazu werden
Konzepte der Verwandtenselektion („kin-selection“) und der sogenannte
reziproke Altruismus vorgestellt. Es wird zwar zugegeben, dass dieser Begriff von
altruistisch ein anderer (technisch-biologischer) ist als der moralisch verwendete,
trotzdem wird aus dieser empirischen Evidenz die Entstehung von menschlicher
Kooperation durch evolutionäre Mechanismen nahegelegt. Damit wird weiters
behauptet, dass der Sinn für ‚was ist richtig’ und ‚was ist falsch’ eine (die einzige)
Ursache in biologischen Prozessen hat. Anschließend wird die Frage aufgeworfen,
wie die Biologie seinen Willen bewussten, frei denkenden Wesen aufzwingen
könne. Einerseits sei es möglich, dass das Erkenntnisvermögen und Moralität
komplett ‚unbiased’ (durch die Biologie) in den Gehirnen der Menschen
irgendwann in der Vergangenheit entstanden sei (wie ein Programm in einem
Computer), und eben nur die Menschen überlebt hätten, die genau die jetzt
vorherrschenden Vorstellungen (z. B. von Zusammenarbeit) entwickelt hatten.
Aber auch so ein vollkommen unvoreingenommenes Gehirn (tabula rasa) muss
komplett genetisch kontrolliert sein und beide Vorstellungen und ihre
Konsequenzen gleichermaßen erlauben: ‚töten ist richtig’ und ‚töten ist falsch’. So
ein Gehirn würde aber eine vielfache Größe als der real vorkommenden Größe
benötigen. Und jeder kleinste Fehler in der Verschaltung des Gehirns würde sofort
einen Bias im Denken verursachen, und somit könnte die Evolution angreifen und
es wäre schnell vorbei mit dem Tabula-rasa-Gehirn. Daher ist ein Entkommen aus
der biologischen Begründung des Geistes (eigentlich der Inhalte des Geistes)
unmöglich.
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Andererseits kann man mit gleicher Plausibilität behaupten, dass kein
Allzweckgehirn (offen für alle möglichen Inhalte) während der Evolution des
Menschen entstanden ist. Genetische und kognitionswissenschaftliche Studien
haben gezeigt, dass das Gehirn nicht tabula rasa aber auch nicht im strikten Sinne
genetisch determiniert ist, sondern sich irgendwo zwischen diesen beiden
Extremen befindet.
Das menschliche Denken steht unter dem Einfluss von sogenannten
epigenetischen Gesetzen („epigenetic rules“), genetisch regulierte Prozesse der
Entwicklung, die zu bestimmtem Verhalten des Menschen prädisponieren. Die
empirische Hauptthese ist nun, dass moralisches Denken durch epigenetische
Regeln gesteuert wird („… that we think morally because we are subject to
appropriate epigenetic rules“, 180). Diese Regeln prädisponieren uns zu meinen,
dass bestimmtes Verhalten richtig oder falsch sei, aber ohne die Menschen blind
zu leiten. Zusätzlich erzeugen diese Regeln in uns die Illusion, dass unsere
Beurteilung des Verhaltens objektiv moralisch ist und nicht nur unseren aktuellen
Wünschen entspricht, die den uns unbekannten genetischen Interessen folgen.
Die Schritte der Entstehung der Moral kann man daher wie folgt
beschreiben: Durch Mutation und Selektion in den letzten zehntausenden Jahren
sind Ensembles von Genen in den intensiv sozial lebenden Menschen evolviert;
diese Gene steuern die epigenetischen Regeln der speziellen menschlichen
Entwicklung der mentalen Fähigkeiten; unter dem Einfluss dieser Regeln wird
eine bestimmte Auswahl unter all den Möglichkeiten innerhalb einer Kultur
getroffen; diese Auswahl wird schließlich weiter ausgeprägt und verstärkt durch
Verträge und Sanktionen (178-181).
Im Punkt sechs wird an mehreren Beispielen die Bedeutung von
epigenetischen Regeln für das menschliche Verhalten gezeigt, z. B. an der
interkulturell weitgehend einhelligen (auch sprachlichen) Aufteilung des
Farbspektrums in vier Grundfarben oder den fünf universell erkannten
Gesichtsausdrücken (Angst, Eckel, Zorn, Überraschung, Freude) oder den
universell auftretenden Phobien gegen Spinnen, Schlangen, Wasser, hohen
Plätzen oder engen Räumen, aber nicht gegen Automobile, Waffen oder
elektrischen Strom. Epigenetische Regeln wurden aber auch in komplexeren
mentalen Entwicklungen nachgewiesen wie dem Spracherwerb, Logik oder die
ersten Schritte im mathematischen Denken.
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Die Autoren behaupten nun, dass moralisches Argumentieren (moralische
Argumente) ähnlich durch epigenetische Regeln erzeugt und beschränkt wird
(werden), z. B. die Vermeidung von Geschwisterinzest. Kinder aus InzestVerhältnissen haben eine stark verringerte genetische Fitness (höhere Mortalität
und Behinderungsfrequenz), weil die Wahrscheinlichkeit der Homozygotwerdung
von stark nachteiligen, aber heterozygot unschädlichen Allelen unter so nah
Verwandten natürlich wesentlich größer ist. Dieses Wissen ist aber noch nicht
sehr alt und bei weitem nicht in allen Kulturen verbreitet. Der Grund in der
Vermeidung von Inzest liegt daher auch nicht in dem Wissen um diesen
Mechanismus, sondern in einer sensitiven Phase in der Kindheit zwischen Geburt
und ca. sechs Jahren. Wenn Kinder während dieser Zeit in großer Nähe
zueinander leben (im gleichen Haushalt), sind diese dann später unfähig, starke
sexuelle Bindungen zueinander einzugehen. Dieser Mechanismus ist so stark, dass
er sogar nichtverwandte Kinder betrifft, wie in israelischen Kibbutzen und
chinesischen Haushalten wiederholt beobachtet wurde. Eine anerkannte
Interpretation
der
Ursachenkette
zur
Entstehung
der
Vermeidung
und
Verurteilung von Inzest ist nun diese: die verringerte genetische Fitness durch
Inzest hat zur evolutionären Entstehung (durch Selektion) einer sensitiven Phase
in der Kindheit geführt; diese von den Menschen bemerkte geringere Fähigkeit zu
sexuellen Beziehungen unter diesen Umständen hat zu Verboten und warnenden
Mythen gegen Inzest geführt. Das formale Inzesttabu ist daher die kulturelle
Verstärkung eines automatischen Mechanismus, ein Beispiel wie Kultur durch
Biologie geformt wird. Geschwisterinzest ist nur eines von vielen Beispielen, bei
denen eine enge und formale Verbindung zwischen biologischer Evolution und
kulturellem Wechsel hergestellt werden kann.
Zusammengefasst gibt es substantielle faktische Evidenz für die Existenz
von epigenetischen Regeln – Zwänge verwurzelt in unserer evolutionären
Abstammung die die Weise, wie wir denken beeinflussen. Das Inzestbeispiel
zeigt, dass diese Regeln – direkt verbunden mit einem adaptiven Vorteil – in die
moralische Sphäre des Menschen eindringen konnten. Die Hypothese der
Moralität als reines Kulturprodukt ist widerlegt durch diese wachsenden
Evidenzen für eine Gen-Kultur-Koevolution. Z. B. Fairness und Gerechtigkeit,
besonders betont von den Kontraktualisten, deuten auf Resultate von Regeln,
entstanden aus reziprokem Altruismus (181-185).
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Der Punkt sieben beginnt mit der Behauptung, dass es keine genuin
objektiven und externen ethischen Prämissen geben könne, d. h. keine
außerkörperliche Anleitungen existieren. Ethik wird als das Gebiet der Ideen und
Handlungen, beherrscht durch Pflichtgefühl, definiert („… as the area of thought
and action governed by a sense of obligation.“, 186). Ethische Prämissen variieren
von intelligenter Spezies zu intelligenter Spezies, folgend aus den Prinzipien der
organischen Evolution. Der Grund dafür ist, dass Entscheidungen aufgrund von
Emotionen getroffen und Vernunftgründe auf diese Zwecke gerichtet werden, und
die ethischen Prämissen zusammengesetzt aus Emotionen und Vernunftgründen
aus den epigenetischen Regeln der Geistesentwicklung entstehen. Diese Regeln
wiederum sind die idiosynkratischen Produkte der genetischen Geschichte einer
Art, als solche geformt durch die speziellen Umstände der natürlichen Selektion.
Es ist daher leicht zu verstehen, dass andere Arten Regeln als moralisch
betrachten können, die wir Menschen abstoßend finden, wie Kannibalismus,
Inzest, Elternmord oder gegenseitiges Kotessen. Viele Tierarten machen diese
Dinge häufig und um zu überleben. Wenn wir von anderen Vorfahren abstammen
würden, würden wir ähnliche Dinge machen und sie als natürlich und richtig
betrachten.
Ethische Prämissen sind die einzigartigen Produkte der genetischen
Geschichte, und können nur als adaptive Mechanismen speziell für die Art, zu
denen sie gehören, verstanden werden. Sie können auch nicht auf andere Arten
übertragen werden. Keine abstrakten moralischen Prinzipien können außerhalb
der Natur einer konkreten Art existieren. Daher können ethische Gesetze auch nur
auf der tiefen Ebene der genetischen Evolution geändert werden, was wiederum
im Widerspruch zu der Idee der Moralität als objektive ewige Wahrheit steht.
Moralität ist begründet auf der kontingenten menschlichen Natur, und es ist nicht
möglich, die wahre Objektivität der Moralitiät aufrecht zu erhalten, auch nicht in
einer Parallelexistenz der Gedanken, erzeugt durch epigenetische Regeln mit
externen Prämissen (186-187).
Am Beginn von Punkt acht wird der Einwand mancher Menschen gegen
eine naturalistische Ethik erwähnt, nämlich dass der biologische Altruismus als
mechanischer Prozess natürlich nicht den echten Altruismus – gekennzeichnet
durch guten Willen – erklären könne. Wahre Moralität, mit anderen Worten
Verhalten, das die meisten oder alle Menschen als moralisch betrachten würden,
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besteht aus der Bereitschaft, das Richtige zu tun, auch verbunden mit eigenen
Nachteilen. Menschen beurteilen nicht jede ihrer Handlungen nach dem Nutzen
für ihre Fortpflanzung oder der ihrer Verwandten, sie sind mehr als reine
Genreplikatoren. Es gibt aber gute Gründe zu glauben, dass die meisten
menschlichen Verhaltensweisen
das
Individuum,
die Familie und
den
Volksstamm schützen und damit natürlich die gemeinsamen Gene. Einzelne
Personen funktionieren dabei in der Gemeinschaft effizienter, wenn sie allgemein
anerkannten moralischen Regeln folgen, als wenn sie jedes Mal individuelle
Beurteilungen durchführen. Das ist gut dokumentiert in Gesellschaften vor der
Schriftentwicklung und unterstützt die biologische Sicht der epigenetischen
Regeln, entstanden durch natürliche Selektion.
Altruistisches Verhalten tritt häufiger gegenüber nahen Verwandten auf
oder ist typischerweise auf Reziprozität angelegt, durchgeführt mit der Erwartung
auf zukünftige Erwiderung. Zwar nicht in einem absoluten Sinne, sondern eher
nach dem Prinzip es war gut, dass ich dir helfe, daher ist es auch gut, dass du jetzt
mir hilfst, alles im Namen der Moralität. Das Konzept der Moralität – im
Gegensatz zu einzelnen moralischen Fall-zu-Fall-Entscheidungen – gewährleistet
eine höhere Effizienz für die adaptiv korrekte Handlung. Moralisches Gefühl ist
eine Art Schnellverfahren für die richtige Handlung die schließlich, die durch
Gene festgesetzten epigenetischen Regeln erfüllen. Und das Erkennen dieser rein
materiellen Beziehung schmälert in keiner Weise die Geltung und Wirksamkeit
des Resultats.
Daher muss man sich auch nicht vor ethischem Relativismus fürchten, d.
h. wenn ethische Prämissen nicht objektiv und außerhalb der Menschheit liegen,
kann jedes Individuum seine eigenen Regeln aufstellen, egal was das für die
Anderen bedeutet. Wachsende Erkenntnisse der Evolution zeigen aber, das dem
nicht so ist, denn die epigenetischen Regeln sind artspezifisch und nicht
individuell. Menschliche Kulturen neigen sich in moralischen Ansichten
anzunähern in einer Art, wie es zu erwarten wäre, wenn weitgehend ähnliche
epigenetische
Regeln
weitgehend
ähnliche
Verhaltensentscheidungen
verursachen. Dies wäre nicht der Fall, wenn sich Menschen stark in ihrer
genetischen Basis der mentalen Entwicklung unterscheiden würden.
Als weiteres Beispiel des Einflusses von genetischen Faktoren auf
unterschiedliches Sozialverhalten wird die Kopplung des Alkoholkonsums mit der
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genetischen Ausstattung zum Abbau des Alkohols angeführt. Zwei Enzyme sind
für den Abbau verantwortlich und von beiden Enzymen gibt es schnelle und
langsame Enzymvarianten (Allele), und das erste Abbauprodukt ist das eigentlich
abhängig Machende aber auch Schädliche. Asiaten die zwar eine schnelle
Umwandlung in das erste Abbauprodukt aber eine langsame Umwandlung in das
ungefährliche Endprodukt haben, vertragen daher wenig Alkohol. Europäer
hingegen bauen sowohl den Alkohol als auch das erste Abbauprodukt langsam ab,
können daher wesentlich mehr Alkohol trinken. Diese genetischen Tatsachen
haben zu unterschiedlichem Trinkverhalten geführt: Asiaten trinken wenig
Alkohol, meist innerhalb strenger Zeremonien, Europäer hingegen trinken viel
Alkohol bei informellen Treffen. Weiters scheint es so zu sein, dass Menschen die
mittlere Mengen an erstem Abbauprodukt anhäufen können (beide Enzyme
schnell gepaart mit großem Alkoholkonsum) häufiger alkoholsüchtig werden als
Menschen die nur geringe Mengen an erstem Abbauprodukt produzieren (erstes
Enzym langsam und zweites schnell).
Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass nur wenige der kulturellen
Unterschiede durch genetische Variationen verursacht werden, sondern rein durch
zufällige statistische Streuung der Entscheidungen von genetisch identen
Individuen erzeugt wurden. Wir wollen nur zeigen, dass kulturelle Unterschiede
zumindest von genetischen Faktoren mitverursacht oder verstärkt werden können.
Es ist daher falsch a priori die Möglichkeit auszuschließen, dass Biologie eine
kausale
Rolle
bei
den
Unterschieden
von
moralischen
Haltungen
in
unterschiedlichen Gesellschaften spielt. Das rechtfertigt aber noch keinen starken
moralischen Relativismus. Moral funktioniert zwar hauptsächlich innerhalb von
Gruppen, neuerdings aber auch immer mehr zwischen den Gruppen, und die
Ähnlichkeiten zwischen allen Menschen sind wesentlich größer als die
Unterschiede. Die letzte Barriere gegen eine naturalistische Ethik liegt nun in der
absoluten Trennung von Sein und Sollen – wohlgemerkt, die absolute Trennung.
Natürlich gibt es Unterschiede in der Bedeutung, aber das verhindert nicht
unseren evolutionären Erklärungsansatz. Moralische Gesetze werden von der
Kultur erzeugt unter dem steuernden Einfluss der epigenetischen Regeln und
legitimiert von der Illusion der Objektivität. Natürlich führt die Erklärung der
Phänomene wie geprägte Farbwahrnehmung oder altruistische Gefühle nicht
direkt zu ethischen Regeln. Aber die Erklärung, der Sein-Standpunkt, unterstütz
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die Argumente für moralische Gesetze. Egal ob das Verhalten tief in die
epigenetischen Regeln eingebettet ist, oder das Verhalten in einer modernen
Gesellschaften adaptiv oder nicht-adaptiv ist, oder das Verhalten mit anderen
Verhaltensweisen unter dem Einfluss von Entwicklungsregeln verknüpft ist: All
das kann die Entstehung von moralischen Regeln fundieren (187-191).
In Punkt neun wird beklagt, dass obwohl kein Gebiet wichtiger wäre als
Moralphilosophie, kein Gebiet mehr vernachlässigt wird (auch finanziell),
insbesonders als angewandte Wissenschaft.
Zum Schluss werden noch die Schlüsselprobleme aufgezählt: 1) der
Einfluss der epigenetischen Regeln auf die mentale Entwicklung, insbesondere die
Verbindung von Genen zu den zellulären Prozessen bishin zu sozialem Verhalten
– besonders die positivsten menschlichen Verhalten, Kreativität und Altruismus,
sind die schlecht untersuchtesten; 2) die konkreten interaktiven Effekte im
Erkenntnisvermögen,
insbesondere
die
hierarchische
Ausprägung
der
epigenetischen Regeln; 3) die Entwicklung einer vergleichenden Ethik,
insbesondere unter Berücksichtigung der entstandenen Moralsysteme anderer
möglicher intelligenter Arten; und 4) es gibt drängende Probleme aus dem Grund,
dass Moral von der Zeitskala abhängig ist, d. h. evolutionäre Mechanismen haben
uns die Möglichkeit gegeben für kurzfristige Probleme moralische Lösungen zu
entwickeln aber nicht für langfristige (Regenwaldabholzung, Verschwendung
nicht-erneuerbarer Energie, …) (191-192).
Kritik des weitgehenden Anspruchs der Naturalisierung der Ethik
als angewandte Wissenschaft der Biologie
Anhand des Inzestproblems, m. E. dem Schlüsselbeispiel dieses Artikels,
möchte ich die sowohl philosophische als auch biologische Unmöglichkeit der
Ableitung von präskritiven Sätzen (moralischen Forderungen) aus empirisch
biologischen Tatsachen zeigen, insbesondere wenn man die Evolutionstheorie mit
ihren prägenden Mechanismen ernst nimmt.
Philosophischer Einwand
Die rein formal-logische Unmöglichkeit der Ableitung von präskriptiven
Sätzen aus rein deskriptiven Prämissen (Humesches Gesetz) ist hier einfach
ersichtlich, weil alleine aus dem Hinweis, dass Inzucht zu genetisch geschädigten
Menschen führt (bzw. mit höherer Wahrscheinlichkeit führen kann) noch nicht
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abgeleitet werden kann, dass daher der Mensch dies moralisch zu vermeiden
hätte. Genetische Schädigung (wohl schon definiert von einem willkürlichen, da
anthropozentrischen, normativen Standpunkt aus) ist an und für sich – auch wenn
es als ‚Schädigung’ mit einem pejorativen Wort versehen ist – noch nicht
moralisch verwerflich. Verwerflich wird es erst dann, wenn man entweder
genetisch geschädigt mit leidend gleichsetzt, und Leid als etwas, was es zu
verhindernd gilt, betrachtet, oder genetisch geschädigt auf die potentielle
Gefährdung des Weiterbestandes der Art Mensch hin betrachtet, in Verbindung
mit der präskriptiven Forderung, dass die Art Mensch erhalten werden soll. In
beiden Fällen sind präskriptive Sätze – zwar im Artikel nicht erwähnt – (‚Leid gilt
es zu vermeiden’ oder ‚die menschliche Art soll erhalten werden’) notwenig, um
Inzestverbot als moralisches Gebot zu erweisen. Diese beiden Forderungen lassen
sich jetzt aber nicht mehr aus der Natur ableiten, sind daher nicht mehr
naturalisierbar. Zudem man darüber diskutieren kann, ob genetisch geschädigte
Menschen überhaupt leiden, und ob (vollkommene) Leidvermeidung überhaupt
Handlungen rechtfertigt, kann man aber sicher nicht aus der Natur ableiten, dass
es jegliches Leid zu vermeiden gälte (dafür gibt es wohl faktisch zuviel Leid auf
dieser Welt). Da ich weiters glaube, dass die Forderung nach Erhaltung der Art als
Grundprämisse eher den Überlegungen der Autoren des Artikels entspricht (vgl.
zweites Zitat auf Seite 5), möchte ich mich auf diesen Aspekt beschränken.
Ich glaube, der ganze Artikel beruht auf eben diesem Missverständnis,
nämlich der Annahme des Prinzips der aus der Natur (aus empirischen Tatsachen)
ableitbaren Arterhaltung, da man ja nur aus der evolutionär-adaptiven Entstehung
von Verhaltenssweisen auf deren zukünftige moralische Forderung danach
schließen kann, wenn man sowohl die Verhaltensentstehung in der Vergangenheit
aus dem Prinzip der Arterhaltung ableitet und die Forderung nach eben diesen
Verhaltensweisen in der Zukunft dem Ziel der Arterhaltung unterordnet. Weil ja
die Erhaltung der Art ex post betrachtet überhaupt erst die evolutionär-adaptive
Entstehung der Verhaltensweise (in dem von den Autoren aufgestelltem
deterministischen Modell) erklären kann. Dies führt uns nun zum biologischen
Problem.
Biologischer Einwand
Abgesehen davon, dass es keine empirischen Hinweise dafür gibt, dass
unser Verhalten von unserer genetischen Ausstattung determiniert ist, auch nicht
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über die sogenannten epigenetischen Regeln – und von dieser Prämisse geht der
Artikel aus (vgl. besonders den Abschnitt mit dem Tabula-rasa-Gehirn, wo
behauptet wird, dass so ein Gehirn wesentlich größer sein müsste als ein Gehirn
mit nur eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten, als ob in einem Tabula-rasaGehirn jede erdenklich mögliche Verhaltensweise direkt schon inhaltlich
gespeichert sein müsste, und es den Autoren gar nicht in den Sinn kommt, dass
man wie z. B. in der Sprache aus 26 Buchstaben nur anhand von wenigen Regeln
unendlich viele Inhalte produzieren kann.), und das wäre eine notwendige
Bedingung dafür, dass überhaupt unser Verhalten durch die genetische Evolution
adaptiv entstanden ist, ist die Ableitung der gewünschten Arterhaltung (nämlich
im Sinne von Stillstand der Entwicklung) aus der Geschichte der Natur nicht
nachvollziehbar. Es gibt sicher schon mehr ausgestorbene Arten auf dieser Welt
als rezent Lebende, und die Evolution hat höchstens die Erhaltung des
Lebens(prinzips) aber nicht die einer konkreten Art zum Ziel, insbesondere sogar
mithilfe des Mechanismus der Entstehung von neuen Arten (einhergehend mit
dem Verschwinden von
anderen Arten) als Anpassung an geänderte
Umweltbedingungen oder in Ausnützung neuer Nischen (beides sind aber sicher
in jedem Fall falsche – da teleologische – Interpretationen der Evolution).
Wenn wir aber trotzdem den Autoren die Richtigkeit dieser beiden
Prämissen (die deskriptive: genetische Determiniertheit der Verhaltensweisen und
die präskriptive: Arterhaltung als erwünschtes Ziel) zugestehen wollen, ist eine
Ableitung von (moralischen) Forderungen nach konkreten Verhaltensweisen aus
empirischen Tatsachen – rein aus evolutionstheoretischen Überlegungen –
trotzdem nicht möglich.
Die Prinzipien der Evolution sind im Wesentlichen die ungerichtete
Mutation (mündend in eine möglichst umfangreiche Variation) und die daran
anschließende Auswahl der am besten an die konkrete Umwelt angepassten
Varianten. Welche der Varianten sich durchsetzen wird (bzw. sich durchgesetzt
haben), lässt sich zurzeit – und wie ich meine prinzipiell – immer nur nachträglich
bestimmen, insbesondere je komplexer der Zusammenhang zwischen der
betreffenden Eigenschaft und den selegierenden Umweltbedingungen ist. Daher –
und so haben sich die biologischen Mechanismen dafür auch entwickelt – ist es
für den Erfolg einer Art wesentlich, eine relativ große Variationsbreite der
genetischen Faktoren (und im Modell der Autoren natürlich damit auch der daraus
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abgeleitenten epigenetischen Regeln und somit der Verhaltensweisen) zu
produzieren, umsomehr wenn sich die Umweltbedingungen schnell und stark
ändern (was man von der stark wachsenden menschlichen Gesellschaft als
Umwelt wohl annehmen kann). Die Mechanismen für eine große Variationsbreite
der genetischen Faktoren sind eine noch relativ große Anfälligkeit auf Mutationen
(eine wesentlich fehlerärmere Replikation wäre durchaus biologisch zu
verwirklichen) und nicht zuletzt die sexuelle Fortpflanzungsmethode, die
energetisch gesehen eine unglaublich große Resourcenverschwendung darstellt.
Es gibt aus der Genetik zahlreiche Beispiele dafür, dass vermeintlich
negative (mutierte) Varianten eines Gens (Allele) bei genauerer Betrachtung doch
einen Vorteil für die Population in einer konkreten Umwelt darstellen. Z. B. die
Sichelzellenanämie, eine erbliche Erkrankung der roten Blutkörperchen, die im
homozygoten Zustand (d. h. der Mensch ist Träger von zwei mutierten Allelen) zu
zahlreichen gesundheitlichen Problemen und einer verminderten Lebenserwartung
führt und trotzdem in manchen Gebieten relativ häufig vorkommt. Der Grund
dafür ist, dass gesunde heterozygote Menschen (Träger von je einem gesunden
und einem mutierten Allel) einen Vorteil bei einer allfälligen Malariainfektion
haben. In endemischen Malariagebieten hat sich nun ein Gleichgewicht
eingestellt, mit einer auf die Umwelt genau abgestimmten Frequenz des mutierten
Allels, wo sich die Nachteile für die homozygoten Kranken mit den Vorteilen der
heterozygoten malariaresistenten Gesunden aufwiegen. Ähnliches wird für die
relativ häufige Zystische Fibrose (Mukoviszidose), einer weiteren rezessiv
vererbten Stoffwechselerkrankung, vermutet, wobei der Grund für den Vorteil der
heterozygoten Gen-Träger aber noch nicht eindeutig identifiziert wurde11.
Was bedeutet dies nun für den Versuch aus den konkret auftretenden
Verhaltensweisen, insbesondere wenn sie nach dem Modell der Autoren adaptiv
durch evolutionäre Mechanismen entstanden seien, moralische Forderungen
abzuleiten. Immer noch die zwei falschen Prämissen, dass Verhalten beim
Menschen genetisch determiniert ist und es ein wünschenswertes Ziel sei, die Art
Mensch so zu erhalten, vorausgesetzt, kommt man in zwei unlösbare, da
prinzipielle Probleme.
Aus theoretischen und empirischen Überlegungen (vgl. die Beispiele der
Sichelzellenanämie und der Zystischen Fibrose) muss man davon ausgehen, dass
11
http://en.wikipedia.org/wiki/Cystic_fibrosis#Theories_about_the_prevalence_of_CF
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jegliche Verhaltensvarianten – natürlich auch die von uns als deviant beurteilte –
inklusive ihrer Frequenz im Auftreten, eben aufgrund ihres Auftretens in genau
der beobachtbaren Frequenz, eine positive Rolle in der Population in der
konkreten Umwelt spielen (bzw. gespielt haben), zumindest ist Gegenteiliges aus
der Evolutionstheorie prinzipiell nicht ableitbar. Man kann sich einfach vorstellen,
dass sogar grob deviantes Verhalten z. B. für den Zusammenhalt einer Population
eine positive Rolle spielt und dieser Vorteil die Nachteile des devianten
Verhaltens
ausgleicht
(natürlich
wie
immer
bei
solch
komplexen
Zusammenhängen kann man sich dafür nur eine plausible Interpretation
ausdenken, der genaue Mechanismus kann durchaus im Dunkeln bleiben). Aus
der Spieltheorie ist auch bekannt, dass gemischte Strategien (z. B. wenige
Egoisten in einer Gesellschaft vieler Altruisten) oft stabiler sind, als reine z. B.
rein egoistische oder altruistische Strategien12.
Nur welche moralische Forderungen kann man daraus ableiten? Wohl nur
die allzu triviale: verhaltet euch so, wie ihr euch verhaltet. Weil jede Forderung,
ein bestimmtes auch (grob) deviantes Verhalten (welches in seiner vorkommenden Frequenz des Auftretens ja adaptiv nach evolutionären Mechanismen
entstanden sein muss!) zu vermeiden, vielleicht sogar einen negativen Einfluss auf
die Gesamtfitness der Art (der Population) hat bzw. haben kann. Daher kann man
auch nicht von Asiaten fordern, dass sie den Alkoholkonsum den Gewohnheiten
der Europäer anpassen sollen, und von Europäern nur dann den Verzicht auf
große Mengen von Alkohol fordern kann, wenn man eine zusätzlich präskriptive
Prämisse einführt, z. B. ‚Alkoholkonsum ist schädlich, soll daher vermieden
werden’. Natürlich kann man dieser Meinung sein, d. h. das konkrete (deviante)
Verhalten (z. B. hoher Alkoholkonsum) gefällt uns nicht, aber dies ist dann eine
moralische Entscheidung, die eben nichts mehr mit der Prämisse der Arterhaltung
zu tun haben kann. Diese Entscheidung ist – wenn man so will – willkürlich, nur
aus theoretischen freien Überlegungen ableitbar oder von übersinnlichen
Instanzen intuitiv erfahrbar, aber sicher nicht mehr aus der Natur empirisch
ableitbar. Bestimmtes, isoliert betrachtet vielleicht sogar wirklich für die
Arterhaltung abträgliches Verhalten (was wir konkret aber – außer vielleicht
nachträglich – nicht erkennen könn(t)en), muss man unter Berücksichtigung der
evolutionstheoretischen Prämisse des Vorteils einer möglichst breiten Variations12
http://www.spieltheorie.de/Spieltheorie_Grundlagen/gemischte_strategie.htm
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vielfalt wohl als unglückliches Zusammentreffen unpassender Allele (z. B.
heterozygot für eine gewisse Form der gewollten positiven Aggression sorgend
kann das Allel homozygot zu einem aggressiven Gewaltäter führen) dann als
Kollateralschaden hinnehmen, ähnlich wie bei den homozygoten und daher
benachteiligten Sichelzell- und Zystische Fibrose-Mutationsträgern. Diese
Menschen dafür zusätzlich noch zu bestrafen wäre moralisch wohl nicht
gerechtfertigt, ähnlich den einzelnen Impfschäden, die man in Hinsicht auf den
Gesamtnutzen einer hohen Durchimpfungsrate für eine Population in Kauf
nehmen (und diese Menschen vielleicht sogar besonders unterstützen) muss.
Das führt uns zum zweiten prinzipiellen Problem. Man könnte sich
natürlich auch auf den Standpunkt stellen, dass die Frequenz eines (devianten)
Verhaltens in zukünftiger (geänderter) Umwelt von Nachteil sei (bzw. zumindest
sein könnte) und daher zurückgedrängt werden müsste. Nur wer kennt die
zukünftige Umwelt?
Zusammengefasst befindet man sich mit der Forderung einer empirisch,
aus den Mechanismen der Evolutionstheorie abgeleiteten Ethik in dem unlösbaren
Dilemma, dass, wenn man annimmt, Verhalten (insbesondere auch in seinen
devianten Variationen mit den dazugehörigen Auftretensfrequenzen) sei adaptiv
entstanden und dann hat es natürlich auch seine Funktion, ist eine Forderung nach
Änderung des Verhaltens (bzw. der Frequenz seiner Verhaltensvariationen) nicht
nur sinnlos (da sowieso genetisch determiniert) sondern potentiell sogar
gefährlich für den Arterhalt (z. B. durch Zurückdrängen eines heterozygot
positiven aber homozygot schädlichen Allels), zumindest kann man es nicht
wissen. Noch weitergehend kann man in einer sich stark ändernden Umwelt (wie
z. B. der stark wachsenden menschlichen Population) sogar von einem
evolutionären Vorteil einer großen Variationsvielfalt des Verhaltens ausgehen.
Wenn man so will, müßte man abweichendes Verhalten als Ausdruck einer
(neuen) genetischen Variation sogar ausdrücklich begrüßen und nicht moralisch
sanktionieren – wer weiß wofür es gut ist (und in der Zukunft gut sein wird!).
Oder das Verhalten entspringt unserem freien Willen und kann (konnte) daher
keinen adaptiven Wert für den Arterhalt haben (der ja im wesentlichen durch
seine vererbbaren genetischen Faktoren verwirklicht sein muss), und daher lässt
sich auch kein bestimmtes erwünschtes Verhalten aus der Natur ableiten. Und ein
Versuch bestimmte Verhaltensweisen als (adaptiv) positiv für eine zukünftige
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Umwelt auszuwählen scheitert (trivialerweise) an der Möglichkeit die Zukunft zu
erkennen oder vorherzusehen, abgesehen von den komplexen Zusammenhängen.
Diese Arbeit wurde vollständig von mir nur unter Zuhilfenahme der
angeführten Literatur (s. Fußnoten) verfasst.
Wien am 21. März 2008
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