Was ist Strafe? Jescheck/Weigend: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil. Berlin 1996, S. 13 – Strafe ist der Ausgleich einer erheblichen Rechtsverletzung durch Auferlegung eines der Schwere von Unrecht und Schuld angemessenen Übels, das eine öffentliche Missbilligung der Tat ausdrückt und dadurch Rechtsbewährung schafft. Die Strafe soll außerdem für den Täter selbst eine positive Wirkung entfalten … Sanktionenrecht SS 2011 Page 1 Elemente der Strafe Übel (Schmerz, Verlust, Einbuße) – “Strafe muss wehtun” (Spiegel Online 2. 5. 2011) (Rechtlicher) Zwang Reaktion und Ausgleich (auf/von Rechtsverletzung sowie Unrecht/Schuld) Kommunikation Zwecksetzungen (Rechtsbewährung) Sanktionenrecht SS 2011 Page 2 Was ist ein „Übel“? Kulturell (im Querschnitt) variabel – Todesstrafe, Körperstrafe, Freiheitsentzug, Geldstrafe, elektronische Überwachung, Fahrverbot Im Längsschnitt variabel – Veränderungen im Inhalt der Strafe Allerdings Verrechtlichung (Normierung) der Sanktion – Nicht nur die Straftat, sondern auch die Sanktion und ihr Vollzug unterliegen einer Normierung (nulla poena sine lege) – Vorhersehbarkeit und Begrenzung (begrenzte Strafrahmen) Problem der individuellen „Strafempfindlichkeit“ Sanktionenrecht SS 2011 Page 3 Reaktion/Ausgleich Rache (vergeltende Gewalt, nicht begrenzt) Talion (begrenzte Vergeltung: Gleiches wird mit Gleichem vergolten) Schuld- und unrechtsentsprechende Strafe – Handungs- und Erfolgsunrecht – Vorsatz- und Fahrlässigkeitsschuld – Strafzumessungsschuld Sanktionenrecht SS 2011 Page 4 Kommunikation Strafe ist Ausdruck eines „Unwerturteils“ – „Zensur“ – Das Gesetz ist nicht nur Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach soziologischen Erkenntnissen und Prognosen, es ist auch Ausdruck sozialethischer und – ihr folgend – rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen: es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist (BVerfG NJW 1975, S. 580) Stigmatisierung – Stigma der Verurteilung/Strafe – Vorstrafenregister/“Führungszeugnis“ Öffentlichkeit – Öffentliche Vollstreckung – Öffentliche Verhandlung – Bekanntmachung des Urteils Sanktionenrecht SS 2011 Page 5 Zwecksetzungen Kant: verschuldetes Unrecht muss um der Herstellung von Gerechtigkeit willen bestraft werden Hegel: Negation des Unrechts – Straftat und Strafe teilen mit, welcher Wille gelten soll Folgenorientierung – Strafrechtssetzung als Akt des Rechtsgüterschutzes – Strafe » Generalprävention (negativ/positiv) » Individualprävention (Abschreckung, Wiedereingliederung, Sicherung) Sanktionenrecht SS 2011 Page 6 Literatur: Was ist Strafe? Jung, H.: Was ist Strafe? Ein Essay. Nomos: BadenBaden 2002. Meier, B.-D.: Strafrechtliche Sanktionen. 3. Aufl., Springer: Berlin 2009, S. 15-17 (Das Wesen der Strafe) Streng, F.: Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen. 2. Aufl., Kohlhammer: Stuttgart 2002, S. 1 (Begriffsklärungen) Sanktionenrecht SS 2011 Page 7 Warum wird bestraft? Theorie der Schuldvergeltung Individuelle Schuld – Begründet Strafe – Fordert Strafe – Erlaubt Sühne? Schuld wird maßgebliches Kriterium – Unschuldsvermutung (verlangt, dass Schuldfeststellung der Verhängung und Vollstreckung der Strafe vorangeht) – Nulla poena sine culpa (keine Strafe ohne Schuld) Hauptströmungen – Kant – Hegel – Gegenwart: Wolf, Köhler Sanktionenrecht SS 2011 Page 9 Kant Metaphysik der Sitten 1797 Das Strafgesetz enthält einen kategorischen Imperativ Strafe hat nur den Sinn der Vergeltung der Schuld (um ihrer selbst willen) – Richterliche Strafe kann niemals bloß als Mittel, ein anderes gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft verhängt werden, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat – Denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowieder ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt – „In jeder Strafe, als solcher, muß zuerst Gerechtigkeit sein“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1968, Bd. VII, S. 150. – Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann (Metaphysik der Sitten, S. 453) Strafe ist Talionstrafe: Gleiches wird mit Gleichem vergolten Straftaten müssen immer bestraft werden – Problem des Dunkelfeldes der Kriminalität – Problem der folgenlosen Einstellungen von Strafverfahren (§§153, 153a StPO) Sanktionenrecht SS 2011 Page 10 Hegel Strafe ist „Negation der Negation“ – Geltungswiderspruch Eine Straftat ist von Geltungswillen getragen In der Strafe äußert sich der Widerspruch zum Geltungsanspruch – Ablehnung von Nützlichkeitserwägungen (Hundedressur) – Inhalt der Strafe ist historisch/kulturell kontingent – Hegel, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt, Hamburg 1968, S. 217: es kann unter unterschiedlichen sozialen Bedingungen gleichermaßen berechtigt sein, einen Diebstahl von einigen Sous einmal mit dem Tode zu bestrafen, ein anderes Mal aber nur mit einer leichten Strafe zu belegen Sanktionenrecht SS 2011 Page 11 Annahmen der Theorie der Schuldvergeltung Eine Straftat ist Ausdruck eines freien und autonomen Willens einer freien Person Ein Mensch ist dazu fähig, sich frei zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden Deshalb muss ein freier Mensch so behandelt werden, als ob er (oder sie) mit der Straftat seinen (oder ihren) Willen anderen (freien) Menschen aufzwingen wollte – In einer Straftat ist nach dieser Auffassung die Äußerung enthalten, dass nicht die staatliche Norm gelten solle, sondern der in der Straftat manifestierte Wille des Täters Die Kriminalstrafe muss insoweit auch die prinzipielle Anerkennung des Täters als frei enthalten Sanktionenrecht SS 2011 Page 12 Fragestellungen Schuldvergeltung und Kriminalitätstheorien » von Trotha, T.: Ethnomethodologie und abweichendes Verhalten. Anmerkungen zum Konzept des „Reaktionsdeppen“. Kriminologisches Journal 9(1977), S. 98-115 Gehirnforschung, genetische Verfassung und freier Wille » Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung: www.gehirnundgeist.de/artikel/761938 » Singer: Auf dem Weg nach Innen. 50 Jahre Hirnforschung in der MPG www.forum.mpg.de/archiv/20050303/docs/50-jahrempg.pdf » Singer: Vom Gehirn zur Psyche www.forum.mpg.de/archiv/20050303/docs/vortrag-1998.pdf » Guo, G., Roettger, M.E., Cai, T.: The Integration of Genetic Propensities into Social-Control Models of Delinquency and Violence among Male Youths. The American Sociological Review 73(2008), S. 543–568 Sanktionenrecht SS 2011 Page 13 Nützlichkeitstheorien (Prävention) Relative Straftheorien lösen im 19. Jahrhundert die absoluten Theorien ab » Individualprävention » Generalprävention Grundannahme – Strafe darf nur angedroht werden, um Interessen und Werte zu schützen Theorie des Rechtsgüterschutzes – Grundproblem: welche Interessen oder Güter sind so bedeutsam, dass sie strafrechtlichen Schutz (und Strafe im Falle ihrer Verletzung) rechtfertigen? » Individualrechtsgüter? » Moral? » Allgemeininteressen (Volksgesundheit, Sicherheit des Straßenverkehrs)? – Ist der Staat gegebenenfalls verpflichtet, Strafe anzudrohen? Sanktionenrecht SS 2011 Page 14 Theorie der Individual/Spezialprävention Strafe verfolgt drei Zielsetzungen – Durch Strafe wird individuelle Abschreckung erzielt. Die Strafe setzt danach ein Motiv, die bestrafte Handlung in Zukunft zu unterlassen (Lerntheorie) – Die Strafe führt zu Resozialisierung oder Besserung (durch Behandlung, Unterstützung, Lernmöglichkeiten) – Sicherung: Strafe führt zu einer Sicherung vor dem Straftäter (durch Freiheitsstrafe, Todesstrafe etc.) Sanktionenrecht SS 2011 Page 15 Negative Generalprävention (Androhungsprävention) Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833) – Entwurf eines neuen StGB für das Königreich Bayern (1813) – Psychologische Abschreckungstheorie Der Mensch wird geleitet durch die Verfolgung von für ihn nützlichen Zielen und die Vermeidung von Schmerz und Nachteilen Deshalb müssen die durch Strafe angedrohten Nachteile die durch eine Straftat erreichbaren Vorteile immer überwiegen Sanktionenrecht SS 2011 Page 16 Theorie der positiven Generalprävention Strafrechtliche Normen enthalten allgemeine Erwartungen Wird eine Straftat begangen, dann werden diese allgemeinen Erwartungen verletzt, es entsteht – Enttäuschung Die Enttäuschung muss verarbeitet werden – Aufgabe der Erwartungen (mit der Begründung, dass die Erwartungen falsch waren oder nicht durchgesetzt werden konnten) – (kontrafaktische) Beibehaltung der Erwartungen und Beharren darauf, dass der Täter im Unrecht war Die Beibehaltung der Erwartungen (sie werden auch in Zukunft gelten) wird durch die Bestrafung des für die Enttäuschung Zuständigen demonstriert Sanktionenrecht SS 2011 Page 17 Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorien Straftheorien beziehen sich (auch) auf Vorstellungen über Verbrechen, Verbrecher und Verbrechensursachen Absolute (Vergeltungs-) Theorien – Der Mensch ist frei, autonom, vernünftig Theorien der Individualprävention – Resozialisierung/Behandlung: Der Mensch ist ein sozialisierter Mensch, sozialisierungsfähig und offen für Sozialisierung – Abschreckung: homo oeconomicus, der Mensch verfolgt das für ihn Nützliche, kalkuliert und wägt ab (rational choice) – Sicherung: der Mensch ist gefährlich und bedarf physischer Restriktion Theorie der negativen Generalprävention – Menschen sind rational und abwägend (homo oeconomicus, rational choice) Theorie der positiven Generalprävention – Systemtheorie: ein Normensystem muss beständig durch Sanktionen bekräftigt werden, damit die Normen (Erwartungen) intakt bleiben – Theorie sozialer Integration: Sanktionen machen grundlegende Werte einer Gesellschaft sichtbar (Durkheim) Sanktionenrecht SS 2011 Page 18 Negative Generalprävention Abschreckungs- oder „deterrence“ Forschung Theoretische Grundlagen: Lerntheorien, ökonomische Theorien Variable der Abschreckung – Bestrafungsrisiko – Bestrafungsschwere – Schnelligkeit der Bestrafung Sanktionenrecht SS 2011 Page 19 Befunde der Abschreckungsforschung Im Vergleich Entdeckungsrisiko und Bestrafungsschwere spielt das Entdeckungsrisiko die entscheidende Rolle Die Bestrafungsschwere wirkt sich erst bei einem hohen Entdeckungsrisiko aus Dies heißt, dass Abschreckungsstrategien grundsätzlich auf die Erhöhung des Entdeckungsrisikos setzen müssen – Allerdings lässt sich das Entdeckungsrisiko in der Praxis nur sehr schwer manipulieren Werden außerstrafrechtliche Abschreckungsfaktoren (Ablehnung von strafbarem Verhalten durch relevante Andere) einbezogen, dann werden Entdeckungsrisiko und Schwere der Sanktion marginal Sanktionenrecht SS 2011 Page 20 Spezialprävention Negativ: individuelle Abschreckung – durch Bestrafung werden zusätzliche Hemmschwellen für die Zukunft aufgebaut (beispw. taste of prison approach) – Problem: abnehmender Grenzschaden (analog zum Grenznutzenmodell der Ökonomie): Sanktionen nutzen sich schnell ab Positiv: Behandlung und Lernen – Resozialisierungsforschung, insbesondere im Strafvollzug und in der Sozialtherapie Sanktionenrecht SS 2011 Page 21 Behandlungsforschung Behandlungsideologie der 1950er und 1960er Jahre – unbestimmte Freiheitsstrafe Martinson 1974: nothing works und Kritik aus der Rechtsstaatsperspektive Evaluationsforschung – Problem der Methoden: kaum kontrollierte (randomisierte) Experimente – Frage: wurden Behandlungsansätze überhaupt implementiert? – Frage: für wen sind Behandlungsansätze sinnvoll? Stand: Für spezifische Gruppen können, wenn auch kleine Behandlungseffekte nachgewiesen werden Sanktionenrecht SS 2011 Page 22 Sicherung Sicherungsverwahrung/incapacitation Kriminalpolitische Ausformungen – Selektive Sicherungsstrategien (Beisp. Sicherungsverwahrung und Hangtäter, die für die Allgemeinheit gefährlich sind) – Kategorische Sicherung (bestimmte Delikte, ab einer bestimmten Vorstrafenbelastung) – Schwerpunktbildung bei Intensivtätern/chronischen Straftätern Forschung thematisiert Zusammenhänge zwischen physischer Sicherung (Freiheitsentzug) und Entwicklungen der Kriminalität – Problem der Identifizierung und Prognose – Ökonomische Probleme Sanktionenrecht SS 2011 Page 23 Lebenslängliche pro 100.000 der Wohnbevölkerung 45 44 40 35 30 25 20 13,6 15 10 2,3 6,3 0,9 1,7 5 Sanktionenrecht SS 2011 USA Italien Griechenland Spanien Schweden England Frankreich 0 Deutschland 0 2,1 Page 24 England: 1997 – 2005 „Automatisches Lebenslänglich“ In the absence of exceptional circumstances, the courts must pass this sentence on anyone who was 18 or over on or after 1 October 1997 who was convicted of a second serious violent or sexual offence Ab 2005: Unbestimmte Freiheitsstrafe zum Schutz der Öffentlichkeit Sanktionenrecht SS 2011 Page 25