Strafrechtliche Sanktionen Sommersemester 2012 Universität Freiburg Vorlesungsbezogene Unterlagen Vorlesungen und Vorlesungsmaterialien – www.mpicc.de/ww/de/pub/aktuelles/veranstaltungen/ lehrveranstaltungen.htm Schwerpunkt „Strafrecht“ – www.mpicc.de/schwerpunkt Sanktionenrecht SS 2012 Page 2 Gliederung Was ist Strafe? – Konzepte und Begriff – Historische und kulturelle Variabilität Warum wird bestraft? Theorien der Strafe Grenzen der Strafe – Menschenrechte: Europäische und internationale Konventionen – Verfassungsrechtliche Schranken Das System strafrechtlicher Sanktionen Die Strafzumessung Strafrechtliche Sanktionen im Vergleich Die Reform des Sanktionensystems Sanktionenrecht SS 2012 Page 3 Spiegel Online 2. 5. 2011 Strafe muss wehtun Von Jan Fleischhauer Nach dem Gewaltexzess in einer Berliner U-Bahn-Station diskutiert die Politik über den "Warnschussarrest" für Jugendliche. Kritiker sagen, dass Haft noch niemanden gebessert habe, doch genau da beginnt das Missverständnis: Sinn von Strafe ist nicht Besserung, sondern Vergeltung. Wir haben uns angewöhnt, Strafe als pädagogische Maßnahme zu sehen. Weil im Vordergrund des modernen Strafrechts, wie es sich nach 1969 durchgesetzt hat, die Resozialisierung, also Besserung des Übeltäters, steht, misstrauen die Experten dem Gefängnis, das ja von seinem Wesen her noch immer weniger Therapie- denn Strafanstalt ist. In den Hintergrund getreten ist dabei die Idee, dass Strafe Gewalt ist, ja ursprünglich auch sein soll. Sie vergilt das Übel grob asozialen Verhaltens mit einem anderen Übel. Sanktionenrecht SS 2012 Page 4 Sanktionskonzepte Recht – Strafrechtliche und nichtstrafrechtliche Sanktionen – Formelle und informelle Sanktionen – Staatliche und nicht-staatliche Sanktionen Psychologie – Sanktion als negativer Stimulus: Konditionierung und Lernen Soziologie – Norm und Sanktion: Sanktionen machen Normen und damit Werte in einer Gesellschaft sichtbar und dienen vor allem der sozialen Integration (Durkheim) » Funktionalismus und Integrationsprävention Ökonomie – Warum bestrafen Menschen, obwohl dies mit mehr Kosten als Nutzen verbunden ist? Sanktionenrecht SS 2012 Page 5 Recht und Sanktionsformen Kriminalstrafe, Maßregeln der Besserung und Sicherung, Verwaltungsstrafe, Schadensersatz (unerlaubte Handlungen) – Kriminalstrafe und nulla poena sine lege Grundsatz (und Rückwirkungsverbot) – Kriminalstrafe und Schuldgrundsatz (und Unschuldsvermutung) – Maßregel und Verhältnismäßigkeit – Disziplinarstrafen und Geldbuße (Ordnungswidrigkeiten) – Schadensersatz, Schmerzensgeld und „punitive damages“ Formell und informell – Beispiel: Auflagen des Staatsanwalts bei Anwendung des §153a StPO Staatliche Strafe und private Strafe – Betriebsjustiz, Vertragsstrafe Sanktionenrecht SS 2012 Page 6 Sanktion und Psychologie Lerntheorien und Sanktionen – Eine Person wird dann antisoziales Verhalten (kriminelles Verhalten) zeigen, wenn sie in der Vergangenheit dafür bekräftigt/belohnt worden ist und wenn aversive Konsequenzen (Sanktionen) das Verhalten nicht unterdrückt haben Gerechtigkeitsempfinden und Vergeltung – Anstatt die andere Backe hinzuhalten, wie uns das Neue Testament rät, wollen wir Vergeltung – Wir wollen Vergeltung, auch wenn dies mit erheblichen Kosten und Nachteilen verbunden ist – Langfristig wirksame Entwicklung eines Gefühls für Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass man in unfairer Weise einer Macht unterworfen wurde, gegen die man sich nicht wehren konnte – Ungerechtigkeit erzeugt dann ein Gefühl des Ungleichgewichts, das nach einem wirksamen Ausgleich drängt – Das Bedürfnis nach Vergeltung führt dazu, zurück zu blicken, an vergangenes Unrecht zu erinnern und die Zukunft selbst zurückzustellen zu Gunsten des Ausgleichs für erlittenes Unrecht Sanktionenrecht SS 2012 Page 7 Soziologisches Konzept der Sanktion Normen enthalten generalisierte Erwartungen Der Verstoß gegen eine Norm löst Enttäuschung aus Die Enttäuschung muss verarbeitet werden – Aufgabe der Erwartung – (kontrafaktische) Beibehaltung der Erwartung Bei Strafnormen: in aller Regel Stabilisierung der Erwartung Das Strafrecht legt fest – Wer ist für die Enttäuschung zuständig (verantwortlich) – und demonstriert durch Strafe, dass die Erwartungen beibehalten werden dürfen Sanktionenrecht SS 2012 Page 8 Literatur Durkheim, E.: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt 1977. Durkheim, E.: Kriminalität als normales Phänomen. In: Sack, F., König, R.(Hrsg.): Kriminalsoziologie. 3. Aufl., Wiesbaden 1979, S. 3-8. Jung, H.: Was ist Strafe? Ein Essay. Nomos: Baden-Baden 2002. Kerner, H.J.: Sanktionen. In: Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 3. Aufl., Müller: Heidelberg 1993, S. 437-439. Spittler, G.: Norm und Sanktion. Walter Verlag: Freiburg 1967. Jaffe, Y., Yinon, Y.: Retaliatory aggression in individuals and groups. European Journal of Social Psychology 9(1979), S. 177-186. Jacobs, B.A., Wright, R.: Street Justice. Retaliation in the Criminal Underworld. Cambridge 2006. Ulrich Orth, U.: Does Perpetrator Punishment Satisfy Victims’ Feelings of Revenge? Aggressive Behavior 30(2004), S. 62–70 Sigmund, K.: Punish or perish? Retaliation and collaboration among humans. TRENDS in Ecology and Evolution 22(2007), S. 593-600. Shinada, M., Yamagishi, T.: Punishing free riders: direct and indirect promotion of cooperation. Evolution and Human Behavior 28 (2007) S. 330–339. Sanktionenrecht SS 2012 Page 9 Eine kurze Geschichte des Strafens Bis zum 16./17. Jahrhundert – Todesstrafe, Körperstrafen, Geldstrafen 17./18. Jahrhundert – Todesstrafe, Zwangsarbeit, Freiheitsstrafe 19./20. Jahrhundert – Freiheitsstrafe 20./21. Jahrhundert – Freiheitsstrafe, nicht freiheitsentziehende alternative Sanktionen (Geldstrafe, Bewährungsstrafe, gemeinnützige Arbeit) Sanktionenrecht SS 2012 Page 10 Histor. Siegeszug der Geldstrafe Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2011/2012 11 Soziale und kulturelle Grundlagen der Veränderungen im Strafen Prozess der Zivilisation – Immer stärkere Beschränkungen physischer Gewalttätigkeit (vgl. hierzu Eisner 2003) – Stärkung des Privaten Entstehung starker Zentralgewalten und des modernen Staats – Strafe als Über-/Unterordnungsverhältnis – Transformation von Rache/Fehde in staatliche Strafe – Strafe als Entmachtung und Konsolidierung staatlicher Herrschaft Aufklärung – Beschränkungen der Strafe durch Menschenrechte – Ausrichtung der Strafe auf Nützlichkeit – Freiheit und Gleichheit der Bürger Sanktionenrecht SS 2012 Page 12 Der Prozess der Zivilisation Entstehung von sozialen Abhängigkeiten und Vergrößerung der Verletzlichkeit des Einzelnen Zügelung von Aggressivität, Vordringen zivilisierten Verhaltens und einer effektiven Selbstkontrolle Veränderung der Psyche und der Gefühle – Zurückhaltung bei Gewalttätigkeit und Ablehnung der (öffentlichen) Zufügung von Schmerz und Leiden Handlungen, die starke Gefühle auslösen oder demonstrieren, werden weitgehend aus der Öffentlichkeit entfernt Sanktionenrecht SS 2012 Page 13 Strafe und Staat Verbot privater Gewalt – Ausnahmen: Notwehr, Notstand Monopolisierung der Gewalt im Staat und in staatlichen Institutionen (Polizei, Strafvollzug, Militär) Zunehmende Effizienz in staatlicher Gewaltanwendung und Bestrafung – Reduzierung des Bedarfs an öffentlicher Demonstration der Autorität und der Herrschaft Sanktionenrecht SS 2012 Page 14 Fragen Wieviele Personen werden in Deutschland pro Jahr mit Kriminalstrafe bestraft? » 2010 sind in Deutschland 813.266 Personen zu einer Kriminalstrafe verurteilt worden » Strafverfolgungsstatistik 2010 (download: www.destatis.de) » 1. 1. 2011: 4.451.000 wegen Ordnungswidrigkeiten (>40 €) registrierte Personen im Verkehrszentralregister Wieviele Menschen haben eine Vorstrafe? » Bis zum Abschluss des 3. Lebensjahrzehnts sind 30-35% der männlichen Bevölkerung in Deutschland wenigstens ein Mal zu Kriminalstrafe verurteilt worden (Keske, M.: Der Anteil der Bestraften in der Bevölkerung. Monatsschrift für Kriminologie 62(1979), S. 257-272) Sanktionenrecht SS 2012 Page 15 Sanktion und Selektion 2010 5.933.278 Polizeilich registrierte Straftaten 3.322.320 aufgeklärt (56,0%) 2.152.803 Tatverdächtige Staatsanwaltschaft 4.602.685 Fälle 512.498 Anklagen 533.732 Strafbefehlsanträge Gerichte 1.018.006 Abgeurteilte 813.266 Verurteilte 37.660 zu unbedingter Freiheitsstrafe Einstellungen (§§153ff, 170 II StPO) Einstellungen, Freisprüche 17,4% Geldstrafe und Bewährung 94,7 % Strafvollzug (31.3. 2010) 60.693 verurteilte Gefangene 10.781 Untersuchungshäftlinge Sanktionenrecht SS 2012 Page 16 Vergeltung, Versöhnung und Strafe Ausgangsfrage: – Wie wird Ordnung (Normen) unter Bedingungen fehlender oder schwacher Zentralgewalt aufrechterhalten Vergeltung/Rache/Fehde sind sozial gefordert (Normdurchsetzung) und obliegen der Familie, dem Stamm, der Gemeinschaft Problem der Eskalation bei Vergeltung und Rache (Blutfehden) Beispiel: Sulha (Palästina) – Nach einer Gewalttat gehen die Verwandten des Täters zu einem Vermittler (eine Person, die Ansehen und Reputation genießt) und bitten um Vermittlung – Der Vermittler sucht die Familie des Opfers auf und verhandelt die Bedingungen, unter denen verziehen werden kann (in einzelnen Regionen (beispw. Somalia) existieren feste Tarife (die allerdings verhandelt werden können) – Sozialer Druck hin zu einer gütlichen Einigung » Wird begründet mit dem Koran: Verzeihung und Vergeben sind besondere Werte » Ziel: Vermeiden von dauerhaften Konflikten – Die Versöhnung wird öffentlich erklärt Sanktionenrecht SS 2012 Page 17 Strafe, Macht und Gewalt: Das Problem der Sanktionierung Sanktionierung/Strafe ist Gewalt und trägt deshalb ein Stigma in sich Auch in der Anwendung strafender (vergeltender) Gewalt ist das Risiko der Gegengewalt (Widerstand, Rache) enthalten Überlegene Gewalt (Aktionsmacht, Popitz) bedeutet Macht über eine Person (allerdings nur für einen Moment) – Talleyrand: Sire, mit Bajonetten kann man viel machen, man kann nur nicht darauf sitzen Herrschaft muss auf Dauer gestellt werden und das heißt, Herrschaft muss vom Stigma der bloßen Gewalttätigkeit entlastet werden Dies bedeutet, dass die Sanktion und die Sanktionierung normiert werden müssen Erst wenn die Sanktion normiert ist, kann es zu dauerhafter und stabiler Herrschaft kommen » Kodifizierung » Akzeptanz/Legitimation Sanktionenrecht SS 2012 Page 18