48 6 Die vielen Gesichter der Bipolarität Andreas Marneros 6.1 Einleitung Vor nunmehr 2000 Jahren erkannte einer der berühmtesten Ärzte der griechischen Antike, Aretäus von Kappadokien (50–100 n. Chr.), zum ersten Mal, dass die von Hippokrates und den Hippokratikern beschriebenen Krankheitsbilder der Melancholie und der Manie zwei Ausdrucksformen ein und derselben Erkrankung sind. Er schrieb: »Meiner Ansicht nach ist die Melancholie ohne Zweifel Anfang oder sogar Teil der Krankheit, die Manie genannt wird ... Die Entwicklung einer Manie ist vielmehr eine Zunahme der Krankheit als ein Wechsel in eine andere Krankheit.« »Es gibt zwar zahlreiche Erscheinungsformen der Manie, sie gehören aber ein und derselben Kategorie an.« »Bei manchen tritt die Manie als Lustigkeit auf; sie lachen, spielen, tanzen Tag und Nacht, sie flanieren auf dem Markt, bisweilen mit Kränzen auf dem Kopf, als ob sie aus einem Wettspiel als Sieger hervorgegangen wären; solche Patienten bereiten den Angehörigen keine Sorgen. Andere aber geraten außer sich vor Zorn ... Die Erscheinungsformen sind unzählig. Manche, die intelligent und gebildet sind, beschäftigen sich mit Astronomie, ohne es jemals gelernt zu haben, oder autodidaktisch mit Philosophie, sie betrachten Poesie als ein Geschenk der Musen ...« »... die Melancholie tritt aber nicht immer in ein und derselben Form auf ...« (Aretäus von Kappadokien, Übersetzung des Autors) Die zuerst sehr langsame Entwicklung des Konzeptes der bipolaren Erkrankungen erfuhr in den letzten Jahrzehnten eine unerhörte Beschleunigung. Der erste Schritt nach Aretäus erfolgte 19 Jahrhunderte später durch die Franzosen Jean-Pierre Falret (1851) und Jules Baillarger (1854), die die folie circulaire bzw. die folie à double forme als eine von der Melancholie separate Entität beschrieben haben. Emil Kraepelin (1899) suchte jedoch alle affektiven Störungen unter dem Dach des manisch-depressiven Irreseins unterzubringen und beseitigte dadurch die Dichotomie unipolar – bipolar. Obwohl diese Konzeption nicht unwidersprochen geblieben ist, dominierte sie bis nach der Mitte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere der Namensgeber der »bipolaren Erkrankungen«, Karl Kleist, trug wesentlich dazu bei, dass die Besonderheiten der bipolaren Erkrankungen in Forschung und Klinik lebendig blieben (Marneros u. Angst 2000a, b; Angst und Marneros 2001; Marneros 2004). Nach der Etablierung der Psychopharmokotherapie in der Mitte des 20. Jahrhunderts erkannte man, dass die bipolaren Störungen ein Spektrum von Erkrankungen darstellen (Akiskal 2002; Marneros 2770_Fuchs_AK4.indd 48 18.02.13 12:54 6 Die vielen Gesichter der Bipolarität 49 2004; 2006). Den Durchbruch brachten die Arbeiten von Jules Angst (1966), Carlo Perris (1966) und der Gruppe um George Winokur (1967), die gezeigt haben, dass depressive Störungen und bipolare Erkrankungen unterschiedliche Gruppen sind. Die intensiven Forschungsaktivitäten in den letzten Jahrzehnten bestätigten das Konzept eines bipolaren Spektrums (Akiskal 2002). Die Grenzen dieses bipolaren Spektrums sind sowohl nach »oben«, d. h. in Richtung Schizophrenie, als auch nach »unten«, d. h. in Richtung Persönlichkeitsstörung und Temperament, elastisch und durchgängig (Marneros u. Akiskal 2007). Innerhalb des bipolaren Spektrums zeigen sich jedoch viele mehr oder weniger eigenständige und prägnante Subgruppen: neben der als Bipolar-I bezeichneten klassischen manisch-depressiven Störung wurden die Bipolar-II-Störung, die gemischt-bipolare Störung, die Rapid-Cycling-Form, die Zyklothymia, die Hypomanie und die rekurrente kurzandauernde Hypomanie erkannt – wobei die letzten beiden Formen häufiger im Rahmen der Bipolar-II-Störung oder des Rapid Cycling zu beobachten sind. Darüber hinaus wurden auch seltene oder noch nicht etablierte Formen beschrieben, wie etwa eine Bipolar-III-Störung oder eine pseudo-unipolare Störung (Tab. 6-1). An der Überschneidungsstelle zwischen bipolarem und schizophrenem Spektrum sind die bipolar-schizoaffektiven Störungen sowie die akuten polymorphen Psychosen (zykloide Psychosen) anzusiedeln. Einige dieser Störungen werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Da die klassische manisch-depressive Störung, also die Bipolar-I-Störung, als bekannt anzuneh- Tab. 6-1 Einige Formen bipolarer Erkrankungen Bezeichnung Charakteristika Bipolar-I-Störung mindestens einmal eine manische oder gemischte Episode Bipolar-II-Störung mehrere Episoden einer Major Depression, mindestens eine hypomanische Episode Bipolar-III-Störung depressive Episode und substanzinduzierte hypomanische oder manische Episode Pseudo-unipolare Störung depressive Patienten mit frühem Erkrankungsalter und positiver Familienanamnese bipolarer Erkrankungen Mischzustände gleichzeitiges Auftreten von depressiven und manischen Symptomen Rapid Cycling bipolare Form mit hoher Episodenfrequenz, mindestens vier pro Jahr Zyklothymia chronische, lang andauernde, aber milde bipolare Störung bipolar-schizoaffektive Störung schizoaffektive Störung mit manischen oder gemischten Episoden akute polymorphe Psychose (zykloid) akute psychotische Störung, häufiger Wechsel zwischen Ekstase/ Euphorie und Angst/depressiver Verstimmung 2770_Fuchs_AK4.indd 49 18.02.13 12:54 50 B Klinische Aspekte men ist, wird diese hier aus Platzgründen nicht erläutert, sondern wir werden uns auf die etwas selteneren Formen beschränken. 6.2 Bipolar-II-Störung Der Begriff Bipolar-II-Störung wurde von Dunner et al. in den 1970er-Jahren eingeführt mit dem Zweck, bipolare Störungen zu definieren, die zwar das volle Syndrom einer schweren Depression (major depression), aber – was das manische Element betrifft – nur nicht-hospitalisierungsbedürftige hypomanische Zustände aufweist (Dunner u. Fieve 1974; Dunner et al. 1976). Die Bipolar-II-Störung ist zwar im DSM-IV als eigenständige Kategorie zu finden, aber nicht in der ICD-10. Bald nach ihrer Beschreibung zeigte sich, dass diese Gruppe von bipolaren Störungen häufiger anzutreffen ist als früher angenommen und eine Vielzahl von Besonderheiten aufweist. Untersuchungen von Angst und Mitarbeitern (Angst et al. 2005) zeigen, dass sich die Prävalenzen definitionsabhängig zugunsten von Bipolar-II im Vergleich zu depressiven Erkrankungen verschieben (bis fast 11 %). Prospektive Untersuchungen erbrachten, dass der Verlauf der BipolarII-Störung chronisch und durch Depressivität dominiert ist (Judd et al. 2003). Eine weitere Besonderheit der Bipolar-II-Störung ist nach manchen Untersuchungen ihre häufigere Verbindung mit Rapid Cycling (Coryell u. Winokur 1992) sowie die hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen. Man- Tab. 6-2 Unterschiede zwischen Bipolar-I- und Bipolar-II-Störung (nach Rihmer u. Kiss 2002; Akiskal 2003) Merkmal Bipolar-I-Störung Bipolar-II-Störung Retardation* +++ + psychotische Merkmale +++ + komorbider Substanzgebrauch +++ ++ atypische Symptome* + +++ gemischt-depressive Episoden + +++ komorbide Angststörung + +++ Frequenz und Dauer der Episoden + +++ Rapid Cycling + +++ komorbide somatische Störungen + +++ Suizidales Verhalten ++ +++ Kreativität + +++ * während der depressiven Episoden 2770_Fuchs_AK4.indd 50 18.02.13 12:54 6 Die vielen Gesichter der Bipolarität 51 che Untersuchungen finden bei Bipolar-II hohe Suizidalität und häufige Beimischungen von Mischzuständen im Verlauf (Rihmer u. Pestality 1999; Rihmer 2002). Es gibt noch die Diskussion, ob die Bipolar-II-Form als eine absolut eigenständige Form der bipolaren Erkrankungen zu bezeichnen ist oder ob fließende Übergänge zur Bipolar-I-Störung existieren (Vieta et al. 2005). Die Unterschiede zwischen Bipolar-I-Störung und Bipolar-II-Störung können der Tabelle 6-2 entnommen werden. 6.3 Gemischt-bipolare Störungen Das ist eine Form von Störungen, die schon von Heinroth (1818) beschrieben und von Kraepelin (1896) als Mischzustände zum ersten Mal konzeptualisiert worden ist. Weygandt (1899) war der Erste, der eine Monographie zum Thema verfasst hat. Gemischt-bipolare Störungen sind sowohl theoretisch als auch klinisch interessante und schwierige Zustände. Sie sind mit verschiedenen Problemen behaftet, die schon mit ihrer Definition beginnen. So werden sie eng definiert wie etwa vom DSM-IV und von der ICD-10 – beide Systeme verlangen ein gleichzeitiges Auftreten der vollständigen Symptomatik einer Major Depression und einer Manie – oder relativ moderat wie durch die Pisa- und CincinnatiKriterien (prominente manische Symptome in einer depressiven Episode oder auch umgekehrt (ausführlicher darüber in Marneros u. Goodwin 2005a). Es gibt aber auch breite Definitionen, nach denen das Vorhandensein von einzelnen depressiven Symptomen innerhalb einer manischen Symptomkonstellation (in der Regel durch verschiedene Scores bestimmt) und umgekehrt zur Diagnose »gemischt« berechtigt. Um eine Inflation und Unsicherheiten zu vermeiden, ist es empfehlenswert, sich entweder an den strengen oder an den moderaten Definitionen zu orientieren. Alles andere können Phänomene einer Übergangsphase von der Manie zur Depression und somit diagnostisch irrelevante Erscheinungen sein (Marneros 2004; Marneros u. Goodwin 2005b). Es ist Perugi u. Akiskal (2005) zuzustimmen, wenn sie im Phänomen der gemischt-bipolaren Episoden nicht nur eine Mischung von Symptomen der beiden affektiven Episodentypen sehen, sondern einen Komplex aus temperamentbedingten, genetischen und neurophysiologischen Prozessen. Betrachtet man die Entwicklungen zwischen der Publikation der ersten Monographie zum Thema (Weygandt 1899) und dem letzten aktuellen Sammelband darüber (Marneros u. Goodwin 2005a), kann man feststellen, dass noch viel Offenes, viel Unsicheres und viel Rätselhaftes bleibt. Die wichtigsten Charakteristika der gemischt-bipolaren Störungen sind in Tabelle 6-3 dargestellt. 2770_Fuchs_AK4.indd 51 18.02.13 12:54 52 B Klinische Aspekte Tab. 6-3 Wichtigste Charakteristika der gemischt-bipolaren Erkrankungen Häufigkeit 30–40 % aller bipolaren Erkrankungen Alter altersunabhängig Geschlecht mehr Frauen ? Begünstigende Faktoren langer Verlauf, Dominanz der manischen Symptomatik Prognose ungünstiger im Vergleich zu reinen bipolaren Erkrankungen Therapie Kombination von Atypika und Antikonvulsiva. Behutsam mit Antidepressiva. 6.4 Rapid Cycling Die Rapid-Cycling-Form ist eine ebenfalls sowohl aus theoretischen als auch aus praktisch-klinischen Gründen hochinteressante Erscheinungsform innerhalb des bipolaren Spektrums. Als Rapid Cycling werden bipolare – und seltener auch unipolare – affektive Erkrankungen mit mindestens vier affektiven Episoden in den vergangenen 12 Monaten bezeichnet (Dunner u. Fieve 1974; APA 1994). Obwohl das Phänomen seit langem bekannt und von Kraepelin in seinen berühmten schematischen Darstellungen genauestens beschrieben worden ist, ist es in seiner modernen Form ebenfalls ein Produkt der pharmakotherapeutischen Entwicklungen in der Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Im Rahmen von Lithium-Studien identifizierten Dunner und Fieve (1974) eine Gruppe von Patienten, die vier und mehr Manifestationen von affektiven Episoden im Jahr hatten, die vor allem dadurch gekennzeichnet waren, dass sie im Vergleich zu Patienten mit weniger Episoden schlechter auf Lithium ansprachen. Diese Befunde wurden von zahlreichen Autoren später repliziert. Als eine besondere Form von Rapid Cycling kann unter Umständen auch die von Angst (1997) beschriebene rekurrente kurzandauernde Hypomanie gelten. Die Häufigkeit von Rapid Cycling wird auf 5–20 % der bipolaren affektiven Erkrankungen geschätzt; höhere Werte kommen aus spezialisierten Zentren (Kilzieh u. Akiskal 1999; Marneros u. Goodwin 2005a; b). Allerdings fehlen noch weitere systematische repräsentative epidemiologische Studien. Eines der wichtigsten Charakteristika der Rapid-Cycling-Verlaufsform, das sie von anderen Formen bipolarer Erkrankungen deutlich abgrenzt, ist die Geschlechtsverteilung: Frauen erkranken signifikant häufiger als Männer (75–95 % aller Patienten mit Rapid Cycling sind Frauen). Interessanterweise unterscheiden sich alle anderen soziodemographischen Daten nicht von den klassischen Formen der bipolaren Erkrankungen. Obwohl die prognostische Bedeutung des Rapid Cycling noch umstritten ist, kann gesagt werden, dass die Rapid-Cycling-Verlaufsform eine schwere chronische Erkrankung ist, die mit selteneren Remmissionen als andere Formen von 2770_Fuchs_AK4.indd 52 18.02.13 12:54