Bipolare affektive Störung: Komorbidität, Diagnose

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Bipolare affektive Störung: Komorbidität, Diagnose und
Therapie
Erstellt 27 Jan 2010 - 11:53
Wie bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen herrscht auch bei der bipolaren Störung dringender
Aufholbedarf an Entstigmatisierung und Aufklärung, sowohl in der Bevölkerung als auch bei den behandelnden
Ärzten. Die Österreichische Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen (ÖGBE), die Österreichische Gesellschaft für
Psychiatrie-Erfahrene (ÖGPE) und pro mente Wien veranstalteten aus diesem Anlass im Oktober einen
Informationstag zum Thema Bipolarität.
Komorbiditäten bei bipolaren Störungen
„Wir bemerken viele Überschneidungen zwischen der Bipolarität und Sucht“, eröffnete Dr. Roland Mader, Anton-ProkschInstitut, Wien, seinen Vortrag. Das Vorliegen einer weiteren psychiatrischen Störung hat in der Therapie
substanzabhängiger Personen wesentlichen Einfluss auf die zu setzenden Behandlungsmaßnahmen. Kommt es nicht zu
einer gleich-zeitigen Behandlung der Komorbiditäten, ist ein Rückfall weitgehend vorprogrammiert.
Untersuchungen des Anton-Proksch-Institutes ergaben, dass von den stationär behandelten Alkoholabhängigen 75% der
Frauen und 53% der Männer zumindest eine komorbide Störung (meist mehrere, durchschnittlich 3) aufweisen. Die
Patienten leiden zu 32% an einer Angststörung, 33% der Männer und 56% der Frauen weisen ein schweres depressives
Syndrom auf und 10% der Männer und 12% der Frauen hypomanische oder manische Episoden. Unter den
Drogenabhängigen leiden 35% zusätzlich an einer affektiven Störung, 25,7% an einer Major Depression, 8% an
Angststörungen und 50% an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Spielsucht geht bis zu 50% mit depressiven
Störungen, zu 25% mit zusätzlicher stoffgebundener Sucht und zu 93% mit einer Persönlichkeitsstörung, vor allem der
narzistischen Persönlichkeitsstörung, einher. Schwierig ist bei der Diagnostik, ob primär eine Spielsucht besteht oder sie
Ausdruck der Manie ist. In einer manischen Phase ist für die Betroffenen Glücksspiel besonders reizvoll und dient zur
Intensivierung und Verlängerung der Manie.
Personen mit schweren psychischen Störungen wie Schizophrenie oder bipolaren Störungen haben grundsätzlich ein
erhöhtes Risiko, an einer Substanzstörung zu erkranken. Alkoholmissbrauch tritt bei bipolaren Störungen 6-mal häufiger
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung auf. Gesteigerter Alkoholkonsum kommt meistens in den manischen Phasen vor,
getriggert durch impulsives und expansives Verhalten. Aber auch umgekehrt kann der Alkoholkonsum manische Phasen
auslösen bzw. verstärken. Das gemeinsame Auftreten von Substanzmissbrauch und psychischen Störungen führt zu einer
erhöhten Rate von Rückfällen und Rehospitalisationen in beiden Bereichen. Weiters kommen häufig Probleme wie
Obdachlosigkeit, rechtliche Probleme, Gewalttätigkeit, geringe Behandlungseinbindung, HIV-Infektionen und starke
familiäre Belastungen hinzu.
Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle für das häufige gemeinsame Auftreten dieser Krankheiten: Das „Modell der
gemeinsamen Faktoren“ geht davon aus, dass genetische Faktoren in der Entwicklung von beiden Erkrankungen von
großer Bedeutung sind. Die „sekundäre Substanzabhängigkeit“ kann aus der Selbstmedikation der Patienten entstehen,
wobei verschiedene Drogen gegen die unterschiedlichen affektiven Zustände genommen werden. Heroin z.B. gilt als gut
wirksam gegen Wut und Aggression, Kokain gegen Depression und paradoxerweise Hypomanie und Hyperaktivität.
Substanzmissbrauch zur Verringerung von Dysphorie ist ebenfalls ein Entstehungsweg („Affektregulationsmodell“). Das
Modell der multiplen Risikofaktoren geht eben von dem Einfluss verschiedener biologischer, psychologischer und sozialer
Faktoren aus. Das Supersensitivitätsmodell beschreibt eine Prädisposition, bei der ein relativ geringer Substanzkonsum
oft stark negative Konsequenzen nach sich zieht. Substanzmissbrauch kann aber eben auch sekundär psychiatrische
Krankheitsbilder „provozieren“. Alkoholmissbrauch kann die erste manische Phase auslösen, kann aber wahrscheinlich
nicht die Erkrankung selbst verursachen. Drogenkonsum (Halluzinogene, Cannabis, Stimulanzien) können zu einer
psychotischen Störung führen, wobei der Substanzmissbrauch vor allem für den (früheren) Erkrankungsbeginn eine Rolle
spielt. Davon, dass Interaktionen zwischen Abhängigkeit und Affektstörung durch ein gegenseitiges Aufrechterhalten der
Erkrankungen für die erhöhte Komorbidität verantwortlich sind, geht das „bidirektionelle Modell“ aus.
Je stärker die psychiatrische Komorbidität ausgeprägt ist, desto eher ist eine stationäre Entwöhnungsbehandlung
notwendig. „Bei einer gleichzeitigen Behandlung der psychiatrischen Erkrankung und der Suchtmittelabhängigkeit
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bestehen gute Chancen auf die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten“, schloss Mader.
Diagnostik affektiver Störungen
„Schon Hippokrates befasste sich in seiner Körpersäfte-Lehre mit dem Typus melancholicus, und viele andere große
Denker wie Aräteus und Galen kannten die Melancholie als ein Zustandsbild, das sich aus der Mischung von Depression,
Manie und Angststörungen zusammensetzte“, verwies Prof. Dr. Christian Simhandl, Bipolar Zentrum, Wiener Neustadt, auf
die lange Geschichte der Bipolarität. Über die Beobachtungen von Kraepelin, Leonhard, Angst und Akiskal wurden
schließlich Anfang der 1980er-Jahre in der ICD-10 & DSM-IV-TR die von den Psychosen eindeutig abgrenzbaren Formen
der Manie und der Depression definiert. „Das Hauptproblem in der Diagnostik der bipolaren Störung ist, dass die Patienten
meist im Zustand der Depression Hilfe suchen und nur eine Momentaufnahme von der Erkrankung gemacht wird, was zur
Fehldiagnose einer (unipolaren) Depression führt, so Simhandl. Ghaemi et al beschrieben die Problematik dieser
unvollständigen Diagnose: Auf die Verabreichung von Antidepressiva folgen oft manische Episoden als Reaktion und es
dauert meist Jahre, bis die Patienten richtig diagnostiziert und behandelt werden (Abb. 1). „Es gilt als sehr wahrscheinlich,
dass Antidepressiva den Verlauf einer bipolaren Erkrankung verschlechtern“, erklärte Simhandl. Im Gegensatz zu der
verbreiteten Annahme, dass die Manie die Kompensation der Depression sei, ist es eher umgekehrt, und zwar, dass die
Depression zur Kompensierung der Grundstörung Manie folgt.
Um eine mangelhafte Diagnose zu vermeiden, ist das gezielte Fragen nach hypomanischen Zuständen bei einer
(scheinbaren) Depression wichtig. Durch gezieltes Fragen kann wesentlich mehr erhoben werden als z.B. durch
Bestimmungen des Blutserotoninspiegels, der nichts über die Konzentrationen im Gehirn aussagt.
Es gibt viele unterschiedliche Trigger, die einen affektiven Wechsel auslösen können, wobei Alkohol eine wichtige Rolle
spielt, da durch den Alkoholkonsum häufig Schlafstörungen begünstigt werden und so ein doppelter Effekt auftritt. Weitere
häufige Auslöser sind das zu rasche Absetzen von Lithium und/oder Antidepressiva (wobei die Einnahme ebenfalls ein
Auslöser für eine Manie sein kann), Konflikte und Belas-tungen, die auf die Patienten einwirken, und saisonale Wechsel.
Dass eine Frau, die mit 25 Jahren an einer bipolaren Störung erkrankt, eine um 9 Jahre verkürzte Lebenserwartung hat, 12
Jahre normalen gesunden Lebens und 14 Jahre normaler beruflicher und familiärer Aktivität verliert, hat bereits eine
Erhebung vor 30 Jahren ergeben (US Dept. of Health, Education and Welfare, 1979). „Die Suizidrate bei bipolaren
Erkrankungen beträgt 20%“, verdeutlichte Simhandl zusätzlich die Notwendigkeit der möglichst frühen richtigen Diagnose.
Das gezielte Fragen nach früheren Zeiten mit Hyperaktivität, dem Vorkommen psychischer Erkrankungen in der Familie,
Alkohol-, Drogen- und/oder Tablettengebrauch, Suizidversuchen in der Vorgeschichte und in der Familie, postpartalen
Stimmungsschwankungen, schwerem subjektivem Stress, einer episodischen Verlaufsform von
Stimmungsschwankungen sowie nach saisonalen Rhythmen ist bei der Anamnese einer möglichen Bipolarität
unerlässlich. Nicht vergessen darf man auch, dass Mischbilder zwischen Manie und Depression häufig sind und eine
Diagnose erschweren können. Schwankungen zwischen dem affektiven Zustand des Patienten und dem Antrieb bzw.
Denken sind ebenfalls zu beachten (Abb. 2).
Zusätzlich erschwert die Diagnose natürlich auch der häufig von den Patienten als positiv wahrgenommene Zustand der
(Hypo-)Manie. Die Prävalenzrate für die bipolare Störung I beträgt in Österreich 2–4%, also 170.000–340.000, für die
bipolare Störung II 5–10%, also 425.000–850.000 betroffene Österreicher. „Diagnostiziert sind davon weniger als 50%“, so
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Simhandl. Zustandsbilder von dysphorischer Manie über agitierte Depression bis hin zu psychotischen Zeichen können
vorkommen. Wesentlich ist die genaue Abgrenzung von den unterschiedlichen affektiven Störungen von unipolar
Depressiven bis zu Patienten mit Rapid Cycling, also von 4-mal jährlichem Wechsel des affektiven Zustandbildes, bis zu
täglichem Stimmungswechsel in Sonderfällen (Ultra Rapid Cycling) bei bipolaren Patienten. Das Erkennen der
Verlaufsgestalt, des zeitlichen Ablaufes der affektiven Störung ist das Um und Auf einer genauen Diagnostik.
Medikamentöse Strategien bei bipolaren Erkrankungen
„Es gibt kaum einen anderen Bereich in der Psychiatrie, in dem sich in den letzten Jahren so viel geändert hat wie bei der
bipolaren Erkrankung“, stellte Dr. Georg Psota, Psychosozialer Dienst Wien, fest. Bei der Behandlung der bipolaren
Erkrankung spielt neben psychologischen Verfahren (Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Kreativtherapie und
Bewegungstherapie) die Pharmakotherapie eine sehr wichtige Rolle. Therapieziele der Psychotherapie sollten neben
dem Aufbau einer vertrauensvollen Kommunikation zwischen Therapeuten und Patienten die Aufklärung und
Psychoedukation des Patienten sein. Bei der Pharmakotherapie soll unter Minimierung der Nebenwirkungen eine
Stimmungsstabilisierung angestrebt werden.
In der Akuttherapie der Manie kommt die Sicherheit zuerst. Das heißt, dass eine rasche Verhaltenskontrolle der Patienten
und evtl. eine stationäre Aufnahme erfolgen sollten, wenn die Gefahr der Selbstgefährdung besteht. Die Akuttherapie der
Depression zielt auf die Verringerung des subjektiven Leides der Betroffenen. Bei bestehender Suizidgefahr ist auch hier
eine stationäre Aufnahme unumgänglich. Die Erhaltungstherapie sollte zu einer Stabilisierung der Stimmungslage führen
und in weiterer Folge zur Phasenprophylaxe (nach der ersten Episode einer bipolaren Störung ist das Risiko für weitere
Episoden innerhalb der nächsten 5 Jahre ohne Behandlung >90%).
Im Unterschied zu Therapieleitlinien von früher ist die Sekundärprophylaxe heute das Hauptziel der Therapie. „Es stehen
uns auch viel mehr Medikamente und Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung“, kommentierte Psota die positive
Entwicklung auch in der Pharmakotherapie. Neben Lithium gibt es heute auch verschiedene Antiepileptika, die zur
Phasenprophylaxe eingesetzt werden können, wobei die Langzeittherapie so früh wie möglich, so nebenwirkungslos wie
möglich, so konstant wie möglich und so lang wie möglich erfolgen sollte (Abb. 3). Bei der Therapie der akuten
Depression ist die Gabe von Antidepressiva nicht unumstritten, da ein sogenannter „Switch“ von der Depression in die
Manie provoziert werden kann, wobei SSRIs ein geringes „Switchrisiko“ im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva
haben. Es ist wichtig, die Patienten genauestens über ihren Zustand und die Therapie mit ihren möglichen
Nebenwirkungen aufzuklären. „Wenn man depressiv ist, glaubt man nicht, dass etwas dagegen getan werden kann. Wenn
man manisch ist, glaubt man nicht, dass etwas dagegen getan werden sollte“, zeigte Psota die Probleme, die zu einer
mangelnden Compliance der Patienten führen können, auf.
Bericht: Dr. Jan Sipos
Quelle: „Bipolarität einmal anders betrachtet“, Veranstaltung der ÖGPE, ÖGBE und pro mente, 16. Oktober 2009,
Wien</i>
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Jatros Neurologie & Psychiatrie
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Quellen-URL: http://neurologie-psychiatrie.universimed.com/artikel/bipolare-affektive-st%C3%B6rung-komorbidit%C3%A4t-diagnose-und-therapie
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