Was heißt das für mich?

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Diagnose: Bipolare Störung
Was
heißt das
für mich?
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
in Deutschland leiden etwa zwei Millionen Menschen an einer bipolaren Störung
und wir wollen mit der vorliegenden Broschüre unseren Beitrag zu einem besseren
Verständnis dieser schwierigen Erkrankung leisten.
Diese Broschüre wählt eine eher untypische Erzählperspektive. Aus Sicht einer IchErzählerin berichtet eine fiktive Patientin über ihre Situation. Dabei werden ganz
unterschiedliche, wichtige Aspekte der Krankheit angesprochen, die sich aus den
Erfahrungen verschiedener Einzelpersonen zusammensetzen.
Wenn Sie selbst erkrankt sind oder jemand aus Ihrer näheren Umgebung, werden
Sie manche Situationen wiedererkennen. Die verschiedenen Episoden aus Patientensicht werden ergänzt durch Hintergrundinformationen zum Krankheitsbild.
Wir haben diese Broschüre besonders für Patienten und Angehörige erarbeitet, die
noch nicht lange mit der Diagnose „Bipolare Störung“ vertraut sind. Bitte denken
Sie bei der Lektüre daran, dass Schweregrad und Verlauf der Erkrankung individuell
sehr unterschiedlich sein können.
Wenn Sie Anregungen dazu haben, schreiben Sie uns, am einfachsten per E-Mail
an [email protected].
Redaktion:
Dr. med. Ellen R. Markert
Dr. Carl GmbH, Stuttgart
Herausgeber: Konzept/Text: Gestaltung: Ihr Lundbeck-Team Deutschland
Lundbeck GmbH
Dr. Carl GmbH
Brand Health GmbH
2. Auflage Dezember 2012
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Und ich?
Wann hat es angefangen?
Eine ziemlich beeindruckende Darstellung eines bipolaren Patienten liefert der
charmante Richard Gere im Hollywood-Film „Mr. Jones“, großes Kino, empfehlenswert. So überzeugend er in die Patientenrolle schlüpft, so einfach kann er sie
nach den Dreharbeiten wieder abstreifen. Und ich? Ich lebe seit fast 20 Jahren mit
der Diagnose einer „bipolaren Störung“.
Tage- oder wochenlanger Rückzug, dann wieder Party bis zum Morgengrauen – in
der Pubertät gehört das doch dazu, oder?
Auch mein Mann, meine Familie und meine Freunde müssen damit leben. Zurzeit
geht es mir ziemlich gut, aber ich weiß, dass ein Rückfall möglich ist.
Wichtig zu wissen:
Für bipolare Störungen typisch sind Zeiten sehr niedergeschlagener
Stimmung und Zeiten extremer Hochstimmung, die aufeinander folgen. Dauer, Grad der Ausprägung und Häufigkeit unterscheiden sich
von Patient zu Patient.
Die Trennung von meinem ersten Freund kam, als ich gerade 18 war. Er ging für
ein Jahr ins Ausland und ich verbrachte die folgenden Wochen fast ausschließlich
im Bett. Ich konnte nichts essen und wollte niemand sehen. Was meine Eltern für
heftigen Liebeskummer hielten, war in der Rückschau wohl meine erste depressive
Phase.
Etwa ein halbes Jahr später fuhr ich nach einer mit Freunden durchwachten Nacht
spontan 300 km nach München. Wir hatten stundenlang über Gott und die Welt
diskutiert und ich kann mich noch gut an meine aufgekratzte Stimmung erinnern.
Als die anderen ins Bett gingen, fuhr ich mit dem Auto meiner Mutter los und
verbrachte einen ganzen Tag in München. Tief in der Nacht kam ich wieder nach
Hause und meine Eltern überhäuften mich mit Vorwürfen. Dass ich ihre Aufregung
überhaupt nicht verstehen konnte, machte sie noch wütender. Ich fühlte mich
großartig und schlief kaum noch. Die nächsten Wochen waren von „sex and drugs
and rock ‘n‘ roll“ geprägt. Dann kam der Zusammenbruch. Ich heulte stundenlang,
bis ich nicht mehr konnte.
Wichtig zu wissen:
Bipolare Störungen beginnen
meistens im Jugend- oder
frühen Erwachsenenalter.
Negative sowie positive
Lebensereignisse können
die Erkrankung auslösen.
Vom Auftreten der Symptome bis zur korrekten Diagnosestellung vergehen oft
mehrere Jahre.
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Schrecklich müde
Damals war ich der Depression hoffnungslos ausgeliefert. Heute weiß ich ziemlich
gut, wie sich eine depressive Phase bei mir ankündigt – und vor allem wissen es
auch mein Mann und meine beste Freundin:
Ich wache gegen 4 Uhr morgens auf und kann nicht mehr einschlafen. Den ganzen
Vormittag fühle ich mich deshalb wie gerädert. Ich habe das Gefühl, dass mich
jede Kleinigkeit mehr Kraft kostet, als ich habe. Wenn ich es endlich aus dem Bett
geschafft habe, schlurfe ich noch bis zum Mittag im Schlafanzug durch die Wohnung. In den ersten Tagen fühle ich mich wenigstens nachmittags dazu in der Lage,
ein bisschen aufzuräumen oder den Müll hinauszubringen. Ich weiß, dass mir dann
ein Spaziergang guttut. Aber ich schaffe es kaum, mich dazu aufzuraffen, wenn
nicht jemand mit mir geht.
Bevor ich gelernt habe, mit meiner Krankheit offener umzugehen, ging es mir nach
den ersten Anzeichen von Tag zu Tag schlechter. Schließlich fehlte mir jeder Antrieb, morgens aufzustehen. Manchmal gönnte ich mir schon am frühen Morgen
einen Cognac, um wieder einschlafen zu können.
Appetitlosigkeit und Lustlosigkeit steigerten sich bis zu einer vollkommenen inneren Leere. Alles erschien sinnlos. Mehr als einmal habe ich daran gedacht, Schluss
zu machen.
Wichtig zu wissen:
Eine depressive Episode kündigt sich häufig durch Schlafstörungen
an. Früherwachen und ein sogenanntes Morgentief sind typisch.
Psychische Symptome der Depression – niedergedrückte oder ängstliche Stimmung, Lustlosigkeit bis zum Lebensüberdruss, Verlangsamung, Konzentrationsschwäche, aber auch Unruhe und Reizbarkeit –
werden oft von körperlichen Symptomen begleitet. Dazu gehören
Appetitstörungen, die zur Gewichtsabnahme, manchmal aber auch
zur Gewichtszunahme führen.
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„Eine Depression bedeutet für mich, Landschaften des
eigenen Selbst durchwandern zu müssen, die abgebrannt,
tot, niedergetrampelt oder einfach nur leer sind.“
(Kommentar eines Betroffenen, zitiert auf www.psychose.de)
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Großartig!
„Großartig! Ich fühle mich großartig!“ Wenn ich so auf die Frage antworte, wie es
mir geht, sieht mich mein Mann schon skeptisch an. Manische Phasen fürchtet er
fast mehr als depressive. Dann schlafe ich wenig und fühle mich trotzdem topfit.
Mir kommen viele Ideen, ich bin unternehmungslustig … Das fühlt sich anfangs so
gut an, dass ich in Gefahr bin, meine Medikamente wegzulassen.
Von meiner letzten manischen Episode habe ich noch ein paar Einzelheiten in
Erinnerung: Einmal fuhr ich mit der S-Bahn in die Stadt und schaffte es, das ganze
Abteil zu unterhalten. Wir erfanden den „Rap gegen die Sorgen am frühen Morgen“.
Im Musikgeschäft bestellte ich ein Schlagzeug. Um Platz dafür zu schaffen, räumte
ich zu Hause das Wohnzimmer um. Bis mein Mann von seiner zweitägigen Dienstreise zurückkam, hatte ich es auch schon neu gestrichen – orange! – und außerdem eine bessere Stereoanlage besorgt. Zur Einweihung organisierte ich eine
Willkommensparty für ihn mit Nachbarn und Freunden. Weil er sich offensichtlich
gar nicht darüber freute, gerieten wir in heftigen Streit. Den Rest der Nacht verbrachte ich in einer Kneipe, bis der Wirt in den frühen Morgenstunden meinen
Mann anrief, um mich abzuholen …
„Die meisten Menschen würden heutzutage in der Leistungsund Mediengesellschaft alles dafür geben, einmal besonders zu
sein, besonders interessant, selbstsicher, kreativ, belastbar, einmal
aus der Reihe zu fallen, etwas Verrücktes zu machen, immer fröhlich
zu sein etc. – sie nehmen sogar Drogen für diese Illusion.
Wir kriegen das leider umsonst und können am eigenen
Leib erfahren, wie grausam das alles sein kann und wie wenig der
Mensch dafür gemacht ist, so zu sein. Und wir müssen diese Suppe
dann jedes Mal auslöffeln, wenn der schöne Schein vorbei ist.“
(Kommentar eines Betroffenen*, zitiert auf www.psychose.de)
Wichtig zu wissen:
Eine gehobene, oft überdreht-fröhliche Stimmungslage ist typisch
für die manische Episode, aber auch erhöhte Reizbarkeit und Streitsucht kommen vor. Vorbote einer manischen Episode kann ein
deutlich vermindertes Schlafbedürfnis sein. Die gehobene Stimmung
führt nicht selten zu risikoreichem Verhalten, darunter leichtsinnige
Geldausgaben und sexuelle Abenteuer.
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* Mit „Betroffener“ wird im vorliegenden Text sowohl ein Mann als auch eine Frau mit bipolarer Störung bezeichnet.
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Meine Eltern und ihre Schuldgefühle
Mein mutiger Mann
Meine Eltern wollten es zunächst nicht wahrhaben, dass ich dem „verrückten“
Cousin meiner Mutter „nachschlage“. Sie hatten lange Zeit das Gefühl, in der
Erziehung versagt zu haben. Dann machten sie sich wieder Vorwürfe, nicht früher
erkannt zu haben, dass ich krank bin. Die nächste Selbsthilfegruppe für Angehörige
ist von ihrem Wohnort über 70 km entfernt, aber es gab Jahre, da ließen sie keines
der monatlichen Treffen aus.
An schlechten Tagen frage ich mich, was meinen Mann noch bei mir hält. Ich fange
dann häufig Streit an oder ziehe mich völlig zurück. Manchmal gelingt es ihm,
durch eine bestimmte Art, meinen Namen auszusprechen, mich „zurückzuholen“.
Das ist wie eine Geheimsprache zwischen uns.
Ich bin Einzelkind, daher weiß ich nicht aus eigener Erfahrung, wie Geschwister
reagieren. Eine Mitpatientin hat mir einmal erzählt, dass ihre kleine Schwester für
sie immer diejenige war, zu der sie am meisten Vertrauen hatte. Damals habe ich
mich nach einer Schwester gesehnt …
Wichtig zu wissen:
Die bipolare Erkrankung kommt familiär gehäuft vor. Es gibt aber
nicht „das Bipolar-Gen“. Das Behandlungsteam sollte die Angehörigen nach Möglichkeit einbeziehen.
Dies ist nicht nur für die Erhebung der bisherigen Krankengeschichte
(„Anamnese“), sondern auch für den weiteren Krankheitsverlauf
wesentlich.
Die Angehörigen sollten sich nicht scheuen, selbst Rat zu suchen.
Den Bedürfnissen des Erkrankten stehen die eigenen Grenzen der
Belastbarkeit gegenüber.
„Schweben zwischen Hoffnung, Enttäuschung, Resignation.
Ungläubiges Entsetzen (das kann doch nicht wahr sein, meine
Tochter). Aufbieten aller Kräfte, um helfen zu wollen.
Weich geklopft sein vom ewigen Auf und Ab.“
(Kommentar eines Elternteils, zitiert auf www.psychose.de)
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An guten Tagen, wenn ich ihn mit meinen Geschichten zum Lachen bringe, sehe
ich uns gemeinsam als älteres Pärchen auf der Bank vor einem rosenumrankten
Häuschen …
Wir haben uns vor zehn Jahren in einem Volkshochschulkurs getroffen. Ich war in
einer stabilen Phase meiner Erkrankung, arbeitete halbtags und wollte Leute außerhalb meiner Therapiegruppe und außerhalb meiner Arbeitsstelle kennenlernen.
Weil der Konversationskurs Französisch schon belegt war, entschied ich mich für
einen Kochkurs aus dem „Pfundskur“-Programm. (Unter der regelmäßigen Medikamenteneinnahme hatte ich schon ein bisschen zugenommen …) Mein Mann war
aus beruflichen Gründen zugezogen und hoffte ebenfalls, beim Kochen neue Leute
kennenzulernen. Wir hatten viel Spaß in dem Kurs, gingen erst ein paarmal mit
der Gruppe aus und irgendwann planten wir eine Fahrradtour zu zweit. Die Tour
war zwar verregnet, aber in einem Unterstand im Wald erreichten wir bald eine so
vertrauliche Gesprächsatmosphäre, dass ich von meinen bipolaren Schwankungen
und der Therapie erzählen konnte.
Wenn ich sage, dass ich ihn mutig finde, weil er sich auf eine Beziehung mit mir
eingelassen hat, widerspricht er mir. Er meint, er sei weniger mutig als einfach mit
einer gewissen Gelassenheit auf die Welt gekommen!
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Mein mutiger Mann
Freundschaften und „Freundschaften“
Eine wirklich gute Freundin ist mir aus Schultagen geblieben und es hat sich ergeben, dass wir im selben Ort gelandet sind. Sie kennt mich in- und auswendig und
hat sich in schwierigen Phasen nicht abschrecken lassen. Von ihr lasse ich mir viel
mehr sagen als von irgendjemand sonst.
Ich habe aber auch viele Freunde verloren: In der Depression habe ich mich so
vollkommen zurückgezogen, dass sie nicht mehr an meine Freundschaft geglaubt
haben, und in der Manie habe ich einige wohlmeinende Freunde sehr verletzt.
„Entweder du kannst damit leben und dann läuft’s –
oder du kannst es nicht, dann musst du einen Schlussstrich ziehen.“
(Nach einem Beitrag auf www.bipolar-forum.de)
Wichtig zu wissen:
Die bipolare Störung stellt auch für den Lebenspartner oder die
-partnerin eine große Belastung dar, nicht allein in psychischer
Hinsicht.
Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bis hin zur Kündigung, aber auch übertriebene Geldausgaben in der Manie können zu erheblichen finanziellen
Belastungen führen.
Wenn sich der oder die Betroffene von gemeinsamen Freunden abwendet, ist die Freundschaft oftmals ungewollt auch für den Lebenspartner
oder die -partnerin zu Ende.
Das sexuelle Verlangen kann sich in einer akuten Episode der Erkrankung ändern, vom völligen Desinteresse in der Depression bis zum erheblich gesteigerten Interesse in der Manie. Dabei richtet sich die Lust
der Betroffenen häufig auch auf Personen außerhalb der Partnerschaft.
In der Manie habe ich auch immer wieder falsche Freunde gefunden, die mit mir
getrunken und mit Drogen experimentiert haben. Dann bin ich noch tiefer abgestürzt.
Freunde zu finden ist auch deshalb nicht leicht, weil mich praktisch schon beim
ersten Kennenlernen die Frage quält, ob ich ihr (oder ihm) von meiner bipolaren
Störung erzähle und wann der beste Zeitpunkt dafür ist. Dann bin ich verkrampft
und anders, als ich sein möchte …
Wichtig zu wissen:
Freunde und Bekannte können zur Stabilisierung erheblich beitragen.
Nähere Freunde sollten über die bipolare Störung Bescheid wissen. So
können sie den Betroffenen auf erste Anzeichen einer neuen Episode
hinweisen und ggf. eingreifen (s. Notfallplan, S. 29).
„Seit ich gelernt habe, meine Gefühle, Ängste und Befürchtungen,
aber auch die Verbundenheit und Liebe zu diesen Menschen zu
beschreiben und zu vermitteln, habe ich das Gefühl, dass sich echte
und tiefe Beziehungen entwickelt haben.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar.at)
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Am Arbeitsplatz
Berufstätigkeit bei bipolarer Erkrankung ist ein heikles Thema. Viele Betroffene
werden früher oder später als erwerbsunfähig in Rente geschickt. Ich bin bisher
„nur“ mehrfach arbeitslos gewesen, meine Eltern und später mein Mann haben
mich finanziell unterstützt.
In einem Ratgeber habe ich gelesen, dass ich nicht verpflichtet bin, meine bipolare
Störung am Arbeitsplatz zu erwähnen. Damit habe ich einmal ganz massiv Schiffbruch erlitten: Ich hatte zu Beginn einer manischen Phase die Medikamente abgesetzt und flippte bei der Arbeit mehrfach aus. Ich machte die Kolleginnen beim
kleinsten Fehler nieder und pöbelte die Kunden an. Daraufhin setzte mich mein
Chef kurzfristig für Arbeiten ohne Kundenkontakt ein, aber nach mehreren Beschwerden von Mitarbeiterseite schickte er mich eines Nachmittags nach Hause.
Ich war so wütend, dass ich mich ins Auto setzte und fuhr und fuhr. Am Bodensee
suchte ich mir ein Hotel. Erst am nächsten Tag meldete ich mich bei meinem
Mann, um mich darüber zu beschweren, wie man mich behandelt hatte. Er holte
mich ab und beschwor mich, in die Klinik zu gehen. Ich willigte zunächst nur ein,
mit meinem Arzt zu sprechen und mich krankschreiben zu lassen.
Wichtig zu wissen:
Eine geregelte Tätigkeit ist ein wichtiges Element, um in einem sozialen
Rhythmus zu bleiben. Schichtarbeit ist nicht geeignet.
Die Entscheidung, am Arbeitsplatz über die Erkrankung zu sprechen,
sollte sorgfältig abgewogen werden: Wer genau soll ins Vertrauen gezogen werden? Eine Einzelperson oder mehrere? Vorgesetzte, Kollegen,
Mitarbeiter? Wie genau soll(en) diese Person(en) informiert werden?
Die Sicherheit, dass im Notfall professionelle Hilfe zur Verfügung steht,
kann dem Arbeitgeber ggf. die Entscheidung für die Anstellung leichter
machen. In Absprache mit dem behandelnden Arzt können z.B. dessen
Kontaktdaten hinterlegt werden.
„Ich habe mich bei einer Besprechung ‚geoutet‘, das heißt
zumindest gesagt, dass ich bipolare Störungen habe und welche
Auswirkungen das haben kann. Mit einem Kollegen kann ich sehr offen
über das Thema sprechen, den Rest hab ich eher nur grob
informiert.
Seit ich das gemacht habe, fühle ich mich auf der Arbeit viel freier.
Ich hätte vorher nie gedacht, dass mir so viel Verständnis und
Wohlwollen entgegengebracht werden würden.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar-forum.de)
„Es hat lange gedauert, mir einzugestehen, dass ich nicht mehr
in Vollzeit arbeiten kann. Inzwischen bin ich echt froh, dass ich
mich dafür entschieden habe.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar-forum.de)
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Die Erkrankung akzeptieren
Eine ältere Mitpatientin hat mir einmal gesagt, dass sie ihre Medikamente nimmt
wie ein Diabetiker sein Insulin. So sei das eben mit chronisch Kranken.
Zu akzeptieren, dass ich krank bin, zwar behandelbar, aber doch chronisch krank,
war ein weiter Weg für mich. Welcher Mensch hat denn keine Stimmungsschwankungen? Was ist schon normal? Darf man denn niemals traurig sein? So spielte ich
lange herunter, was mit mir geschah. Lange Phasen der Normalität ließen mich
hoffen, dass der Spuk vorbei sei.
Als ich mit den Anforderungen des Studiums nicht mehr zurechtkam, suchte ich
die Studienberatung auf. Besser gesagt: Meine Wohnungsgenossin schleppte mich
förmlich dorthin. Ich hatte großes Glück, dass mich die Studienberaterin direkt
zur psychologischen Beratungsstelle begleitete. Von dort ging es in die nächste
Landesklinik: mein erster Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, meine erste
Auseinandersetzung mit der Diagnose „bipolare Störung“. Meine Probleme als
Krankheit anzusehen hatte auch etwas Entlastendes. Endlich war ich nicht mehr
an allem schuld.
Wichtig zu wissen:
Für eine erfolgreiche Behandlung der bipolaren Störung ist es
unabdingbar, dass sich die Betroffenen mit dem Krankheitsbild und
den Therapiemöglichkeiten auseinandersetzen. Selbst nach Jahren
ohne Beschwerden können neue Episoden auftreten.
„Meine Diagnose ‚Bipolare Störung‘ wurde gestellt, als ich
mein gesamtes Leben bereits ruiniert hatte. Für neun Jahre
Chaos gab es plötzlich eine Erklärung, einen Namen, deshalb konnte
ich die Diagnose sofort annehmen. Was mir noch hilft,
verhältnismäßig unbekümmert mit der Erkrankung zu leben, ist der
Umgang meines Arztes damit.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar-forum.de)
„Am Ende ist man nicht nur ein selbsternannter Experte
auf diesem Gebiet, sondern man sieht die Diagnose auch sehr
viel nüchterner und nimmt sich nicht selbst immer alles sooo übel.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar-forum.de)
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Behandlung: Akutphase
Mein Vater hatte einmal ein Problem mit seinem Fernsehgerät: Er hatte versehentlich die Einstellung gewählt, mit der die Kanäle ständig wechseln, ohne dass
man die Fernbedienung drückt. In der Klinik von der Manie herunterzukommen
ist so, als ob nach ständigem Programmwechsel auf einmal ein langer, ruhiger
Naturfilm läuft. Das ist erholsam – und ein bisschen langweilig.
Aus dem Loch der Depression herauszuklettern dauert bei mir auch mit Medikamenten mindestens drei Wochen. Und dann bin ich immer noch erschöpft von
der „Kletterei ans Tageslicht“. Wenn dann gleich zu viel von mir erwartet wird,
ziehe ich mich unwillkürlich wieder zurück. Besucher sind mir in dieser Phase oft
zu anstrengend.
Wichtig zu wissen:
Die Behandlung verläuft in drei Phasen: Akutphase, Erhaltungsphase
und Rückfallverhütung. Ziel der Akutphase ist, den Betroffenen aus dem
„Hoch“ oder „Tief“ in den normalen Bereich von Stimmungsschwankungen zurückzuholen. Die Akuttherapie kann mehrere Wochen dauern.
Eine Abschirmung von Außenreizen während der Akutphase ergänzt die
medikamentöse Behandlung. Häufig ist eine Psychotherapie in dieser
Phase nicht möglich.
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Erhaltungstherapie
Nicht noch einmal!
Wenn die tiefe Traurigkeit oder die große Maßlosigkeit abgeklungen ist, kommt
eine schwierige Phase. Die Klinik zu verlassen ist, wie wenn ich aus einem schallisolierten Raum auf die Straße trete: Ich muss erst einmal stehen bleiben, mich
orientieren und an den Lärm gewöhnen. Manchmal spüre ich dann, wie Angst und
Mutlosigkeit wieder auftauchen.
Durch Rückfälle habe ich gelernt, dass ich an einer medikamentösen Dauertherapie
nicht vorbeikomme. Das heißt nicht, dass ich damit überhaupt keine Stimmungsschwankungen mehr kenne, aber mit der Zeit sind die Ausschläge geringer geworden, die „Hochs“ sind nicht mehr so hoch und die „Tiefs“ nicht mehr so tief.
Ich weiß, dass ich besonders in dieser Phase engen Kontakt zu meinem Arzt halten
muss. Anpassungen der Tabletten und regelmäßige Gespräche helfen mir, nach
und nach in den Alltag zurückzukehren.
Spaziergänge im Wald mit meinem Mann oder mit meiner Freundin gehören zu
meinem persönlichen Erholungsprogramm. Wenn es passt, setzen wir uns danach
noch zum Tee zusammen und lassen den Nachmittag ausklingen.
Wichtig zu wissen:
Ähnlich wie bei körperlichen Erkrankungen sind
Zeit und Geduld für den
Heilungsprozess erforderlich. Restsymptome können
noch eine gewisse Zeit
nach der Akutphase weiterbestehen. Gerade in der
Erhaltungsphase sollte
nicht zu früh das Risiko
einer erneuten Belastung
eingegangen werden, z.B.
aus Angst vor Arbeitsplatzverlust oder Sorge um den
Haushalt.
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Auch wenn sich „normal“ ein bisschen langweilig anfühlt, ändere ich ohne meinen Arzt nichts mehr an den Tabletten, und mit meiner aktuellen Kombination
habe ich seit drei Jahren keine Krankheitsepisode mehr gehabt. Die verschiedenen
Tabletten wirken nicht bei allen Patienten gleich gut und auch die Nebenwirkungen fallen unterschiedlich aus. Nicht nur ich, auch mein Arzt musste viel Geduld
beweisen, bis wir diese Kombination gefunden haben.
Die Nebenwirkungen, die mir im Alltag zu schaffen machen, sind vor allem Müdigkeit und Gewichtszunahme. Ich bin ganz stolz, dass ich seit über zwei Jahren
mit einer Walking-Gruppe zweimal pro Woche unterwegs bin. Außerdem habe ich
Limonade ganz abgeschafft, ich trinke stattdessen fast nur noch Wasser. Mit meinem Mann probiere ich aus, welche kalorienarmen Rezepte wirklich schmecken …
Wichtig zu wissen:
Zur Rückfallverhütung werden vor allem die sogenannten Stimmungsstabilisierer eingesetzt. Dazu zählen neben Lithium bestimmte Mittel,
die auch gegen Epilepsie wirken (Valproinsäure, Carbamazepin, Lamotrigin), sowie verschiedene atypische Neuroleptika, die seltener die
typischen Nebenwirkungen von Neuroleptika hervorrufen.
Die medikamentöse Rückfallverhütung bedeutet in der Regel eine
Dauertherapie.
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Psychotherapie und Notfallplan
„Stress“ soll neue Episoden auslösen. Gar nicht so leicht ist herauszufinden, was
Stress im Einzelfall bedeutet. Für mich ist Stress z.B., wenn ich an drei Tagen hintereinander aus irgendwelchen Gründen weniger als sieben Stunden Nachtschlaf
bekomme. Selbst Urlaub kann für mich in Stress ausarten, wenn die Anreise zu
lang ist, der Tagesrhythmus sich zu stark verschiebt oder das Abendprogramm zu
laut ist.
Ein wichtiges Ergebnis der Gespräche mit meinem Therapeuten ist mein persönlicher Notfallplan. Ich habe aufgeschrieben, wer über meine Erkrankung und die
„Frühwarnzeichen“ informiert ist. Mein Mann oder meine Freundin sollen mich
darauf ansprechen, wenn sie den Eindruck haben, dass ich in eine neue Episode
rutsche. Wenn sie in Sorge sind, dass ich ihnen entgleite, habe ich ihnen mein
schriftliches Einverständnis erteilt, dass sie mit meinem Arzt Kontakt aufnehmen.
Wichtig zu wissen:
Betroffene und Angehörige müssen Frühwarnzeichen und Symptome
akuter Episoden kennen und lernen, auf eine beginnende Symptomatik
richtig zu reagieren.
Nein, ich lege mich nicht auf eine Couch und erzähle meinem Doktor, was mir in
den Sinn kommt. Wir setzen uns zu längeren Gesprächen auf zwei bequeme Sessel, die sich nicht genau gegenüberstehen, so dass ich ihn nicht immer anschauen
muss, während ich rede.
Meine Krankheit kennenzulernen war das Wichtigste für mich in den ersten Gesprächen. Dazu hat mir mein Therapeut viele Informationen gegeben. Die nächste
Stufe bestand darin, wahrzunehmen, wie sich eine Episode bei mir ankündigt. Zu
erkennen, was dazu beiträgt, eine Episode auszulösen, oder was hilft, ein Wiederaufflackern zu vermeiden, ist dann sozusagen die hohe Kunst.
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Ein schriftlicher Notfallplan sollte zumindest Vertrauenspersonen und
den behandelnden Arzt benennen.
Als psychotherapeutische Verfahren werden Verhaltenstherapie, Familientherapie und auch tiefenpsychologische Verfahren erfolgreich
eingesetzt.
„Vom ‚Opfer‘ zum ‚Moderator‘ des eigenen Lebenswegs werden“
(Kommentar eines Betroffenen, zitiert auf www.psychose.de)
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Selbsthilfe mit der Gruppe
Eine psychoedukative Gruppe, in der ein Therapeut mit mehreren Betroffenen
arbeitet, gibt es in meiner Region leider nicht, aber eine Selbsthilfegruppe. Ab und
zu laden wir uns zu den Abenden Referenten ein. Neulich haben wir gemeinsam
den Film „Tanz mit dem Einhorn“ angeschaut, von dem einer aus der Gruppe einen
begeisterten Bericht gelesen hatte.
Die Treffen beginnen und enden üblicherweise mit einer „Blitzlichtrunde“, in der
jeder sagen kann, wie es ihm gerade geht.
Spannend finde ich immer wieder, wie die verschiedenen Teilnehmer ihre
Stimmung beobachten. Da gibt es diejenigen, die standardisierte Fragebögen
konsequent jeden Abend ausfüllen, und andere, die sogar ihr persönliches Stimmungsbarometer entwickelt haben. Wenn wir uns in der Runde darüber austauschen, was einem Einzelnen Stress macht, lerne ich, mich selbst noch genauer zu
beobachten.
Wir sind eine Gruppe nur für Betroffene, andere Gruppen stehen auch für Angehörige offen. Verschwiegenheit nach außen ist verpflichtend.
Wichtig zu wissen:
„Ein Tipp, wenn du dich entschließt, eine Selbsthilfegruppe
zu besuchen: Geh öfter hin, ehe du entscheidest, ob das was
für dich ist oder nicht. Jede Gruppe läuft anders, je nach
‚Aggregatzustand‘ der Leute und wer gerade da ist.
Nicht alle gehen jedes Mal hin.“
(Nach dem Beitrag eines Betroffenen auf www.bipolar-forum.de)
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Selbsthilfegruppen dienen dem Erfahrungsaustausch und bieten
sowohl praktische Lebenshilfe als auch emotionale Unterstützung.
Adressen von Selbsthilfegruppen finden sich z.B. auf der Internetseite
der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS).
Ein Stimmungstagebuch kann helfen, Anzeichen einer beginnenden
Phase zu erkennen. Als Nachteil empfinden manche Patienten, dass
sie durch die tägliche Fahndung nach depressiven oder manischen
Anzeichen täglich mit ihrer Erkrankung konfrontiert sind. Es gibt Hinweise, dass bei Patienten, die ein Stimmungstagebuch führen, die
Anzahl der bipolaren Episoden zurückgeht. Neben Stimmung, Antrieb,
Konzentration und Schlafrhythmus ist es sinnvoll, Medikamente und
wichtige Ereignisse des Tages zu notieren.
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Auf dem Weg
zur natürlichen Schönheit
Die Ratgeber scheinen voneinander abzuschreiben. Dieselben Tipps, die für uns
Bipolare gelten, nämlich gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung, ausreichend
Schlaf, möglichst kein Alkohol, finden sich auch in Empfehlungen für die natürliche
Schönheit oder für Herzkranke … Umgekehrt heißt das wohl auch, dass wir mit
vielen anderen in einem Boot sitzen, wenn wir uns mit Ernährungsvorschlägen
befassen, bei sportlichen Aktivitäten abmühen und als Langweiler gelten, weil wir
bei Alkohol abwinken und früh ins Bett gehen.
Vielleicht wird es ganz nebenbei doch noch etwas mit meiner natürlichen
Schönheit!
„Was bedeutet natürliche Schönheit? (...) Eine schöne Haut
benötigt eine gesunde Ernährungsweise, die reich an Gemüse,
Obst, also an Vitaminen und Mineralstoffen ist.
Gleichzeitig braucht unsere Haut eine gesunde Luft, Schlaf,
aber auch körperliche Aktivität und Entspannung.“
(Gefunden auf www.APShop.ch)
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Lesehinweise
Internetadressen:
www.bipolar-forum.de
www.dgbs.de
www.psychose.de
Bücher für Betroffene und Angehörige:
Thomas Bock:
Achterbahn der Gefühle: Mit Manie und Depression leben lernen,
Balance-Verlag, Bonn (2007)
Peter Bräunig:
Leben mit bipolaren Störungen,
Trias-Verlag,
Stuttgart (2009)
Christian Simhandl, Klaudia Mitterwachauer:
Depression und Manie erkennen und erfolgreich behandeln,
Springer-Verlag, Wien (2007)
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Für Ihre Notizen
Mein persönlicher Notfallplan
In Ihrem persönlichen Notfallplan legen Sie gemeinsam mit Ihrem Arzt oder
Psychotherapeuten fest, welche Maßnahmen im Akutfall für Sie wichtig sind.
Die vorgesehenen Schritte sollen aufeinander aufbauen und charakterisieren einen
zunehmenden Schweregrad der Situation. Schritt 1 könnte daher die Rücksprache
mit einem Freund oder Angehörigen darstellen, Schritt 7 der Anruf beim behandelnden Arzt oder die Fahrt zur Notaufnahme in die Klinik. Fassen Sie Ihren Notfallplan so konkret wie möglich ab und bestimmen Sie dabei auch die Rolle Ihres
Partners und der Familie. Nicht vergessen: Legen Sie fest, wo der Plan im Notfall
zu finden ist.
Was tue ich, wenn es kritisch wird?
1.
2.
3.
4.
5.
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6.
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Notfallplan
Für Ihre Notizen
7. Fachliche Hilfe aufsuchen:
Arzt
Name:
Adresse:
Telefonnummer:
Klinik
Name:
Adresse:
Telefonnummer:
Psychotherapeut
Name:
Adresse:
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Modifiziert nach Hautzinger M, Meyer T: Bipolar affektive Störungen.
Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe Verlag (2011)
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Telefonnummer:
31
Arztstempel
Ein Service von:
Lundbeck GmbH
Ericusspitze 2
20457 Hamburg
Tel.: 0 40/2 36 49-0
Fax: 0 40/2 36 49-255
[email protected]
www.lundbeck.de
903550 12/2012
Wir wünschen gute Besserung!
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