281 Dokumentation Kontroversen über das Buch »Die männliche Herrschaft« von Pierre Bourdieu mit Michelle Perrot, Yves Sintomer, Beate Krais und einer Antwort von Pierre Bourdieu (aus: Travail, Genre et Sociétés, N1/1999) Im Jahre 1998 erschien in Frankreich das Buch »La Domination masculine« (»Die männliche Herrschaft«) von Pierre Bourdieu. Es handelt sich dabei um die überarbeitete und stark erweiterte Fassung eines gleichnamigen, in der Zeitschrift »Actes de la recherche en sciences sociales« Nr. 84/1990 erschienen Artikels, die Pierre Bourdieu aufgrund der vielfachen Kritiken, Einwände, Fragen, u. a. auch nach Erscheinen der deutschen Version dieses Artikels 1997 (in Irene Dölling/ Beate Krais (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/Main), angefertigt hatte. Pierre Bourdieus Sicht der männlichen Herrschaft hat in Frankreich heftige R e aktionen ausgelöst, die sich zwischen Begeisterung und Verurteilung, voller Zustimmung und totaler Ablehnung bewegen. Da es sich dabei aber zum großen Teil um sehr plakative, an Medienwirkung orientierte Reaktionen gehandelt hat, hat die französische Zeitschrift »Travail, Genre et Sociétés« Wissenschaftler/Innen verschiedenster Fachgebiete und theoretischer Ausrichtung gebeten, »La domination masculine« kritisch zu lesen und zu diskutieren. »Travail, Genre et Sociétés« ist eine seit 1999 in Frankreich erscheinende feministische Zeitschrift mit dem Schwerpunkt Arbeit, Arbeitsmarkt und Geschlechterverhältnisse, herausgegeben von Margaret Maruani, mit der sich die Forschungsgruppe Mage (»Marché du travail et genre« — Arbeitsmarkt und Geschlecht) in die feministische und gesellschaftskritische Diskussion einschaltet bzw. dieser ein Diskussionsforum bietet. »Travail, Genre et Sociétés« hat dankenswerterweise die Diskussion über Bourdieus Buch »Die männliche Herrschaft« den Feministischen Studien zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Sie soll hier mit einigen Kürzungen (wegen Platzmangels) dokumentiert werden, um den Leserinnen der Feministischen Studien einen Einblick in die in Frankreich aktuell geführten feministischen Debatten zu geben. Für die deutschen Leserinnen sind die Debatten von besonderem Interesse, weil nach jahrelangen Ankündigungen durch den Suhrkamp-Verlag die deutsche Fassung des Buches nun endlich im Juni 2002 erscheinen soll. Traurig, dass der Autor selbst es nicht mehr erleben kann; ihm war daran sehr gelegen. Pierre Bourdieu ist im Januar dieses Jahres gestorben, viel zu früh für all das, was er noch tun wollte und was wir von ihm an Anregungen und Anstößen noch erwarten konnten. Wir trauern um einen großen Soziologen, der sich als einer der wenigen männlichen Wissenschaftler mit der Frage patriarchaler Herrschaft auseinander gesetzt hat und theoretisch wie praktisch jegliche Form von Herrschaft, als deren wichtigste neben der Klassenherrschaft er die männliche Herrschaft auffasste, kritisiert hat. Margareta Steinrücke und Mechthild im Juni Feministische Studien (© Lucius & Lucius, Stuttgart) 2 / 0 2 Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM Veil, 2002 282 Michelle Perrot Das Buch von Pierre Bourdieu ist aus zwei Gründen interessant. Zunächst einmal durch die Tatsache seiner Produktion: dass sich ein Soziologe von seiner Statur die Mühe gemacht hat, ein Werk über die männliche Herrschaft zu verfassen — eine Thematik, die er zwar angetippt, aber niemals ins Zentrum seiner Untersuchungen gestellt hatte —, lässt auf die zunehmende Bedeutung dieser Problematik schließen (...). Ferner schließlich wegen seines Erfolges, ein Beleg dafür, dass es eine Leserschaft gibt, die dieser verwickelten Situation gegenüber aufgeschlossen ist. Sicherlich Frauen, aber sie sind das schon lange; aber auch Männer, und das ist neu. Man kann ganz generell vermuten, dass die Männlichkeit mehr und mehr in Frage gestellt wird. Bei einem Kolloquium über »Eine Bilanz der Geschichte der Frauen« in R o u e n ging es vor kurzem in einer Sitzung auch um »Eine Geschichte der Männlichkeit« 1 . Auch wenn es in Frankreich nichts gibt, was mit den amerikanischen »gender studies« vergleichbar wäre, die mehr mit dem Geschlechterunterschied als nur mit der Geschichte der Frauen beschäftigt sind, gibt es doch zarte Ansätze in diese Richtung. Ein Buch also, das einen Aufbruch ankündigt, ein wenig, wie das zu anderen Zeiten bei dem Buch »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir der Fall war, dem unerwarteten Bestseller und Ausdruck einer Erschütterung. Aber auch mit bemerkenswerten Unterschieden, nicht nur, was den Inhalt betrifft (in »Das andere Geschlecht« sah man eine grundlegende Neuerung), sondern auch im Hinblick auf die hervorgerufenen Reaktionen. In »Das andere Ge- Dokumentation schlecht« gab es ein Element von Skandal: eine Frau, die vom Geschlecht und der Sexualität der Frauen spricht; das war es, was erschüttert, befreit oder entrüstet hat. Die Dekonstruktion der Weiblichkeit als natürlicher Kategorie wurde weitaus weniger bemerkt. Im Zentrum des Buches von Pierre Bourdieu steht, mit völliger Nüchternheit, mehr die Frage der Macht als die Sexualität. Sein Erfolg belegt auf gewisse Weise die aufgestellte These von der männlichen Herrschaft. Natürlich spielt dabei das »symbolische Kapital« des Autors eine Rolle und dessen geschlechtsunabhängig funktionierendes persönliches Talent. Aber auch seine hierarchische und männliche Position, die ihm eine besondere Aufmerksamkeit sichert. Seit fünfundzwanzig Jahren mühen sich die Frauen, von den Frauen und vom Geschlecht zu sprechen; sie tragen Artikel und Bücher zusammen, nehmen an Kolloquien teil, verfeinern ihre Konzepte, konstruieren ein Wissensgebiet, ein »Feld« zweifellos, doch oft umgeben von großer Gleichgültigkeit, insbesondere von Seiten der Männer, die ihre unbedeutenden Vorschläge überhören oder die Schriften der Frauen nicht lesen, die alle den Stempel der Belanglosigkeit tragen. Eine Auswirkung des Geschlechts, die Bourdieu unterstreicht: »... die Frauen haben gemeinsam, was auch immer ihre Position im sozialen R a u m ist, von den Männern durch einen negativen symbolischen Faktor getrennt zu sein, der wie die Hautfarbe für die Schwarzen oder jedes andere Zeichen der Zugehörigkeit zu einer stigmatisierten Gruppe, alles, was sie sind und alles, was sie tun, mit einem Minuszeichen versieht« (100). Man könnte es nicht besser sagen. Da die Dinge so sind, wie sie nun mal sind, nämlich geschlechtlich determiniert, Anne-Marie Sohn und Francois Thélamon, »L'histoire sans les femmes est-elle possible?«, Kolloquium in Rouen, November 1997, Paris, Perrin, 1998. Der zeitgenössische Forschungsstand wird hier sehr gut dargestellt, dazu auch: Françoise Thébaud, »Ecrire l'histoire des femmes«, Presses de l'ENS-Fontenay, 1998. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 283 Dokumentation ist es sehr erfreulich, dass eine mit Autorität versehene Aussage dieser grundsätzlichen Überlegung Legitimität verleiht, die die gegenwärtige Debatte über die Gleichstellung auf manchmal konfuse Weise wieder aufwirft. Die Frage nach der männlichen Herrschaft hat sich Pierre Bourdieu schon seit langem gestellt, aber es ist das erste Mal, dass er sie frontal angeht: »Das ist kein Zufall«, schreibt Louis Pinto, der aufmerksame Interpret des Denkens des Soziologen 2 , die Bedingungen waren noch nicht alle gegeben. »Wenn ich mich nach langem Zögern und mit größter Bedachtsamkeit schließlich doch auf ein äußerst schwieriges und heute fast gänzlich von Frauen gehaltenes Gebiet gewagt habe«, schreibt Pierre Bourdieu, »dann deshalb, weil ich den Eindruck hatte, dass die Beziehung der Distanz in der Sympathie, in der ich mich befand, mir gestützt auf das durch die immense Arbeit und von der feministischen Bewegung angeregte bereits Erreichte, zusammen mit meinen eigenen Forschungsergebnissen, die Möglichkeit einer Analyse bot, (...) wo sowohl der Forschung über die Lage der Frau (...) wie auch dem Handeln, wie sie verändert werden könnte, eine andere Richtung gegeben werden könnte« (124). Die Zeit war also gekommen, sich an diese besonders vollendete Form von Herrschaft und Unterwerfung heranzuwagen, die ihn schon immer beschäftigt hatte. »Ich habe in der männlichen Herrschaft und in der Art und Weise, wie sie aufgezwungen und erduldet wird, immer das Beispiel schlechthin für diese paradoxe Unterwerfung gesehen, die eine Folge dessen ist, was ich die symbolische Gewalt nenne« (7). Pierre Bourdieu nimmt in diesem Buch einige der Entwicklungsstufen seiner Forschung wieder auf. Er beginnt mit 2 seiner ersten ethnologischen Untersuchung der kabylischen Gesellschaft, einem typischen Beispiel für eine Gesellschaft, die entsprechend der männlichen Herrschaft organisiert ist, die als völlig natürlich vorgestellt wird, die so selbstverständlich ist, dass sie jeder Begründung enthoben und Grundlage für die Arbeitsteilung ist, wo für die Verteilung der Rollen, der Aufgaben, der Räume und der Zeit, entsprechend einer Gesamtheit relevanter Gegensätze, das Männliche und das Weibliche für oben/unten, trocken/ feucht, draußen/drinnen, Geweihtes/Natur etc. stehen. »Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine, die die männliche Herrschaft ratifiziert, auf die sie sich gründet«(15). In seinen verschiedenen Untersuchungen zur schulischen und sozialen Reproduktion behandelt Pierre Bourdieu den Geschlechterunterschied weitaus zurückhaltender. Die Frauen sind dort zwar spezifische Akteure, »privilegierte Opfer der symbolischen Herrschaft, aber auch die besonders geeigneten Werkzeuge, um deren Effekte in Richtung der beherrschten Gruppen zu übertragen« (109). Man müsste zum Beispiel »Die feinen Unterschiede« (1982) mit der Messlatte der männlichen Herrschaft wieder lesen. Mir scheint, dass sie viel eher sozial als umgekehrt determiniert sind. So kann man lesen: »Die geschlechtsspezifischen Merkmale sind ebenso wenig von den klassenspezifischen zu isolieren wie das Gelbe einer Zitrone von ihrem sauren Geschmack: Eine Klasse definiert sich im Wesentlichen auch durch Stellung und Wert, welche sie den beiden Geschlechtern und deren gesellschaftlich ausgebildeten Einstellungen einräumt. Darin liegt begründet, warum es ebenso viele Spielarten der Verwirklichung von Weiblichkeit Louis Pinto, »Pierre Bourdieu et la théorie du monde social«, Albin Michel, Paris 1998, S. 130. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 284 gibt wie Klassen und Klassenfraktionen ...« (185). Besonders die Kleinbürgerinnen wecken das Interesse des Soziologen. Seit dem Beginn der neunziger Jahre wendet sich das Nachdenken von Pierre Bourdieu zunehmend der »männlichen Herrschaft« zu, mit dem unter diesem T i tel in den Actes de la recherche en sciences sociales (Sept. 1990) erschienenen Text, der vor allem auf der schönen Lektüre von »Die Fahrt zum Leuchturm« basiert, wo unter dem Blick von Mrs. Ramsay/Virginia Woolf der jämmerliche und pathetische Mr. Ramsay das Bild einer überzeichneten Haltung von Männlichkeit abgibt. Dokumentation was aktive Männer und passive Frauen unterscheidet, den Gegensatz zwischen der weiblichen Tugend (Schamgefühl, Abwarten, Unterwerfung ...) und der Ehre, die zur Gewalt fähig ist, dem Zeichen einer Männlichkeit, die wie eine Falle zuschnappen kann (ein Schema, das heute von kabylischen Ethnologinnen bestritten oder nuanciert wird, die fur das transformatorische Potenzial der weiblichen Kultur empfänglich sind). Es handelt sich also um keine substantiell neue Untersuchung, aber eine Reflexion voller Bezüge auf amerikanische Quellen (Mac Kinnon, Henley, Barkty...), in geringerem Maße auf französische Arbeiten, mit eigenartigen Lücken, vor allem in Bezug auf unsere Arbeiten, die wie ein Hintergrund in dem Text durchgängig enthalten sind, ohne wirklich miteinbezogen zu sein. Denn das Wesendiche bleibt die Neuformulierung der Fragestellung, auf die Pierre Bourdieu seine Leseraster anwendet, die er woanders entwickelt hat: Das Geschlecht wird unter dem Blickwinkel des Habitus, der Produktion symbolischer Güter und symbolischer Gewalt und der Zustimmung der Beherrschten von A bis Ζ neu betrachtet und neu gelesen. Und tatsächlich enthält die männliche Herrschaft alle Probleme, die den Soziologen der Reproduktion interessieren, so dass man sich manchmal sogar fragen kann, ob sie nicht die Matrix seines Denkens gewesen ist. Dieses Wertesystem überträgt sich durch »eine Transformierungsarbeit der Körper, die zugleich geschlechtlich verschieden und geschlechtlich unterscheidend verläuft«, Frucht einer langen »Dressur«, die mit der Geburt einsetzt, durch die Primärsozialisation eingeprägt wird; in Bildern, Worten, Körperhaltungen, in sozialen und familialen Riten, in den kleinsten Gesten, in der alltäglichen Umgebung, in den räumlichen Dispositionen, in den Bewegungsmöglichkeiten, etc. eingeschrieben, ein Leben lang vermittelt über ein Ensemble von Mechanismen, die es den Frauen so schwer machen, in der Öffentlichkeit zu reden, darauf reduziert, dort nur als stumme Erscheinungen vorzukommen. Unzählige Taktiken, vom ritterlichen Schutzverhalten über die Zwänge der Mode bis zu den Befehlen der Kosmetik, werden entwickelt, um die Frauen mit ihrer Zustimmung zu Objekten zu machen. Denn diese Zustimmung existiert, ob erzwungen oder nicht (bei diesem Punkt sollte man die Thesen von Jeanne Favret-Saada und Nicole-Claude Mathieu diskutieren) und die Frauen beteiligen sich aktiv an ihrer eigenen Reproduktion als Objekte. Die männliche Herrschaft ist eine Grundstruktur, die sich der Veränderung widersetzt. Weiblichkeit und Männlichkeit sind keine natürlichen Kategorien, sondern soziale Produktionen. Die kabylische Gesellschaft, die als Beobachtungsgebiet gewählt wurde, weist all das auf, Diese Zustimmung operiert wie ein »historisches Unbewusstes«, das sich dem individuellen Willen und Bewusstsein entzieht, weil es so tief in die Körper und das hinterlassene Erbe eingedrungen ist, dass der Gedanke, man könne es per Dekret oder Willensakt ändern, ganz ver- Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM Dokumentation 285 geblich ist; wie ein Bleigewicht liegt es wände auf dem Unterschied der Geschlechter schmack auf dieses B u c h liefern. »Wenn formuliert, die einen Vorge- - und auf deren Hierarchie — und verhüllt man »l'Histoire des femmes« liest, muss ihn mit einem Mantel des Schweigens man sich fragen, ob die Besonderheit der und verleiht ihm den Anschein natürli- Geschichte der Frauen nicht darin b e - cher Evidenz. N a c h Pierre Bourdieu ist es steht, aus der Geschichte herauszufallen«. das, woran man in erster Linie denken U n d können die Frauen diese Geschichts- muss, an diese »Anamnese der verborge- arbeit machen? »Die weibliche Sichtweise nen Konstanten« und deren Übertragung, ist eine beherrschte Sichtweise, die sich und an deren außerordentliche Zähigkeit. selbst nicht sieht. (...) Haben die Frauen, Am schwierigsten zu verstehen ist, die »l'Histoire des femmes« schreiben, Strukturen nicht auf die Frauen, deren Geschichte sie sich genau an diesem Punkt einer Ände- schreiben (und a u f sich selbst), den herr- rung widersetzen. Pierre Bourdieu betont schenden Blickwinkel angelegt und sich warum diese fundamentalen »die außerordentliche Geschlechtsstrukturen ökonomischen Autonomie der dazu verurteilt, das Wesendiche gegenüber den beiseite zu lassen, was die Sichtweise der Repro- Frauen ausmacht, die kleinen Aspekte der Strukturen, des dessen duktionsmodus gegenüber dem Produk- Geschichte, die Geschichte im Spiegel- tionsmodus« und stimmt dabei mit den bild, das Öffentliche vom Privaten, vom Analysen von Françoise Héritier überein Häuslichen her gesehen? D i e Historike- (ohne sie im übrigen zu zitieren) 3 . (...) rin, die diese Geschichtsarbeit »Indem die möchte, müsste sich explizit vornehmen, transhistorischen Invarianten der Bezie- das Unbewusste zu Tage zu fördern, das die Geschichtswissenschaft machen hung zwischen den »Geschlechtern« zu der Frauen, deren Geschichte sie schreibt, Tage fördert, zwingt sie sich dazu, die ge- wie auch ihr eigenes« 4 . schichtliche Arbeit der Enthistorisierung Es ist wahrlich nicht einfach, Histori- zum Gegenstand zu machen, die j e n e kerin oder Soziologin oder Anthropolo- kontinuierlich produziert und reprodu- gin, oder ganz einfach eine Frau zu sein. ziert«. Das wäre insgesamt für die G e - Das ist es auch, was in diesem B u c h b e - schichte der Frauen eine anspruchsvollere hauptet wird und in diesem Sinne muss Agenda als die ziemlich fruchdose B e - man auch dankbar dafür sein, dass es mit schreibung der der ganzen Kraft einer männlichen R e d e Pseudo-Veränderungen, die sie vorgeb- gesagt wird. Heutzutage, w o die Diskus- lich sionen über die Gleichstellung einen es- ihrer erreicht Kämpfe haben. und Pierre Bourdieu spricht von der »Blindheit«, die »der legi- sentialistischen time Stolz einer feministischen M a c h t zurückkehren sehen (»Es gibt zwei Bewe- Feminismus wieder mit gung« mit sich bringt, die den Akzent auf Geschlechter« ...), liefert Pierre Bourdieu, die Fortschritte setzen möchte, die auf- der im Ü b r i g e n dieser Forderung sehr re- grund dieser Kämpfe worden serviert gegenüber steht, in der er vor al- sind« (89). Vor einigen Jahren (im N o - lem den Wunsch nach Aneignung eines vember 1 9 9 2 ) zu einer Diskussion über männlichen Privilegs erkennt (aber das »L'Histoire des femmes en Occident« auf- gehört woanders hin) 5 , Argumente gefordert, eine Kritik des Geschlechternaturalismus. 3 4 5 hatte Pierre erreicht Bourdieu Ein- fur Françoise Héritier, »Masculin/Féminin. La pensée de la différence«, Odile Jacob, Paris, 1996. Pierre Bourdieu, »Remarques sur l'Histoire des femmes«, in Georges Duby, Michelle Perrot, »Femmes et histoire«, colloque Sorbonne, November 1992, Pion, Paris 1993, S. 6 3 - 6 7 . Pierre Bourdieu ruft als Fazit dieses Buches die feministische Bewegung dazu auf, »sich nicht in Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 286 Man kann aber trotzdem bei der Lektüre ein bestimmtes, wenn nicht gar ein tiefgehendes Gefühl des Unbehagens empfinden. Es rührt daher, dass eine Methode, die mit Gewalt das Gleiche sucht, es notwendigerweise immer findet und soweit geht, selbst die Möglichkeit eines Entrinnens — aus einer Geschichte - vor allem für die Frauen aufgrund ihrer Beherrschtheit zu verneinen. Es resultiert aus einem zwanghaft unerbittlichen klösterlichen Denken, dessen Strenge darin besteht, dass die in Frage stehenden Sachverhalte nach einem beengenden Schema bewertet werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es interessant, die beiden Großmeister des zeitgenössischen Denkens miteinander zu vergleichen, Michel Foucault (der oft wegen seiner ungefähren Annäherungen zitiert und kritisiert worden ist) und Pierre Bourdieu. Der erste, von dem bekannt ist, wie sehr er die Position des »panoptischen« Intellektuellen abgelehnt hat, bot seinen Lesern eine »Werkzeugkiste« für ihre freien Forschungen an. Pierre Bourdieu, der in der Nachfolge von Saint-Simon und Durkheim eher ein Organisator ist, bietet ihnen eine Maschine mit Gebrauchsanleitung an, bei der man sich fragt, ob sie nicht auf eine unausweichliche Erklärung hin programmiert worden ist. Das Unbehagen wird dann aufgrund des Fehlens einer Perspektive noch stärker, aufgrund einer Welt, deren Geschichtlichkeit paradoxerweise die Geschichte als offenen Handlungszusammenhang negiert, die aus Ereignissen, aus Zufällen wie aus Notwendigkeiten besteht, aus Eingriffen, Interaktionen und Spielen um das Mögliche. Die Frauen Dokumentation hatten geglaubt, in diesem Handlungszusammenhang mitwirken zu können, sowohl auf der Ebene der Erzählung (die Möglichkeit einer Geschichte der Frauen), wie auf der Ebene des Schicksals (die Möglichkeit eines Eingriffs der Frauen in den Lauf der Dinge). Nun werden sie wieder an die Ordnung des Realen erinnert: die ebenso unzerstörbare wie unveränderliche männliche Herrschaft. Eine harte Lektion. Ives Sin tomer Man muss es gleich zu Beginn sagen: Es ist grundsätzlich positiv, wenn ein wichtiger Theoretiker wie Pierre Bourdieu der männlichen Herrschaft eine Untersuchung dieser Art widmet. Die Tatsache ist selten genug, um besonders vermerkt zu werden: Sehr wenige der »großen« männlichen Philosophen oder Soziologen haben die Thematik in ihrer ganzen Breite angepackt. Im gegenwärtigen französischen Kontext wird die Bekanntheit von Bourdieu für eine große Verbreitung dieses Buches sorgen. Dies wird bei Lesern, die mit den Forschungen über die Geschlechterbeziehungen weniger vertraut sind, dafür sorgen, dass sie nicht nur die Thesen von Bourdieu kennenlernen, sondern auch eine beachtliche Literatur zu diesem Thema. Was dazu führen könnte, dass der gegenwärtige akademische und verlegerische Rückstand bei einer fundamentalen sozialen Frage in Frankreich geringer wird: Dass die gegenwärtigen Gesellschaften, wie fast alle bekannten Gesellschaften, von Herrschaftsbeziehungen durchzogen sind; dass deren ur- sogenannten feministischen Formen politischer K ä m p f e einschließen zu lassen, wie einer Forderung nach Gleichstellung von Frauen und Männern in den politischen Instanzen«, denn »diese K ä m p f e laufen Gefahr, die Effekte einer anderen Form fiktiver Universalisierung zu verdoppeln, weil dadurch zuerst Frauen aus den gleichen R e g i o n e n des sozialen R a u m s bevorzugt werden«. Früher hatte man denselben Einwand bei der Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM Dokumentation sprüngliche die männliche Herrschaft ist und dass diese genauso wenig »natürlich« ist wie alle anderen... Bourdieu beschreibt, dass die männliche Herrschaft die Herrschaft par excellence ist. Ihr massives Gepräge und ihre Jahrtausende alte Reproduktion in Gesellschaften und Zivilisationen, die sich im Übrigen total voneinander unterscheiden, scheinen ihr eine anthropologische Dimension zu verleihen, sie sogar zu einer natürlichen Gegebenheit zu machen. Die geschlechtliche Verteilung der Rollen wird dann als die normale Verlängerung biologischer Gegebenheiten verstanden. Bourdieu weist eindringlich darauf hin, dass die Weiblichkeit, die Männlichkeit und ihre Beziehungen zueinander soziale Konstruktionen sind, und zwar soziale Konstruktionen, bei denen sich die einen strukturell im Vorteil gegenüber den anderen befinden. Diese Asymmetrie wird über bewusste und unbewusste Verhaltensweisen der Individuen reproduziert, aber auch dank dem aktiven Beitrag der wichtigsten sozialen Institutionen: Familie, Staat, Schule, Kirchen... Und in diesem weiten Sinn handelt es sich um Herrschaft. Weil sie ein extremes Beispiel für die Naturalisierung der Herrschaft bildet, ist die Beziehung Männer/ Frauen ein Paradigma, das es erlaubt, einen fundamentalen Aspekt jeder Herrschaft zu begreifen: Der kontingente Charakter der strukturell asymmetrischen Beziehungen verschwindet, sobald er spontan als selbstverständlich aufgefasst wird, und die soziale Beziehung bildet sich als eine »zweite Natur« aus. Die Sozialwissenschaften müssen diese »historische Arbeit der Enthistorisierung« historisieren, müssen analysieren, wie die Geschlechterbeziehungen zur Verinnerlichung von Verhaltensund Wahrnehmungsmodellen fuhren, die durch und durch sozial sind. Die englische Bezeichnung genders, »die sozialen 287 Geschlechter« (frz. genres), unterstreicht dort explizit diese soziale Dimension, wo der Ausdruck »die biologischen Geschlechter« (frz. sexes) sie implizit zu naturalisieren versucht. Einer der Verdienste Bourdieu s besteht darin, dass er nach anderen, aber auf eine besonders kohärente und systematische Art und Weise, aufzuzeigen vermag, dass auch die physischsten und intimsten Aspekte dieser Beziehungen davon betroffen sind. Die unterschiedlichen körperlichen Verhaltensweisen von Männern und Frauen, die der Grund für die soziale Rollendifferenzierung der beiden Geschlechter zu sein scheinen, sind nämlich weitgehend deren Produkt, ebenso wie die Formen, die Begehren und Verfuhrung annehmen können. Die Herrschaft reproduziert sich umso stärker, j e mehr sie seelisch und körperlich von den Herrschenden und den Beherrschten (bei der Gelegenheit sind es beherrschte Frauen) verinnerlicht ist. Dass die männliche Herrschaft eine derartige Beständigkeit haben kann, liegt daran, dass die Interiorisierung hier den innersten Kern der Identität der Individuen betrifft, in einer Beziehung, die bei der Geburt beginnt und sich kontinuierlich während des ganzen Lebens fortsetzt. Die Formen, die Männlichkeit und Weiblichkeit annehmen können, variieren j e nach Ort und Zeit, aber die ungleiche Dichotomie zwischen diesen beiden Polen ist schon fast übergeschichtlich. Diese Dichotomie bildet darüber hinaus die Matrix einer Kette struktureller Gegensätze, die sie verdoppeln und verstärken, wodurch die einzigartige Macht der männlichen Herrschaft verständlich wird. Solche strukturellen Gegensätze werden in ihrer kanonischen Form in der kabylischen Gesellschaft sichtbar, weswegen der ethnologische Umweg gemacht wurde. Aber dieser ermöglicht auch zu verstehen, wie sie gleichermaßen in den gegenwärtigen wesdi- Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 288 chen Gesellschaften vorzufinden sind, in einer gebrochenen Form, die es manchmal fast unmöglich macht, sie zu erkennen. Hinter den offensichtlichen Veränderungen in der Situation der Frauen und in den Beziehungen der Geschlechter verbergen sich tiefgehende Kontinuitäten: so zum Beispiel, wenn der wachsende Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt von einer relativen Entwertung der Beschäftigungen begleitet ist, die sich feminisieren, oder wenn die berufliche Position von Frauen im Hinblick auf Männer mit der gleichen Kompetenz systematisch unterbewertet wird. Doch insgesamt ist »Die männliche Herrschaft« kein Hauptwerk von Bourdieu. Der Soziologe legt hier ganz systematisch bei einem Objekt, das er bis dahin lediglich in zersplitterter Form untersucht hatte, einen vorkonstruierten theoretischen Rahmen an, ohne diesen wirklich auf die Probe zu stellen. (...) Die Schwächen des Werkes rühren teilweise daher und sind unterschiedlicher Art. Die Erste beruht auf dem zu selektiven Bezug auf existierende Untersuchungen über die Geschlechterbeziehungen. Der Bezug auf die angelsächsische feministische Literatur ist ziemlich fragmentarisch, da ein Großteil der wichtigsten Arbeiten im Dunkeln bleibt. Kein Wort über die sozialpsychologischen Arbeiten von Carol Gilligan über die différentielle Konstruktion der Beziehung zur Welt und zu ethischen Werten bei Jungen und Mädchen (die das empirische Substrat geliefert hat, auf dem eine Ethik der Pflege und Fürsorge — care - im Gegensatz zu den klas- Dokumentation sischen rationalistischen Ethiken aufbaut) 6 . Wenig über die Analysen, die die Wandlungen der Beziehungen zum Körper zum Gegenstand haben, vor allem unter dem Einfluss der Entwicklung bei der Empfängnisverhütung 7 . Nichts oder fast nichts über die zahlreichen Arbeiten zur »Politik der Lebensstile« (life politics) und zur Politik der »Identität«, wo es vor allem um eine Hinterfragung der herrschenden Hierarchisierung der Lebensweisen geht und wo die Skala von essentialistischen Perspektiven über eine »modernistische« Optik bis zu »dekonstruktivistischen« Thesen reicht 8 . Kaum Bezüge (auch keine kritischen) auf feministische Philosophinnen: nichts über den mitderweile klassischen Zugang von Carol Pateman zur Dichotomie öffentlich/privat 9 ; en passant eine Bemerkung zu Judith Butler; einige Verweise auf bereits ältere Arbeiten von Catherine MacKinnon, aber nichts über ihre neueren Werke oder über ihren Kreuzzug für ein Verbot der Pornographie, die als ein Prüfstein der symbolischen Herrschaft der Männer über die Frauen betrachtet wird 10 - obwohl es das Thema Bourdieu ermöglicht hätte, seine Thesen anhand eines schwierigen, paradigmatischen und in den USA heftig diskutierten Sujets zu präzisieren. Bourdieu stützt sich darüber hinaus hauptsächlich auf soziologische und anthropologische Arbeiten; er nennt weitaus ausschnitthafter die historischen Arbeiten und seine Bezüge auf philosophische oder psychoanalytische Ausarbeitungen sind mehr als knapp. Dabei wurde besonders die Gelegenheit verpasst, die Habitustheo- 6 Carol Gilligan, »In a different voice: Psychological Theory and Women's Development«, Cambridge Mass., Harvard University Press, 1982. 7 Z. B. Linda Gordon, »Women's Body, Women's Right,« Birth Control in America, Grossman Publishers, 1976. * Siehe hierzu die Diskussion von Antony Giddens, »Beyond Left and Right, The Future o f Radical Politics«, Cambridge Polity Press, 1994. 9 »The Sexual Contract«, Stanford University Press, 1988. 10 Siehe vor allem »Toward a Feminist Theory of the State«, Cambridge Mass., Harvard University Press, 1989 und »Only Words«, Cambridge Mass., Harvard University Press, 1993. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 289 Dokumentation rie mit den psychoanalytischen Theorien des Unbewussten zu konfrontieren, abgesehen von einigen ziemlich allgemeinen (wenn auch zutreffenden) Kritikpunkten am ahistorischen Charakter des fireudschen Unbewussten. Der Gegenstand hätte dazu herausgefordert. Auch der Diskussion der Beziehung zwischen »biologischem« und »sozialem« Geschlecht wird ausgewichen: Die Frage, die die differentielle Beziehung von sozialem und biologischem Geschlecht bei der Fortpflanzung spielt, wird nicht wirklich behandelt und der Zusammenhang von Biologischem, Anthropologischem und Historischem dementsprechend nur teilweise erörtert. Aber im Großen und Ganzen könnte man diese Begrenztheiten entschuldigen: Bourdieu operiert in erster Linie in seinem eigenen Disziplinfeld, auch wenn seine erklärten Ambitionen weit darüber hinaus gehen. Schlimmer ist allerdings, dass er es unterlässt, wichtige Arbeiten zu diskutieren, die er zweifellos kennt: nichts über das Werk von Françoise Héritier 11 ; genau so wenig über die Analysen von Joan Scott 12 , die er gleichwohl an anderer Stelle als »großartig« bezeichet 13 ; nichts oder fast nichts über die französischen Historikerinnen, die bemerkenswerte Arbeiten geschrieben haben...Ein Ubergehen in diesem Ausmaß grenzt an intellektuelle Unredlichkeit und zeugt von einer allzu lässigen Art, an wissenschaftliche Debatten im sozialwissenschaftlichen Feld heranzugehen. Die genervten Reaktionen von einigen betroffenen Personen sind unter diesem Aspekt mehr als verständlich (Michèle Perrot hat übrigens darauf hingewiesen, dass ein solches Schweigen eine der Möglichkeiten ist, 11 12 13 14 eine woanders kritisierte Herrschaft aufrecht zu erhalten). Das ist umso misslicher, als ein Teil dieser Arbeiten eine Frage betrifft, die den schwachen Punkt des Werkes betrifft: so detailliert und kohärent es ist, wo es um die Mechanismen geht, über die sich die männliche Herrschaft reproduziert, so fragmentarisch und unbefriedigend ist es, wenn es darum geht, zu verstehen, wie diese in den zeitgenössischen (vor allem westlichen) Gesellschaften in Frage gestellt und bis zu einem gewissen Punkt abgeschwächt werden konnte. Man berührt da eine allgemeine Schwäche bei Bourdieu, der eher bereit ist, die Reproduktion zu erklären, als den sozialen Wandel zu analysieren — aber sie ist umso deutlicher, wenn sie bei einer quasi anthropologischen Struktur ausgespielt wird, die gerade bis in ihr Innerstes ins Wanken gerät. Die Geburtenregelung ist eine wahre Revolution historischen Ausmaßes. In geringerem Maß hat auch die rechtliche Gleichstellung weitreichende Auswirkungen. Auch die Arbeit, wo teilweise die geschlechtliche Herrschaft weiterbesteht, ist ein Ort weitreichender Veränderungen: Um nur ein Beispiel zu nehmen, der Anteil der Arbeiterinnen, die höhere Gehälter bekommen, hat sich in den USA zwischen dem Ende der siebziger Jahre und 1986 um 50% erhöht, was ein deutliches Aufholen im Verhältnis zu den Männern bedeutet; das Weiterbestehen einer bedeutenden Schicht unterbezahlter Arbeiterinnen zeigt einfach, dass sich die Situation widersprüchlich entwickelt und dass die Herrschaft, in bestimmten Bereichen stark zurückgedrängt, in anderen Bereichen mit Macht weiterbesteht14. Und was soll man von der Insbesondere »Masculin, feminin: la pensée de la difference«, O.Jacob, Paris, 1996. Vor allem »La citoyenne paradoxale«, Albin Michel, Paris, 1998. Pierre Bourdieu, »Die männliche Herrschaft«, in »Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis«, Beate Krais und Irene Dölling (Hrg.), Frankfurt, 1997, S.209. Johanna Brenner, »The Best ofTimes.The Worst ofTimes: US Feminism Today«, New Left R e view, 00, Juli-August, S. 115. Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 290 Schule sagen, wo vielfaltige Formen von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen weiterbestehen, die aber auch und vor allem der Ort einer außerordentlichen Veränderung der Geschlechter im Verlauf des Jahrhunderts war, sowohl auf der Ebene der objektiven Hindernisse wie der der symbolischen Vorstellungen? Bourdieu unterstreicht zu Recht einige Umwege, über die sich die männliche Herrschaft in verwandelter Form fortsetzt. Aber er greift ein wenig kurz, wenn er vorbringt, dass »die alten Strukturen der geschlechtlichen Teilung immer noch Richtung und Form der Veränderungen zu bestimmen scheinen« (101). Es ist gewiss absolut notwendig, sich mit Bourdieu die Frage zu stellen: Warum konnte sich die männliche Herrschaft so massiv und so universell erhalten? Aber es ist genauso notwendig, sich umgekehrt auch zu fragen: Wie konnte eine so massive und universelle Herrschaft überhaupt ernsthaft in Frage gestellt werden? Ganz allgemein, wie werden historische Brüche und radikale Veränderungen möglich? Man muss feststellen, dass Bourdieu kaum Elemente für eine Antwort auf diese Fragen liefert. Es wäre beispielsweise außerordentlich interessant gewesen, zu analysieren, wie die aktiven feministischen Bewegungen, die die letzten beiden Jahrhunderte immer wieder geprägt haben, stillschweigend verlaufende, aber gleichwohl tiefgehende Evolutionen verstärkt haben, indem sie ausdrücklich den pseudonatürlichen Charakter der Geschlechterbeziehungen in Frage gestellt haben. (...) Ebenso wäre es eine echte theoretische und empirische Herausforderung gewesen, die Problematik der Reproduktion von Herrschaft mit der Analyse der widersprüchlichen Effekte der Französischen Revolution auf die Beziehungen der beiden Geschlechter zu verbinden; sie ist in dem Werk noch nicht einmal angedeutet. Dokumentation Bourdieu gelingt es kaum, zu theoretisieren, was sich der Herrschaft entgegensetzen kann und dazu Idealtypen und Erklärungsschemata zu entwickeln. Daher ist es bezeichnend, dass »Die männliche Herrschaft« mit einem Loblied auf die reine Liebe endet, von der die Verkörperung des utopischen »anderen« der geschlechtlich differenzierten Herrschaft erwartet wird, die in seiner Perspektive höchst unwahrscheinlich ist und wo man nicht erkennen kann, wie sie anders als nur am Rande existieren kann, wenn man innerhalb des vorgeschlagenen Erklärungsrahmens bleibt. Das ist auch der Grund, warum dieses Werk einige nachteilige Perspektivverengungen aufweist, wenn es politische Fragen wie die Gleichstellung aufgreift oder wenn darin ohne richtigen Beweis behauptet wird, dass das Ziel der feministischen Kämpfe eher der Staat oder die Schule als die Familie (oder implizit die Arbeit) sein müsste, weil erstere für die Fortsetzung der männlichen Herrschaft wichtiger seien. Insgesamt bietet das Buch dem Neuling eine stichhaltige, wenn auch nur teilweise Einfuhrung in die Erforschung der Geschlechterbeziehungen wie auch in das Werk von Bourdieu selbst. Aber es lässt diejenigen teilweise unbefriedigt zurück, die damit vertraut sind und von der Auseinandersetzung des wichtigsten französischen Soziologen mit einem besonders reichhaltigen und neuerungsträchtigen Forschungsfeld in dieser Schlüsselfrage mehr erwartet hatten. Beate Krais Eigentlich gibt es zwei Versionen der »männlichen Herrschaft« von Pierre Bourdieu: einen Artikel, der 1990 erschienen ist und das Buch von 1998. Der Autor hat die erste Version, die bereits ein wichtiger Beitrag für die Debatte über Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 291 Dokumentation die sozialen Beziehungen der Geschlechter war, überarbeitet, verändert und verbessert. Wenn man aber die beiden Versionen untersucht, versteht man besser, was in den Augen des Autors wichtig, eher zweitrangig oder unhaltbar geworden ist. Als der Artikel 1990 erschienen ist, war ich beeindruckt, weil ich fand, dass er eine erhellende und neue Sicht der sozialen Geschlechtsbeziehungen aufzeigte, bitus-Begriff, der uns den theoretischen Schlüssel für die Analyse der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern liefert, die oft und detailliert in den Texten feministischer Soziologinnen beschrieben wurde und er ist sicherlich der beste Schlüssel, um zu begreifen, wie »die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und ineins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahr- doch irgendetwas störte mich. Wie soll ich diese Ambivalenz erklären? nehmungs- und Bewertungskategorien konstruiert« (Bourdieu 1997, S.167). 1. Die Analyse von Bourdieu liefert ein solides theoretisches Fundament für eine zentrale Fragestellung der Soziologie der sozialen Geschlechterbeziehungen. Schon lange haben feministische Soziologinnen das klassische Konzept der sozialen R o l l e kritisiert, weil dieses nicht in der Lage sei, die Wirkung des »Faktors« Geschlecht zu erfassen, denn das Konzept der R o l l e — hier die weibliche oder die männliche R o l l e - bezieht sich auf spezifische und gut definierte Situationen, zum Beispiel zwischen Ehepaaren, zwischen Eltern oder auf die eigentlichen sexuellen Interaktionen. Das Geschlecht ist im Gegensatz dazu eine Dimension sozialen Handelns, die immer präsent ist. Was man mit Candace West und D o n Zimmerman (1987) »doing gender« nennt, ist immer am Werk: bei der Arbeit, im Haus, beim Spaziergang, in der Schule, etc. In seinem Artikel stützt sich Bourdieu auf eine Analyse der kabylischen Gesellschaft, die durch eine soziale und kosmische Ordnung charakterisiert ist, die auf der E i n teilung von Gegenständen und Handlungen nach dem Gegensatz zwischen weiblich und männlich basiert und erklärt, wie dieses »doing gender« funktioniert, oder genauer, die männliche Herrschaft sowohl als Struktur wie als alltägliche Praxis: eine Vision der vergeschlechtlichten Welt schreibt sich in unseren Habitus ein; der Habitus ist vergeschlechdicht und selbst vergeschlechtlichend. Es ist der H a - 2. Bourdieu rückt die Wichtigkeit der symbolischen Gewalt ins Zentrum, »die das Essentielle der männlichen Herrschaft ausmacht« (Bourdieu 1997, S. 166).Vor allem in »Entwurf einer Theorie der Praxis« (Bourdieu 1979) schon früh entwickeltest dieses Konzept für die Analyse der sozialen Geschlechterbeziehungen besonders nützlich, weil es den soziologischen Blick auf ein ganzes Spektrum von Phänomenen erlaubt, die ohne dieses Konzept außerhalb einer systematischen Analyse blieben. Auch wenn physische Gewalt, Zwang, Druck und Einschüchterung in den Interaktionen zwischen Männern und Frauen überhaupt nicht wegzudiskutieren sind, wäre die Erklärung der sozialen Macht männlicher Herrschaft — und selbst der Akte alltäglicher physischer Gewalt gegen die Frauen — schwierig, ohne auf die symbolische Gewalt zu rekurrieren, eine Gewalt, die nicht als solche wahrgenommen wird, weil sie nichts anderes ist als die Anwendung einer sozialen Ordnung, einer Sicht der Welt, die im Habitus der Beherrschten wie des Herrschenden verwurzelt ist. In einem Interview anlässlich der deutschen Publikation der »männlichen Herrschaft« (in ihrer Version von 1990) beschreibt Bourdieu die symbolische Gewalt - »eine sanfte Gewalt« — als ein sehr allgemeines Herrschaftsmodell und die männliche Herrschaft als einen besonderen Fall dieses Modells (Bourdieu 1997). Aber es ist evi- Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 292 dent, dass es dieser besondere Fall war, der ihn zum Nachdenken über die Wichtigkeit der symbolischen Gewalt als Mittel »moderner« Herrschaft gebracht hat, das Beispiel par excellence, wo die Funktionsweise der symbolischen Gewalt studiert werden kann. Die Übernahme dieses herrschenden Blicks durch die Frauen, also ein negatives, entwertetes und erniedrigendes Bild der Frau, wäre ohne dieses Konzept schwer zu verstehen. Gleichzeitig macht diese Unterwerfung unter den, wenn nicht gar Inkorporierung des herrschenden Blickwinkels, ganz deutlich, was Beherrschung heißt es bedeutet immer, auch in sich selbst zu tragen, was einen zerstört. 3. Schließlich habe ich aus dem Aufsatz von 1990 das Kapitel über die Frau als Objekt sehr erhellend gefunden. Bourdieu beschreibt dort mit großer Klarsicht - man könnte auch sagen, mit Brutalität — den fast vollständigen Ausschluss der Frauen von den sozialen »Spielen« der Männer, also der sozialen Welt — einer sozialen Welt, die nach den Prinzipien des Wettbewerbs und daher, wenn ich das richtig verstanden habe, der Ehre konstruiert ist. Dieses Kapitel ist aus der Mitte dieser maskulinen Welt geschrieben worden, in der Perspektive von jemandem, der sich dort auskennt und teilnimmt an »den ernsten Spielen, die ... der libido dominandi mögliche Handlungsfelder ... eröffnen«(Bourdieu 1997,S. 203). Ich sehe die Frau nicht, die diesen luziden ... und verstehenden Blick auf diese soziale Welt, die maskulin sein will, hätte haben können. Während das Aufzeigen der starken Punkte der Analyse eher einfach ist, gilt das nicht genauso für das, »was nicht geht«. Ich begann es zu spüren, als ich bei den letzten Ausfuhrungen des Artikels angekommen war, wo es um die »Frau als Objekt« geht. Im Allgemeinen sind die Texte über die sozialen Geschlechterbe- Dokumentation ziehungen von Frauen geschrieben. In den meisten Fällen haben sie eine Perspektive der Befreiung der Frauen, sei es implizit oder explizit, überzeugend oder nicht. Aber diese Analysen geben einen Blick von Frauen auf die männliche Herrschaft und deren Konsequenzen fur die soziale Lage der Frau zu erkennen. In der Analyse von Bourdieu ist es evident, dass es sich um einen männlichen Blick handelt, eines zweifellos vorurteilsfreien Mannes, der als strenger Analytiker der sozialen Welt bekannt ist, aber eines Mannes, der nichtsdestoweniger in einer männlichen Sichtweise befangen bleibt, wenn es um dieses Thema geht. Wenn er vom kabylischen sozialen Universum spricht, dann ist es ein Universum von Männern, das er beschreibt, mit männlichen Definitionen dessen, was »öffentlich« und »privat« ist, und man versucht vergeblich zu erfahren, was sich zwischen den Frauen abspielt, in den Häusern oder um den Brunnen herum zum Beispiel, der für die Frauen gewiss ein öffentlicher Ort ist. Aus anderen Forschungsergebnissen und Erzählungen geht hervor, dass in den Gesellschaften, wo das Haus eine Domäne der Frauen ist, viele soziale Angelegenheiten von Frauen ausgehandelt und geregelt werden, und die Männer nur durch einen »öffentlichen« Akt bestimmte »ernsthafte Angelegenheiten« wie etwa die Gastgeschenke und die Verhandlungen anlässlich einer Verheiratung zum Abschluss bringen. Wie verhält es sich damit in der Kabylei? Und wenn das soziale Universum ein männliches Universum ist, wie Bourdieu sagt, wo ist dann das Universum der Frauen, wie funktioniert es, wie ist es strukturiert? Auch wenn es sich um ein beherrschtes Universum handelt, muss es existieren, vor allem in den Gesellschaften, die eine Art von Geschlechter-»Apartheid« praktizieren. Es wäre absurd, anzunehmen, dass sich Bourdieu nicht dessen bewusst gewesen Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 293 Dokumentation wäre, dass hier seine Eigenschaft als Mann, mit allen damit verbundenen Begrenzungen, nicht zu vernachlässigen war. Er sagt es mehrmals selbst in dem Text und selbst die Wahl der Fälle, die das Material fìir die Analyse liefern, gibt darüber Aufschluss: Er wählt zwei exotische Beispiele, die Kabylei und den Fall der Familie Ramsay, wie sie von Virginia Woolf gesehen wird. Aber was auf den ersten Blick wie eine gute Wahl aussieht, da die sozialen Geschlechterbeziehungen damit wie »im Reinzustand« erfasst werden können, sorgt zugleich auch fìir Probleme. Eines dieser Probleme lässt sich einfach benennen: Ich befinde mich nicht in der sozialen Welt, die Bourdieu beschreibt. Meine Lebensbedingungen, meine Probleme, meine Freuden, meine Sicht der Welt und der Dinge kommen in dem Text nicht vor, obwohl ich kein exotischer Fall bin. Was in dem Text nicht enthalten ist, sind die Existenzbedingungen, die Praktiken, die Sichtweisen und die Kämpfe der Frauen von heute, in Frankreich wie in Deutschland oder anderswo, wie auch die Vielfältigkeit dieser Bedingungen, Praktiken, etc. Mit dieser Feststellung hängt eine andere zusammen: Das Bild der sozialen Ordnung der Geschlechter, wie es in diesem Text gezeichnet wird, erscheint nicht nur »vergröbert«, wie Bourdieu sagt, diese soziale Ordnung erscheint außerdem auch als hermetisch und unzerstörbar, als bildete sie ein geschlossenes und perfekt geordnetes Universum. Im Gegensatz dazu lassen die Recherchen und Debatten der letzten dreißig Jahre über die Geschlechterbeziehungen und die soziale Arbeitsteilung eher den Eindruck aufkommen, dass »sich etwas bewegt«, dass sich die Grenzen der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, wenn nicht ganz auflösen, so doch bewegen und die M o dalitäten der Spaltung weiblich/männlich sich ständig verändern. (...) Dennoch ist es Bourdieu, der uns mit dem Habitus-Begriff ein leistungsfähiges Analyseinstrument geliefert hat. Der Habitus, sagt er, ist das Produkt der Lebensgeschichte des Akteurs, er ist durch die Existenzbedingungen und die früheren Erfahrungen geformt worden und trägt deren zugleich unauslöschliche wie wirksame Spuren hinein in die Gegenwart: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat« (Bourdieu 1987, S. 105). Bourdieu richtet in der Folge sein Augenmerk auf einen ausgesprochen wichtigen Aspekt des Habitus: Jede soziale Institution wäre zum Untergang verurteilt, wenn der entsprechende Habitus der Akteure nicht existieren würde; eine Institution ist nur dann eine soziale Realität, wenn sie konstant in den und durch die Interaktionen der Akteure wiederbelebt wird. Bourdieu sagt in einer Passage des Sens pratique, die ich immer sehr schön gefunden habe: Es ist der Habitus, »der es ermöglicht, Institutionen zu bewohnen, sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten, sie ständig dem Zustand des toten Buchstabens, der toten Sprache zu entreißen, den Sinn, der sich in ihnen niedergeschlagen hat, wieder aufleben zu lassen, wobei er ihnen allerdings die Korrekturen und Wandlungen aufzwingt, die Kehrseite und Voraussetzung dieser R e aktivierung« (1987, S. 107). Wenn man nun die sozialen Bedingungen und Erfahrungen untersucht, die in den heutigen differenzierten Gesellschaften den vergeschlechtlichten Habitus der Akteure bestimmen, dann ist offensichtlich, dass sie — für jede Person - sehr unterschiedlich, wenn nicht widersprüchlich sind. Die Vorstellung fällt schwer, dass aus einem solchen Konglomerat von unterschiedlichen Erfahrungen ein Habitus Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 294 erwachsen könnte, dessen Klassifizierungen und Wahrnehmungsschemata für Denken und Urteilen ein stichhaltiges und in sich selbst harmonisches Ensemble bilden könnten. Man muss im Gegenteil vermuten, dass die in Körper und Uberzeugungen eingeschriebene Geschichte immer ein wenig durcheinander geht, aus heterogenen und ungeordneten Klassifizierungsteilstücken besteht, sowie verschiedenen divergierenden und je nach Situation unterschiedlich aktivierten Wahrnehmungsschemata. Auch wenn eine Frau immer eine Frau bleibt, kann sie sich doch in einer Lage befinden, wo sie zu einer gegebenen Gelegenheit auch Forscherin oder Direktorin oder Käuferin in einem Geschäft ist — und die Kombination dessen, worüber sie aufgrund ihrer früheren Erfahrungen verfugt, ist weit davon entfernt, immer in perfektem Einklang mit den objektiven Strukturen der Trennung von männlich/weiblich zu sein. Ich denke, dass die Metapher, die Bourdieu dem von ihm so geschätzten Leibniz entliehen hat — derart koordinierte und mit größter Genauigkeit fabrizierte Uhrwerke, dass sie perfekt miteinander übereinstimmen — abwegig ist, so schön das Bild auch ist: es scheint mir, dass diese perfekte Ubereinstimmung von Habitus und Praktiken, diese »prästabilierte Harmonie«, den charakteristischen Punkt des Habitus nicht berührt. Es ist Bourdieu, der immer wieder betont, dass der Habitus nach den Prinzipien eines lebendigen Organismus funktioniert, dass er eine Kategorie ist, die man sich schöpferisch, erfinderisch vorstellen muss, ausgestattet mit dem Vermögen der ars inveniendi. Eine der Existenzbedingungen, die sich im Zentrum der sozialen Geschlechterbeziehungen befindet, ist das, was man den »abgeleiteten Status« der Frau nennt, ihre fundamentale Abhängigkeit von ihrem Ehemann auf materiellem und sozialem Gebiet. Aufgrund der zu- Dokumentation nehmenden Erwerbsbeteiligung haben die Frauen selbst Zugang zu ihrer materiellen Unabhängigkeit. Auch wenn diese Tatsache nicht die »ganze« männliche Herrschaft verändert, ist sie gleichwohl ein starker Motor für laufende Veränderungen, da sie einen Anreiz zur Entwicklung neuer Praktiken und Sichtweisen bildet. Die kritischen Punkte in der Analyse von 1990 können in zwei Punkten zusammengefasst werden: Die Analyse bleibt innerhalb der Grenzen der männlichen Sicht der Welt und greift die relevanten Aspekte der sozialen Realität heutiger Frauen nicht auf. 1998 hat Bourdieu unter dem gleichen Titel eine redigierte und überarbeitete Version seines früheren Textes als Buch veröffentlicht.Von diesem Buch kann man nun erwarten, dass einige Kritiken berücksichtigt worden sind. Was gibt es daher Neues in diesem Buch über die männliche Herrschaft? Zunächst ist es offensichtlich, dass der Text tiefgehend revidiert und umgearbeitet worden ist. Er hat einige Schroffheiten verloren, erscheint weicher und in seiner männlichen Sichtweise weniger hart. Es gibt Ergänzungen und Streichungen. U n ter anderem ist ein »Postscriptum über die Herrschaft und die Liebe« dazu gekommen, das in dem Kontext absolut notwendig ist, auch wenn es nicht befriedigt. Vom Kapitel über die Frau als Objekt bleiben nur einige unzusammenhängende Passagen in einem neuen Kapitel über »Konstanz und Wandel«. Schade, das waren erhellende Passagen über die männliche Sichtweise. Man kann ebenfalls zahlreiche bibliographische Verweise finden, die es in der früheren Version nicht gegeben hat. In diesem Kapitel diskutiert Bourdieu Veränderungen hinsichtlich der Lage der Frauen, die dazu beitragen können, die Doxa der männlichen Herrschaft zu brechen. Er nimmt also einen wichtigen Punkt der Kritik an Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 295 Dokumentation seinem früheren Text auf, betont aber gleichwohl die Konstanz in und durch den Wandel. Die angesprochene Enthistorisierungsarbeit bleibt nur ein skizziertes Programm, mit einigen Sätzen über die Kirche, die Schule, den Staat, was erstaunlich ist, denn es sind in Frankreich (aber auch in Deutschland) vor allem die Arbeiten von Historikerinnen, die stark zum Verständnis der Geschichtlichkeit der sozialen Geschlechterbeziehungen beigetragen haben. Die zentrale Argumentationskonstruktion des Buches bleibt indes gleich und stützt sich prinzipiell auf das Beispiel der Kabylei und den Fall der Familie Ramsay, wie er von Virginia Woolf gesehen wird. Sicherlich in der Absicht, dem Exotismus des kabylischen Beispiels abzuhelfen, ist der Text mit bibliographischen Verweisen auf vor allem amerikanische Quellen gespickt, was einen doppelten Effekt hat: Die Leserin kann mit Erstaunen feststellen, bis zu welchem Punkt die Praktiken in den USA exotisch sind (zum Beispiel die gynäkologische Untersuchung), aber vor allem weiß man selbst nicht mehr, wo man ist: Ist es die Beschreibung des »vergröberten Bildes«, das die Kabylei darbietet, oder ist es die Analyse der komplexen Situation der männlichen Herrschaft in den differenzierten Gesellschaften Frankreichs oder Deutschlands? Die »Modernisierung« des kabylischen Beispiels aufgrund der Zitate verstärkt den Eindruck eines geschlossenen und hermetischen Systems, das auch die soziale Geschlechterordnung in den modernen Gesellschaften wäre, als wäre es eine feste Struktur mit unveränderbaren Regeln, eine Funktionsweise sozialer Praxis, gegen die Bourdieu immer mit exzellenten Argumenten gekämpft hat. Auch bei einem anderen Punkt fuhrt die Analogie mit der kabylischen Gesellschaft in die Irre. Es geht um die Rolle, die die symbolischen Güter bei der Er- klärung der sozialen Geschlechterbeziehungen spielen, was kein nebensächlicher Punkt ist. Für Bourdieu befindet sich das symbolische Kapital im Herzen der männlichen Herrschaft. Er sieht die Familie in einer dynastischen Perspektive, die Heirat als »Kernstück« der Ökonomie der symbolischen Güter (Bourdieu 1998, S. 103) und den häuslichen Bereich als den Ort par exzellence für die Bewahrung und Erhöhung des symbolischen Kapitals. Die Frauen spielen dabei eine entscheidende Rolle: »Genauso wie die Frauen in den weniger entwickelten Gesellschaften als Tauschmittel behandelt wurden, die es den Männern erlauben, soziales und symbolisches Kapital durch die Heiraten zu akkumulieren (...) genauso leisten sie heute einen entscheidenden Beitrag zur Produktion und R e produktion des symbolischen Kapitals der Familie; und das zuerst dadurch, dass sie das symbolische Kapital der häuslichen Gemeinschaft durch all das, was zu ihrer äußeren Erscheinung - Kosmetik, Kleidung, Haltung, usf. — beiträgt, zur Darstellung bringen« (Bourdieu 1998, S. 105). Auch wenn diese Sichtweise der Familie für die bürgerliche Familie immer noch gültig sein mag, glaube ich nicht, dass sie den Kern dessen trifft, was die Familie für die Mehrheit der Bevölkerung ist, die nicht unter diesen bürgerlichen Bedingungen lebt. Die »Meisterdenker« der modernen Gesellschaft (eigentlich der bürgerlichen Gesellschaft im Unterschied zur Feudalgesellschaft), wie Hegel, Fichte und Schleiermacher, die ausdrücklich die Familie — und die sozialen Geschlechterbeziehungen — behandelt haben, haben sie als Gegenwelt zur Welt der Produktion und des Marktes konstruiert: eine Welt, frei von jedem Wettbewerb, ein Ort der Zurückgezogenheit und des Schutzes gegen die Stürme des Marktes, ein Raum, wo »die Gesellschaft« ausgeschlossen ist und wo man »bei sich« ist, ein Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 296 Universum, das durch Intimität, Sicherheit, Wahrhaftigkeit und Werte der Innerlichkeit gekennzeichnet ist. Diese Ideologie der Familie als Gegenwelt, konstruiert auf dem Gegensatz zwischen innen und außen ist auch der Ausgangspunkt für die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Zugleich sorgt das Versprechen von Intimität und rein »persönlichen Beziehungen« dafür, dass bis heute, selbst nach den psychoanalytischen und feministischen Kritiken, die Familie eine enorme Anziehungskraft ausübt, selbst nachdem sich dieses Versprechen als Illusion erwiesen hat, die allzuoft Machtverhältnisse verdeckt. Ich denke, dass die Beständigkeit der männlichen Herrschaft nicht ohne einen Bezug auf diese Vorstellung von der Familie erklärt werden kann, die für die moderne Gesellschaft konstitutiv bleibt. Zum Schluss eine letzte Bemerkung. »Die männliche Herrschaft« ist der einzige Text von Bourdieu, wo er nicht nur eine genaue Analyse der Prozesse und Praktiken von Herrschaft liefert, sondern auch aufzeigt, dass auch die Herrschenden ihrerseits Gefangene ihrer Herrschaft sind. In dieser Absicht bezieht er sich auf Virginia Woolf, und er zeigt zugleich den Infantilismus als die Kehrseite des Herrschenden, nämlich Mr. Ramsay, und die Nachsicht der Mrs. Ramsay als Folge ihrer Position außerhalb der »ernsthaften« Spiele der Männer. Aber die Nachsicht ist nur eine der beiden möglichen Haltungen von Mrs.Ramsay: die andere wäre Verachtung. Mrs. Ramsay hat nicht die Möglichkeit zu wählen, was eine unabhängige Frau tun könnte, nämlich ganz einfach ihren Mann zu verlassen, weil sie nur einen »abgeleiteten« sozialen Status hat, sie hängt in ihrer ganzen sozialen und materiellen Existenz von ihrem Ehemann ab. Wenn sich der soziale Status von Mr. Ramsay verschlechtern würde, weil zum Beispiel sein Infantilismus nicht mehr zu Dokumentation verbergen wäre, würde sich auch der soziale Status von Mrs. Ramsay verschlechtern: Sie wäre die Frau eines lächerlichen Mannes. Folglich hat sie ein Interesse daran, »die Würde ihres Mannes zu schützen« (S. 84), wenn sie ihre eigene Würde schützen will. Und »der außergewöhnliche Scharfblick« von Mrs. Ramsay, der sich der Tatsache verdankt, dass ihr »die männlichen Spiele und die von ihnen auferlegte Glorifizierung des eigenen Ich und seiner sozialen Triebe fremd sind« (S. 85), ist auch eine Art von Ausgleich für den Ausschluss von den männlichen Spielen, ein Ausdruck für das Gefühl eigener Überlegenheit. Man darf sich nicht täuschen: Nachsicht und Mideid, die Bourdieu bei Mrs. Ramsay erblickt, sind sehr oft nahe an der Verachtung und grenzen sehr oft daran. Bibliographie Bourdieu, P., »Esquisse d'une théorie de la pratique, précédée de trois études d'ethnologie kabyle«, Droz, Genève, 1972; deutsch: »Entwurf einer Theorie der Praxis«, Frankfurt 1979. Bourdieu, P., »Le sens pratique«, Minuit, Paris 1980; deutsch: »Sozialer Sinn«, Frankfurt 1987. Bourdieu, P., »Die männliche Herrschaft«, in »Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis«, Irene Dölling und Beate Krais (Hrg.), Frankfurt 1997, S. 1 5 3 - 2 1 7 . Bourdieu, P., »La domination masculine«, Seuil, Paris, 1998. »Eine sanfte Gewalt«, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke. In »Ein alltägliches Spiel«, op.cit. S. 2 1 8 - 2 3 0 . West, Candace und Don Zimmerman, »Döing Gender«, Gender & Society 1, 1987, S. 1 2 5 - 1 5 1 . Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 291 Dokumentation Pierre Bourdieu antwortet Ich möchte zunächst Margaret Maruani danken, dass sie diese Diskussion angeregt hat und Marie Duru-Bellat, Beate Krais, Michelle Perrot und Yves Sintomer, dass sie sie geführt haben. Selbst die härteste oder ungerechteste Kritik ist besser als das gekränkte, konsternierte oder gönnerhafte Schweigen, mit dem ich so oft in Frankreich konfrontiert war, wenn es um das Problem der männlichen Herrschaft ging. Die ganz besondere Schwierigkeit des Dialogs zwischen den Geschlechtern, die ich schon sehr oft erfahren habe, steigert noch das Verdienst derjenigen, die sich dazu entschieden haben, ihn hier zu fuhren; aber als Beweis dafür, dass das Hindernis selbst im besten Fall noch nicht ganz überwunden ist, sehe ich in der Debatte Argumentationsweisen, die in einer gewöhnlichen wissenschaftlichen Debatte keinen Bestand hätten. Ich denke zum Beispiel daran, dass man das Geschlecht des Autors bei der Beurteilung seiner Argumente in Betracht zieht: Ich habe Schwierigkeiten damit, dass eine Wahrheit mehr oder weniger richtig ist, wenn sie von einem Mann oder einer Frau gesagt wird; oder ob es mehr oder weniger verdienstvoll ist, von Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu sprechende nachdem, ob man ein Mann oder eine Frau ist; oder ob man (aber darüber müsste man diskutieren) a priori weniger Chancen hat, die Wahrheit über die Lage der Frau zu sagen, wenn man keine Frau ist. Muss man bis zu der Behauptung gehen, dass die Zugehörigkeit zu einer beherrschten Kategorie eine notwendige — und vor allem hinreichende — Bedingung des Zugangs zur Wahrheit über diese Kategorie ist? Genau wie es ein bestimmter epistemologischer Populismus will, demzufolge nur die Söhne und die Töchter des Volkes wahrhaftig über das Volk sprechen könnten. Oder was man offensichtlich unterstellt, wenn man gegen mich die Autorität von »kabylischen Ethnologinnen« ins Feld führt: sind sie als Ethnologinnen autorisiert, oder als Frauen, oder als Kabylinnen, oder als kabylische Frauen? (Muss ich daran erinnern, dass ich vor nunmehr langer Zeit in »Entwurf einer Theorie der Praxis« und in »Sozialer Sinn« die Besonderheiten der weiblichen kabylischen Welt beschrieben habe, die weiblichen Formen ihres Widerstandes gegen die männliche Welt, sowie in einem Artikel mit dem Titel »Revolution in der Revolution«, erschienen 1961 in Esprit, die tiefgehenden Veränderungen, die diese vor allem aufgrund des Befreiungskrieges erfahren hat, und dass dies, wie bei jedem Ethnologen, nur dank der Hilfe, oder besser, dank des Vertrauens und der aktiven Komplizenschaft möglich war, die mir einige kabylische Frauen gewährt haben, die sowohl noch in der ländlichen Welt verwurzelt waren, als auch urbanisiert und ausgebildet waren — wie diejenigen, die man jetzt in einen Gegensatz zu mir bringt?) Ein anderes Zeichen für die Schwierigkeit der Kommunikation liegt in der Logik des benachteiligenden Vorurteils, das zu zahlreichen »Einwänden« führt und sein Entstehen und seine Berechtigung aus dem Geschlecht des Autor bezieht, das heißt — wenn es erlaubt ist, das zu sagen, was nicht gesagt worden ist, weil man wahrscheinlich davon ausgeht, dass es sich von selbst versteht — aus der Empfindung einer Usurpation von Identität, was in den Augen einiger impliziert, dass man eine »Identität« zum Gegenstand macht, zu der man nicht gehört. Man schreibt mir so Absichten zu, die denen, die mich leiten, entgegengesetzt sind: Man liest eine Anleitung zum Fatalismus aus etwas heraus, (gegen welche ich mich berechtigt und verpflichtet fühle, daran zu erinnern, dass »die männliche Herr- Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM Dokumentation schaft die weibliche Mobilisierung nicht ausschließt«...), das als eine Ermunterung zur Mobilisierung gedacht ist (in Formen, die diskussionswürdig oder unangemessen erscheinen können). (Ich bezweifle, dass sich die sehr zahlreichen Frauen, die das so verstanden und mir auch so geschrieben oder gesagt haben, leicht von Michelle Perrot überzeugen lassen, so groß ihre Autorität auch sein mag, dass mein Buch »darauf hinausläuft, selbst die Möglichkeit eines Entrinnens — aus einer Geschichte — vor allem für die Frauen aufgrund ihrer Beherrschung, zu verneinen«). Risiko war mir aufgrund langer Erfahrungen dermaßen bewusst, dass ich mein Buch mit der Erinnerung daran begonnen habe — heute ist sie ans Ende verlegt worden — wie meine ersten Bücher über die Erziehung aufgenommen worden sind, die durch alle späteren Forschungsarbeiten, selbst diejenigen, die sie entkräften wollten, im Wesentlichen bestätigt worden sind: Wer würde es heutzutage wagen, mich des Konservativismus zu verdächtigen, weil ich es gegen den damals unbestrittenen Mythos von der »befreienden Schule« gewagt hatte, von der »konservativen Schule« zu sprechen? Es ist ebenfalls die Logik des benachteiligenden Vorurteils, die dazu fuhrt, die Absicht und den Willen zu ignorieren (und damit stillschweigend als illegitim zurückzuweisen), die ich hatte, in einem historischen Kontext antifeministischer Restauration einen wissenschaftlichen und politischen Beitrag zu einer der wissenschaftlich und politisch wichtigsten »Fragen« des Augenblicks beizusteuern; dies in vollem Bewusstsein der damit eingegangenen Risiken: das Risiko des Vorwurfs, dass ich nicht alle Aspekte des gestellten Problems berücksichtigt habe; das Risiko, nicht alle »erforderlichen« Autoren zu zitieren (man wirft mir vor, Françoise Héritier nicht zu zitieren; wirft man ihr vor, mich nicht zu zitieren, und wenn das nicht der Fall ist, warum diese ungleiche Behandlung?) ; das Risiko, nicht alle »radikalen Veränderungen« der Lage der Frauen zu erfassen und zu erklären (ich glaube, die wichtigsten genannt zu haben, wie die Geburtenkontrolle und wenn ich das nicht getan hätte, wäre es meiner Ansicht nach eine bedauerliche Auslassung und kein schlimmer Fehler gewesen); das Risiko, die düsteren Feststellungen eines spielverderberischen Pessimismus dem voluntaristischen Uberschwang realer und manchmal imaginärer Kämpfe entgegenzustellen. Dieses letzte Ein anderes Indiz, meiner Ansicht nach zweifellos das Schlimmste: Indem man sich des postulierten Monopols auf soziale und damit wissenschaftliche Legitimität versicherte, das die Zugehörigkeit zu der betroffenen Kategorie (dem weiblichen Geschlecht) verleiht, ermächtigt man sich dazu, ungeachtet der elementaren Gebote der Reflexivität, die kognitiven Interessen der Disziplin wieder einzuführen, oder, um klarer zu sein, die Einsätze und Investitionen, die man als Spezialist in einer Disziplin oder einem Spezialgebiet haben kann. Auch wenn man wahrscheinlich dieses kleine Büchlein zu Recht mit der Gesamtheit des Werkes in Verbindung bringt, zu dem es gehört und auf das es sich stützt (ich denke zum Beispiel an den schwierigen Begriff der »symbolischen Gewalt«, dessen »theoretische Genealogie« ich in einem alten Artikel unter dem Titel »Die symbolische Macht« aufgezeigt habe, erschienen 1977 in den Annales und der, obwohl er meiner Meinung nach zentral ist, in keinem der Kommentare ernst genommen wurde), kann man sich gleichwohl nicht durch die (anscheinend) bevorzugte Position autorisieren, einzunehmen (zumindest innerhalb der Grenzen eines kleinen geschützten Marktes), die aus der besonderen Beziehung zu dem Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 299 Dokumentation besonderen Objekt der Diskussion resultiert, um dieses Werk auf einige rigide und vorfabrizierte Slogans oder Klischees zu reduzieren (die »mechanische Reproduktion«), die alle leicht widerlegt werden können. Ich könnte fortfahren, dem einen oder anderen Satz, in dem meine Kritiker wiederzugeben oder zusammenzufassen meinen, was ich angeblich gesagt habe, die Sätze gegenüber zu stellen, die ich wirklich geschrieben habe, in »Die männliche Herrschaft« oder anderswo und die ihnen schlicht und einfach widersprechen: Ich denke zum Beispiel an das Kapitel, wo in »Die feinen Unterschiede« unter dem T i tel »Einstufung, Abstufung, Umstufung« die ständigen Kämpfe aufgezeigt werden, deren Ort und Einsatz das Schulsystem ist und die zu einer Fülle von Veränderungen inner- und außerhalb des Systems fuhren, oder auch an dieses Kapitel über »Die intern Ausgegrenzten« in dem Buch »Das Elend der Welt«, das die Erfahrung der Heranwachsenden analysiert, die von der schulischen Institution gehalten und zugleich zu einem fatalen, aber unabänderlichen Ausschluss verdammt werden. Aber es ist einfacher, eine Forschungsarbeit, die sich ständig verfeinert und korrigiert hat, auf ein starres Bild zu fixieren und mittels eines schrecklichen Benennungseffekts auf die Idee der »Reproduktion« zu reduzieren. Es ist auch bequemer, zu ignorieren, dass die sozialen Strukturen, so wie sie sind und so wie ich sie beschreibe, sich nicht »mechanisch« reproduzieren, wie man mir unterstellt, sondern ganz im Gegenteil über Strategien, die ihren Ursprung zum Teil in den Strukturen haben, und dies selbst dann, wenn sie diese Strukturen transformieren oder umwälzen wollen. Das heißt, dass ich mich bemühe, der Alternative zwischen statisch oder dynamisch zu entgehen, in die man meine Arbeit einzwängen will, um daraus eine quasi parmenidische Geschichtsphilosophie zu machen (spricht man nicht von »einer Methode, die dadurch, dass sie immer Gleiche sucht, es notwendigerweise findet«) und stattdessen die wirkliche Logik von Strukturen (vor allem die der Felder) zu rekonstruieren, die ihrer eigenen Dynamik zugrundeliegen. Dieses Buch, in dem ich meine früheren Analysen über den gleichen Gegenstand präzisieren, untermauern und korrigieren konnte, indem ich mich auf die vielen Arbeiten über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern gestützt habe, problematisiert explizit die Frage, die von der Mehrheit der Analytiker (und meiner Kritiker) zwanghaft aufgeworfen wird, nämlich nach der Beständigkeit oder dem Wandel (gewünscht oder festgestellt) der Geschlechterordnung: Es ist nämlich die Einfuhrung und Durchsetzung dieser naiven und naiv normativen Alternative, die gegen jede Evidenz dazu fuhrt, die Feststellung von der relativen Konstanz geschlechtlicher Strukturen und der Schemata, über die sie sich erfassen lassen, als verdammenswerte und sogleich verdammte Art und Weise wahrzunehmen, als falsche und sofort widerlegte (durch das Erinnern an alle Transformationen der Lage der Frauen), Art und Weise, die Veränderungen dieser Situation zu leugnen und zu verwerfen. Dieser Frage muss man eine andere entgegensetzen, die wissenschaftlich relevanter und meiner Ansicht nach politisch dringlicher ist:Wenn es richtig ist, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern weniger verändert sind, als eine oberflächliche Beobachtung glauben lassen könnte und dass die Kenntnis der objektiven und kognitiven Strukturen einer besonders gut erhaltenen androzentrischen Gesellschaft (wie der kabylischen Gesellschaft, wie ich sie zu Beginn der sechziger Jahre beobachten konnte) ein Instrumentarium liefert, um bestimmte Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM 300 Dokumentation Aspekte dieser am besten verborgenen Beziehungen in den ökonomisch fortgeschrittensten gegenwärtigen Gesellschaften zu verstehen, dann muss man sich fragen, welche historischen Mechanismen für die Enthistorisierung und die relative Verewigung der Strukturen der Geschlechterteilung und der dazu gehörenden Teilungsprinzipien verantwortlich sind. Das Problem so zu stellen, bedeutet einen Fortschritt im Bereich des Wissens, der die Grundlage eines entscheidenden Fortschritts innerhalb des Handelns sein kann. Daran zu erinnern, dass, was in der Geschichte als ewig erscheint, nur das Produkt einer Verewigungsarbeit ist, die den (miteinander verbundenen) Institutionen wie der Familie, der Kirche, dem Staat, der Schule und auch, in anderen Dimensionen, dem Sport und dem Journalismus zukommt (diese abstrakten Begriffe sind lediglich einfache verkürzte Bezeichungen für komplexe Mechanismen, die in jedem Fall in ihrer historischen Besonderheit analysiert werden müssen), bedeutet, die Geschlechterbeziehung wieder der Geschichte zugänglich, sie also zum Gegenstand geschichtlichen Handelns zu machen, was ihr die naturalistische und essentialistische Sichtweise verweigert (und nicht zu versuchen, wie man mich sagen lassen wollte, die Geschichte zum Stillstand zu bringen und den Frauen ihre Rolle als Akteure der Geschichte zu nehmen). chend dem Modell einmal mehr unverstanden, verachtet und unterschätzt wird. Aber ich bin nur zu überzeugt davon, dass mich lediglich eine demagogische Herablassung, fur mich die höchste Form der Verachtung, dazu bringen könnte, ohne Widerworte Kritiken zu akzeptieren, die ich völlig unberechtigt finde. Ich kann zum Beispiel nicht durchgehen lassen (es geht um zu viel), was Michelle Perrot über meine Beurteilung der Gleichstellung in der Politik äußert (»in dieser Forderung, in der er vor allem den Wunsch nach Aneignung eines männlichen Privilegs erkennt«) und wo es reicht, meinen Vorschlag, den sie selbst, wenn auch nur teilweise, zitiert (in Fußnote 5), dagegenzusetzen. Ich bin der Letzte, zu behaupten, dass die Reinheit der Absichten schon Rechtfertigung begründen kann. Aber ich kann jedenfalls versichern, dass ich diesem Buch, mehrmals abgebrochen und aufgrund der vorausgesehenen Rezeptionsschwierigkeiten schwerer zu schreiben als ein anderes, niemals soviel Zeit und Mühe geopfert hätte, wenn ich nicht der Uberzeugung gewesen wäre, dass es einige neue Analysen bringen würde, von denen eine befreiende Wirkung ausgehen und die ein wenig dazu beitragen könnten, einige der entscheidensten und unsichtbarsten Hindernisse für eine wahrhaft wirkungsvolle Befreiungsbewegung zu beseitigen. Man könnte mir vorwerfen, ein männliches Ohr einer weiblichen Äußerung entgegengesetzt zu haben, die entspre- (Aus dem Französischen von Franz Hecktor) Unauthenticated Download Date | 11/2/17 5:59 AM