Disease Management Programme und ihre Bedeutung für

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efh-papers
Veröffentlichungsreihe der Evangelischen Fachhochschule Hannover
Blumhardt Verlag
ISSN 1612-2054
P05-001
Disease Management Programme
und ihre Bedeutung für Krankenhäuser
Doreen Boniakowsky
Februar 2005
Publications series of the Protestant University of Applied Sciences Hannover
Blumhardtstraße 2, D-30625 Hannover
www.efh-hannover.de
E-mail: veroeffentlichungsreihe @efh-hannover.de
Anregungen, Anmerkungen und Kritik bitte direkt an die Autorin:
[email protected]
Vorwort..............................................................................................................................................
Abstract............................................................................................................................................1
1 Einleitung .....................................................................................................................................2
2 Defizite der Gesundheitsversorgung im ‚Zeitalter chronischer Erkrankungen’ ................5
2.1 Mängel der Gesundheitsversorgung als Ausgangspunkt für
Vernetzungsbemühungen.........................................................................................................6
2.2 Integration der Versorgung: Ein Lösungsansatz?..........................................................13
2.2.1 Merkmale und Funktion Integrierter Versorgung..................................................15
3 disease management: Ziele und Konzeption.........................................................................22
3.1 Disease Management Programme als Folge der Neuordnung des
Risikostrukturausgleichs .........................................................................................................24
3.2 Zielsetzung von Disease Management Programmen....................................................26
3.2.1 Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker .....................................................27
3.2.2 Kostenstabilisierung....................................................................................................30
3.3 Disease Management Programme und ihre Entwicklung............................................33
3.3.1 Rahmenbedingungen für die Implementierung von Disease Management
Programmen in Deutschland..............................................................................................36
3.3.2 Evidence-based Medicine und evidenzbasierte Leitlinien ....................................38
3.3.3 Akkreditierung von Disease Management Programmen......................................42
3.4 Aufbau von Disease Management Programmen ...........................................................44
3.4.1 Einschreibemodul........................................................................................................45
3.5 Datenmanagement oder die „mentale Integration“ ......................................................51
3.6 Disease Management Programme – eine kritische Sicht ..............................................53
3.7 Chancen für Integration durch Disease Management?.................................................57
4 Krankenhäuser unter dem Einfluss von Disease Management Programmen in der
künftigen Gesundheitsversorgung ............................................................................................62
4.1 Ausgangssituation der Krankenhäuser als Partner für die Umsetzung von Disease
Management Programmen .....................................................................................................63
4.1.1 Die Entstehung von Kompetenzzentren ..................................................................64
4.1.2 Die Rolle des Koordinations-Krankenhauses..........................................................66
4.2 Überlegungen zum Aufbau integrierter Versorgungsstrukturen durch Disease
Management Programme aus Sicht des Krankenhauses ....................................................67
4.3 Die Neuorientierung im Wertesystem eines Krankenhauses ......................................70
4.3.1 Kooperation im Krankenhaus als der koordinierenden Institution innerhalb von
Disease Management Programmen ...................................................................................72
4.3.2 Das Krankenhaus im Dienste der Patientenorientierung ......................................75
5 zusammenfassende Betrachtung.............................................................................................79
6 Literaturverzeichnis ..................................................................................................................82
7 Abbildungsverzeichnis.............................................................................................................93
8 Abkürzungsverzeichnis............................................................................................................94
VORWORT
Mit dem vorliegenden Paper erscheint erstmals ein Beitrag aus der Studentenschaft der Evangelischen Fachhochschule Hannover als efh-paper.
Grundlage des Papers ist eine hervorragende Diplomarbeit zur Bedeutung
der Disease-Management-Programme für Krankenhäuser, die für Zwecke
der Veröffentlichung überarbeitet und gekürzt wurde. Diese Erweiterung
der Veröffentlichungsreihe efh-papers um studentische Arbeiten soll fortgeführt werden mit weiteren geeigneten sehr guten Studienarbeiten und
Diplomarbeiten bzw. zukünftig Bachelor- und Masterarbeiten.
Die vorliegende Arbeit entstand im Jahr 2004 als Diplomarbeit im berufsbegleitenden Studiengang Pflegemanagement und zeigt in besonders
gut gelungener Weise die Vorzüge berufsbegleitender Studiengänge. Studierende können nicht nur auf langjährige Berufserfahrung zurück
greifen, sondern auch während des Studiums die Entwicklungen der Praxis ‚vor Ort’ beobachten, sie vor dem Hintergrund erworbenen Wissens
reflektieren und wissenschaftliche Erkenntnisse bereits während des Studiums unmittelbar auf die berufliche Praxis anwenden.
Nicht von ungefähr gelten berufsbegleitende Studiengänge in der
gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion als Zukunftsmodelle, da
sie die Verbindung von Theorie und Praxis, von Hochschulen und Betrieben in besonderem Maße fördern und ermöglichen. Dass sie dabei in
ihren Ergebnissen keineswegs den Vergleich mit Universitäten scheuen
müssen, dafür kann insbesondere auch die vorliegende Arbeit als Beleg
gelten: Die zu Grunde liegende Diplomarbeit wurde in einem bundesweit
ausgeschriebenen Wettbewerb mit dem BKK-Inovationspreis 2004 ausgezeichnet.
Prof. Dr. Michael Simon
Wissenschaftliche Leitung der Veröffentlichungsreihe efh-papers
ABSTRACT
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Einführung von Disease Management Programmen in Deutschland und der Frage, welche Chancen
für Krankenhäuser mit der Teilnahme an solchen Programmen verbunden
sein können.
Zunächst werden die Gründe für die Notwendigkeit strukturierter Behandlungsprogramme herausgearbeitet, indem die Defizite des deutschen
Versorgungssystems – vor allem die Fragmentierung und der allgemein
konstatierte Mangel an Kooperation und Koordination – mit den
veränderten Anforderungen durch den Wandel des Krankheitsspektrums
konfrontiert werden. Die Darstellung der zahlreichen Schnittstellenprobleme und Kooperationsdefizite bietet die Grundlage für die darauf aufbauende Ableitung der Anforderungen an die Versorgung chronisch Kranker,
die wiederum als Bezugsrahmen für die weitere Analyse der bereits
beschlossenen Anforderungsprofile der Disease Management Programme
Diabetes mellitus Typ 2 und Brustkrebs dient.
Da Disease Management Programme in Deutschland eng mit dem Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung verbunden
sind und diese Verknüpfung zu Problemen in der Umsetzung führen
kann, erfolgt zunächst eine kurze Erörterung dieses Zusammenhanges,
woran sich die Beschreibung und Diskussion der Ziele und Konzeption
von Disease Management Programmen anschließt.
Auf Grundlage der vorhergehenden Analysen werden die Anforderungen und Chancen für Krankenhäuser, die sich aus einer Beteiligung an Disease Management Programmen ergeben, diskutiert. Die
Analyse und Diskussion der Bedeutung der Disease Management Programme für Krankenhäuser arbeitet heraus, dass die Beteiligung an diesen
Programmen einen Kulturwandel im Krankenhaus erfordert, der zu einer
Abkehr vom naturwissenschaftlich-akutmedizinischen Paradigma und
deutlich besseren Kooperation der verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus führen muss.
1
7
1 EINLEITUNG
Der demographische Wandel bringt eine Veränderung des Krankheitspanoramas mit sich. Chronische Erkrankungen, Multimorbidität und
Pflegebedürftigkeit entwickeln sich zusehends. Diesem Spektrum der
Multimorbidität kann das fragmentierte deutsche Gesundheitssystem
kaum durch ein entsprechendes Versorgungsangebot begegnen. Während
Deutschland über eine hervorragende Qualität in der Akutmedizin verfügt, gilt die
Versorgung der chronisch Kranken als verbesserungsbedürftig. So sieht der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) in seinem Gutachten (vgl. 2000/2001 Bd. III) bei den untersuchten
Krankheitsbildern erheblichen Bedarf zur Verbesserung der Versorgungskette.
Vor diesem Hintergrund besteht die Notwendigkeit, die Qualität der
Versorgung chronisch Kranker zu verbessern. Auf dieses Defizit reagiert
die Gesundheitspolitik mit der Implementierung von Disease
Management Programmen in die Strukturen der Regelversorgung. Mit
Disease Management Programmen wird die Möglichkeit eröffnet,
verbindliche und integrale Behandlungs- und Betreuungsprozesse über
ganze Krankheitsverläufe und institutionelle Grenzen hinweg zu schaffen.
Durch die Einführung dieser Programme bietet sich die Chance, das
bislang nicht erreichte Ziel, die Umsetzung des Konzeptes der Integrierten
Versorgung, neu zu aktivieren.
Diese strukturierten Behandlungsprogramme spielen in der Reform des
Risikostrukturausgleichs (RSA) eine zentrale Rolle. Mit dem Reformvorschlag, die Morbidität der Versicherten im Rahmen des RSA besser abzubilden,
wird
bis
zum
01.01.2007
die
Erfassung
der
Morbiditätsunterschiede im RSA eingeführt. Der Gesetzentwurf zur
Reform des RSA sieht Ausgleichszahlungen für die Krankenkassen vor,
die eine qualitativ hochwertige Versorgung für chronisch Kranke
anbieten. Die Maßnahmen des Gesetzes sollen faire Wettbewerbschancen
unter den gesetzlichen Krankenversicherungen schaffen und somit die
Voraussetzungen
für
einen
wirtschaftlichen
Kassenwettbewerb
verbessern. Es werden Anreize geschaffen, durch verstärkte Bemühungen
um chronisch Kranke und durch ein verstärktes Versorgungsmanagement
Fehlversorgung zu reduzieren und somit Wirtschaftlichkeitspotenziale in
der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erschließen. Disease
Management Programme kommen in Deutschland als Folge der
2
Neuordnung des RSA zum Einsatz. Der bisherige RSA vermag das
Morbiditätsrisiko eines Versicherten nur ungenügend abzubilden. Die
Transfers spiegeln nicht die tatsächlichen Kostenunterschiede wider. Der
Gesetzgeber beschloss daher, den RSA grundlegend zu reformieren, um
auf der einen Seite die Morbidität besser abzubilden und auf der anderen
Seite die Krankenkassen mit optimalen Versorgungsprogrammen zu
unterstützen. Die Erstattung der Mehrkosten für die Versorgung
chronisch kranker Versicherter wird an die Teilnahme des Versicherten an
einem Disease Management Programm gekoppelt.
Auf den ersten Blick scheint das Thema Disease Management den Bereich der Krankenhausversorgung kaum zu berühren, doch bei genauerer
Betrachtung lassen sich auch hier entscheidende Auswirkungen erkennen.
Ausgehend von der Annahme, dass über Disease Management Programme das Konzept der Integrierten Versorgung umzusetzen ist, soll
dieser Aspekt daher insbesondere für die Institution Krankenhaus
analysiert werden. Die nachstehenden Ausführungen folgen dem Gedanken, dass sich die Bedeutung von Disease Management Programmen
für Krankenhäuser anders darstellt, als sie sich für Krankenkassen
annehmen lässt. Für Krankenhäuser sind Disease Management Programme, und das ist die zentrale These dieser Arbeit, ein Schritt in Richtung Integrierte Versorgung. Dies geht einher mit der Abwendung vom
Paradigma der Akutmedizin hin zur Neuorientierung in der Versorgung
chronisch Kranker. Geht man davon aus, dass Integrierte Versorgungssysteme keine nur umzusetzenden statischen Konstrukte sind, sondern Prozesse, die aus Veränderungen bestehen, kann sich für Krankenhäuser
durch die Implementierung von Disease Management Programmen der
sukzessive Übergang in eine dem Versorgungsbedarf angepasste Arbeitskultur ergeben.
Nachfolgend werden daher die Bedeutung der Disease Management
Programme für die GKV, deren Funktionsweise sowie die Analyse ihrer
tatsächlichen Integrationspotenziale erörtert. Darauf aufbauend erfolgt die
Betrachtung des Einflusses der Programme auf die stationäre Krankenhausversorgung. Der Unterschied in der Bedeutung der Disease Management Programme für Krankenkassen und für Krankenhäuser wird deutlich. Für die GKV ist davon auszugehen, dass Disease Management Programme durch die Kopplung an den RSA eher von monetärer Bedeutung
3
sind. Dahingegen können sie für Krankenhäuser die Abwendung von den
gegenwärtigen Leitgedanken der Gesundheitsversorgung hin zur Neuorientierung in der Versorgung chronisch Kranker darstellen. Es sei
darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle die Disease Management Programme nicht auf ihre korrekte medizinische inhaltliche Ausgestaltung
untersucht werden, sondern vor allem die integrativen Aspekte im
Vordergrund stehen.
Die Arbeit wird zunächst eingeleitet mit der Darstellung der Versorgungsstruktur des deutschen Gesundheitssystems. Die Desintegration der
Leistungserbringung im deutschen Versorgungssystem und die Probleme
im Gesundheitswesen werden diskutiert. Mit der Gesundheitsreform 2000
reagierte der Gesetzgeber auf diese Diskussionen und schuf die Voraussetzung, um das Konzept der Integrierten Versorgung in die Regelversorgung einzuführen. Anhand der bisherigen Umsetzung des Versorgungskonzeptes soll gezeigt werden, wie hoch die Erfolgschancen eines sektorenübergreifenden Leistungsangebotes sind.
Im Kapitel 3 wird zunächst die Bedeutung der Programme für Krankenkassen deutlich. Darauf aufbauend werden Disease Management Programme hinsichtlich ihrer Zielsetzung, ihrer Voraussetzungen und ihres
Aufbaus konkretisiert, um abschließend zu analysieren, welche
Komponenten in Disease Management Programmen vorhanden sind, die
dem Integrationsprinzip gerecht werden. Hierzu werden das Anforderungsprofil an strukturierte Behandlungsprogramme für Diabetes
mellitus Typ 2 gemäß der Anlage 1 der Vierten Verordnung zur Änderung
der Risikostruktur-Ausgleichsverordnung (RSAV) vom 27.06.2002 und
das Anforderungsprofil an strukturierte Behandlungsprogramme für
Brustkrebs gemäß der Anlage 3 der Vierten Verordnung zur Änderung
der RSAV vom 27.06.2002 zugrunde gelegt.
Anschließend wird im Kapitel 4 der Einfluss von Disease Management
Programmen für die Institution Krankenhaus analysiert und denkbare
Entwicklungen skizziert. Die Notwendigkeit einer Neuorientierung in der
Versorgung chronisch Kranker durch neue Leitbilder und Werte soll
verdeutlicht werden. Die Disease Management Programme werden hinsichtlich neuer Bestimmungen untersucht, die den gegenwärtigen Ansatz
der Gesundheitsversorgung ablösen. Hieraus werden die künftigen An-
4
forderungen an ein Krankenhaus unter Berücksichtigung der besonderen
Situation chronisch Kranker abgeleitet. Der Unterschied in der Bedeutung
der Disease Management Programme für die GKV auf der einen Seite und
für die Institution Krankenhaus auf der anderen Seite wird sichtbar.
2 DEFIZITE DER GESUNDHEITSVERSORGUNG IM ‚ZEITALTER CHRONISCHER ERKRANKUNGEN’
Schwachstellen der Gesundheitsversorgung werden innerhalb der
Gesundheitsprofessionen und in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert.
Die Gesundheitsversorgung in den europäischen Ländern ist
gekennzeichnet durch ein hohes Qualitätsniveau und durch Erkenntnisse,
die sich auf dem aktuellen Stand befinden. Das deutsche
Gesundheitssystem galt jahrzehntelang international als vorbildlich.
Hervorzuheben sind hier eine hohe medizinische Qualität, die
Leistungsgewährung nach Bedarf unabhängig vom Einkommen sowie der
freie Leistungszugang ohne Wartezeit. Das Gutachten des SVRKAiG
(2000/2001 Bd. III) stellt jedoch die bisher geltende Auffassung von einer
durchgängig hochwertigen Versorgung in Frage. Eine Vielzahl von
Qualitätsmängeln
in
der
Krankenversorgung
sowie
ein
Entwicklungsrückstand des deutschen Gesundheitswesens im Vergleich
zu anderen wohlhabenden Ländern lassen sich nachweisen.
Behandlungsergebnisse entsprechen im internationalen Vergleich nicht
dem Stand, den aktuelle Erkenntnisse in Medizin, Pflege oder Gesundheitswissenschaft zulassen. Zudem sind Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen zu verzeichnen, die zu Über-, Unter- und Fehlversorgung führen
(vgl. SVRKAiG 2000/2001 Bd. III, S. 65).
Der SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 31 ff.) definiert Über-, Unter- und
Fehlversorgung folgendermaßen: Überversorgung resultiert aus der Ausweitung des Leistungsangebotes, ist eine fachgerechte oder uneffiziente
Versorgung über die Bedarfsdeckung hinaus. Jede Versorgung, durch die
ein vermeidbarer Schaden entsteht, wird als Fehlversorgung bezeichnet.
Bei der Unterversorgung werden die Versorgungsleistungen teilweise
oder gänzlich nicht fachgerecht erbracht, trotz eines anerkannten individuellen, wissenschaftlichen, professionellen oder gesellschaftlichen Bedarfs. Im Falle der Über- und Fehlversorgung kommt es zu einer
5
Verschwendung von finanziellen und sonstigen Ressourcen sowie zu
einer Belastung für Patienten durch teilweise unnötige und riskante
Diagnostik, wobei die Wahrscheinlichkeit des Auftretens iatrogener
Schäden ansteigt. Unter- und Fehlversorgung hingegen lassen
Qualitätsmängel in der Erbringung der Versorgungsleistungen erkennen.
Der SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 43 ff.) hat eine erste Analyse in
Deutschland zur Versorgung bei verschiedenen ausgewählten Krankheitsbildern durchgeführt, die sich aus Befragungen von 300 wissenschaftlichen Organisationen, Körperschaften und Selbsthilfegruppen des
Gesundheitswesens ergab. Im Ergebnis dieser Befragung von Betroffenenorganisationen sind neben Überversorgung sehr viele Bereiche mit Unterversorgung zu verzeichnen. Die Analyse bemängelt als zentrale zu Unterund Fehlversorgung führende Schwachstelle die Fragmentierung des Versorgungssystems und die damit einhergehende mangelnde Kooperation
und unzureichende sektorenübergreifende Versorgung.
Der durch den demographischen Wandel wachsende Anteil älterer und
multimorbider Menschen bringt eine Veränderung der Versorgungsnachfrage mit sich. Die Zahl der an der Behandlung von Patienten Beteiligten steigt und somit deren Koordinationsbedarf. Für das deutsche,
durch wechselseitige Abgrenzung der Versorgungsbereiche gekennzeichnete Gesundheitswesen erwächst hieraus die Aufgabe übergreifender
gesundheitlicher Versorgung. Diese Aspekte lassen erkennen, dass zahllose Mängel nicht auf Finanzierungseffekten beruhen, sondern Organisations- und Systemprobleme im Vordergrund stehen, die im Folgenden beschrieben werden.
2.1 Mängel der Gesundheitsversorgung als Ausgangspunkt für
Vernetzungsbemühungen
Das stark fragmentierte Gesundheitssystem mit den einzelnen Leistungssektoren der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung,
denen sich im Rahmen der institutionellen Abgrenzung die Träger der Finanzierung zuordnen, arbeitet weitgehend unabhängig voneinander. Die
Finanzierung von Pflege- und Gesundheitsleistungen erfolgt in Deutschland aus unterschiedlichen Systemen. Die Kosten für medizinische Behandlung durch niedergelassene Ärzte und im Krankenhaus sowie die
Pflege im Krankenhaus wird fast vollständig von der Krankenversicherung übernommen. Liegt diese nicht vor, trägt der Sozialhilfeträger die
6
Kosten. Indessen werden im Unterschied zu heilbaren Erkrankungen die
Leistungen bei Pflegebedürftigkeit von der Pflegeversicherung mitfinanziert. Hierzu zählen die ambulante Pflege in der Häuslichkeit und die
stationär oder teilstationär erbrachten Leistungen in Pflegeheimen oder
Tagespflegeeinrichtungen. Patienten sind im Zuge der Kostendämpfungsgesetze im Krankheitsfall zu einem Selbstkostenanteil an den Krankenhaus-, Pflege- und Medikamentenkosten verpflichtet. Die Pflegeversicherung ist vom Grundprinzip als Teilversicherung konzipiert (vgl.
Dieffenbach/Landenberger/von der Weiden 2002, S. 33).
Grundlage für die Abgrenzung der Versorgungssektoren bildet die
gesetzliche Zuweisung des ambulanten Sicherstellungsauftrags an die
Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und des stationären Sicherstellungsauftrags an die Länder. Die Anfang der neunziger Jahre durch das Sozialgesetzbuch (SGB) V festgelegte Beziehung zwischen ambulantem und
stationärem Sektor ist gekennzeichnet durch „strikte Abschottung“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 227). Die starren organisatorischen Grenzen zwischen den Leistungsanbietern bergen Koordinations- und Kooperationsprobleme mit Vernetzungsbedarf. Kritisch sind vor allem die Schnittstellen über alle Stufen des Gesundheitswesens hinweg. Durch die abgegrenzten Zuständigkeiten der Leistungserbringer entstehen Versorgungsbrüche bei der Inanspruchnahme hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung im ambulanten Bereich, beim Übergang von ambulanter zu stationärer Versorgung und zurück, beim Übergang von akutmedizinischer
zu rehabilitativer Versorgung und im Zusammenwirken aller betreuenden
Berufsgruppen. Die Struktur des segmentierten Gesundheitswesens behindert eine bedarfsgerechte Versorgung der Patienten, da eine fehlende
Zusammenarbeit und Koordination zwischen ambulantem und stationärem Sektor zu verzeichnen ist. „Statt dessen haben die Dienstleister ihre eigenen
Kulturen entwickelt und versuchen, wenn überhaupt, die Prozesse jeweils aus ihrer Sicht
zu optimieren“ (Szathmary 1999, S. 39).
Die Desintegration der Versorgung wird begünstigt durch die Entwicklung der modernen Medizin, die durch fortschreitende Spezialisierungen
gekennzeichnet ist. Die Fragmentierung aufgrund der Spezialisierung medizinischer Versorgung zeigt sich im ambulanten Bereich in Form der
Facharztdifferenzierung und im stationären Bereich durch die Entstehung
hoch technisierter Spezialkliniken. Beim Durchlaufen mehrerer Institu-
7
tionen während eines Krankheitsgeschehens liegt das Problem im
reibungslosen und effizienten Ineinandergreifen der Behandlung, die ein
Patient erfährt (vgl. Feuerstein 1996, S. 233). Die Fortschritte der Medizin
bringen einen Wissenszuwachs in verschiedenen Fachdisziplinen mit sich,
der von Einzelnen nicht mehr beherrschbar ist. Dies führt zur Etablierung
von speziellen Fachdisziplinen und zur Ausbildung von Fachkompetenzen in entsprechenden Tätigkeitsfeldern in den Gesundheitsberufen. Die
Fortschritte und die damit einhergehenden mittlerweile unverzichtbaren
Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie von Krankheiten entwickelten
ein inzwischen stark angewachsenes, weit verzweigtes und überwiegend
kurativ ausgerichtetes Gesundheitswesen. Dies ist gekennzeichnet durch
Arbeitsteilung, Ausrichtung auf einzelne Krankheitsepisoden, einzelne
Organe, einzelne Bereiche der Behandlung und durch die Konzentration
auf somatische Probleme sowie technische Lösungen. Die dominierende
naturwissenschaftlich auf Organschädigung ausgerichtete Sichtweise
führt zur Vernachlässigung psychischer und sozialer Ursachen von
Krankheiten und begünstigt die Medikalisierung sozialer Probleme. Somit
wird die Entwicklung von Selbsthilfepotenzialen unterdrückt. Die
vorherrschende Dominanz der Medizin gegenüber den anderen
Gesundheitsberufen, insbesondere der Pflege und Sozialarbeit, führt zu
einer Unterentwicklung der Kooperation zwischen diesen Gruppen. Das
historisch gewachsene Bild vom Arzt als dem leitenden Berufsbild der
Krankenversorgung und der gesamten Gesundheitssicherung brachte für
die Pflege, anders als in den USA oder den skandinavischen Ländern, die
Beschränkung ihres Status und das Aufgabenprofil des ärztlichen
Assistenten mit sich (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 37 ff.).
Die Mängel der Gesundheitsversorgung werden nachstehend anhand
der Parameter Kultur, Organisation und Personal diskutiert (vgl. Mühlbacher 2002, S. 52 ff.).
Kulturelle Ausgestaltung
Das deutsche Gesundheitswesen weist eine Vielfalt von Leistungserbringern auf. Der stationäre Sektor umfasst Krankenhäuser, Vorsorgeund Rehabilitationseinrichtungen und Altenpflegeheime. Der ambulante
Sektor gliedert sich in den Bereich der niedergelassenen Ärzte, die sich
wiederum spezialisieren in Fach- und Hausärzte, sowie den Bereich der
ambulanten Pflegedienste und Sozialstationen. Andere Berufsgruppen,
wie Hebammen, Physiotherapeuten oder Logopäden, arbeiten in freier
8
Praxis. Bestimmendes Merkmal der Leistungserbringung ist die relativ
starre Trennung zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor
(vgl. Szathmary 1999, S. 36). Die unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen und Zielvorstellungen der einzelnen Leistungsanbieter fördern
eine Desintegration der Versorgung. Einzelinteressen und Optimierung
von Teilbereichen kennzeichnen die Arbeitskultur. Die Kommunikation
zwischen den Versorgungsbereichen gestaltet sich schwierig und ist eher
vom Konkurrenzdenken als vom Kooperationswillen geprägt. Eine weitere Leitbildproblematik ergibt sich in der Auseinandersetzung zwischen
medizinischer und ökonomischer Logik (vgl. Schrappe 2003, S. 85).
Organisatorische Ausgestaltung
Entsprechend der Entwicklung medizinischer Erkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten entwickelten sich die räumlichen und personellen Aspekte der Versorgung. Aufgrund der hohen Spezialisierung
und der damit verbundenen räumlichen Trennung ergeben sich vielfältige
Schnittstellen, die sich hinderlich auf die Koordination des Leistungsprozesses auswirken und Therapiemaßnahmen unterbrechen. Transparenz
einzelner Behandlungsschritte ist nicht gegeben, jeder Leistungserbringer
überblickt nur seinen Ausschnitt des Behandlungsverlaufes. Für die Institution Krankenhaus, in der traditionell verrichtungsorientierte Strukturen vorherrschen, lassen sich beispielsweise folgende organisatorische
Schnittstellen belegen: zwischen der Krankenhausverwaltung und dem
medizinischen und pflegerischen Bereich, zwischen unterschiedlichen
Fachstationen, zwischen bettenführenden Stationen allgemein und
Funktionsabteilungen, zwischen medizinischem Sektor und Labor (vgl.
Feuerstein 1996, S. 218 ff.). Zwischen den Komponenten der stationären
Versorgung entstehen Brüche, die Effizienzprobleme und Qualitätsverluste mit sich bringen. Die Nachteile funktional organisierter Unternehmen
liegen im „Ressort-Egoismus“ (Schrappe 2003, S. 81), der Neigung Ergebnisse
einzelner Ressorts über die Ergebnisse des Gesamtunternehmens zu
stellen. Bei einzelnen Mitarbeitern ist ein Motivationsdefizit als Konsequenz der Arbeitszergliederung zu verzeichnen, da das Ziel der Anstrengung, das fertige Produkt nicht erlebt wird. Insbesondere an den
Schnittstellen einzelner Systemkomponenten entstehen vermeidbare
Risiken des Versorgungssystems z. B. dort, wo der Patient sich durch ständigen Wechsel der arbeitsteilig handelnden Personen oder im Übergang
unterschiedlicher Funktionsbereiche anpassen muss, ohne ausreichend
9
Unterstützung zu erhalten. Die Schnittstellen von Organisationseinheiten
werden überbrückt mit Arztbriefen, Überweisungen oder Befunden, die
sich jedoch auf ausgewählte Informationen reduzieren. Informationsbarrieren sind Hindernisse für behandlungsübergreifende Kommunikation,
woraus sich eine Diskontinuität der Behandlung ableitet.
Personelle Ausgestaltung
Spezialisierte Organisationseinheiten mit funktionaler Aufteilung von
Fach- und Aufgabenbereichen kennzeichnen die personelle Ausgestaltung
des Gesundheitswesens. Hoch technisierte, von Kompliziertheit geprägte
Leistungsbereiche verlangen ein spezifisches Fachwissen und eine
zunehmende Spezialisierung von den dort Beschäftigten und führen somit
zur verstärkten Arbeitsteilung, zu Schnittstellen innerhalb einzelner
Professionen (vgl. Feuerstein 1996, S. 230 f.). Beispiele hierfür sind Bereiche modernster Diagnostik, wie Katheterlabore oder Röntgenabteilungen,
die zum Zweck des ökonomischen Ressourceneinsatzes allein dem Prinzip
der optimalen Auslastung folgen. Daher durchbrechen diese innerprofessionellen Arbeitsteilungen häufig die Arbeitsabläufe behandelnder
Professionen und stellen dann ein Problem für die Behandlungskontinuität und für das Erleben des Patienten dar.
Eine weitere Schwierigkeit der interprofessionellen Schnittstellen liegt
im Informationstransfer. Dies soll am Beispiel bildgebender Verfahren
verdeutlicht werden. Der Arzt, der die Untersuchung, die per Fragestellung kommuniziert wird und nur begrenzte Informationen über den Patienten enthält, durchführt und deutet, ist nicht dieselbe Person, die dann
diesen Befund im kompletten klinischen Zusammenhang werten muss.
Beides Experten in ihrem Bereich, besitzen sie jedoch jeweils entweder
wenig Kenntnis über die Grenzen und Möglichkeiten der technischen Geräte oder aber über die Besonderheiten, Symptome oder das psychosoziale
Verhalten des Patienten. Entscheidungen werden getroffen mit Hilfe
fremder Evidenz (vgl. Mannebach 1993, S. 186).
Die Trennung von Disziplinen und Fachrichtungen findet sich in
Funktions- und Arbeitsteilungen nicht nur innerhalb der Professionen der
Gesundheitsberufe wieder, sondern auch zwischen diesen, die berufsübergreifende Kooperationen stark behindern können. Die Arbeitsteilung zwischen Pflegenden und Ärzten, woraus sich zwei eigenständige Berufs-
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bilder entwickelten, scheint auf der einen Seite sinnvoll zu sein, bringt
andererseits aber professionsübergreifende Kooperationshindernisse hervor. Es entstanden Berufsidentitäten, die sich unter anderem durch die
Abgrenzung gegenüber der jeweils anderen definieren. Obgleich beide Berufsgruppen letztlich dieselben Ziele verfolgen, die Betreuung und Behandlung kranker Menschen, ist ihr Zusammenwirken durch strenge
Funktionsteilung gekennzeichnet (vgl. Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S.
6). In Anbetracht der im Vorfeld beschriebenen Problematik der Zielkonflikte der Leistungsanbieter unter dem Gesichtspunkt der kulturellen
Ausgestaltung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die
Arbeitsbeziehung dieser beiden Akteursgruppen darstellt. Die
Schnittstellen zwischen den Professionen im Krankenhaus können die
professionsübergreifenden Kooperationsbeziehungen kritisch gestalten.
Organisationsmängel, unklare Kompetenzen, Abhängigkeiten, Rollenkonflikte, unangemessene Kommunikationsformen und Führungsdefizite
bergen Konfliktpotenzial. Pflegende sind aufgrund ihrer beruflichen Stellung gegenüber Ärzten in einer nachteiligen Position, was im Umgangston, provozierten Arbeitserschwernissen oder in einseitiger ignoranter Interaktion zum Ausdruck kommt. Pflegende reagieren darauf mit eigens
entwickelten Abwehrstrategien, die auf der einen Seite für das Handeln
und die Situation der beteiligten Akteure Folgen haben können und die
auf der anderen Seite konträr zur Patientenorientierung pflegerischen
Handelns stehen. Beispielhaft sei hier das `Auflaufenlassen` von Ärzten
mit ihren Fehlern und Versäumnissen, das Unterlassen von Korrekturen,
`Meideverhalten` oder das `Fallenstellen` genannt. Dieses Bewältigungshandeln wirkt kontraproduktiv, da sich die Konflikte in letzter Konsequenz auch negativ auf die Patienten auswirken können (vgl. Feuerstein
1996, S. 227 ff.).
Badura und Feuerstein (1996, S. 11 f.) vertreten die Auffassung, dass die
Differenzierung des Versorgungsangebots innerhalb der Akutmedizin
und die Entstehung neuer Behandlungsmöglichkeiten sowie neuer Einrichtungen und Berufe maßgeblich gesteuert wird durch Entwicklungen
in Naturwissenschaft und Technik auf der Grundlage medizinischer Leitbilder. Hierin sehen sie die eigentliche Ursache für die Krise im Gesundheitswesen, für die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Versorgungsbedürfnissen und dem tatsächlichen Versorgungsangebot. Die Versorgungsbedürfnisse dagegen werden bestimmt durch eine gestiegene
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Lebenserwartung und die Veränderung des Krankheitsspektrums: „[...]
eine Handvoll chronischer Krankheiten haben die Infektionskrankheiten abgelöst als
Hauptursache für körperliches Leid und vorzeitigen Tod“ (Badura/Feuerstein 1996,
S. 10). Von allen ambulant und stationär behandelten Patienten in
Deutschland leiden schätzungsweise 40 Prozent an einer chronischen Erkrankung (vgl. SVRKAiG 2000/2001 Bd. III, S. 61). Sie verursachen einen
erheblichen Teil der direkten, aber insbesondere der indirekten Krankheitskosten, die z. B. durch Lohnersatzleistungen, Produktionsausfälle
oder Rentenzahlungen entstehen. Die Leistungsausgaben für Versicherte
mit chronischen Erkrankungen betragen in Abhängigkeit vom
Komplikationsstatus das Zwei- bis Zehnfache der Leistungsausgaben
durchschnittlicher Versicherter (vgl. Lauterbach/Stock 2001, S. 1935). Die
Versorgung dieser Bevölkerungs-gruppe vollzieht sich innerhalb hoch
differenzierter Versorgungsketten. Der Patient gerät in der Regel über den
Hausarzt in ein Akutkrankenhaus, wenn erforderlich weiter in ein
Spezialzentrum, wieder zurück in die Akutklinik oder in eine
Rehabilitationseinrichtung und anschließend wieder zum Hausarzt.
Dieser Prozess, in dem sich einzelne Leistungsanbieter phasenweise mit
Teilausschnitten der Gesundheitsproblematik chronisch Kranker
beschäftigen, ist gekennzeichnet durch unzureichende Absprachen mit
den vor- und nachgelagerten Versorgungseinrichtungen. Die
Verantwortung einer Einrichtung beginnt mit der Aufnahme der
Patienten und endet mit deren Entlassung. Der Mangel an Koordination
sowie das Fehlen einer Gesamtverantwortung, der die Vielfalt zuständiger
Trägerorganisationen entgegensteht, stellen wesentliche Probleme in der
Versorgung chronisch Kranker dar (vgl. Badura 1996 a, S. 301 f.). Die
angemessene
Versorgung
dieser
Patienten
stellt
für
das
Gesundheitssystem die größte Herausforderung dar.
Der SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 65 ff.) bescheinigt der derzeitigen
Versorgungssituation von Chronikern homogene, krankheitsübergreifende Muster von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Es besteht ein
deutliches Missverhältnis zwischen einer Überversorgung im kurativen
Bereich und einer Unterversorgung im präventiven und rehabilitativen
Bereich bei der Versorgung chronisch Kranker. Diese Fehlentwicklungen
lassen sich insbesondere auf überholte Paradigmen und Versorgungsgewohnheiten zurückführen, die einer angemessenen Versorgung chronisch
Kranker entgegenstehen. Hierzu zählen die Wahrung des akutmedi-
12
zinischen Paradigmas mit seiner Struktur und der Qualifikation sowie Sozialisation seiner Leistungserbringer, die somatische Fixierung des Systems, mangelnde interdisziplinäre und wenig flexible Versorgungsstrukturen und das Abweichen von Grundsätzen evidenzbasierter Versorgung.
Des Weiteren werden Chroniker als passive Empfänger von Versorgungsleistungen betrachtet und entsprechend einem passiven Behandlungskonzept Reparatur, Kur und Schonung in den Mittelpunkt gestellt. Der Patient und seine Bezugspersonen werden unzureichend informiert, geschult
und einbezogen. Diese speziellen Versorgungsbedürfnisse chronisch
Kranker bleiben in der Qualifikation und Sozialisation in den
Gesundheitsberufen unzureichend berücksichtigt. Auch deplatzierte
Anreizsysteme
machen
den
Chroniker
aufgrund
seiner
Leistungsausgaben zu einem hohen Risiko für Leistungserbringer und
Krankenkassen. Diese aufgezeigten Schwachstellen des Systems
verweisen auf die Grenzen konventioneller Versorgungsformen mit dem
zugrunde liegenden, vorwiegend biomedizinisch ausgerichteten
Wissenschaftsverständnis
und
zwingen
zu
Anpassungen
im
gesundheitlichen Versorgungssystem. Es wird deutlich, dass die
Notwendigkeit zum Aufbau eines integrierten Versorgungssystems in
erster Linie aus der nachfrageseitigen Veränderung aufgrund des
Altersaufbaus
der
Bevölkerung
und
des
sich
ändernden
Krankheitspanoramas sowie aus dem medizinischen Fortschritt und der
damit verbundenen Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung resultiert. „Integration, Kooperation und Koordination sind lediglich die Kehrseite der fortschreitenden
und im wesentlichen auch unvermeidlichen Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung“
(Kühn 2001, S. 13). Inwieweit Integration als Lösung dieser Problematik
anzusehen ist, wird nachfolgend diskutiert.
2.2 Integration der Versorgung: Ein Lösungsansatz?
Angesichts der im vorigen Abschnitt aufgezeigten Schwachstellen des
deutschen Gesundheitssystems lassen sich in Anlehnung an das Gutachten des SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 62 ff.) folgende Anforderungen an
die gesundheitliche Versorgung und speziell an die Versorgung chronisch
Kranker formulieren:
Berücksichtigung von Biografie und Lebenswelt
13
Chronisch Kranke bedürfen einer anhaltenden Langzeitversorgung und
Beobachtung, die sich jedoch nicht allein auf den körperlichen Zustand
beschränkt, sondern auch die sozialen, lebensweltlichen und biografischen
Bezüge berücksichtigt.
Institutions- und professionsübergreifende Versorgung
Die Betrachtung einer chronischen Erkrankung als langfristig hoch
komplexes Geschehen, erfordert die Einbindung zahlreicher Versorgungseinrichtungen und Berufsgruppen einschließlich der Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Die Prävention und Rehabilitation
sowie Gesundheitsförderung, Information und Schulung erhalten eine
zentrale Rolle in der gesundheitlichen Versorgung.
Multidimensionalität
Die bedarfsgerechte Versorgung chronisch Kranker berücksichtigt den
multidimensionalen Charakter der Erkrankung und die Multimorbidität.
Umfassende Kompetenzen der Leistungserbringer
Die biomedizinische Kompetenz der Leistungserbringer ist gekoppelt
an entsprechende psychische und soziale Kompetenzen.
Partizipation
Betroffene und ihre Bezugspersonen sind aktive Partner im Behandlungsprozess und somit in Entscheidungen und Zielfindungen integriert.
Evidenz
Die Behandlung basiert auf der besten zur Verfügung stehenden Evidenz im Abgleich der individuellen Besonderheiten des Patienten und der
ärztlichen Erfahrung innerhalb des gemeinsamen Entscheidungsprozesses.
Versorgungsstrukturen
Die Versorgungslandschaft zeichnet sich aus durch ein breit angelegtes
Spektrum an abgestuften flexiblen Versorgungsstrukturen, in denen alle
an der Versorgung beteiligten Akteure wie Institutionen mit dem Ziel
einer individuellen und effizienten Gesundheitsbehandlung unter Einbeziehung modernster Informationstechnologien eng zusammenarbeiten.
14
Anreizsysteme
Um einer Ausgrenzung von chronisch Kranken durch Kostenträger
und Leistungserbringer entgegenzuwirken, sind Anreize zu schaffen, die
eine Selektion zu Ungunsten der Chroniker verhindern und die
Optimierung der Versorgung für diese attraktiv machen.
Ein anhaltender Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung und ein
ausgewogenes Verhältnis präventiver, kurativer und rehabilitativer Versorgung von Chronikern erfordert eine grundlegende Änderung von
Strukturen, Anreizen, Wissen und Werten im Gesundheitssystem, getragen von einer ziel- und gestaltungsorientierten stetigen Gesundheitspolitik, die veränderte Verantwortlichkeiten und Arbeitsstile ihrer
professionellen Akteure und Institutionen verlangt. Der Aufbau eines integrierten Versorgungssystems stellt das Gesundheitssystem vor seine
wohl größte Herausforderung (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 226).
Was unter Integrierter Versorgung zu verstehen ist und wo sich Möglichkeiten, aber auch Grenzen zeigen, wird in den beiden folgenden Abschnitten erörtert.
2.2.1 Merkmale und Funktion Integrierter Versorgung
Derzeit kann auf keine allgemein gültige Definition zur Integrierten
Versorgung zurückgegriffen werden. Eine soziologische Betrachtung versteht Integration als Prozess der Bildung von Ganzheiten aus Teilen (vgl.
Schäfers 1998, S. 151). Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen stellt
die enge Zusammenarbeit von mindestens einer Krankenkasse und
mindestens zwei Leistungsanbietern unterschiedlicher Sektoren dar (vgl.
Conrad 2001, S. 1 ff.). Sie leistet funktionsübergreifende, patientenorientierte, rationelle Versorgung über den gesamten Prozess von
Gesundheitsbedürfnissen und ist verantwortlich für eine umfassende, koordinierte und kontinuierliche Leistungserbringung verschiedener Einrichtungen (vgl. Mühlbacher 2002, S. 63) über den gesamten Versorgungsweg von der Primärversorgung bis zur Rehabilitation (vgl.
Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 227). Im weiteren Zusammenhang mit Integrierter Versorgung findet sich auch der Begriff der Vernetzung, der für
das Ineinandergreifen verschiedener Arbeitsformen und das Erstellen
gegenseitiger Verbindlichkeiten der institutionellen und systemischen Zu-
15
sammenarbeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Problemverständnisses steht (Dieffenbach/Landenberger/von der Weiden 2002, S. 54).
Ein komplexerer Ansatz stellt integrierte gesundheitsbezogene Interventions- und Versorgungssysteme als Prozesse dar, die Veränderungen in den sozialen Beziehungen und institutionellen Strukturen
neben Modifikationen der beruflichen Kompetenzen sowie einem Wandel
des Status und der Einkommensrelationen umfassen (vgl. Kühn 2001, S. 7
ff.). Ziel der Integration sei ein umfassendes, koordiniertes und
kontinuierliches Leistungsangebot. Dieses Angebot erstreckt sich über
institutionelle Grenzen hinweg und ist langfristig konzipiert. Analog zur
soziologischen Definition wird Integration beschrieben als „die Synthese von
Einheiten zu einem neuen Ganzen“ (Kühn 2001, S. 10). Eine Differenzierung des
Gesundheitswesens, die in Spezialisierungen und Arbeitsteilungen
deutlich wird, ist als unvermeidbare Konsequenz des medizinischen
Fortschritts anzusehen. Die entsprechende Reaktion hierauf bedeutet
keine Reduzierung der Behandlungsfortschritte, sondern einen
gesundheitspolitisch zu organisierenden Prozess der Integration, der die
Zerlegung des Zusammenhangs wieder aufhebt. Integration betont die
Neuordnung der Organisation.
Ziel ist der Aufbau von
Unternehmensnetzwerken
über
den
gesamten
Versorgungszusammenhang und die Reduktion von Schnittstellen, um
Doppeluntersuchungen, Vernachlässigung von Prävention, überflüssige
Diagnostik, Brüche im Behandlungsprozess sowie Konflikte und
Konkurrenzen zwischen Leistungsanbietern zu vermeiden. Im Gegensatz
zum Begriff der Integration betont der Begriff der Verzahnung die
Existenz mehrerer getrennter Identitäten. Die bestehenden Einheiten
werden lediglich miteinander in Beziehung gesetzt, verzahnt. Verzahnungen, die im Hinblick auf Integration entstehen, können sich förderlich auf den Prozess auswirken (vgl. Mühlbacher 2002, S. 64).
Integrierte Versorgung soll als Instrument effektiver und effizienter
Nutzung der eingesetzten Mittel zur Verbesserung der Lebens- und Versorgungsstrukturen der Patienten genutzt werden. Integration stellt eine
gesellschaftliche Investition in verbesserte Lebensqualität dar (vgl. Kühn
2001, S. 69). Ziel der Integrierten Versorgung ist die Aufhebung der
bisherigen sektoralen Trennung in ambulante und stationäre Versorgung.
Sie folgt somit dem Gedanken einer integrierten Versorgungskette, die be-
16
reits Badura (1996 a, S. 290) in seinen Ausführungen zur Gestaltung stationärer Versorgung favorisiert. Neben den stationären und ambulanten Einrichtungen sind die Pflege- und andere Heilberufe als Leistungsanbieter in
die Integrierte Versorgung einzubeziehen. Die verschiedenen Fachdisziplinen der Medizin, Pflege, Sozialarbeit etc. arbeiten interdisziplinär zusammen. Integrierte Versorgungsformen lassen sich in die indikationsspezifische Versorgung und die nicht indikationsspezifische Versorgung unterteilen, wobei sich die erstere auf Versorgungsketten für Versicherte mit
speziellen chronischen und versorgungsintensiven Erkrankungen bezieht.
Die zweitgenannte befasst sich mit der umfassenden Behandlung aller
Versicherten. Die Idee des Versorgungskonzeptes, eine bessere Koordination der Dienstleistungen und Kooperation der Beteiligten, setzt eine
funktionierende Kommunikation voraus. Hierzu zählen die Information
der Nutzer eines Dienstes, Informationen über Behandlungsschritte an alle
an der Leistungserbringung Beteiligten sowie ein verbindlicher Handlungsrahmen für Vereinbarungen. Grundlage hierfür ist eine informelle
Vernetzung, ein Informationssystem, das entlang der Versorgungskette
den Leistungserbringern sowie den Kostenträgern und Patienten die nötigen Informationen zur Verfügung stellt. Dem Informationssystem
kommt im Prozess der Integration eine zentrale Rolle zu (vgl. Kühn 2001,
S. 64; Mühlbacher 2002, S. 69).
2.2.2 Möglichkeiten und Grenzen Integrierter Versorgung
Bestrebungen zur Überwindung der sektoralen Trennung zwischen
ambulanter und stationärer Versorgung lassen sich bereits seit zwanzig
Jahren beobachten. Mit der Öffnung der Krankenhäuser für ambulante
Operationen und der Möglichkeit zu vor- und nachstationärer
Behandlung wurde 1992 der politisch weitreichendste Ansatz realisiert.
Die im Reformansatz 1997 konzipierte Verzahnung von ambulantem und
stationärem Sektor trat mit dem Scheitern dieser Entwürfe in den
Hintergrund. Seither sind Verzahnungen im Rahmen der gesetzlichen
Möglichkeiten den Selbstverwaltungen überlassen. In der Folge wurden
Modellvorhaben und Strukturverträge entwickelt und eingeführt (vgl.
Dieffenbach/Landenberger/von der Weiden 2002, S. 58 f.). Durch
Strukturverträge wird die Gewährleistung von Qualität und
Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung an Hausärzte oder
Praxisnetze übertragen. Ziel von Modellvorhaben ist die Verbesserung
17
von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Versorgung. Modellvorhaben
sind auf höchstens acht Jahre begrenzt, Strukturverträge auf Dauer
angelegt. Neben zeitlichen Abgrenzungskriterien zeigen sich Unterschiede
in der Partizipation der Versicherten. Während die Modellvorhaben
finanzielle Anreize in Form von Bonussystemen ermöglichen, sehen die
gesetzlichen Grundlagen für Strukturverträge keine finanziellen Anreize
für Versicherte vor (vgl. Amelung/Schumacher 2000, Kap. 5).
Mit der GKV-Gesundheitsreform 2000 setzte der Gesetzgeber neue
Schwerpunkte auf die sektorenübergreifende Versorgung. Das Reformvorhaben konnte nur teilweise realisiert werden, da wesentliche Punkte
durch die Ablehnung im Bundesrat scheiterten. Durch die Streichung des
Globalbudgets blieb es beim Erhalt der sektoralen Budgets, und auch die
Krankenhausinvestitionen verblieben in Länderzuständigkeit. Seit dem
01.01.2000 waren mit den §§ 140 a – h SGB V eine Vielzahl an Kooperations-möglichkeiten gegeben, ohne jedoch konkrete Optionen oder Strukturen vorzuschreiben. Die gesetzlichen Möglichkeiten, neue Versorgungskonzepte als Modellvorhaben oder Strukturverträge zu erproben, lösten
im ambulanten Bereich zunächst zahlreiche Initiativen aus. Dennoch fällt
die Zwischenbilanz eher enttäuschend aus. Die Diskrepanz zwischen den
Zielsetzungen und der bisherigen Situation integrierter Versorgungsansätze beruht auf unzureichenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und
ungelösten Planungs- und Managementproblemen der jeweiligen Netzbetreiber. Der SVRKAiG (2003, S. 509) benennt in seiner Untersuchung zur
Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen die gesetzlichen Rahmenbedingungen als Hindernisse für Integrationsansätze. So schließen beispielsweise Strukturverträge die Mitwirkung von Krankenhäusern, von
Arzneimittelherstellern und Anbietern von medizintechnischen Leistungen aus. Zusammenfassend ist festzustellen, dass außer einigen fragmentarischen Bestimmungen keine umfassenden gesetzlichen Vorschriften zur Integrierten Versorgung vorliegen und die konkrete Ausgestaltung der Selbstverwaltung überlassen ist, die wiederum ihre Handlungsmöglichkeiten bisher nicht nutzte (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S.
230).
Da sich Integration nicht als Ergebnis von Gesetzesbeschlüssen im
Selbstlauf einstellt, sondern Integration Prozesscharakter besitzt, der ökonomische, soziale und kulturelle Prozesse einschließt, ist es allein mit Re-
18
formen, der Umlenkung von finanziellen Ressourcen, neuen Vertragsmöglichkeiten oder monetären Anreizen nicht getan. Zu berücksichtigen
sind zudem alle am Prozess beteiligten Personen sowie die zur Verfügung
stehenden sächlichen Ressourcen wie Technologie, Wissen und Informationen. Integrative Prozesse bestehen aus Veränderungen der sozialen Beziehungen, der beruflichen Kompetenzen, der Einkommensrelationen und
des Status sowie der institutionellen Strukturen und ihrer Kultur (vgl.
Kühn 2001, S. 7 ff.).
Ein Blick in Richtung Wirtschaft lässt erkennen, dass hier breit angelegte
Diskussionen vor dem Hintergrund des Konzeptes Lean Management
über Grundsätze der Arbeits- und Personalgestaltung geführt werden und
der Produktionsfaktor Arbeit, also das Personal und die Organisation
wieder in den Vordergrund rücken. Nach dem Lean Management Ansatz
ist der menschliche Faktor ausschlaggebend für den Wettbewerb, die
Kreativität der Beschäftigten, Flexibilität und Effizienz der Produktionsorganisation sowie Qualität und Umweltfreundlichkeit der Produkte.
Somit verlagert sich der Fokus von der Naturwissenschaft und Technik
auf Kreativität in der Gestaltung der Arbeitsorganisation. Drei
Gestaltungsprinzipien des Lean Managements werden – soweit es überhaupt möglich ist, Prinzipien marktorientierter Industrieproduktionen auf
die Erbringung personenbezogener Dienstleistungen zu übertragen – für
das Gesundheitswesen näher skizziert. Das wichtigste Kennzeichen ist die
Gruppenarbeit, die gegenseitige Unterstützung fördert, die Arbeitsvielfalt
erhöht und die Verantwortung an den Ort der Leistungserbringung zurückverlagert. Für die Institution Krankenhaus würde dadurch die Identifikation mit der eigenen Arbeitsgruppe größer werden als die mit der
eigenen Berufsgruppe. Eine besondere Schwierigkeit liegt jedoch darin,
dass im Krankenhaus Gruppenarbeit stets Arbeit in Gruppen bedeutet,
deren Mitglieder bezüglich Qualifikation und Vergütung differieren.
Neben der Einführung von Gruppenarbeiten ist die Vernetzung mit
Dritten ein wesentliches Gestaltungsprinzip des Konzeptes, was dem
Gesundheitswesen zunehmende Effektivität und Effizienz sichert. Eine
wesentliche Gestaltungsaufgabe, die im Bereich des personenbezogenen
Dienstleistungsbereichs besteht, liegt in der Systemgestaltung des
Gesundheitswesens in der Verbesserung der Patientenorientierung durch
Patientenpartizipation. Die Betrachtung des Patienten als ernst zu
nehmendes Subjekt sollte bei der Gestaltung des Leistungsgeschehens im
Gesundheitswesen Einzug halten (vgl. Badura 1996 a, S. 255 ff.).
19
Bisherige Diskussionen zur Integration wurden im Kontext gefährdeter
Beitragssatzstabilität geführt und somit dem Druck unmittelbar wirksam
werdender Kostenentlastung ausgesetzt. Innovative Versorgungsformen
aber sind mit Risiken und Mehraufwand verbunden (vgl. Conrad 2001, S.
5). Integrationsbemühungen gehen mit Investitionen zur Anpassung der
Strukturen in den Einrichtungen bzw. Praxen einher, denen ein unsicherer
erst künftiger Nutzen gegenübersteht. Je breiter das Integrationsspektrum
ist, desto größer wird die Zeitspanne zwischen den Investitionen und den
durch sie erzielten Erträgen. Nach Meinung des SVRKAiG (2003, S. 510)
benötigen Integrationskonzepte ein Startkapital bzw. eine Anschubfinanzierung.
Im Zuge der Integration bisher klar abgegrenzter Sektoren entwickelte
sich das Problem des Konkurrenzkampfes um die Patienten an den
Schnittstellen (vgl. Szathmary 1999, S. 64). Die Verzahnungsversuche
durch die wechselseitigen Öffnungen des stationären wie des ambulanten
Sektors für den jeweils anderen Bereich brachten den dem erwünschten
entgegengesetzten Effekt mit sich und verdeutlichen die Verteilungskonkurrenz. Einem Bericht zufolge (vgl. Bruckenberger 1997, S. 354) sind vier
Millionen zusätzliche ambulante Operationen in Praxen zu verzeichnen,
die jedoch keine verringernde Auswirkung auf die Zahl der Krankenhausoperationen mit sich brachten, sondern vermehrend hinzutraten. Dieses
Beispiel unterstreicht obige Darlegung, dass allein per Gesetz Integration
nicht zu regeln ist. Die beispielsweise per Gesundheitsstrukturgesetz
(GSG) beschlossene Öffnung von Krankenhäusern für ambulante Operationen wird vom SVRKAiG als Weg zur Überwindung der jahrelang beklagten Trennung von ambulantem und stationärem Sektor und generell
zur flexibleren Handhabung der Schnittstellen zwischen Akutkrankenhaus und der Versorgungsumwelt gewürdigt (vgl. Badura 1996 a, S. 287).
Verzahnungen, die im Kontext kurzfristiger Kostendämpfungen stehen,
sind mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt, wohingegen
mittel- und langfristige Integrationsstrategien Einsparpotenziale vermuten
lassen. „Integration ist primär keine Kostendämpfung“ (Kühn 2001, S. 76).
Die Wettbewerbsordnung in der GKV steht der Implementierung von
integrativen Versorgungsprojekten in zwei Punkten entgegen. Auf der
einen Seite werden derartige Projekte aufgrund betriebswirtschaftlicher
20
Aspekte von Krankenkassen abgelehnt, da spezielle Programme zur Versorgungsverbesserung einen Zulauf von teuren Versicherten für die
Kassen bedeuten können. Auf der anderen Seite werden in Modellprojekten gewonnene Erkenntnisse verzögert, nur zum Teil oder gar nicht transparent gemacht, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber den Konkurrenten zu sichern (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 233 f.). Eine Verknüpfung von Integration und wirtschaftlichem Wettbewerb und damit
einhergehender Konkurrenz birgt die Gefahr, dass sich die Beteiligten als
konkurrierende Einzelunternehmen verhalten. Im Ergebnis lässt sich
daher annehmen, dass sich das Versorgungssystem nichtökonomischen
Zielen verschließt (vgl. Kühn 2001, S. 7 ff.).
Blickt man auf die Erfahrungen anderer Länder, so ist davon auszugehen, dass Integration ein Prozess geprägt von Makeln und Fehlpässen ist,
die es gilt zu erkennen und zu lernen, dass sich ergebende Revisionen
selbstverständlich sind. Integrationsbemühungen setzen Handlungsweisen voraus, die vom Verständnis für die Komplexität und Vielschichtigkeit der Integrationsprozesse geprägt sind, orientieren sich an
Teilzielen und werden mit einer langfristigen gesundheitspolitischen Perspektive verknüpft. Demnach stehen weder Sparpotenziale oder Qualitätsverbesserungen als Erstes auf der Tagesordnung, sondern das Management umfassender Lernprozesse, das Sammeln von Erfahrungen mit
sich ändernden Strukturen und Institutionen sowie die Entwicklung entsprechender Informationsstrukturen. Die Integrationsperspektive erfordert eine Vielzahl inhaltlicher Veränderungen der Arbeit und besteht
wesentlich aus Lernprozessen innerhalb sich wandelnder Strukturen und
Organisationen. So müssen Ärzte beispielsweise lernen, in Teams zu
arbeiten und zu kooperieren, systematisch und ergebnisorientiert zu
denken, nach Standards zu arbeiten und ihre Autonomie mit anderen zu
teilen (vgl. Kühn 2001, S. 8).
In der Diskussion um Integration und Sicherstellungsauftrag wird auf
einen für die Integration attraktiven Aspekt aufmerksam gemacht (vgl.
Kühn 2001, S. 70 f.). Bei Übernahme des Sicherstellungsauftrages für die
medizinische Versorgung durch die Krankenkassen als Finanzträger
erhalten diese die Möglichkeit, Verträge mit ausgewählten Leistungsanbietern für das Spektrum der Kassenleistungen abzuschließen. Dieses
Modell, als Einkaufsmodell bekannt, bedarf einer weitgehenden
21
Vertragsfreiheit zwischen Kassen und Leistungserbringern. Vor dem Hintergrund Integrierter Versorgung läge hier die Chance, dass Kassen mit integrierten Netzwerken Versorgungsverträge vereinbaren können. Zu weiteren Integrationsansätzen (vgl. Schrappe 2003, S. 84 f.) zählen Institutionelle Leitlinien und Clinical Pathways, die der Abstimmung
inhaltlicher und organisatorischer Schnittstellenprobleme dienen. Sie sind
die
aktuellen
Strategien,
Integrationsdefiziten
innerhalb
von
Krankenhäusern zu begegnen. Die organisatorische Zusammenführung
von Abteilungen, die Bildung von Zentren fördert die Kooperation
insbesondere
von
Fächern.
Interprofessionelle
Teams,
die
berufsübergreifend zusammenarbeiten, bilden eine Form horizontaler
Integration. Abseits der hierarchischen Zuordnung wird vor Ort eine den
Notwendigkeiten entsprechende sachbezogene Kooperation installiert.
Entscheidungsgrundlagen ärztlich-diagnostischer und therapeutischer
sowie pflegerischer Herangehensweisen sind evidenzbasiert. Erst nach
Klärung der Wirksamkeitsfrage ist die Klärung der ökonomischen
Machbarkeit und einer rationalen Entscheidung über Mittelzuwendungen
möglich.
Mit der Einführung von Disease Management Programmen sind erste
Schritte eingeleitet, um über Sektorengrenzen hinwegreichende Versorgungsformen zu schaffen. Insbesondere Krankenkassen richten ihr Interesse darauf, da sie im Zuge der Reform des RSA die Wettbewerbsposition
der Kassen aufgrund erwarteter finanzieller Umverteilungen beeinflussen
können. Das folgende Kapitel erörtert den Einzug des Disease Managements in das deutsche Gesundheitssystem sowie deren Bedeutung für die
Versorgung chronisch Kranker.
3 DISEASE MANAGEMENT: ZIELE UND KONZEPTION
In den 80er Jahren entstand in den USA im Kreis von Managed Care Institutionen mit Unterstützung großer pharmazeutischer Firmen das Konzept des Disease oder Krankheits-Managements. In der Literatur existiert
keine einheitliche Definition von Disease Management, woraus sich
höchst unklare Erwartungen an dieses Konzept ergeben. Ein Großteil der
Krankenkassen hofft, von den Finanztransfers zu profitieren, wohingegen
die Kassenärztlichen Vereinigungen ihre Definitionsmacht bedroht sehen
22
und Ärzte fürchten zu Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen gemacht zu
werden. Daher scheint es notwendig, den Begriff näher zu betrachten.
Disease
Management
ist
ein
Steuerungsinstrument
in
der
Gesundheitsversorgung, das als ganzheitlicher Ansatz eine Vernetzung
der verschiedenen an der Therapie beteiligten Versorger und Maßnahmen
anstrebt. Es handelt sich um einen kontinuierlichen und koordinierten
Prozess, um den Gesundheitszustand einer definierten Population über
den gesamten Verlauf einer Erkrankung zu managen und zu verbessern.
An die Stelle der bisherigen fragmentierten Versorgung, die auf einzelne
Krankheitsepisoden und einzelne Leistungserbringer fokussiert ist, tritt
eine integrale Betrachtung effizienter und effektiver Behandlungs- und
Betreuungspfade (vgl. Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 26).
Die Umsetzung von Disease Management erfolgt in Form von Programmen, die eine Zusammenstellung mehrerer, aufeinander abgestimmter Maßnahmen beinhalten. Disease Management umfasst solche Programme, die eine langfristige, evidenzbasierte und sektorenübergreifende
Versorgung bestimmter Erkrankungen koordinieren. Disease Management Prozesse unterliegen nicht den Beschränkungen institutioneller
Grenzen, sondern verknüpfen sämtliche Maßnahmen von der Prävention
über Diagnostik und Behandlung bishin zur Nachsorge zu einem kohärenten Prozess. Chronische Erkrankungen erfordern im Gegensatz zur
Akutmedizin Programme, die der fragmentierten, episodenhaften und
sektoral begrenzten Versorgung entgegenwirken. Die Versorgung großer
Bevölkerungsgruppen mit chronischen Erkrankungen umfasst Prävention,
Therapie und Verlaufskontrolle und wird über verschiedene Versorgungseinrichtungen und Krankheitsstadien koordiniert. Im Mittelpunkt stehen
solche Behandlungen, die erwiesenermaßen das Fortschreiten der Krankheit und das Entstehen von Komplikationen günstig beeinflussen. Um
dies zu erreichen, wird das Selbstmanagement der Erkrankung durch den
Patienten
gestärkt.
Das
geschieht
durch
verstärkten
Informationsaustausch, Schulungsprogramme und eine gezielte
Kontaktaufnahme mit dem Patienten. Wichtige Voraussetzung für den
Erfolg jedes Disease Management Programms ist die Einbindung des
Patienten in Entscheidungsprozesse und die Mitgestaltung der Therapie
durch ihn. Das Bestreben von Disease Management ist die standardisierte
Behandlung eines gesamten Krankheitsbildes (vgl. Schönbach 2003, S.
217). Disease Management versucht eine allgemeine Verbesserung der
23
Gesundheitsversorgung zu erzielen. Unter Einbezug dieser Ansprüche
wird folgende Arbeitsdefinition für Disease Management in Deutschland
zugrunde
gelegt:
„Disease
Management
ist
ein
systematischer,
sektorenübergreifender und populationsbezogener Ansatz zur Förderung einer
kontinuierlichen, evidenzbasierten Versorgung von Patienten mit chronischen
Erkrankungen über alle Krankheitsstadien und Aspekte der Versorgung hinweg. Der
Prozess schließt die kontinuierliche Evaluation medizinischer, ökonomischer und
psychosozialer Parameter sowie eine darauf beruhende kontinuierliche Verbesserung der
Versorgungsprozesse auf allen Ebenen ein“ (Lauterbach o. J., S. 23). In diesem
Sinne bedeutet Disease Management für alle Gesundheitsfachberufe einen
Paradigmenwechsel von einem traditionellen Betreuungsverständnis hin
zu neuen Inhalten und Funktionen.
Da Disease Management Programme in Deutschland eng mit einer Reform des RSA der GKV verbunden sind, schließt sich zunächst ein kurze
Erörterung des RSA und die Notwendigkeit seiner Reform, deren wesentlicher Bestandteil die Förderung von Disease Management Programmen
ist, an.
3.1 Disease Management Programme als Folge der Neuordnung
des Risikostrukturausgleichs
Die Aufgabe des RSA in der GKV besteht darin, die beiden Strukturprinzipien Solidarität und Wettbewerb miteinander zu verbinden. Das
Konzept des RSA geht davon aus, dass die Strukturen der Krankenkassen
von Parametern bestimmt werden, die die einzelne Kasse nicht oder nur
beschränkt beeinflussen kann. Daher werden nach § 266 SGB V als maßgebliche Risikofaktoren die beitragspflichtigen Einnahmen, die Anzahl der
Familienversicherten, das Alter und Geschlecht der Versicherten sowie die
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrentner im Ausgleichsverfahren berücksichtigt. Bei der Definition der Risikobelastungen der Krankenkassen hat
der Gesetzgeber bewusst nur die Belastungsunterschiede der Kassen berücksichtigt, die auf die genannten Unterschiede in den Versichertenstrukturen zurückzuführen sind. Dadurch wird das Interesse der Krankenkassen an der wirtschaftlichen Gestaltung der Leistungserbringung gestärkt. Ausgabenunterschiede, die auf unterschiedliche Versorgungsstrukturen, auf unterschiedliche Verwaltungskosten oder auf unterschiedliche
Vergütungsabschlüsse im Vertragsbereich zurückzuführen sind, werden
24
im RSA nicht berücksichtigt. Diese Belastungen werden ausschließlich
über den Beitragssatz der Krankenkassen finanziert. Durch den RSA soll
sichergestellt werden, dass die Beitragssatzdifferenzen nicht die unterschiedlichen Risikostrukturen der Versicherten widerspiegeln, sondern
die Unterschiede in der Wirtschaftlichkeit der Kassen in Bezug auf die
Leistungserbringung.
Dadurch
sollen
die
Beitragssätze
zu
Wettbewerbsparametern werden. Die Idee des RSA liegt darin, alle Kassen
finanziell so zu stellen, als ob ihre Versicherten die durchschnittliche
Risikostruktur der gesetzlichen Kassen aufwiesen. Krankenkassen mit
einer überdurchschnittlich günstigen Risikostruktur hinsichtlich der
Risikofaktoren leisten Finanztransfers an Krankenkassen mit einer
überdurchschnittlich nachteiligen Risikostruktur. Dementsprechend
entlastet der RSA seit 1994 Krankenkassen mit ungünstigen
Risikostrukturen zu Lasten der Kassen, die aufgrund des Alters,
Geschlechts und der Familien- oder Einkommenssituation der
Versicherten günstigere Versichertenstrukturen haben (vgl. Stegmüller
1996, S. 111 f.).
Aktuelle Analysen (vgl. IGES/Cassel/Wasem 2001; Lauterbach/Wille
2001) ergaben übereienstimmend, dass sich der RSA einerseits tendenziell
bewährt hat, andererseits jedoch erhebliche Defizite aufweist, die eine
Weiterentwicklung der Ausgestaltung des RSA erfordern. Der lediglich finanzielle Ausgleich zwischen den Krankenkassen bietet keinerlei Anreize
zur Verbesserung der Versorgungsqualität. Insbesondere die Versorgung
chronisch Kranker leidet darunter, da sich Kassen der spezifischen Versorgungsbedarfe dieser Versicherten unzureichend angenommen haben (vgl.
Jacobs 2003, S. 209). Diese Zurückhaltung lässt sich darauf zurückführen,
dass Kassen bei Bemühungen um eine verbesserte Versorgung chronisch
Kranker einen Zulauf dieser Versicherten befürchten, da diese in aller
Regel überdurchschnittliche Ausgaben verursachen. Chronische Erkrankungen verursachen einen beträchtlichen Teil der Krankheitskosten:
Die Leistungsausgaben für chronisch kranke Versicherte liegen um ein
Vielfaches höher als die Leistungsausgaben durchschnittlicher Versicherter. Da diese durchschnittlichen Mehrkosten im RSA jedoch nicht ausgeglichen werden, stellen Chroniker ungünstige Risiken dar. Vor dem
Hintergrund dieser Ergebnisse trat zum 01.01.2004 das Gesetz zur Reform
des Risikostrukturausgleichs in der GKV in Kraft. In der Konsequenz soll
dies dazu führen, dass der Beitragsbedarf, der jeder Kasse zugerechnet
25
wird, ab 01.01.2007 auf der Grundlage direkter Morbiditätsindikatoren ermittelt wird. Die Reform zielt darauf ab, die Morbidität der Versicherten
im Rahmen des RSA besser abzubilden, weil die bisherigen
Ausgleichsfaktoren Alter, Geschlecht sowie der Bezug einer
Erwerbsminderungsrente die Morbiditätsunterschiede nicht genügend
berücksichtigen.
Als Einstieg in die direkte Morbiditätsorientierung des RSA erfolgt bereits ab 01.07.2002 eine gesonderte Berücksichtigung der Versicherten, die
sich in akkreditierte Disease Management Programme eingeschrieben
haben. Hierdurch soll der Wettbewerb um gesunde Versicherte durch
einen Wettbewerb um Versorgungsqualität und Versorgungseffizienz
ersetzt werden. Die angemessene Versorgung chronisch Kranker kann gefährdet werden, wenn die Behandlung dieser Patientengruppen aufgrund
schlechter Rahmenbedingungen für die Krankenkassen und Leistungsanbieter in Bezug auf Chroniker mit finanziellen Risiken und Einkommenseinbußen behaftet ist. Weiterhin läuft die segmentierte, episodenhafte und sektoral zergliederte Versorgung in der GKV den Bedürfnissen
der chronisch Kranken zuwider. Die Implementierung von qualitätsgesicherten Disease Management Programmen eröffnet insbesondere für
chronisch Kranke neue Perspektiven.
3.2 Zielsetzung von Disease Management Programmen
Die Einführung von Disease Management Programmen in das System
der GKV wurde in erster Linie durch zwei Entwicklungen im deutschen
Gesundheitswesen beeinflusst. Zum einen soll die Versorgung chronisch
Kranker verbessert werden. Zum anderen zielt der Gesetzgeber mit Disease Management Programmen darauf ab, die Finanzsituation der Kassen
mit hohem Anteil chronisch Kranker zu konsolidieren und somit die Beitragssatzunterschiede zwischen den Kassen zu verringern. Disease Management soll Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Versorgung
chronisch Kranker abbauen. Dies soll im medizinischen Bereich zu verbesserten Outcomes und im ökonomischen Bereich zur Kostenstabilisierung führen. Diese Aspekte werden nachstehend dargelegt.
26
3.2.1 Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker
Die derzeitige Versorgung chronisch Kranker ist gekennzeichnet durch
ein Nebeneinander an Über-, Unter- und Fehlversorgung (vgl. SVRKAiG
2000/2001 Bd. III). Die Ursachen hierfür liegen vor allem in der starren
Trennung der Versorgungssektoren und den noch immer fehlenden
einheitlichen evidenzbasierten Therapieempfehlungen. Dies führt zu
Mehrfachinterventionen in Diagnostik und Therapie, zu unterschiedlichen
Therapieansätzen bei einem Versicherten und zur Diskontinuität der Versorgung. Die Einführung der Disease Management Programme soll der
Implementierung einer sektorenübergreifenden Regelversorgung zur Sicherung der Versorgungsqualität dienen. Disease Management als ein systematischer Behandlungsansatz organisiert für chronisch Kranke eine kontinuierliche und qualitativ hochwertige Versorgung auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Um dieses Ziel zu erreichen, ist insbesondere der Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung vonnöten.
Entsprechend werden im Rahmen der Einführung von Disease Management Programmen zunächst die im Gutachten des SVRKAiG (2000/2001
Bd. III) beschriebenen Bereiche von Über-, Unter- und Fehlversorgung berücksichtigt. Eine ausschließliche Fokussierung auf die Unterversorgung
könnte dazu führen, dass die Defizite der Regelversorgung lediglich
durch die Erbringung zusätzlicher Leistungen in Randbereichen
kompensiert werden. Dies würde das Ziel der Versorgungsoptimierung
verfehlen und gleichzeitig zu einem Kostenschub führen (vgl. Rebscher
2001, S. 4).
Angenommen die Verbesserung der Versorgungssituation chronisch
Kranker, bedeutet eine hochwertige Versorgung in ihrem Sinne, eine patientenorientierte Versorgung chronisch Kranker, ergeben sich demnach
zentrale Ausgestaltungspunkte für Disease Management Programme, um
dieser Zielsetzung gerecht zu werden. Die klinische Akutmedizin als dominierende Versorgungsform unserer Zeit begründet die Fragmentierung
der Gesundheitsversorgung und die Ausrichtung des Versorgungsgeschehens auf akute und episodenhafte Krankheiten, die jedoch den Erfordernissen einer chronischen Erkrankung nicht gerecht wird. Die Konsequenzen für eine bedürfnisorientierte Versorgungsgestaltung lassen sich
27
anhand von fünf Aspekten (vgl. Müller-Mundt und Schaeffer 2003, S. 143
ff.) beschreiben:
Ausrichtung des Versorgungsgeschehens auf Probleme, die das
Leben mit chronischer Krankheit aufwirft
Die Berücksichtigung der Bedeutung der Erkrankung für den Betroffenen im Lebensalltag und somit die Ausrichtung des Versorgungsgeschehens auf Probleme, die das Leben mit einer chronischen Erkrankung
mit sich bringen, sind Kernstücke der Versorgungsqualität. Das Aufgeben
sozialer Rollen, Statusverlust, Verlust an Handlungsautonomie sowie die
Angewiesenheit auf Unterstützung als einige zu nennende subjektive Bewältigungserfordernisse bringen weitreichende Konsequenzen für die
Versorgungsgestaltung mit sich. Die Versorgung muss sich an den für den
Betroffenen zentralen Problemen orientieren und sich nicht einzig auf das
Krankheitsgeschehen konzentrieren. Der Fokus der Professionellen auf
somatische Episoden führt zu einer Perspektivungleichheit, da diese Probleme aus Sicht der Betroffenen meist sekundär sind. Die unzureichende
Beachtung von Begleiterscheinungen der Erkrankung sowie die zuvor beschriebene Perspektivungleichheit könnten zu Interventionen führen, die
nicht die gewünschten Effekte zeitigen (vgl. Müller-Mundt/Schaeffer 2003,
S. 144). Badura fasst in einem Satz treffend zusammen: „Krankheitsbewältigung (Perspektive der Patienten und ihrer Angehörigen) beinhaltet mehr und anderes als
Beherrschung somatischer Prozesse (Perspektive der Biomedizin)“ (Badura 1996 a, S.
262).
Beachtung der Komplexität der Bewältigungs-herausforderungen
bei chronischer Krankheit
Der Komplexität und Vielschichtigkeit der Bewältigungsherausforderungen bei chronischer Krankheit, die sich aus der wechselseitigen
Durchdringung der Probleme auf biografischer, sozialer und beruflicher
Ebene ergeben, gilt besondere Beachtung. Die mit der Erkrankung
zunehmend schwindenden Ressourcen zur Aufrechterhaltung der für
Chroniker essenziellen Autonomie erfordert in der Versorgungsgestaltung
die Stärkung individueller Bewältigungskompetenzen (vgl. MüllerMundt/Schaeffer 2003, S. 145).
Sicherung sozialer Ressourcen
Der Sicherung sozialer Ressourcen sowie der Einbeziehung und der
Unterstützung des sozialen Netzes in das Versorgungsgeschehen kommt
28
während der Bewältigung einer chronischen Erkrankung besondere Bedeutung zu. Familien erbringen beachtliche Anpassungsleistungen, die
zum Teil mit der Übernahme von Anteilen der Rolle des Erkrankten
einhergehen und auf Dauer zu Überbeanspruchung führen können. Zugleich erleben sich Betroffene im Krankheitsverlauf auf ihr primäres soziales Netzwerk beschränkt. „Da gingen ganz viele Freundschaften daran kaputt,
weil die das ja nicht nachvollziehen konnten“ (Müller-Mundt/Schaeffer 2003, S.
145).
Milderung von Unsicherheit
Vor dem Hintergrund des nicht absehbaren Verlaufes der Erkrankung
und der Symptomlage, ist das Leben der Betroffenen geprägt von Unsicherheit und Unplanbarkeit, was die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe
massiv einschränkt. Unsicherheit beinhaltet in diesem Sinne zum einen
die Unberechenbarkeit des Krankheitsverlaufes und zum anderen den
Verlust von Handlungs- und Funktionsfähigkeit, was zu immensen
Belastungen und Beeinträchtigungen des emotionalen Wohlbefindens in
all seinen Facetten führen kann. Professionelles Handeln soll den
Betroffenen Rückhalt geben und erfordert ein hohes Maß an Sensibilität
(vgl. Müller-Mundt/Schaeffer 2003, S. 145 f.).
Unterstützung bei der Versorgungsnutzung
Das Gesundheitssystem Deutschlands ist für Patienten oft undurchsichtig und erfordert daher deren Unterstützung bei der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen. Gerade zu Beginn einer Erkrankung
gestaltet sich der Weg durch die Versorgungslandschaft oft als Odyssee.
Im weiteren Verlauf einer chronischen Erkrankung werden neben der
medizinischen Behandlung rehabilitative und psychosoziale Hilfen sowie
vielfach professionelle Pflege notwendig. Monetäre Belastungen infolge
der gesundheitlichen Einschränkungen, die vielfach nicht aus eigenen
Mitteln ausgeglichen werden können, erfordern Informationen und
Orientierungshilfen zu finanziellen Ansprüchen. Hierzu zählen
Leistungen unterschiedlicher Bereiche der Sozialversicherung. Eine
Beratung kann zudem Hilfestellungen beim zielgerichteten Vorgehen und
der Leistungsauswahl beinhalten. Fehlende Informationen über
Zugangsmöglichkeiten oder die mühsam erscheinende Beantragung
führen dazu, dass Betroffene finanzielle Hilfen teilweise nicht in dem
Ausmaß nutzen, wie sie ihnen zustehen. Um Versorgungslücken und
Abwege durch das Gesundheitssystem zu vermeiden, sind direkte
29
Angebote zur Information und Beratung in einer für Patienten nutzbaren
Weise nötig (vgl. Müller-Mundt/Schaeffer 2003, S. 146).
Die Verbesserung der Versorgungssituation chronisch Kranker, als eine
Zielsetzung der Disease Management Programme, setzt ein umfassendes
Versorgungskonzept voraus, welches die Betroffenen und ihr soziales
Umfeld bei der Bewältigung der vielfältigen Probleme langfristig unterstützt. Angesichts der langjährig gewachsenen Desintegration der Versorgung bedarf es einer Unterstützungsleistung in Form einer Begleitung
durch das Versorgungssystem. Die Bemühungen der Systemgestaltung im
Gesundheitswesen müssen die Situation und Problemsicht der
Betroffenen in den Mittelpunkt der Bestrebungen stellen sowie der
Komplexität und dem Prozesscharakter ihrer Krankheit gerecht werden.
So dürfen beispielsweise die wachsende Anzahl biotechnisch
ausgebildeter Kardiologen und die technologisch hoch spezialsierten
Herzzentren nicht die einzig angemessene Antwort auf die koronaren
Herzkrankheiten als häufigste Todesursache sein (vgl. SVRKAiG
2000/2001 Bd. III, S. 86). Für eine dem tatsächlichen Bedarf der Betroffenen
angepasste Gestaltung der Versorgung ist die Betrachtung der
Versorgungsprobleme und Bewältigungserfordernisse aus ihrer Sicht und
der ihrer Angehörigen fundamental (vgl. Badura 1996 a, S. 262). Unter der
Voraussetzung, dass Disease Management Programme nicht allein das
Krankheitsmanagement fokussieren, sondern auch die vielfältigen
subjektiven Dimensionen der Bewältigung des Lebens mit einer
chronischen Erkrankung in gleichem Maße berücksichtigen, können diese
den Problemlagen der wachsenden Gruppe chronisch Kranker gerecht
werden.
3.2.2 Kostenstabilisierung
Das zweite Ziel der Disease Management Programme, die Kosteneffizienz, wird in der Literatur vielfach diskutiert. Bei der Umsetzung des Konzepts des Disease Managements und der damit verbundenen sektoralen
Verknüpfung ist davon auszugehen, dass sich der bisherige Finanzbedarf
nicht reduziert, sondern dass sich die Ausgabenströme im Gesundheitswesen verändern werden. Der stationäre Sektor wird seine Rolle als dominierender Sektor einbüßen (vgl. Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 7).
Im Positionspapier zum Disease Management Programm Diabetes mellitus Typ 2 (vgl. Landgraf et al. 2004, S. 8) wird deutlich, dass mit der Ein-
30
führung der Programme mit einem deutlichen Anstieg der Verwaltungskosten bei den Krankenkassen zu rechnen sei, die auf breit angelegte
Werbe- und Rekrutierungskampagnen zurückzuführen sind. Ferner ließe
sich nicht abschätzen, mit welchem finanziellen Aufwand die Disease Management Programme umgesetzt werden können. Neben den Mitteln für
die Werbung von Versicherten stehen die Kosten für die Organisation des
Datenaustausches, für die Evaluation der Programme, die Kosten für die
Honorierung der Dokumentationsleistungen sowie für die Ausbildung
von Kassenangestellten zu Fallmanagern. Die Hoffnung der Vertreter
dieses Positionspapiers liegt darin, dass sich diese Ausgaben durch die
niedrigeren Folgekosten, die sich aus der besseren Versorgung eines am
Disease Management Programm teilnehmenden Chronikers ergeben, refinanzieren. Außerhalb dieser ökonomischen Betrachtung steht der erhoffte
Gewinn an Lebensqualität, den alle Beteiligten als Wert an sich anstreben
sollten. Präziser zeigt eine detaillierte Analyse (vgl. Lauterbach o. J., S.
281) zur Kosteneffizienz von Disease Management Programmen, dass sich
die Kosten für die Programme aus verschiedenen Komponenten, den einmaligen und den laufenden Kosten zusammensetzen. Zu den einmaligen
Kosten zählen die Einführungskosten, die Werbekosten und die Akkreditierungskosten. Die laufenden Kosten ergeben sich aus den
Verwaltungskosten inklusive der Kosten für ein erweitertes Datenmanagement, den Schulungskosten für die Patienten, den Kosten für zusätzliche über bisherige Untersuchungen hinausgehende Behandlungen der Patienten sowie den Kosten der Mehrbehandlung aufgrund der Lebensverlängerung der Patienten in Disease Management Programmen. Dem
stehen jedoch die durch evidenzbasierte Medizin vermiedenen Kosten
gegenüber, zu denen der Abbau nicht indizierter Leistungen, vermiedene
Krankenhauseinweisungen sowie der Abbau von Überversorgung und
Fehlversorgung mit Arzneimitteln zählen.
Der Leitgedanke des Disease Managements liegt in der Maximierung
der Effektivität der Gesundheitsversorgung unter Optimierung der dabei
verwendeten Ressourcen (vgl. Szathmary 1999, S. 170 f.). Unter Kosteneinsparung oder zumindest einer Begrenzung der Ausgabensteigerung wird
das Ziel der Verbesserung der Versorgungsqualität verfolgt. Die Lebensqualität der Patienten soll steigen wie auch die Zufriedenheit mit der allgemeinen Gesundheitsversorgung durch die optimierte Behandlung. Der
Anteil unkoordinierter, ineffizienter und unwirtschaftlicher Untersu-
31
chungen soll sinken. Diese Ziele werden jedoch aus unterschiedlichen
Blickwinkeln betrachtet. Das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Interessen generiert ernsthafte Probleme für die Entwicklung und Durchführung von Disease Management Programmen. Die Patienten werten die
Verbesserung ihres Gesundheitszustandes als Erfolg, während für Ärzte
die Optimierung klinischer Parameter im Vordergrund steht. Ein Kostenträger hingegen verfolgt zuerst seine ökonomischen Ziele. Folglich können
Disease Management Programme nur dann erfolgreich sein, wenn sie so
gestaltet sind, dass sich alle Beteiligten mit ihren Zielen darin wiederfinden können.
Obwohl der medizinische Nutzen der Programme und die im Übrigen
durchschnittlich bessere medizinische Behandlung der Patienten im
Disease Management Programm unbestritten ist im Vergleich zu nicht
eingeschriebenen Patienten, sind noch keine Aussagen zu treffen, ob es
ökonomisch sinnvoll ist, Disease Management Programme einzuführen.
Hierzu ist es nötig, die Kosten und den Nutzen der Programme zu
bestimmen. Dabei ergibt sich wieder das Problem der eingenommenen
Sichtweise beispielsweise des Patienten oder der Krankenkasse. Liegt der
monetäre Nutzen über den verursachten Kosten, ergibt sich eine positive
Kosteneffizienz und die Programme sind ökonomisch sinnvoll.
Gegenteiliges würde sich als ökonomisch widersinnig herausstellen, muss
jedoch nicht zwangsläufig das Ende der Disease Management Programme
bedeuten. Die zwar für die Kasse negative Kosteneffizienz ist aber für den
Patienten aufgrund der medizinisch verbesserten Versorgung vorteilhaft.
Eine Hoffnung läge dann darin, dass das Ansehen bei den Beitragszahlern
so hoch ausfällt, dass sie bereit sind, die Mehrkosten zu tragen. Demnach
würde ein negatives Ergebnis bei der Kosteneffizienz zu einer
vertiefenden Diskussion der Vorzüge für den Beitragszahler führen. Um
Vergleichbarkeit herzustellen, sollte der Nutzen eines Disease
Management Programms in monetären Größen bewertet werden.
Andererseits lassen sich jedoch Lebensqualität oder gewonnene
Lebensjahre sowie Werbeeffekte und Kundenbindungen an die
Krankenkasse nicht in Finanzen ausdrücken. Folglich wirft nicht jedes
Disease Management Programm einen direkten ökonomischen Nutzen für
die Krankenkasse ab (vgl. Lauterbach o. J., S. 279 ff.).
32
Die Zusammenfassung der Ergebnisse wissenschaftlicher Studien aus
den USA, der Schweiz, Schweden oder den Niederlanden, die die Kosteneffizienz von Disease Management Programmen untersuchen, zeigt,
dass aus gesamtgesellschaftlicher Sicht eine ausreichend hohe Evidenz
vorhanden ist. Neben der ausschließlichen Betrachtung der Ausgaben und
Einsparungen der Krankenkasse kommt insbesondere der Qualität der
Programme größte Bedeutung zu. Die Orientierung an evidenzbasierter
Medizin, der Einsatz geschulter Fachkräfte und die stetige Evaluation der
Wirksamkeit sind entscheidende Komponenten. Insgesamt rechtfertigen
und belegen die Vermeidung von Krankenhauseinweisungen, die
Nutzung preiswerter Arzneimittel und die systematische Einführung von
evidenzbasierten Leitlinien in die Routineversorgung, die zur
Vermeidung von Folgeerkrankungen führen und somit kurz- und
langfristige Einsparpotenziale hervorbringen können, die Kosteneffizienz
der Programme. Der vorherrschende Zustand des Nebeneinanders von
Über- wie Unterversorgung lässt vermuten, dass sich möglicherweise
kostendeckende neben nicht kostendeckenden Disease Management
Programmen etablieren (vgl. Lauterbach o. J., S. 292).
Es bleibt jedoch davor zu warnen, übertriebene und einseitige Hoffnungen besonders von Seiten der Kostenträger, kurzfristig Kosten zu
sparen, mit Disease Management Programmen zu verbinden. In Anbetracht des Zeit- und Personalaufwandes beim Aufbau derselben wäre das
eine illusorische Annahme. Eventuell vorhandene Rationalisierungspotenziale und mögliche Einsparungen sind erst nach der Implementierung
und Evaluation auszumachen. Eine ausschließliche Kostenorientierung
wirkt nachteilig, hat das Scheitern von Disease Management Programmen
zur Folge und verhindert den Fokus auf den Patienten und seine
Versorgung.
In den folgenden Abschnitten wird die Entwicklung und die Implementierung der Disease Management Programme im deutschen Gesundheitssystem bis hin zur Akkreditierung der Programme dargestellt.
3.3 Disease Management Programme und ihre Entwicklung
Zum Abbau der Über-, Unter- und Fehlversorgung bei chronischen
Krankheitsbildern setzt die Gesundheitspolitik auf Disease Management
33
Programme. In diesem Zusammenhang kommt dem Koordinierungsausschuss eine besondere Bedeutung zu. Der Koordinierungsausschuss setzt
sich aus der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Deutschen
Krankenhausgesellschaft (DKG), der Bundesärztekammer (BÄK), den
Spitzenverbänden der Krankenkassen mit Ausnahme der SKK, den Vorsitzenden der Bundesausschüsse Ärzte und Krankenkassen und der Zahnärzte und Krankenkassen sowie dem Vorsitzenden des Ausschusses Krankenhaus zusammen. Der Koordinierungsausschuss stellt das Beschlussgremium zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben nach § 137 e Absatz 3
und § 137 f Absatz 1 und 2 SGB V dar (vgl. Bronner 2003, S. 227). Seine
Mitglieder hatten den gesetzlichen Auftrag, dem BMG bis zu sieben
chronische Krankheiten zu empfehlen, für die Disease Management Programme in Frage kommen. Des Weiteren empfiehlt er dem BMG für die
RSAV die Anforderungen für die Ausgestaltung der Disease Management
Programme.
Mit dem 01.01.2002 trat die RSA-Reform in Kraft, worauf bereits am
28.01.2002 der Koordinierungsausschuss folgende chronische Erkrankungen für die Einführung von Disease Management Programmen
empfahl: Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2, Koronare Herzkrankheit
(KHK), chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen und Brustkrebs.
Der Koordinierungsausschuss wählte die zu empfehlenden chronischen
Erkrankungen nach folgenden Kriterien (vgl. SVRKAiG 2003, S. 534) aus:
Zahl der von der Krankheit betroffenen Versicherten
Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität der Versorgung
Verfügbarkeit von evidenzbasierten Leitlinien
sektorenübergreifender Behandlungsbedarf
Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufs durch Eigeninitiative des
Versicherten
hoher finanzieller Aufwand der Behandlung
Nach Bekanntgabe der vier benannten Krankheiten gemäß § 266 SGB V
durch das BMG am 07.02.2002 setzte das BMG dem Koordinierungsausschuss Mitte März ein Frist von vier Wochen für die Erarbeitung der An-
34
forderungen zur Ausgestaltung der strukturierten Behandlungsprogramme. Angesichts des knappen Zeitrahmens und der Komplexität der
Thematik erarbeitete der Ausschuss Empfehlungen zu allgemeinen Anforderungen an die strukturierten Behandlungsprogramme, die für alle
Diagnosen gelten und von speziellen diagnosespezifischen Anforderungen zu unterscheiden sind. Diese speziellen Anforderungen
sollen die allgemeinen für die einzelnen Krankheitsbilder konkretisieren.
Insbesondere sind Anforderungen zu benennen für (vgl. SVRKAiG 2003,
S. 534):
die Behandlung nach evidenzbasierten Leitlinien unter Berücksichtigung des jeweiligen Versorgungssektors
durchzuführende Qualitätssicherungsmaßnahmen
Voraussetzungen und Verfahren für die Einschreibung des Versicherten in ein Programm, einschließlich der Dauer der Teilnahme
Schulungen der Leistungserbringer und der Versicherten
Dokumentation
Bewertung der Wirksamkeit und der Kosten und die zeitlichen
Abstände zwischen den Evaluationen eines Programms sowie
die Dauer seiner Zulassung
Am 13.05.2002 einigte sich der Koordinierungsausschuss mit der vom
Gesetzgeber geforderten Einvernehmlichkeit der Beschlüsse von Kassenund Ärztevertretern auf das Anforderungsprofil für ein Disease Management Programm Diabetes mellitus Typ 2, gefolgt am 13.06.2002 von den
Anforderungen an ein Disease Management Programm Brustkrebs. Nach
der Beschlussfassung fand dann am 17.06.2002 die Anhörung von
Verbänden der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen sowie der
Selbsthilfegruppen im BMG statt. Mit dem 01.07.2002 trat die Vierte
Verordnung der RSAV als Stichtag für die Einführung der Disease
Management Programme in Kraft (vgl. Bronner 2003, S. 227 ff.).
35
Der hier dargestellten Entwicklung der Disease Management Programme stand von vielen Seiten brüske Kritik gegenüber, die bereits an
dieser Stelle erwähnt werden soll. Der Präsident der BÄK Hoppe hält die
Hektik bei der Ausgestaltung der Disease Management Programme für
bedenklich. Die strukturierten Behandlungsprogramme für chronisch
Kranke müssen hohen Qualitätsstandards genügen und sollten nicht aus
politischen Gründen zum 01.07.2002 erzwungen werden, kritisiert Hoppe
(vgl. Rabbata 2002, S. 893). Völlig unrealistische Zeitvorgaben und politischer Aktionismus werden der Gesetzgebung vorgeworfen (vgl. Landgraf et al. 2004, S. 5; Bronner 2003, S. 228). Der SVRKAiG (2003, S. 539) bescheinigt der Verabschiedung der ersten beiden Anforderungsprofile
einige
Schwächen
beim
Konsensbildungsverfahren
im
Koordinierungsausschuss. Zu bemängeln sei die Anhörung von
Verbänden, die Einbindung von Fachgesellschaften, die Besetzung von
Arbeitsgruppen und die Auswahl der hinzugezogenen Experten. Alle
Beteiligten bemängelten den von der Politik veranlassten Zeitdruck, selbst
der Koordinierungsausschuss verabschiedete in seiner Sitzung am
13.06.2004 eine Resolution, aus der hervorgeht, dass es für den
Koordinierungsausschuss nicht vertretbar sei, die Anforderungsprofile
unter einem derartigen Zeitdruck zu erarbeiten.
3.3.1 Rahmenbedingungen für die Implementierung von Disease Management Programmen in Deutschland
Mit der Reform des RSA ist vom Gesetzgeber die Einführung von
Disease Management Programmen geregelt, die bisher im Sinne der
Arbeitsdefinition für Disease Management des Kapitels 4 in Deutschland
so noch nicht vorherrschen. Durch die Verknüpfung der Disease Management Programme mit dem RSA soll sich der Wettbewerb in der GKV auf
die Implementierung von qualitativ hochwertigen Programmen konzentrieren und die Versorgungsqualität chronisch Kranker verbessern.
Parallel soll durch die Berücksichtigung der in Disease Management Programme eingeschriebenen Betroffenen im RSA die Risikoselektion zu
Gunsten gesunder und junger Versicherter an Attraktivität verlieren. Für
die gesetzlichen Krankenkassen ergeben sich somit neue strategische
Positionierungen im Gesundheitswesen.
Wichtige Voraussetzungen für Disease Management in Deutschland hat
der Gesetzgeber bereits mit neuen Versorgungsmodellen wie den Modell-
36
vorhaben nach §§ 63 – 65 SGB V, den Strukturverträgen nach § 73 a SGB V
oder der Integrierten Versorgung nach §§ 140 a – h SGB V geschaffen. Eine
Auswahl an Projekten (vgl. Lauterbach o. J., S. 39 ff.) auf Grundlage dieser
Gesetzgebungen zeigt eine Umsetzung solcher Konzepte. Derzeitige
Modellprojekte und Strukturverträge in der Diabetesversorgung werden
beispielsweise schon als erfolgreiche Disease Management Programme deklariert, enthalten jedoch nur einzelne Komponenten eines Disease Management Programms und entsprechen nicht umfassend der Idee des
Disease Managements (vgl. Lauterbach o. J., S. 42). Der Einsatz evidenzbasierter Leitlinien ist vertraglich nicht festgelegt und wird von den Vertragspartnern nicht zur Verfügung gestellt. In den Strukturverträgen ist
keine Evaluation vorgeschrieben, sodass ohne Evaluation der Prozessund Ergebnisqualität Fehlentwicklungen und Problembereiche unerkannt
bleiben. Ebenso ist die Herstellung von Transparenz durch Benchmarking
in Strukturverträgen oder Modellvorhaben nicht berücksichtigt, wodurch
der Anreiz zur Qualitätsverbesserung durch die Veröffentlichung der
Ergebnisse verloren geht. Implementierungsstrategien wie der Einsatz von
Remindern, Fortbildungen, Informationssystemen oder Entscheidungsunterstützungen verbessern die Anwendung von Leitlinienempfehlungen,
finden jedoch bei Strukturverträgen oder Modellvorhaben keine systematische Anwendung. Da in bestehenden Modellprojekten wesentliche
Komponenten eines qualitätsgesicherten Disease Managements fehlen,
empfiehlt es sich, diese unter Beachtung der Anforderungen an Disease
Management Programme zu modifizieren und zu strukturieren. Eine systematische flächendeckende Qualitätsverbesserung in der Versorgung
chronisch Kranker durch die derzeit regional begrenzten Modellprojekte
sei nicht zu erwarten und so genanntes „Schein-Disease Management“
(Lauterbach o. J., S. 45) würde die Über-, Unter- und Fehlversorgung eher
intensivieren.
Unabhängig von der Gesetzgebungsentwicklung zur Einführung von
Disease Management Programmen hat dieses Thema wichtige strategische
Auswirkungen auf dem Markt der privaten Krankenversicherungsanbieter. Die Einführung von Disease Management Programmen für die Versicherten kann den privaten Krankenversicherungen als den Erstanbietern
von Disease Management Programmen Wettbewerbsvorteile bringen und
gewinnt somit oberste Priorität. Da private Krankenversicherer chronisch
Kranke als Versicherte ablehnen können oder entsprechende Prämien
37
verlangen, besteht die Gefahr des Wettbewerbsnachteils durch die
Attrahierung weiterer chronisch Kranker nicht. Somit liegt die Bedeutung
des Disease Managements für die privaten Krankenversicherungen neben
der Erhöhung der Lebensqualität ihrer Versicherten in erster Linie in der
eigenen Unternehmensentwicklung.
Die Entwicklung im Servicebereich auf dem deutschen Gesundheitsmarkt lässt ebenfalls auf große Chancen durch Disease Management
schließen. Kommerzielle Dienstleister bieten vornehmlich als Betreiber
von Call Centern oder Online-Gesundheitsservices ihre Dienste an. Der
Kundenkreis der Serviceanbieter erstreckt sich vom Kostenträger über die
Leistungserbringer bis hin zum Patienten selbst. Zu den Aufgaben, die
von Gesundheitsdienstleistern als Kooperationspartner im Rahmen von
Disease Management Programmen übernommen werden können, zählen
u. a. die Information von Patienten und Ärzten über Disease Management
Programme, die Bereitstellung von Online-Datenbanken, die Entwicklung,
Implementierung und Unterhaltung von Informations- und Remindersystemen, die Bereitstellung von Produkten zur Stärkung der Patientencompliance, das Datenmanagement von Programmen, die Entwicklung von
Prozessabläufen für die am Disease Management Programm Beteiligten,
die Betreuung von Patienten oder Ärzten über Call Center oder die Mithilfe bei der Aufbereitung und Verteilung von Leitlinien an beteiligte Ärzte
und Patienten. Diese Anbebote sind als unterstützend zu den Leistungen
der Ärzte und Krankenkassen anzusehen. Da die Entwicklung geeigneter
Umsetzungsstrategien wie Schulungen, Fortbildungen oder Erinnerungsschreiben hohe medizinische Kompetenz erfordert, ist die Entwicklung
der Inhalte des Disease Managements „eine ärztliche Aufgabe“ (Lauterbach o.
J., S. 50). Die hier getätigte Beschränkung allein auf die ärztliche Profession
lässt den Integrationscharakter als eigentliche Idee der Programme gänzlich vermissen.
3.3.2 Evidence-based Medicine und evidenzbasierte Leitlinien
Die historische Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien, die heute in
vielen Industrieländern zum Standard gehören, lässt sich in den angloamerikanischen Sprachraum zurückverfolgen. Die systematisch
entwickelten Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten, als international anerkannte Definition von Leitlinien in der Medizin sollen eine individuell angemessene gesundheitliche Versorgung ermöglichen (vgl.
38
Lauterbach o. J., S. 99). Dieser Darstellung liegt das Verständnis der Evidence-based Medicine (EbM) zugrunde. Der englische Internist David L.
Sackett gilt als Begründer der EbM-Bewegung. Er fordert, ärztliche Entscheidungen nicht auf individuelle Erfahrungen, auch als Internal Evidence bezeichnet, zu stützen, sondern primär auf Erkenntnisse aus systematischen klinischen Studien, die so genannte External Evidence (vgl.
Ulrich 2002, S. 28). Für Sackett (2002) ist EbM „[...] der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen
Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.
Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der
bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung“ (Sackett 2002, S. 9).
Die klinische Expertise meint das Können und die Urteilskraft, die Ärzte
durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Das ärztliche
Handeln wird also bestimmt durch individuelles Können und Erfahrung
sowie Regelwissen. Dieses Regelwissen setzt sich aus unterschiedlichsten
Informationen zusammen und ist die Grundlage für die konkrete individuelle ärztliche Entscheidung (vgl. Sawicki 2002, S. 27). Die Ursprünge der
Methodik, unterschiedliche Behandlungsformen auf ihre Wirksamkeit zu
überprüfen, lassen sich auf Archibald Cochrane, einen englischen Epidemiologen, zurückführen. Cochrane forderte 1972 in einer Veröffentlichung
vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen im britischen National Health Service epidemiologische Wirksamkeitsvergleiche (vgl. Sauerland/Galandi 2001, S. 84). Diese Idee wurde 1992 in Ontario, Kanada, an der McMaster University von Sackett et al. weiterentwickelt zur Umsetzung von
EbM.
Evidenzbasierte Leitlinien stellen im Gegensatz zur EbM eine Evidenzquelle unter vielen dar, wie z. B. Studien oder Übersichtsarbeiten. Die
Autoren von Leitlinien bedienen sich der Methode der EbM, um die Empfehlungen nachvollziehbar auf die beste vorliegende Evidenz zu stützen.
Die Entwicklung von Leitlinien legitimiert sich aus folgenden Gründen:
Übliche Evidenzquellen wie Studien oder Übersichtsberichte befassen sich
in der Regel nur mit einzelnen Aspekten ärztlichen Handelns. Es gestaltet
sich für einen Arzt äußerst schwierig, Recherchen und Bewertungen für
alle Behandlungsschritte nach der Methode der EbM durchzuführen, um
zu einer Entscheidung zu gelangen. Leitlinien hingegen können
ausgehend
vom
Krankheitsbild
ganze
Behandlungsverläufe
evidenzbasiert
nachvollziehen.
Sie
geben
konkrete
Handlungsempfehlungen, wo publizierte Studien und Übersichtsarbeiten
39
größtenteils Untersuchungsergebnisse präsentieren und diskutieren. Das
Zurückgreifen auf evidenzbasierte Leitlinien stellt für viele praktisch
tätige Ärzte eine willkommene Alternative zu der mühsamen Bewertung
von Studien auf Grundlage der EbM dar, die zudem Kenntnisse in der
klinischen Epidemiologie, im Umgang mit englischsprachiger
Originallektüre und computergestützter Literaturrecherche erfordert (vgl.
Helou/Perleth 2002, S. 71 ff.). Der Rückgriff auf internationale Leitlinien
resultiert aus den im deutschsprachigen Raum kaum zur Verfügung
stehenden evidenzbasierten Leitlinien. Probleme bei der Implementierung
dieser internationalen Leitlinien ergeben sich hinsichtlich anderer
struktureller Rahmenbedingungen und Wertvorstellungen des deutschen
Gesundheitssystems (vgl. Sawicki 2002, S. 27; Lauterbach o. J., S. 106;
Helou/Perleth 2002, S. 75).
Im Rahmen von Disease Management Programmen zählen evidenzbasierte Leitlinien zu den wesentlichsten Komponenten. Sie sind Grundlage
für Versorgungsalgorithmen im Krankenhaus, für Reminder- und Feedbacksysteme, für Entscheidungsunterstützungen und Schulungsinhalte.
Die systematisch entwickelten Darstellungen und Empfehlungen unterstützen Ärzte wie Patienten bei der Entscheidung für nützliche Maßnahmen von der Prävention über Diagnostik und Therapie bis hin zur
Nachsorge (vgl. Schmacke 2002, S. 13). Die Bedeutung der Leitlinien liegt
in der Qualitätssicherung und -verbesserung der medizinischen Versorgung, die sich durch hohe traditionelle Variabilität auszeichnet (vgl. Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 79). Durch die Verringerung der Variationsbreite der Therapien lassen sich medizinische und ökonomische Ergebnisse verbessern. Zur Verbesserung der Versorgungsqualität und Sicherung der Kosteneffektivität ist die Umsetzung evidenzbasierter Therapien von entscheidender Bedeutung, da hohe Folgekosten in der Versorgung chronisch Kranker häufig durch Leistungen verursacht werden,
deren Wirksamkeit nicht gesichert ist. Insbesondere den unwirksamen
und nicht kosteneffektiven Interventionen gilt es, auf evidenzbasierter
Grundlage entgegenzutreten (vgl. Lauterbach/Wille 2001, S. 139). Die Versorgung auf der Basis evidenzbasierter Therapien soll im Bereich der
chronischen Erkrankungen die identifizierten Versorgungsdefizite systematisch ausgleichen.
Durch ein multidisziplinäres Team aus Experten für die definierte Erkrankung und benachbarter Fachdisziplinen sowie in der Bewertung von
40
Studien versierte Ärzte, Epidemiologen und Gesundheitsökonomen erfolgt die praktische Entwicklung von Leitlinien. Datenbanken werden
nach definierten Suchstrategien auf Publikationen mit erforderlichen
Daten und Informationen untersucht. Diese werden zusammengetragen,
entsprechend ausgewertet und nach der in Abbildung 1 dargestellten allgemein anerkannten Evidenzklassifikation bewertet.
Level
Evidenz-Typ
Ia
Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien
Ib
mindestens eine randomisierte kontrollierte Studie
IIa
gut geplante, nicht randomisierte kontrollierte Studie
IIb
gut geplante, quasi experimentelle Studie
III
gut geplante, nicht experimentelle deskriptive Studie
IV
Expertenmeinung, Konsensuskonferenz
Abbildung 1: Hierarchie wissenschaftlicher Evidenz
Quelle: Helou/Perleth 2002, S. 76
In Disease Management Programmen erfolgt die Verbreitung von evidenzbasierten Leitlinien zum einen über die Entwicklung von Programmen auf Basis evidenzbasierter Leitlinien und zum anderen dienen
sie der medizinischen Profession und den Patienten als Anwendungs- und
Entscheidungsunterstützung. Im Disease Management stellen sie den
Rahmen für die Umsetzung einer evidenzbasierten Regelversorgung dar
(vgl. Lauterbach o. J., S. 105 f.).
Dennoch ist im Zusammenhang mit Disease Management Programmen
der Begriff der evidenzbasierten Leitlinien Gegenstand zahlreicher Kontroversen. So kritisiert beispielsweise BÄK-Präsident Hoppe die Checklistenmedizin, die sich manch Gesundheitswissenschaftler oder Kassenfunktionär vorstellt. Dieser Weg führe seines Erachtens in die Unterversorgung. Erhalten die Kassen die Steuerungsmacht, seien weitere Mangelverwaltung, Anonymisierung und Deprofessionalisierung nicht aufzuhalten. Hoppe sieht mit der Checklistenmedizin die individuelle
Therapiefreiheit der Ärzte in Gefahr (vgl. Rabbata 2002, S. 893). Die
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet vom Ärztetag, deren
Vertreter ebenfalls die Autonomie der Ärzteschaft durch die Einführung
41
verbindlicher Leitlinien massiv bedroht sehen. Zudem gefährden zu eng
gefasste Leitlinien die individuelle Behandlung eines Patienten und
zerstören die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient. Neben der
Bevormundung werde das Vertrauensverhältnis außerdem durch die
Übermittlung von Arzt- und Patientendaten an die Krankenkasse gestört,
worunter die Qualität der Behandlung leide (vgl. FAZ 2002, S. 15). Dass
EbM keine Checklistenmedizin ist, liegt darin begründet, dass dem
Konzept der EbM ein Bottom-up Ansatz zugrunde liegt (vgl. Sackett 2002,
S. 10 f.). Dieser verbindet die beste zur Verfügung stehende externe
Evidenz mit der individuellen Expertise und den Patientenpräferenzen.
Externe klinische Evidenz kann individuelle Expertisen ergänzen, aber
niemals ersetzen. Die individuelle Expertise entscheidet, ob die externe
Evidenz auf den Einzelnen anwendbar ist und wie sie in die Entscheidung
integriert werden kann. Aus diesem Grund ist das Konzept der EbM nicht
mit einem Kochrezept zur Patientenbehandlung vergleichbar.
Zusammenfassend lassen sich hieraus die drei Grundprinzipien der EbM
ableiten:
die wissenschaftliche Beweisführung
die Expertise oder Erfahrung
die Patientenpräferenzen in der jeweiligen Situation
Mit der EbM hat sich eine Denk- und Arbeitsrichtung etabliert, die die
Fähigkeit zur eigenständigen Fortbildung unter Nutzung modernster Informationsquellen und -methoden fördert. Der individuellen klinischen
Erfahrung wird ebenso großer Stellenwert beigemessen wie der kritisch
bewertenden Haltung gegenüber der Fachliteratur (vgl. Perleth 2002, S. 13
f.). Für die praktische Realisierung kommt hinzu: „Die Umsetzung evidenz-basierter Medizin erfordert häufig eine Verhaltensänderung der therapierenden Ärzte“
(Lauterbach/Wille 2001, S. 139).
3.3.3 Akkreditierung von Disease Management Programmen
Die Akkreditierung eines Disease Management Programms bedeutet
die Prüfung der Übereinstimmung der Programme mit den definierten
Anforderungen und die Bewertung des Programmkonzeptes bezüglich
der Erhebung krankheitsspezifischer Indikatoren und der sich aus dem
42
Ergebnis ableitenden Qualitätssicherungsmaßnahmen. Das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der GKV vom 01.01.2002 legt die Zuständigkeit des Bundesversicherungsamt (BVA) als Zulassungsbehörde
für diese Programme fest. Die Zulassung durch das BVA gewährleistet
eine bundesweit einheitliche Verfahrensweise und die neutrale Überprüfung der Zulassungsvoraussetzungen. Zur dauerhaften Sicherstellung von
Qualität und Wirtschaftlichkeit der Disease Management Programme
sollen von Beginn an regelmäßige Evaluationen der Programme beitragen,
die der Frage nachgehen, ob die Ziele der Programme in der Umsetzung
auch tatsächlich erreicht werden. Die Zulassung wird aufgrund der
gesetzlichen Vorgaben immer nur befristet erteilt, im Regelfall für drei
Jahre. Eine Verlängerung der Zulassung ist dann zukünftig von den
Ergebnissen der Evaluation der einzelnen Disease Management
Programme abhängig.
Nach In-Kraft-Treten der Vierten Verordnung zur Änderung der RSAV
vom 27.06.2002, die die Anforderungen für die Zulassung von Disease
Management Programmen für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und
für Patientinnen mit Brustkrebs festgelegt hat, sind inzwischen seitens
verschiedener Krankenkassen Anträge auf Zulassung von Disease
Management Programmen für diese Bereiche beim BVA eingereicht
worden. Nach intensiver Überprüfung der einzelnen Anträge und
notwendigen Überarbeitungen konnten mittlerweile die ersten Disease
Management Programme für drei Jahre zugelassen werden (vgl. BVA
2003). Neben den Programmen sind auch die zu ihrer Durchführung
geschlossenen Verträge mit den Leistungserbringern zur Akkreditierung
vorzulegen. Wegen der Kopplung der Disease Management Programme
an den RSA ist die Berechtigung zur Antragstellung ausschließlich auf die
Kassen beschränkt.
Im folgenden Abschnitt der vorliegenden Arbeit wird die Struktur der
Disease Management Programme abgebildet und die Funktionen der einzelnen Komponenten erläutert. Da ein anhaltender Erfolg der Programme
einen Datenaustausch zwischen den verschiedenen Leistungserbringern
voraussetzt, schließt dann die Betrachtung des Datenmanagements im Abschnitt 4.4 an.
43
3.4 Aufbau von Disease Management Programmen
Einschreibemodul
Das Ablaufschema in Abbildung 2 zeigt modellhaft, wie die einzelnen
Komponenten eines Disease Management Programms zusammengeführt
werden.
Einschreibekriterium erfüllt:
Standardisiertes Programm zur Diagnosestellung
Statuserhebung
Risikostratifizierung und Zuteilung zu einer entsprechenden Gruppe
Basismodul
Gruppe 1:
Zielwert erreicht
entsprechend der
evidenzbasierten Leitlinie
Gruppe 2:
Mindestens ein Zielwert nicht
entsprechend der evidenzbasierten Leitlinie erreicht
Gruppe 3:
Komplikationen/Begleiterkrankungen entsprechend
der evidenzbasierten Leitlinie
Bestehend aus:
- Krankheits-Koordinator
- Screening
- Patientenschulung
- Benchmarkingdatensatz
- evidenzbasierte Leitlinien
- Selbsthilfegruppen
- Individueller Patientenbehandlungsplan
- Follow-up
- Entscheidungsunterstützung (z. B. Disease-Management-Zirkel)
Ergänzungsmodule
Individuelle
Basistherapie
Individuelle
Basistherapie
Individuelle
Basistherapie
Therapie der
Risikofaktoren
Therapie der
Risikofaktoren
Komplikationstherapie
Klinischer
Zustand
Individuelles
Patientenmanagement nach
Risikostratifizierung
Abbildung 2: Ablaufschema eines Disease Management Programms
Quelle: SVRKAiG 2003, S. 547
44
Psychosoziale
Faktoren
Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, werden zum Aufbau eines Disease
Management Programms drei spezifische Modultypen unterschieden: das
Einschreibemodul, das Basismodul sowie die Ergänzungsmodule zur spezifischen Therapie der Risikofaktoren und der Komplikationen. In Abbildung 3 wird die Verknüpfung der Module dargestellt. Daran schließt sich
die detaillierte Beschreibung der einzelnen Module an.
Modultyp
Beschreibung
Aufgabe
Einschreibemodul
Das Einschreibemodul spezifiziert
die medizinischen Einschreibekriterien auf dem Boden evidenzbasierter
Leitlinien. Das Einschreibemodul
beinhaltet auch das Einschreibeverfahren mit Einteilung der Patienten in eine von drei Disease Management-Gruppen (nach Risikostratifizierung)
Qualitätssicherung,
Sicherung der Kosteneffektivität,
Risikostratifizierung der Patienten
Das Basismodul umfasst die
Komponenten eines Disease Managements für die Basistherapie
einer Erkrankung. Je nach Risikostratifizierung werden diese
Komponenten einzeln oder in unterschiedlichen Kombinationen eingesetzt.
Sicherung von Qualität,
Diagnose und Kosteneffektivität
der Versorgung durch Umsetzung evidenzbasierter Leitlinien in die Regelversorgung,
Entscheidungsunterstützung,
individuelle Therapieempfehlungen und Reminder,
Schulung des Patienten und Unterstützung des Selbstmanagements,
Datenerhebung
Basismodul
Ergänzungsmodul
Das Ergänzungsmodul, welches das
Basismodul spezifiziert, unterteilt
sich in „Therapie der Risikofaktoren“
und „Komplikationstherapie“.
Spezifische Therapie
Zielt auf die Reduktion einzelner
Risikofaktoren (Sekundärprävention)
Komplikationstherapie
Dieses Modul ergänzt die komplikationsspezifische Therapie
Sicherung von Qualität und Kosteneffektivität der Versorgung
durch spezifisch auf Risikofaktoren, Folgeerkrankungen und
Komplikationen zugeschnittene
Interventionen
Abbildung 3: Modultypen im Disease Management Programm
Quelle: Lauterbach o. J., S. 188 f.
3.4.1 Einschreibemodul
Das Einschreibemodul ist die Eintrittspforte für Patienten in das
Disease Management Programm. Es dient der Diagnosestellung, der
Statuserhebung, der Qualitätssicherung und der Risikostratifizierung. Auf
45
der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien werden Einschreibekriterien
definiert, die manipulationssicher, einfach prüfbar und leicht durch den
Arzt zu erheben sein sollten. Als alleiniges Einschreibekriterium ist die
Diagnose der manifesten Erkrankung maßgeblich. Die Diagnose ergibt
sich aus der Klinik und dem Labor. Ist eine Diagnose erstellt, die zur
Einschreibung berechtigt, füllt in der Regel der Hausarzt mit
Einverständnis des Patienten die von der Krankenkasse zur Verfügung
gestellten Formulare aus und sendet diese an die Kasse zurück. Der Arzt
und der Patient erhalten je einen Durchschlag für ihre Dokumentation.
Die Einschreibung in ein Disease Management Programm ist freiwillig.
Der Patient wird über Ziele und Inhalte des Programms sowie über die
Verwendung der Befunddaten bei der Krankenkasse schriftlich aufgeklärt.
Der Hausarzt koordiniert entsprechend den Empfehlungen des Disease
Management Programms die Versorgung und handelt in enger
Kooperation mit Spezialisten und Krankenkasse. Bei ausgewählten
Erkrankungen wie beispielsweise Brustkrebs kann diese Kooperation aus
einem in der Klinik angesiedelten oder in die Klinik integrierten Zentrum
bestehen.
Neben der Diagnosesicherung gehört zur Einschreibung die dokumentationspflichtige Statuserhebung. Diese beinhaltet die Erhebung der ausführlichen Anamnese, körperliche und laborchemische Untersuchungen
sowie weitere Untersuchungsergebnisse konsultierter Fachärzte. Empfehlenswert ist es, die zu erhebenden Parameter auf Grundlage der
analysierten Bereiche der Über-, Unter- und Fehlversorgung der jeweiligen Erkrankung festzulegen sowie einheitlich und verbindlich für
Deutschland zu regeln (vgl. Lauterbach o. J., S. 190).
Dem Ablaufschema in Abbildung 2 gemäß, erfolgt auf Grundlage der
gewonnenen Daten aus der Statuserhebung die Zuteilung des Patienten in
eine der drei Disease Management Gruppen durch den behandelnden
Arzt. Ausgehend hiervon werden vom Arzt und der Krankenkasse die
weiteren Disease Management Module veranlasst. So erhalten Patienten
der Gruppe 1 das Basismodul, Patienten der Gruppe 2 das Basismodul
und das Ergänzungsmodul ‚Therapie der Risikofaktoren’ und Patienten
der Gruppe 3 das Basismodul einschließlich der Ergänzungsmodule
‚Therapie der Risikofaktoren’ und ‚Komplikationstherapie’. Die Zuteilung
in Disease Management Gruppen auf der Grundlage von Zielwerten ergibt eine Risikostratifizierung, die das therapeutische Vorgehen und die
46
Schnittstellen im Versorgungsablauf definiert und patientenindividuelle
unterstützende Interventionen anbietet. Ergibt sich beispielsweise für
einen Patienten die Zuteilung in Gruppe 2, enthält das Basismodul der
Gruppe 2 einen Vorschlag evidenzbasierter Therapie, die Definition der
Schnittstelle, wann z. B. an eine Schwerpunktpraxis zu überweisen oder
entscheidungsunterstützend ein anderer Arzt zu konsultieren ist, sowie
Empfehlungen zu unterstützenden Maßnahmen wie Schulungen oder der
Einbeziehung
von
Selbsthilfegruppen.
Das
Veranlassen
der
unterstützenden Maßnahmen kann dem Arzt überlassen werden oder die
Krankenkasse
selbst
wird
aktiv.
Sie
kann
beispielsweise
Krankheitskoordinatoren, gezielte Informationen oder Remindersysteme
einsetzen (vgl. Lauterbach o. J., S. 190 ff.; SVRKAiG 2003, S. 546 ff.).
3.4.2 Basismodul
Entsprechend der Risikogruppenzugehörigkeit gestalten sich die Versorgungsstrukturen in unterschiedlichen Stufen. Das Basismodul, das bei
allen drei Disease Management Gruppen zur Anwendung kommt, enthält
generelle Versorgungs- und unterstützende Komponenten. Deren Einsatz
und Ausprägung ergibt sich aus der Risikostratifizierung. Zu den Versorgungskomponenten zählen Therapie nach evidenzbasierten Leitlinien,
Screening, Schulung und Follow-up. Unterstützende Instrumente sind Remindersysteme, Informationssysteme, Krankheitskoordinator, Entscheidungsunterstützung, Selbsthilfegruppen, Kommunikationsplattform und
zeitnahes Qualitätsmanagement. Nachstehende Übersicht stellt die einzelnen Versorgungskomponenten des Basismoduls dar.
47
Versorgungskomponente
Beschreibung
Therapie nach evidenzbasierten Leitlinien
Der Behandlung einer Erkrankung im Rahmen
von Disease Management Programmen liegt ein
mehrstufiges Therapiemanagement zugrunde.
Die Reduzierung bzw. Vermeidung von Risikofaktoren wird anfänglich angestrebt. Wird hierdurch keine Normalisierung der Befunde erreicht, folgen in der Regel medikamentöse
Strategien. Das Vorgehen wird durch die krankheitsbezogene Leitlinie festgelegt.
Screening
Screening soll zur Vermeidung möglicher Komplikationen, Begleiterkrankungen und Rezidiven
beitragen.
Schulungen für Patienten unter Berücksichtigung lerntheoretischer Methoden
Sie vermitteln Informationen und unterstützen
das Einüben von Techniken des Selbstmanagements in Kleingruppen.
Follow-up
Neben zeitnahen, am individuellen Krankheitsverlauf orientierten Untersuchungen erfolgen in
definierten Zeitabständen Kontrollen wichtiger
Verlaufs-, Outcome- und Risikostratifizierungsparameter. Es wird ermittelt, ob z. B. weitere
Schulungen nötig sind oder spezialärztliche Untersuchungstermine wahrgenommen werden
sollten.
Abbildung 4: Versorgungskomponenten des Basismoduls
Quelle: Eigene Darstellung nach Lauterbach o. J., S. 194 und SVRKAiG 2003, S. 551 ff.
Die beschriebenen Versorgungskomponenten des Basismoduls werden
durch weitere Disease Management Komponenten unterstützt und
ergänzt. Folgende Zusammenstellung zeigt unterstützende Instrumente
der jeweiligen Versorgungskomponenten und erläutert deren Wirksamkeit.
48
Therapie nach evidenzbasierten
Leitlinien
Evidenzbasierte Leitlinien für Ärzte vermitteln evidenzbasierte Empfehlungen für eine Erkrankung und ihre Folgeerkrankungen.
Evidenzbasierte Leitlinien für Patienten vermitteln evidenzbasierte Empfehlungen für eine
Erkrankung und ihre Folgeerkrankungen in einer für Patienten verständlichen Form.
Individuelle Patientenbehandlungspläne stellen individuell zugeschnittene Therapieempfehlungen mit einer Beschreibung des persönlichen Risikoprofils bereit.
Entscheidungsunterstützung bei der Neustrukturierung von Behandlungsabläufen und bei
der Integration evidenzbasierter Empfehlungen in den Therapieablauf
Screening
Leitlinien zur Spezifizierung und Durchführung des Screenings
Reminder für Arzt und Patient zur Erinnerung an Screeningtermine
Entscheidungsunterstützung durch z. B. evidenzbasierte Leitlinien, Fortbildung, Coaching
Schulungen für Patienten
Selbsthilfegruppen können Verhaltensänderungen initiieren und unterstützen
Patientenleitlinien als Arbeitsblätter oder Patientenselbstverträge zur Erarbeitung selbstgesteckter Ziele, um Schulungseffekte langfristig zu stabilisieren
Informationssysteme vermitteln Patienten und Angehörigen Informationen über die Schulungsinhalte hinaus und dienen der Auffrischung von Schulungsinhalten
Reminder erinnern an Schulungsinhalte und selbst gesteckte Ziele und tragen somit zur
Konsolidierung der Schulungsinhalte bei
Follow-up
Der Krankheitskoordinator (spezialisierte Pflegekräfte, Ärzte, Call Center) bietet eine
abgestufte persönliche Betreuung des Patienten in definierten Situationen.
Schulungen zur effektiven Unterstützung des Selbstmanagements
Reminder zur Erinnerung an Zielvereinbarungen, Schulungsinhalte, Kontrollen etc.
Patientenleitlinien/Informationsmaterial helfen dem Patienten, Gründe und Durchführung
von Maßnahmen des Selbstmanagemtens zu verstehen und ihre Bedeutung zu erkennen
Abbildung 5: Versorgungs- und unterstützende Komponenten des Basismoduls
Quelle: Eigene Darstellung
49
Die dargestellten Komponenten des Basismoduls stehen dem Arzt und
der Krankenkasse zur Verbesserung der Patientenversorgung und Patientencompliance zur Verfügung. Ärztliche Fortbildungen, Datenbanken
für alle am Disease Management Beteiligten und die genaue Definition
von Schnittstellen zur Überweisung auf andere Versorgungsebenen
dienen außerhalb des Basismoduls der Umsetzung evidenzbasierter
Therapieschemata. In Abhängigkeit von nicht erreichten Zielwerten sieht
ein Disease Management Programm für Patienten der Disease
Management Gruppen 2 und 3 Ergänzungsmodule vor.
3.4.3 Ergänzungsmodule
Liegen bei einem Patienten Risikofaktoren vor, die mit den Maßnahmen
des Basismoduls nicht ausreichend beeinflusst werden können, wird vom
Disease Manager dem Basismodul das spezifische Modul ‚Therapie der
Risikofaktoren’ hinzugefügt und die darin vorgesehenen Interventionen
veranlasst. Dies schließt alle Maßnahmen zur Reduktion von Risikofaktoren ein, die sonst zu Folgeerkrankungen oder Komplikationen führen
könnten. Zu diesen Maßnahmen zählt das verstärkte Selbstmanagement
durch Schulungen und Anleitungen zur Übernahme von Eigenverantwortung für die Gesundheit. Ferner erfährt der Patient ein spezifisches
Monitoring, das sich individuell an den vorhandenen Risikofaktoren
orientiert.
Eine über das Basismodul und das Ergänzungsmodul ‚Therapie der Risikofaktoren’ hinausgehende Behandlung erhält ein Patient, wenn Komplikationen der Grunderkrankung auftreten oder diese bereits bei der Einschreibung in das Programm vorliegen. Diese komplikationsorientierte
Behandlung im Rahmen des Ergänzungsmoduls ‚Komplikationstherapie’
gibt das Programm vor. Sie orientiert sich an den jeweils typischen Komplikationsmustern, die sich vorwiegend auf bestimmte Organsysteme beziehen. Die Prüfung zur Minderung der Risikofaktoren durch das
Ergänzungsmodul ist ebenfalls einzuschließen. Auch die Ergänzungsmodule setzen evidenzbasierte Leitlinien, Screeninguntersuchungen, Schulungen, Informationssysteme, Selbsthilfegruppen und Remindersysteme
ein (vgl. SVRKAiG 2003, S. 554).
Das erfolgreiche Management eines Patienten sollte, wie in Abbildung 2
abschließend dargestellt, neben der klinischen Risikostratifizierung auch
den aktuellen klinischen Zustand des Patienten, wie z. B. die
50
Stabilisierungsphase nach dem Klinikaufenthalt und die psychosozialen
Faktoren wie u. a. das häusliche Umfeld und die Fähigkeit der Selbstsorge,
berücksichtigen. Darauf basierend erfolgt beispielsweise die Planung der
Weiterbetreuung und der Einsatz eines speziellen Krankheitskoordinators
oder eines häuslichen Pflegedienstes. Für chronisch Kranke führen Weiterbetreuungskonzepte nach der Klinikentlassung zu signifikanten Kosteneinsparungen und verbesserter Compliance. Durch die Festlegung
einheitlicher Module und Komponenten soll verhindert werden, dass Programme nur ein oder zwei Komponenten oder nur ein Modul definieren
und implementieren (vgl. Lauterbach o. J., S. 193).
3.5 Datenmanagement oder die „mentale Integration“
Der nachhaltige Erfolg von Disease Management Programmen setzt
einen Wandel im integrierten und vernetzten Denken aller Beteiligten
voraus (vgl. Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 106 ff.). Sie müssen bereit
sein, unternehmensübergreifend in Prozessen zu denken und zu handeln.
Dieser mentale Wandel schließt die Bereitschaft zur Herstellung von Datentransparenz ein. Leistungserbringer sowie Kostenträger stehen sich
skeptisch gegenüber und geben nur die notwendigsten Informationen
weiter. Der KBV-Vorsitzende Richter-Reichhelm sieht in den Disease Management Programmen grundsätzlich einen Schritt in die richtige Richtung, befürchtet aber, dass die Krankenkassen die Chance erhalten, sich in
die ärztliche Behandlung einzumischen. Daher spricht sich die KBV dafür
aus, den Kassen nur die notwendigen Daten zu übermitteln, die sie für
den RSA benötigen. Sollten die Kassen in Fragen Datenschutz nicht kompromissbereit sein, werde keine KV zur Zusammenarbeit bereit sein, betonte Richter-Reichhelm (vgl. Gerst 2002, S. 901). Einer weiteren Diskussion zufolge (vgl. Ärzte Zeitung 2002 Nr. 28, S. 4) will die ärztliche Selbstverwaltung verhindern, dass versichertenbezogene Behandlungs- und Abrechnungsdaten den Kassen in die Hände gelangen. Sollten die Kassenärztlichen Vereinigungen jedoch bei strittigen Datenfragen nicht kooperieren, würden die Krankenkassen diese bei konkreten Verträgen für
Disease Management Programme übergehen. Zwar wollen die Versicherer
mit der ärztlichen Selbstverwaltung zusammenarbeiten, um die Programme schnell und flächendeckend einzuführen, würden aber auch über
andere Vertragspartner nachdenken, warnt der Chef der VdAK Rebscher.
51
Die Leistungserbringer sind ebenfalls kaum bereit, patientenbezogene
Daten untereinander auszutauschen, da sie Wettbewerbsnachteile befürchten. Hier gilt es, stärkere Anreize zur Kooperation und Integration zu
setzen, die motivieren, mit Daten unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Patienten transparenter umzugehen. Der Nutzen,
den Einzelne durch die Zurückhaltung von Daten haben könnten, darf
gegenüber dem Nutzen, den das Gesamtsystem durch Offenlegung hätte,
nicht dominieren. Insbesondere Vergütungsmodelle, die Einsparungen in
einem Netzwerk honorieren und somit Anreize für vernetztes,
kostenbewusstes Handeln gewähren, bieten eine Chance, die „mentalen Barrieren“ (Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 106) aufzuweichen. Neben der
Schaffung von Datentransparenz in einem vernetzten System ist die Standardisierung für die systematische Auswertung der Daten Voraussetzung.
Dafür wiederum bedarf es einheitlicher Behandlungspfade mit entsprechenden Leitlinien. Für Disease Management Programme ist es von entscheidender Bedeutung, dass Daten zeitnah zur Verfügung gestellt
werden, um auf der Grundlage einer systematischen und standardisierten
Dokumentation, Bereiche von Über-, Unter- und Fehlversorgung in der
Versorgung chronisch Kranker zu identifizieren und abzubauen.
Die Dokumentation dient der Datensammlung in den Disease Management Programmen und dem Patientenmanagement. Sie sollte einheitliche
Zielwerte und Behandlungsziele sowie die Indikatoren der Prozess- und
Ergebnisqualität erfassen. Diese systematische und standardisierte Dokumentation kann in einem Datensatz erfolgen, der auch zum Benchmarking
der Programme verwendet werden kann (vgl. Lauterbach o. J., S. 155). Die
Indikatoren der Prozessqualität erfassen die Regelmäßigkeit krankheitsspezifischer, evidenzbasierter erhobener Laborwerte, durchgeführte Schulungen und Fortbildungen sowie den Einsatz von Remindern. Die Fragen
der Ergebnisqualität beziehen sich auf krankheitsspezifische Folgekomplikationen, die innerhalb einer systematischen Qualitätsverbesserung der
Versorgung chronisch Kranker rückläufig werden sollten. Die krankheitsspezifischen Zielwerte werden entsprechend der Risikostratifizierung der
Patienten festgelegt. Dabei ist Einheitlichkeit innerhalb der GKV anzustreben, um zu vermeiden, dass Versicherte unterschiedlicher Kassen unterschiedliche Zielwerte erreichen sollen. Der Datensatz ist regelmäßig an
die Kasse zur Datenerfassung weiterzuleiten und sollte von der Kasse
zentral erfasst werden. Durch diese zentrale Erfassung und Sammlung der
52
Daten bei der Kasse als Programmanbieter lässt sich das Datenmanagement effizient und effektiv gestalten. Die erhobenen Daten werden in
Disease Management Datenbanken aufgenommen, ausgewertet, gespeichert und gepflegt. Die Weitergabe von Daten, die sich auf Versicherte
und Leistungserbringer beziehen, an die Krankenkasse ist Voraussetzung
für ein funktionierendes Disease Management (vgl. Lauterbach o. J., S.
163). Daher kann ein Disease Management Programm nur zugelassen
werden, wenn es vorsieht, dass der Versicherte seine Teilnahme freiwillig
erklärt und darüber informiert ist, dass zur Durchführung des Programms
die nötigen Befunddaten an die Krankenkasse übermittelt werden und
diese die Daten zur Betreuungsunterstützung weiterverarbeitet. Zugriff
auf die Daten haben nur Personen, die Aufgaben im Rahmen der
Betreuung Versicherter in Disease Management Programmen
wahrnehmen und hierfür besonders geschult wurden (vgl. Vierte
Verordnung zur Änderung der RSAV 2002, § 28 d Abs. 1 Satz 3; § 28 f Abs.
1 Satz 2).
Neben den kontroversen Diskussionen um das Datenmanagement, die
zum Teil interessengeleitet sind, werden die Disease Management Programme von weiteren kritischen, nicht zu vernachlässigenden Debatten
begleitet, die im Folgenden zusammengefasst werden.
3.6 Disease Management Programme – eine kritische Sicht
Bei der Einführung von Disease Management Programmen, die ganz
wesentlich auf die Gutachten zur Reform des RSA (vgl. Lauterbach/Wille
2001; IGES/Cassel/Wasem 2001) zurückgehen, liegt die Hoffnung der
Gesundheitspolitik darin, „gleich zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen“ (Felder
2003, S. 237). Zum einen sollen die Defizite im Kassenwettbewerb behoben
werden und zum anderen die Mängel in der medizinischen Versorgung
reduziert werden. Es stellt sich die Frage, ob diese zwei Ziele, Kassenwettbewerb und Versorgung, miteinander zu verbinden sind, was auch als der
Geburtsfehler der Disease Management Programme angesehen wird. So
stehen beispielsweise den recht eindeutigen Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin über den Nutzen und den Erfolg eines Disease Management Programms Hypertonie mehrere Probleme insbesondere in der GKV
gegenüber. Das Interesse der Akteure konzentriert sich auf kurzfristige
Ziele, die raschen Einnahmen aus dem RSA, wobei zu erzielende mittel-
53
bis langfristige Einsparungen durch die Versorgungsoptimierung
chronisch Kranker vernachlässigt werden (vgl. Derdzinski/Hecke/Ziegenhagen 2003, S. 323).
Generell erscheint die skizzierte RSA-Reform als sinnvoller Schritt, da
ein morbiditätsorientierter RSA die Anreize zur Risikoselektion mindert
(vgl. Lauterbach/Wille 2001, S. 15). Indem die Transfers nicht mehr ausschließlich von finanziellen, sondern zusätzlich von Versorgungsgesichtspunkten geleitet werden, ist eine Verbesserung der Versorgungsqualität zu erwarten. Mit der Einführung der Disease Management Programme soll das Interesse der Krankenkassen auf die verbesserte Versorgung chronisch Kranker gerichtet werden und für die Versorgung dieser
Patientengruppen neue Perspektiven eröffnen. Somit unterstützt der RSA
die bessere Vernetzung und die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen
ausgerichtete Versorgung. Dennoch lassen sich in der Kopplung der
Disease Management Programme an den RSA und somit die Einbettung
in den Kassenwettbewerb einige Fehlanreize erkennen.
Durch die Verknüpfung der Disease Management Programme mit dem
RSA stehen die wirtschaftlichen Interessen bei vielen Krankenkassen im
Vordergrund. Die Krankenkassen müssen möglichst viele Teilnehmer für
die Behandlungsprogramme gewinnen, um Ausgleichszahlungen aus
dem RSA zu erhalten. Da die Behandlung aber möglichst wenig kosten
sollte, werden die Anforderungen an die Programme gering sein und den
wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht genügen. Eine Versorgungsverbesserung ist daher kaum zu erwarten (vgl. Aktuelles 2002, S. 1). Ein ökonomisch rationelles und anreizkonformes Handeln der Kassen ist als solches erst einmal nicht kritikwürdig, sofern die beabsichtigte Verbesserung
der Versorgung damit einhergeht (vgl. SVRKAiG 2003, S. 542).
Problematisch ist auch, dass vor allem das Verhalten und nicht wie bisher
nur objektiv zuschreibbare Kriterien im RSA zum Tragen kommen. Der Finanztransfer steht in Abhängigkeit zum Verhalten des Versicherten und
des Arztes. Dies wiederum birgt hohes Manipulationspotenzial. Von der
Entscheidung des Versicherten hängt es ab, ob seiner Kasse der normale
Beitragsbedarf oder der höhere Chronikersatz zuerkannt wird. Die von
der Kasse zu tragenden Behandlungskosten bleiben währenddessen
dieselben. Dem Arzt obliegt die Aufgabe, den Versicherten über Inhalte
und Ziele der Disease Management Programme zu informieren. Von sei-
54
ner Empfehlung wird unter anderem abhängen, ob sich der Versicherte
für eine Einschreibung entscheidet. Somit beeinflusst auch der Arzt die Finanzmittelaustattung der Kassen. Das macht deutlich, dass die Verknüpfung von RSA und Disease Management Programmen Anreize für Manipulationsbündnisse zwischen Ärzten und Krankenkassen schafft (vgl.
Landgraf et al. 2004, S. 7). Der SVRKAiG (2003, S. 542 ff.) betont ebenfalls,
dass die Verknüpfung von RSA und Disease Management Programmen
einige Risiken birgt und greift auch die Manipulationsgefahren, die sich
aus dem gleich gerichteten Interesse der Kassen und Ärzte an der
möglichst hohen Einschreiberquote ergeben.
Überdies erstrecken sich Disease Management Programme bisher nur auf
einen Teil, nämlich vier vorgesehene chronische Erkrankungen. Daraus ergibt sich zum einen bis zur Ausdehnung der Programme auf alle relevanten Indikationen eine Vernachlässigung von Patienten mit anderen
chronischen Erkrankungen (vgl. SVRKAiG 2003, S. 543). Zum anderen
werden sich wiederum nur ein Teil der indizierten Patienten in die
vorgesehenen Programme einschreiben. Somit wird der größte Teil der
Kassenausgaben von den Disease Management Programmen und seinen
Umverteilungswirkungen unberührt bleiben.
Ferner findet die Umverteilung der Finanzen im RSA durch Patienten, die
in Disease Management Programme eingeschrieben sind, nur zwischen
den Versicherten einer Altersgruppe statt. So steht für eine Anzahl von
Personen einer Altersgruppe, beispielsweise Frauen im Alter von 60 Jahren, ein entsprechender Betrag im RSA zur Verfügung. Von diesem Betrag
erhält dann die jeweilige Krankenkasse einen höheren Beitragsbedarf für
die Anzahl der Versicherten, die in eines der vorgesehenen Disease Management Programme eingeschrieben sind. Daraus ergibt sich dann, dass
der Beitragsbedarf für die verbleibenden Versicherten dieser Altersstufe
sinkt. Es ist davon auszugehen, dass vor allem ältere Menschen an
chronischen Erkrankungen leiden. Da die Kassen mit einem hohen Beitragssatz viele ältere Versicherte aufweisen und Kassen mit eher niedrigen
Beiträgen meist junge Personen, findet die Umverteilung über die Disease
Management Programme in den älteren Altersgruppen und damit zwischen den Kassen wie der AOK oder der Barmer statt und tangiert die
Krankenkassen mit niedrigen Beitragssätzen in einem vergleichsweise
geringen Umfang. Zudem lässt sich vermuten, dass durch die Einführung
von Disease Management Programmen der Anreiz zur Risikoselektion
nicht gänzlich zu vermeiden ist, da wegen der geringen Bedeutung der
55
Programme für die gesamten Leistungsausgaben einer Kasse diese auch
künftig von einer günstigen Risikogruppe profitiert (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 240 f.).
Trotz der Argumente, die gegen die Verknüpfung von RSA und Disease Management Programmen sprechen, werden hierdurch ökonomische
Anreize
gesetzt,
Versorgungsformen
einzuführen,
die
die
Leistungsfähigkeit haben, die Versorgung chronisch Kranker zu
verbessern. Ohne diesen Anreiz wäre eine solche Entwicklung nicht
voranzutreiben. Diese Schlussfolgerung lassen die Erfahrungen zu, die mit
der praktischen Umsetzung der Integrierten Versorgung gesammelt
wurden. Zweifelsohne muss sichergestellt sein, dass ein verstärktes
Engagement von Krankenkassen für chronisch Kranke nicht dazu führt,
dass
diese
Wettbewerbsnachteile
erfahren
wegen
der
überdurchschnittlichen zu erwartenden Leistungsausgaben bei so
genannten schlechten Risiken. Daher ist es zu begrüßen, den RSA zu
einem direkt morbiditätsorientierten RSA weiterzuentwickeln. Dennoch
bleibt zu prüfen, inwiefern der Finanzausgleich an das Verhalten von
Versicherten bzw. Ärzten zu koppeln ist oder ob er vom überprüfbaren
manipulationssicheren Morbiditätsstatus eines Versicherten abhängen
sollte.
Disease Management gilt als ein Instrument zur Steuerung der Behandlung und Betreuung von Patienten mit definierten Gesundheitsstörungen
über ganze Krankheitsverläufe und institutionelle Grenzen hinweg (vgl.
Greulich/Berchthold/Löffel 2002, S. 1). Der zentrale Ansatz von Disease
Management Programmen liegt in der sektorenübergreifenden Steuerung
der Versorgung (vgl. Schönbach 2003, S. 218 f.). Da sich für Disease Management Programme der Behandlungsbedarf aus den Patientenproblemen ergibt und nicht die sektorale Kompetenzverteilung der Leistungsanbieter Bezugspunkt für die Versorgung ist, stellen sich Disease Management Programme als sektorenübergreifendes Konzept dar (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 239). Disease Management als integrativer Ansatz
fördert die Koordination der Versorgung über Sektoren und Krankheitsstadien hinweg (vgl. Lauterbach/Wille 2001, S. 13). Doch wie gestaltet sich
die Umsetzung des vom Integrationscharakter geprägten Konzeptes des
Disease Managements tatsächlich? Dieser Frage geht der folgende Abschnitt nach und versucht hierauf eine Antwort zu geben.
56
3.7 Chancen für Integration durch Disease Management?
Nach Angaben des SVRKAiG (2003, S. 539 ff.) werden die Regelungen
des dem Disease Management zugrunde liegenden Konzeptes der sektorenübergreifenden Versorgung nur eingeschränkt umgesetzt. Bisher
werden weder Prävention und Rehabilitation, noch Pflege oder stationäre
Versorgung in Disease Management Programme einbezogen oder die
Schnittstellen zu diesen Bereichen nur vage oder gar nicht definiert.
Daraus ergibt sich eine Vernachlässigung der außerhalb der
akutmedizinischen Versorgung liegenden Ressourcen und der Integration
der Sektoren. Eine Ursache für die mangelnde Beteiligung von Prävention,
Rehabilitation und Pflege liegt in deren teilweiser Zugehörigkeit zu
anderen Rechtsbereichen (SGB V, SGB IX, SGB XI) oder in der
unterschiedlichen Kostenträgerschaft entsprechender Maßnahmen. Diese
Problematik wurde bereits im Abschnitt 2.1 unter der Überschrift ‚Mängel
der
Gesundheitsversorgung
als
Ausgangspunkt
für
Vernetzungsbemühungen’ thematisiert und dürfte auch den Akteuren im
Gesundheitswesen hinlänglich bekannt sein. Hier bedarf es einer Klärung
von Seiten des Gesetzgebers, inwieweit innerhalb von Disease
Management Programmen der GKV Leistungsansprüche formuliert
werden, die in der Zuständigkeit anderer Kostenträger liegen.
Im Hinblick auf die noch zu erstellenden Anforderungsprofile für Asthma bronchiale/COPD (chronic obstruktive pulmonary disease) und KHK
bieten sich beispielsweise Ansatzpunkte, rehabilitative Maßnahmen, die
von Rehabilitationseinrichtungen erbracht werden können, in Disease Management Programme einzubeziehen. Bereits in seinem Gutachten
2000/2001 hat der SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 108 ff.) darauf hingewiesen, dass die Versorgung in der Prävention, Kuration und Rehabilitation von Asthmapatienten verbesserungsdürftig ist. Ungenutzte präventive
Potenziale, Unterdiagnostik chronisch obstruktiver Lungenerkrankungen
und eine nicht ausreichende Verzahnung stationärer Rehabilitationsmaßnahmen mit der Akutversorgung kennzeichnen die Versorgung der an
Asthma bronchiale oder COPD erkrankten Personen in Deutschland.
Daher fordert der SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 113) die Integration
rehabilitativer Behandlungselemente in Disease Management Programme
und die Möglichkeit der Direkteinweisung in hoch qualifizierte
Rehabilitationskliniken. Auch die Versorgungssituation der KHKPatienten zeigt eine Vernachlässigung der Prävention und Rehabilitation
57
gegenüber der interventionellen Kuration (vgl. SVRKAiG 2000/2001 Bd.
III,
S. 94).
Den
bestehenden
Defiziten
sollte
durch
auf
sektorenübergreifende Versorgung ausgerichtete Disease Management
Programme
entgegengewirkt
werden.
Verhaltensmodifizierende
Maßnahmen beeinflussen die KHK und damit die Lebensqualität der
Betroffenen, wobei die Ressourcen der Rehabilitationseinrichtungen zu
nutzen sind.
Die Einführung der Disease Management Programme soll eine Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker bewirken, indem die sektoren-, institutions- und professionsübergreifende Behandlung einer Erkrankung ermöglicht wird (vgl. Arbeitskreis PatientInnenrechte und -information 2003). Das wiederum bedeutet:
eine enge Verzahnung ambulanter und stationärer ärztlicher Behandlung sowie der Arznei-, Heil- und Hilfsmittelversorgung
die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Einrichtungen des
Gesundheitswesens
die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsberufe
Diese drei Punkte wurden bereits im Abschnitt 2.1 als Aspekte der unbefriedigenden Versorgungssituation in Deutschland identifiziert, die in
den organisatorischen, finanziellen und informellen Grenzen zwischen
den Sektoren, Institutionen und Professionen begründet ist. Anhand
dieser verbesserungsdürftigen Aspekte werden die Anforderungsprofile
an strukturierte Behandlungsprogramme für Diabetes mellitus Typ 2 und
Brustkrebs gemäß den Anlagen 1 und 3 der Vierten Verordnung zur
Änderung der RSAV vom 27.06.2002 in Abbildung 6 auf bestehende Potenziale in Richtung Integration analysiert. Die Darstellung basiert legiglich auf den für die Programme formulierten Anforderungen und
erhebt nicht den Anspruch, die Umsetzung bereits implementierter Programme in der Praxis zu beurteilen.
58
Sektorenübergreifend:
Verzahnung ambulanter und
stationärer ärztlicher Behandlung
sowie der Arznei-, Heil- und
Hilfsmittelversorgung
Anforderungsprofil
Diabetes mellitus Typ 2
Anforderungsprofil
Brustkrebs
Parameter für:
Überweisung zum qualifizierten
Facharzt,
Überweisung in diabetologische
Schwerpunktpraxis bzw.
diabetologisch spezialisierte
Einrichtung,
Überweisung in eine auf die
Behandlung des diabetischen
Fußes spezialisierte Einrichtung,
Einweisung in ein Krankenhaus
Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln als integraler Bestandteil,
ambulante bzw. stationäre
Palliativtherapie und Schmerztherapie
Institutionsübergreifend:
Indikation für die Durchführung rehabilitationsspezifische und
Zusammenarbeit der untereiner Rehabilitationsmaßnahme sozialmedizinische Maßnahmen
schiedlichen Einrichtungen des
sind zu prüfen
als integraler Bestandteil
Gesundheitswesens
Professionsübergreifend:
Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsberufe
Indikationen für die Durchführung psychologischer, psychopsychosoziale Betreuung als intherapeutischer, verhaltensmetegraler Bestandteil
dizinischer Maßnahmen sind zu
prüfen
Abbildung 6: Integrationspotenziale der Anforderungsprofile für Disease Management
Programme Diabetes mellitus Typ 2 und Brustkrebs
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 6 zeigt, dass das Anforderungsprofil für das Disease Management Programm Diabetes mellitus Typ 2 die Vernetzung zwischen
ambulantem und stationärem Sektor regelt. Die Überweisungskriterien im
ambulanten Bereich wie auch für die Einbindung der stationären Versorgung sind im Anforderungsprofil direkt beschrieben. An dieser Stelle sei
darauf verwiesen, dass hier nicht die Inhalte der Anforderungsprofile auf
medizinisch-fachliche Korrektheit bewertet werden, ob also beispielsweise
die Indikationen für die Einschaltung einer diabetologischen Schwerpunktpraxis weiter gefasst werden sollten oder ob die Verbindung zwischen einer Stoffwechselentgleisung und einer obligatorischen
Einweisung ins Krankenhaus nachvollziehbar ist. Dies ist an anderer Stelle
zu diskutieren. Schwerpunkt dieser Ausführungen ist die Betrachtung von
Disease Management Programmen hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeiten,
die Versorgung chronisch Kranker in ein integratives System einzubetten.
Während die Schnittstellen zwischen ärztlich ambulantem und stationärem Sektor durch Überweisungskriterien geregelt sind, bleibt die Heilund Hilfsmittelversorgung unberücksichtigt, die gerade in der Prävention
und bei fortschreitenden Komplikationen des Diabetes mellitus von entscheidender Bedeutung ist. Der institutionsübergreifende Gedanke
59
beschränkt sich auf die Rehabilitationseinrichtungen, deren Einbeziehung
aber nur vage geregelt ist. Weitere Institutionen des Gesundheitswesens
wie stationäre Pflegeeinrichtungen, denen eine Unterversorgung (vgl.
Lauterbach o. J., S. 203 f.) aufgrund einer nicht leitliniengerechten
Versorgungsform
für
Diabetiker
bescheinigt
wird,
bleiben
unberücksichtigt.
Im Bereich der professionsübergreifenden Arbeit beschränkt sich das Anforderungsprofil in einer zudem sehr dehnbaren Auslegung auf psychotherapeutische Maßnahmen. In der Betrachtung dieser Berufsgruppen ist
festzustellen, dass diese eine akademische Ausbildung genossen. Andere
Berufsgruppen wie beispielsweise die Pflegeberufe, die den Weg einer
akademischen Qualifizierung bisher nicht gehen oder damit in den
Anfängen stecken, bleiben in der Diskussion professionsübergreifender
Arbeit unberücksichtigt. Auf den unterschiedlichen Stellenwert der einzelnen Berufsgruppen, insbesondere der Pflege und Medizin zueinander,
wird im Abschnitt 4.3.1 noch explizit eingegangen. Die Einbeziehung von
beispielsweise professionell Pflegenden in stationären oder ambulanten
Einrichtungen ist laut Anforderungsprofil nicht zwingend erforderlich. In
Anbetracht der etwa drei Millionen Typ-2-Diabetiker in Deutschland, von
denen mehr als die Hälfte über 65 Jahre alt ist, die zu 50 Prozent der sozialen Unterschicht angehören und deutlich erhöhte Prävalenzraten für
einen Zustand nach Apoplex, Myocardinfarkt oder Amputation (vgl. IGES
2003) aufweisen, ist neben einer ärztlichen Behandlung ebenso von einer
ambulanten oder stationären pflegerischen Betreuung auszugehen. Vor
diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich die Optimierung der Versorgungssituation nicht nur allein durch die Verbesserung der ärztlichen Behandlung einstellt, sondern weitere Professionen zum Einsatz kommen
müssen, die Patienten unterstützen, durch z. B. verhaltensorientierte Veränderungen ihres Lebensstils die Versorgungssituation zu verbessern.
Das Anforderungsprofil für das Disease Management Programm Brustkrebs enthält keine aussagekräftigen Angaben zur integrierten Versorgung zwischen Praxis und Klinik. Das Behandlungskonzept muss eine interdisziplinäre, professions- und sektorenübergreifende Betreuung gewährleisten. Die Überweisungserfordernisse stehen in Abhängigkeit von
dem Krankheitsstadium der Betroffenen, der Qualifikation des behandelnden Arztes sowie den regionalen Versorgungsstrukturen. Jedoch ist die
Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln integraler Bestandteil der Betreu-
60
ung wie auch rehabilitationsspezifische Maßnahmen und die psychosoziale Betreuung.
Beide Anforderungsprofile lassen die präventiven Maßnahmen bzw. die
Früherkennung vermissen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass Disease Management Programme die Kooperation der medizinischen Fachdisziplinen und Leistungserbringer in den Vordergrund stellen, diese fordern und fördern.
Der Zusammenarbeit der verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens wird durch die Einbeziehung der Rehabilitationseinrichtungen in
sehr kleinen Schritten Anschub verliehen. Der weitere Ausbau ist zu begrüßen. Bedauerlicherweise scheinen Disease Management Programme,
was die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsberufe betrifft, bisher nicht denen in den Abschnitten 2.2.1 und 2.2.2 herausgearbeiteten Merkmalen zu folgen und berücksichtigen nur die Vertreter psychologischer, psychosozialer und psychotherapeutischer Maßnahmen. Wie
bereits angedeutet, wird dem Bereich der Pflege bisher in Disease
Management Programmen unzureichende Beachtung beigemessen. Dies
gilt sowohl für die Einbeziehung der Pflegekräfte bzw. von deren
Fachwissen als auch für die Einbindung der ambulanten und stationären
Pflege. In Anbetracht der für die Disease Management Programme zu
erwartenden Versichertenpopulation ist dies ein bedauernswerter
Zustand.
Im nächsten Kapitel werden der Einfluss von Disease Management Programmen, insbesondere des Disease Management Programms Brustkrebs,
für die Institution Krankenhaus analysiert und denkbare Entwicklungen
skizziert. Der Unterschied in der Bedeutung der Disease Management
Programme auf der einen Seite für die GKV, die im Vorfeld erarbeitet
wurde, und auf der anderen Seite für die Institution Krankenhaus soll
dargelegt werden.
61
4 KRANKENHÄUSER UNTER DEM EINFLUSS VON DISEASE MANAGEMENT PROGRAMMEN IN DER KÜNFTIGEN
GESUNDHEITSVERSORGUNG
Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung (GMG) zum 01.01.2004 ergeben sich für den Krankenhausbereich in Bezug auf die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen wichtige Neuregelungen, die hier in Anlehnung an das GMG
nur überblicksartig aufgezählt und nicht weiter gedeutet werden. Vor
dem Hintergrund der Überwindung sektoraler Grenzen bei der
medizinischen Versorgung wird der Wettbewerb zwischen verschiedenen
Versorgungsformen mit dem Ziel einer patientenindividuellen
Versorgung autorisiert. Zudem soll dieser Wettbewerb Innovationen
ermöglichen und Effizienzreserven freisetzen. Konkret werden hierzu
medizinische Versorgungszentren zugelassen, die den Patienten eine
Versorgung durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit ärztlicher und
nichtärztlicher Heilberufe anbietet. Freiberufler und Angestellte können in
diesen Zentren tätig sein (vgl. § 95 SGB V). Um die Integrierte Versorgung
weiterzuentwickeln, werden über die Anschubfinanzierung zwischen
2004 und 2006 von bis zu 1 Prozent der jeweiligen Gesamtvergütung und
der Krankenhausvergütung in den KV-Bezirken zusätzliche Anreize zur
Vereinbarung integrierter Versorgungsverträge gegeben (vgl. § 140 a – e
SGB V). Mit der Einbeziehung der Krankenhäuser in die ambulante
Versorgung in unterversorgten Gebieten wird für diese eine Teilöffnung
zur ambulanten Versorgung sowie eine weitere Möglichkeit der
Sicherstellung ärztlicher Versorgung geschaffen (vgl. § 116 a SGB V). Die
Öffnung der Krankenhäuser für den ambulanten Bereich erstreckt sich
zudem darauf, dass für hoch spezialisierte Leistungen, seltene
Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen
die ambulante Leistungserbringung durch das Krankenhaus möglich ist.
Außerdem erhalten die Krankenkassen zur Durchführung ihrer
strukturierten Behandlungsprogramme, der Disease Management
Programme, die Möglichkeit, Krankenhäuser in die ambulante
Leistungserbringung einzubeziehen (vgl. § 116 b SBG V).
In den folgenden Abschnitten wird dieser Aspekt, also die Rolle der
Krankenhäuser bei der Durchführung von Disease Management Programmen, erörtert. Im Besonderen soll der Integrationscharakter der
62
beiden größten Berufsgruppen der Medizin und Pflege innerhalb der Institution Krankenhaus vor dem Hintergrund defizitärer Kooperationsstrukturen, die einer Umsetzung von Disease Management Programmen
entgegen stehen, analysiert werden.
4.1 Ausgangssituation der Krankenhäuser als Partner für die
Umsetzung von Disease Management Programmen
Die bisher stark reglementierte und fast ausschließlich auf den niedergelassenen Arzt beschränkte ambulante Behandlung wurde durch den
Gesetzgeber verändert. Krankenhäuser können sich aktiv beim Aufbau
von Disease Management Programmen beteiligen. Die Bedeutung der Programme wird von diesen allgemein als hoch eingeschätzt. Ergebnisse der
Umfrage des Krankenhaus-Barometers 2003 belegen, dass 72 Prozent der
Häuser durch die Teilnahme an Disease Management Programmen mit
einer positiven Auswirkung auf die Belegung rechnen und 36 Prozent
sogar mit einer positiven Auswirkung aufs Budget. Über die Hälfte der
Häuser plant eine Teilnahme an diesen Programmen, wobei bis jetzt aber
lediglich 1,4 Prozent im Disease Management Programm Diabetes
mellitus Typ 2 und 9,7 Prozent im Disease Management Programm
Brustkrebs vertraglich eingebunden sind. 45 Prozent der Krankenhäuser
gehen davon aus, dass sich ihr Leistungsspektrum für die bisher
bekannten Programme nicht eignet (vgl. DKG 2003). Die Analyse der
eigenen Leistungsfähigkeit ist der erste Schritt, auf deren Grundlage dann
die Strategien festgelegt werden. Krankenhäuser sollen sich auf die
Disease Management Programme konzentrieren, für die sie entsprechend
gute Voraussetzungen mitbringen. Die Idee der strukturierten
Behandlungsprogramme geht von der Bündelung der Patienten in solchen
Einrichtungen aus, die über eine ausreichende Fallzahl, ausreichendes
Erfahrungswissen
der
beteiligten
Abteilungen,
transparente
evidenzbasierte Behandlungsabläufe und über Kooperationen mit dem
ambulanten Sektor verfügen. Die gegenseitige Abstimmung von
Spezialisierungen der Häuser fördert die lokale Kooperation, ist jedoch
von bestimmten Interessenlagen abhängig (vgl. Lauterbach 2002, S. 40).
Mit der gemeinsamen Empfehlung der DKG und GKV zur Umsetzung
der Vierten RSAV-Änderung für die Einführung von Disease Management Programmen Brustkrebs werden Krankenhäuser zum Herzstück der
63
Versorgung und sind primärer Ansprechpartner der Krankenkassen für
den Aufbau der Programme. Der Abschluss von Verträgen zwischen
Krankenkassen oder ihren Verbänden und dem Krankenhausbereich ist
zwingende Voraussetzung für die Akkreditierung von Disease Management Programmen Brustkrebs. Anders gestaltet sich das beim Disease Management Programm Diabetes mellitus Typ 2, bei dem sich überwiegend
Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen als Vertragspartner
gegenüberstehen (vgl. Renzewitz 2003, S. 212). Im gesamten Behandlungsverlauf von Brustkrebs ergeben sich häufig Wechsel zwischen ambulanter
und stationärer Versorgung sowie zwischen unterschiedlichen
Fachdisziplinen.
Durch
eine
stärkere
Vernetzung
dieser
Versorgungsbereiche soll eine Verbesserung der Behandlung der
betroffenen Frauen erzielt werden. Die Therapie findet im Allgemeinen in
einer Klinik statt, die durch ihre Struktur und den fachlichen Hintergrund
sowie die Breite an Behandlungsdienstleistungen auf Kompetenzvorteile
verweisen kann. Daher sollten sich Teile des Versorgungsprozesses am
Krankenhaus konzentrieren. Um einen koordinierten und strukturierten
Behandlungsablauf zu gewährleisten und Informationslücken und
Doppeluntersuchungen zu vermeiden, sollen durch Konzentration und
Kooperation Kompetenznetzwerke entstehen.
4.1.1 Die Entstehung von Kompetenzzentren
Am Beispiel des Rahmenvertrages zur Durchführung des strukturierten
Behandlungsprogramms von Brustkrebspatientinnen zwischen der AOK
und anderen Krankenkassen Hessens mit dem Koordinationskrankenhaus
des Brust-Kompetenzzentrums (vgl. AOK Hessen 2003) sowie dem DMPBrustkrebsvertrag zwischen den Berliner Krankenkassen und der CharitéUniversitätsmedizin (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Berlin 2003) wird die Bedeutung und Funktion der Bildung von
Kompetenzzentren dargelegt. Im Hinblick auf die Optimierung der Versorgung von Patientinnen mit Brustkrebs wird die indikationsgesteuerte
und systematische Koordination der Behandlung, insbesondere die interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation aller Leistungserbringer
in Form von Kompetenzzentren, angestrebt. Ein Brust-Kompetenzzentrum beispielsweise ist eine Vernetzung interdisziplinärer Versorgungsstrukturen und besteht aus einem Koordinations-Krankenhaus, ggf.
mehreren Kooperationskrankenhäusern und kooperierenden Vertragsärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, den so genannten DMP-
64
Vertragsärzten im Krankenhausversorgungsgebiet. Die Teilnahme von
Krankenhäusern an Disease Management Programmen ist freiwillig, ebenso für die Vertragsärzte.
Das ‚Disease Management Programm Brustkrebs Berlin’, an dem neben
der Charité auch niedergelassene Ärzte teilnehmen, verzahnt die Behandlung über verschiedene Sektoren in einem interdisziplinären
Brustzentrum, in dem die psychosoziale Betreuung fester Bestandteil ist.
Die Charité und alle teilnehmenden Ärzte verpflichten sich zu hohen
Qualitätsstandards während des Behandlungsprogramms. Grundlage
sind die durch die Europäische Gesellschaft für Brustkrebs entwickelten
Qualitätskriterien. Danach müssen unter anderem jährlich mindestens 150
neu an Brustkrebs erkrankte Frauen an einem Standort operiert werden
und der zuständige Facharzt mindestens 50 Erstoperationen im Jahr
nachweisen.
Der
Rahmenvertrag
Hessens
definiert
geregelte
Vertragsvoraussetzungen und Aufgaben für die stationären und
ambulanten Vertragspartner des Brust-Kompetenzzentrums. Die DMPVertragsärzte sind teilnahmeberechtigt, wenn sie die im Rahmenvertrag
festgelegten Strukturvoraussetzungen erfüllen, dem sie auch ihre
Aufgaben entnehmen können. Die stationären Einrichtungen haben
ebenfalls festgelegte Anforderungen an die Strukturqualität, die sich auf
Regelungen zur fachlichen Qualifikation des Personals und der
räumlichen, technischen sowie apparativen Ausstattung beziehen, zu
erfüllen. Zu den Aufgaben der stationären Einrichtungen eines
Kompetenzzentrums zählen beispielsweise die Beachtung geregelter
Versorgungsinhalte, der Qualitätsziele, die Zusammenarbeit mit den
DMP-Vertragsärzten und die Information, Einschreibung und
Dokumentation
von
Versicherten.
Die
Benennung
eines
Krankenhausfacharztes und dessen Vertreters dient der Delegation der
DMP-Aufgaben innerhalb der Einrichtung. Er ist Ansprechpartner für die
in dieser Einrichtung betreuten DMP-Patienten und für die
Krankenkassen. Insbesondere obliegt ihm die Koordination der
stationären Behandlung der Versicherten und die Sicherstellung der
vollständigen Dokumentation und fristgerechten Weiterleitung der Daten.
Dem Koordinations-Krankenhaus kommt eine besondere Stellung im
Kompetenzzentrum zu, die im folgenden Abschnitt in Anlehnung an den
Rahmenvertrag der AOK und anderer Krankenkassen Hessens mit dem
65
Koordinationskrankenhaus des Brust-Kompetenzzentrums (vgl. AOK
2003) gesondert erörtert wird. Über die Teilnehmer des Kompetenzzentrums legen die teilnehmenden Krankenkassen ein so genanntes Leistungserbringerverzeichnis an und stellen dieses allen Leistungserbringern
regelmäßig aktualisiert zur Verfügung. Zudem steht das Verzeichnis den
teilnehmenden Versicherten zur Verfügung, dem BVA bei Antrag auf Zulassung und in der Folge quartalsweise. Die Vergütung der allgemeinen
Leistungen sowie die Vergütung von Koordinations-, Dokumentationsund Kooperationsleistungen im Rahmen von Disease Management Programmen leiten sich aus den Rahmenverträgen ab.
4.1.2 Die Rolle des Koordinations-Krankenhauses
Das Koordinations-Krankenhaus übernimmt innerhalb des Kompetenzzentrums eine Koordinationsfunktion für alle weiteren Krankenhäuser,
die Kooperations-Krankenhäusern und die DMP-Vertragsärzte. Es ist
alleiniger Vertragspartner des Rahmenvertrages. Die Teilnahme des Koordinations-Krankenhauses am Programm beginnt nach Prüfung und
Genehmigung der Strukturqualitätskriterien durch die teilnehmenden
Krankenkassen mit dem Unterschreiben des Rahmenvertrages. Die Teilnahme des Kooperations-Krankenhauses und der DMP-Vertragsärzte am
Programm beginnt ebenfalls nach Prüfung und Genehmigung der Strukturqualitätskriterien durch die teilnehmenden Krankenkassen mit der Unterschrift unter der Teilnahmevereinbarung. Im Beispiel des Rahmenvertrages der AOK und anderer Krankenkassen Hessens mit dem Koordinationskrankenhaus des Brust-Kompetenzzentrums verpflichtet sich dieses,
über die bereits benannten Aufgaben hinaus weitere zu übernehmen.
Hierzu zählen die Koordination übergreifender Fragestellungen zum
Disease Management Programm innerhalb des Kompetenzzentrums. Des
Weiteren ist es Ansprechpartner für die Krankenkassen. Als Initiator
regelmäßiger Tumorkonferenzen und Qualitätszirkel mit allen Teilnehmern des Brust-Kompetenzzentrums ist das Koordinations-Krankenhaus verantwortlich für die Erstellung des Protokolls und die Erbringung
des Nachweises über die Teilnehmenden an die Krankenkassen.
66
4.2 Überlegungen zum Aufbau integrierter Versorgungsstrukturen durch Disease Management Programme aus Sicht des
Krankenhauses
In Anbetracht der gemeinsamen Umsetzungsempfehlung der DKG und
GKV für die Umsetzung der Disease Management Programme Brustkrebs
sprechen die DKG und die Spitzenverbände der GKV Krankenhäusern
eine gute Ausgangsposition für die Umsetzung der Programme und somit
integrierter Versorgungsformen zu. Es ist davon auszugehen, dass
Kliniken über erforderliche infrastrukturelle und organisatorische Voraussetzungen verfügen, um integrative Versorgungskonzepte zu koordinieren und umzusetzen. Schon Badura (1996 a) sieht das Akutkrankenhaus als „[...] die von Wissensexplosion und Technisierung am stärksten betroffene
Versorgungseinrichtung. Wegen der Ausdifferenzierung der Versorgungslandschaft fällt
ihm in der Zukunft vielleicht eine besondere Koordinationsfunktion für die gesamte
Versorgungskette chronisch Kranker zu“ (Badura 1996 a, S. 287). Kliniken sind
heute im Zeitalter der Diagnosis Related Groups (DRG) mehr denn je
darauf angewiesen, ihren Leistungsumfang zu konzentrieren und sich
ökonomisch sinnvoll zu spezialisieren, um Wettbewerbsvorteile zu
erreichen. Der Kostendruck wird nicht nur auf die internen Strukturen
eines Hauses Einfluss nehmen, sondern erzwingt den Blick über die bisher
als unverrückbar geltenden Grenzen. Die Wirksamkeitssteigerung des
eigenen Tuns verlangt die Kooperation mit anderen Leistungsanbietern
(vgl. Knorr 2003, S. 679). Nach Badura (1996 a, S. 287 ff.) ergeben sich für
Krankenhäuser dabei drei Optionen, die im Folgenden kurz skizziert und
der
Ausgestaltung
von
Disease
Management
Programmen
gegenübergestellt werden sollen.
Die erste Option beschreibt die zunehmende Spezialisierung der
Häuser auf bestimmte Leistungen oder Krankheitsbilder. Badura (1996 a,
S. 287) geht hierbei der Frage nach, wie eine spezialisierte Versorgung
chronisch Kranker in Zusammenarbeit zwischen Akutversorgung und
niedergelassenen Ärzten praktisch zu realisieren ist. Das Ziel dieser Zusammenarbeit ist die Verdichtung und Umgestaltung der Kooperation
von ambulanter und stationärer Versorgung, was eine Reihe
arbeitsorganisatorischer und personeller Veränderungen im Krankenhaus
voraussetzt. Hierzu zählt die Herstellung persönlicher Arbeitsbezie-
67
hungen zwischen Krankenhausärzten und den externen Kooperationspartnern. Im Beispiel des Disease Management Programms Brustkrebs,
welches die Spezialisierung der Einrichtung auf das Krankheitsbild Brutkrebs impliziert, werden diese Arbeitsbeziehungen durch regelmäßige
Tumorkonferenzen und Qualitätszirkel aller Teilnehmer des Brust-Kompetenzzentrums hergestellt. Des Weiteren ist in der Klinik die Vorhaltung
einer Stelle vonnöten, deren Inhaber sich ganz auf die Versorgung dieser
Patientengruppe mit dem speziellen Krankheitsbild konzentriert. Ausgehend von Abschnitt 5.1.1 erfolgt innerhalb von Disease Management Programmen die Benennung eines Krankenhausfacharztes und dessen Vertreters, der die DMP-Aufgaben innerhalb der Einrichtung koordiniert. Das
zusätzliche, bisher im Arbeitsalltag der Kliniken und Praxen meist unberücksichtigte Patientenmanagement mit dem Ziel schnittstellenüberwindender Versorgung chronisch Kranker erfordert besondere Anstrengungen. Das Akutkrankenhaus als Zentrum für die Versorgung
chronisch Kranker stellt neben einem systematischen Entlassungsmanagement die Kontinuität in der Versorgung, Beratung und Steuerung der
Patienten, auch über die stationäre Versorgung hinaus, in den Mittelpunkt
der Bemühungen. In Disease Management Programmen stehen hierfür
Instrumente wie Reminder, Krankheitskoordinatoren, Schulungen oder
Leitlinien zur Verfügung. Disease Management Programme als Konzepte
der Spezialisierung auf ein Krankheitsbild sind ein Beispiel, wie durch die
innerhalb der Programme entstehende Arbeitskultur die Schnittstelle
zwischen Akutkrankenhaus und ambulanter medizinischer Versorgung
überwunden werden kann.
Mit der zweiten Option für Krankenhäuser greift Badura (1996 a, S. 290)
die Strategie der Diversifizierung, der Aufgabenausweitung, auf. Diese
kann sich auf den Beitrag des Krankenhauses zur Gesundheitsförderung
und Prävention und zur Rehabilitation und Langzeitversorgung beziehen.
Das qualifizierte Personal einer Klinik mit seinen Kompetenzen und Fähigkeiten ist prädestiniert, solche Aufgabenstellungen zu übernehmen. Im
Bereich der Gesundheitsberatung, die sich innerhalb von Disease Management Programmen auf die Schulungen beziehen und eine Versorgungskomponente der Programme darstellen, können beispielsweise Aufgaben
für Krankenhäuser liegen. Badura (1996 a, S. 291) macht zudem darauf
aufmerksam, dass ein verstärktes Beratungsangebot das Erscheinungsbild
einer Klinik in der Öffentlichkeit verbessert und somit einen Beitrag zur
68
Beseitigung des beklagten Beratungsdefizites leistet, welches im Gutachten des SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 83) unter anderem als ein Merkmal
unzureichender Versorgung chronisch Kranker herausgearbeitet wird.
Die dritte Option der stationären Versorgung sieht Badura (1996 a, S.
291 f.) in der Dehospitalisierung, der Umwandlung kleiner Häuser in Ambulatorien mit eingeschränkter oder ganz wegfallender stationärer Versorgung. Die mit dieser Option beschriebene Strategie lässt keinen Rückschluss auf die Anwendung in Disease Management Programmen zu.
Abschließend ist festzustellen, dass sich die Charakterzüge der beiden
erstgenannten Optionen zur künftigen Gestaltung der stationären Versorgung vor dem Hintergrund einer koordinierten Versorgungskette für
chronisch Kranke strategisch in Disease Management Programmen
wiederfinden.
Bedingt durch den Wandel im Patientenaufkommen, der sich in erster
Linie durch hochbetagte Menschen mit chronischen Erkrankungen, Mehrfacherkrankungen oder progredient verlaufenden Krankheitsprozessen
und durch die abnehmenden Anteile akut erkrankter Patienten aufgrund
neuer Behandlungsmethoden vollzieht, ist zu prüfen, inwieweit die
Orientierung am Paradigma der Akutmedizin eine brauchbare Handlungsoption darstellt (vgl. Stratmeyer 2002, S. 13). Disease Management
Programme geben Kliniken eine Neuorientierung in der Versorgung
chronisch Kranker. Dennoch lassen sich die strukturellen und organisatorischen Probleme in der Versorgung dieser Patienten nicht allein durch innovative Versorgungsmodelle wie Disease Management Programme beheben. Der Erfolg von Disease Management hängt nicht nur von der Planungs- und Umsetzungsqualität sowie technischen und professionellen
Rahmenbedingungen ab, sondern bedarf grundsätzlich neuer Regeln, die
die gegenwärtigen Leitgedanken der Gesundheitsversorgung verändern
und ablösen müssen (vgl. SVRKAiG 2000/2001 Bd. III, S. 80 f.).
Anknüpfend an diesen Abschnitt, der die Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Versorgung chronisch Kranker durch neue Leitbilder
und Werte fordert, wird nachfolgend in Anlehnung an den SVRKAiG
(2000/2001 Bd. III) analysiert, welche neuen Regelungen in Disease Ma-
69
nagement Programmen Anwendung finden, die den gegenwärtigen Ansatz der Gesundheitsversorgung ablösen sollen.
4.3 Die Neuorientierung im Wertesystem eines Krankenhauses
Abbildung 7 stellt das bisherigen Verständnis von Gesundheitsversorgung dem Verständnis von Gesundheitsversorgung gegenüber, das aus
der Umsetzung der Disease Management Programme resultiert.
gegenwärtiger Ansatz der Gesundheitsversorgung
neue Regeln der Gesundheitsversorgung durch DMP
auf Besuchen basierende Versorgung
kontinuierliche Versorgung einer chronischen Erkrankung
über alle Krankheitsstadien und Aspekte der Versorgung
hinweg, umgesetzt durch Follow-up und individuelles Patientenmanagement
durch professionelle Autonomie verursachte Variabilität der Versorgung
auf Werte und Bedürfnisse des Patienten zugeschnittene
Behandlung durch individuelle Behandlungspläne, Risikostratifizierung, Berücksichtigung psychosozialer Faktoren und des klinischen Zustandes
Profession kontrolliert die Versorgung
Patient ist aktiver Partner und Manager seiner Krankheit
durch effektive Unterstützung des Selbstmanagements,
Reminder und evidenzbasierte Leitlinien für Patienten
Informationen stehen allen an Disease Management ProInformation ist eine passive, unbewegligrammen beteiligten Leistungserbringern und Patienten
che Akte
zur Verfügung durch Informationssysteme, Datensätze
Geheimhaltung ist notwendig
Transparenz wird hergestellt durch Qualitätsberichte,
Benchmarkingdatensätze
auf Training und Erfahrung basierende
Entscheidungen
Entscheidungen sind evidenzbasiert durch EbM und evidenzbasierte Leitlinien, Entscheidungsunterstützung
Vermeidung von Schäden liegt im Bereich individueller Verantwortlichkeit
Sicherheit durch den Abbau von Fehlversorgung durch
die Anwendung von Disease Management Programmen
Kostenreduktion wird angestrebt
Überversorgung wird kontinuierlich abgebaut durch die
Anwendung von Disease Management Programmen
Rollenbilder der Gesundheitsberufe
sind wichtiger als das System
professionsübergreifende Kooperation hat Priorität
Abbildung 7: Neue Regeln der Gesundheitsversorgung durch Disease Management
Programme
Quelle: Eigene Darstellung nach SVRKAiG (2000/2001 Bd. III, S. 22)
Nicht nur der SVRKAiG erfordert eine Abkehr vom Paradigma der
Akutmedizin, die durch die technikintensive Medizin und die Beherrschung somatischer Prozesse geprägt ist und die Lebenssituation und Problemsicht der Betroffenen meist unberücksichtigt lässt. Auch Badura (1996
70
a, S. 261) kommt in Anlehnung an Strauss und Corbin zu dem Schluss,
dass die Prävalenz chronischer Erkrankungen einen grundlegenden
Wandel der Gesundheitsdienste erzwingt. Die Gründe, warum ein
Wandel geboten ist, zeigten bereits die Abschnitte 2.1 und 4.1.1; Grundideen und die Erarbeitung neuer Versorgungssysteme wurden mit Disease
Management Programmen geboren. Die Umsetzung dieses Ansatzes bedarf jedoch eines Paradigmenwechsels in allen Gesundheitsfachberufen
vom gegenwärtigen Ansatz der Versorgung hin zu einer Gestaltung des
Gesundheitswesens, das der Situation und Problemsicht der zu Versorgenden sowie der Komplexität und dem prozessualen Charakter ihrer
Erkrankung gerecht wird. Doch „Vor dem Wandel in der Praxis steht der Wandel
im Denken, das diese Praxis prägt“ (Badura 1996 a, S. 261). Der Umgang mit
chronischen Erkrankungen ist bisher geprägt von der Orientierung am
Leitbild der Akutmedizin und in eine vom Denken und Handeln biotechnischer Experten bestimmte Versorgung eingebettet.
Die Übersicht der Abbildung 7 stellt deutlich dar, dass die Annahme
und Umsetzung der Ziele und Inhalte von Disease Management Programmen eine Veränderung der Grundeinstellung der beteiligten Akteure
voraussetzt. Am Beispiel von EbM und evidenzbasierten Leitlinien oder
des Datenmanagements ist bereits dargestellt worden, wie schwierig es
sich gestaltet, historisch gewachsene Herangehensweisen mit neuen
Zielen, Interessen und Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Sind Krankenhäuser bereit, sich dem Wandel im Patientenaufkommen zu stellen und
sich diesem anzupassen, kann durch die Annahme der Disease Management Instrumente der Prozess der Neuorientierung in der Versorgung
chronisch Kranker durch neue Leitbilder und Werte unterstützt werden.
Überdies werden sie der Grundidee des Disease Managements, der integrativen Versorgung gerecht. Fordern Disease Management Programme
von Kliniken, die koordinierende Funktion für die Versorgung über das
eigene Haus hinaus zu übernehmen, sollte dies bereits über eigene
funktionierende integrative Strukturen verfügen. Bisher bedeutet jedoch
die professionsübergreifende Arbeit für den Klinikalltag immer noch eine
große Herausforderung. Zahlreiche Autoren befassen sich in der wissenschaftlichen Literatur (vgl. Stratmeyer 2002; Badura/Feuerstein 1996;
Hüper 2004) mit den Problemen der Zusammenarbeit der beiden größten
Berufsgruppen im Gesundheitswesen: der Medizin und der Pflege. Der
folgende Abschnitt gibt einen Einblick in die Diskussion.
71
4.3.1 Kooperation im Krankenhaus als der koordinierenden Institution innerhalb von Disease Management Programmen
Ärzte und Pflegekräfte gehören nicht nur unterschiedlichen Berufsgruppen an, sondern sind auch durch unterschiedliche Kulturen geprägt.
Ihr Denken, Fühlen und Handeln folgt unterschiedlichen Deutungen,
Werten und Bindungen, was zu Kommunikationsproblemen und Meinungsverschiedenheiten führt (vgl. Badura 1996 b, S. 48). Die Schnittstelle
zwischen den Berufsgruppen der Ärzte und Pflegekräfte wird als die wohl
bedeutendste organisatorische Schnittstelle im Krankenhaus angesehen.
Sie gilt als das Ergebnis tradierten beruflichen Handelns (vgl. Stratmeyer
2002, S. 17). Pflegerisches Handeln im deutschen Gesundheitswesen unterliegt der Weisungspflicht des Arztes und schließt mehr oder minder alle
therapeutischen Bereiche des Krankenhauses mit ein. Gemäß den Untersuchungsergebnissen empirischer Studien liegen die Ursachen für die Kooperationsdefizite der beiden Berufsgruppen in den unterschiedlichen
und
Qualifizierungsund
Professionalisierungsgraden
Sozialisationsverläufen (vgl. Hüper 2004, S. 71). Die ungleiche
gesellschaftliche Stellung und Anerkennung sowie das historisch
gewachsene hierarchische Verhältnis sind den unterschiedlichen
Professionalisierungsgraden geschuldet. Die Entscheidungsleistung als
Einzelleistung von Ärzten und der Fokus auf die Pathologie durch die
Bindung an das biomedizinische Modell auf der einen Seite und die
gemeinschaftliche Problemlösung der Pflegekräfte unter Einbeziehung
psychosozialer Aspekte auf der anderen Seite kennzeichnen die
unterschiedlichen Qualifizierungs- und Sozialisationsverläufe.
Eine Analyse der unterschiedlichen Ausbildungen von Medizin- und
Pflegeakteuren lässt im Hinblick auf die Kooperationsbildungen dieser Berufsgruppen deutlich erkennen, dass sie als Kooperationspartner wenig
geeignet erscheinen (vgl. Stratmeyer 2002, S. 81 ff.). Die Gestaltung der
ärztlichen Ausbildung fördert ein naturwissenschaftlich-technisch geprägtes Verständnis von Gesundheit und Krankheit und bereitet die Mediziner
nicht angemessen auf eine patientengerechte und bedürfnisorientierte
Versorgung vor. Das vom medizinischen Wissenschaftsverständnis
geprägte Handlungsmodell lässt Verantwortungsteilung weder mit
anderen Berufsgruppen noch mit Patienten zu. Berufsübergreifende
Kooperation gar mit einer statusschlechteren Berufsgruppe ‚erniedrigt’ in
diesem Selbstverständnis die Person des Mediziners und lässt sie daher
72
als Kooperationspartner für die Pflege als wenig geeignet erscheinen. Die
Vorbehalte der Pflegenden gegenüber der Medizin manifestieren sich
bereits sehr frühzeitig während der Ausbildung zu einem Feindbild von
der Medizin. Dieses setzt sich aus einem Gemisch von Überforderung und
psychischer
Belastung,
Unterlegenheitsgefühlen,
mangelnder
Anerkennung der Arbeit und nicht kommunizierbaren Ansprüchen an
eine ganzheitliche Patientenversorgung zusammen und wird in eine
kapitulierende, gefühlsmäßig aufgeladene Sprachlosigkeit der Pflegenden
kanalisiert, was neben der Durchsetzung pflegerischer Perspektiven einen
fachübergreifenden Diskurs mit der Medizin behindert. Das bringt
Pflegekräfte in eine ungünstige Position als Kooperationspartner mit den
Ärzten.
In der stationären Versorgung zwingen die fortschreitende Spezialisierung und Technisierung akutmedizinischer Aufgabenstellungen
Ärzte dazu, sich auf den „harten Kern“ (Badura 1996 b, S. 49) ihrer Arbeit,
die Notfallbekämpfung und die Kontrolle pathogener Prozesse, zu konzentrieren. Die übrigen Tätigkeiten wie Gefühlsregulierung, Lebensorientierung oder Beratung, Linderung von Schmerzen, von körperlichem
und seelischem Leid fallen auf die anderen Berufsgruppen, besonders auf
Pflegekräfte zurück. Im Ergebnis der Technisierung der gesamten Krankenhausarbeit und permanenter Personal- und Zeitknappheit konkurrieren technikintensive und interaktionsintensive Leistungen miteinander.
Dabei beanspruchen die der ärztlichen Verantwortung unterliegenden
technikintensiven Leistungen zur Beherrschung somatischer Prozesse
größtenteils den Vorrang vor den interaktionsintensiven Leistungen zur
Linderung körperlicher und seelischer Not. Das von der Akutversorgung
geprägte Selbstverständnis der Beschäftigten in weiten Teilen der Krankenhausarbeit beinhaltet ein bestimmtes Patientenbild und ein bestimmtes
Verständnis ihrer Arbeit und Prioritäten. Nicht der kranke Mensch ist
Gegensand der Arbeit, sondern Art und Verlauf seiner körperlichen
Schädigung. Die Identifikation und Beherrschung pathogener Prozesse bis
zur Entlassung oder Weiterleitung an andere Versorgungseinrichtungen
sind das Ziel. Dabei genießt die technikintensive Bekämpfung von Gefährdungen der vitalen Funktionen höchste Priorität, wohingegen interaktionsintensive Maßnahmen zur Linderung, Beseitigung oder Vermeidung
negativer Gedanken und Gefühle, Angst, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Ungewissheit oder depressiver Zustände die letzte Stellung auf der Prioritä-
73
tenliste einnehmen. Die Technisierung scheint die in unterschiedlichen
Krankheitsvorstellungen, Behandlungskonzepten und Statusdifferenzen
begründeten Konflikte der Hauptberufsgruppen des deutschen Gesundheitswesens weiter zu verschärfen (vgl. Badura 1996 b, S. 34 ff.). Die Beziehung beider Gruppen hat sich statt zu einem Kooperationsgefüge „zu einem
konkurrenzvollen Arrangement“ (Stratmeyer 2002, S. 10) entwickelt.
Die sich abzeichnende Veränderung der stationären Versorgung durch
das „Zeitalter chronischer Erkrankungen“ (Badura/Feuerstein 1996, S. 11) bedeutet für die Akteure im Krankenhaus eine verstärkte Konfrontation mit
psychosozialen Problemen der Patienten wie Sorge, Elend, Hoffnungslosigkeit und Leid, die mit der Bewältigung einer chronischen Krankheit
verbunden sind. Der damit einhergehende Bedarf an professioneller Interaktionsarbeit wird sichtbar und lässt die Orientierung am Paradigma der
Akutmedizin als Handlungsoption in den Hintergrund treten. Da bisher
das Thema Chronizität als komplexes und prozesshaftes Geschehen in der
medizinischen Forschung und Ausbildung vernachlässigt wurde, steckt
die Entwicklung von Versorgungskonzepten für chronisch Kranke noch in
den „Kinderschuhen“ (Badura 1996 a, S. 296). Auszurichten sind diese
Versorgungskonzepte
an
Leistungsangeboten,
die
die
Verhaltensmodifikation ausbauen mit dem Ziel der Erhaltung und
Rückgewinnung von Lebensqualität und Leistungsfähigkeit, was eine
Integration zahlreicher Versorgungseinrichtungen und Berufsgruppen
voraussetzt. Die Ziele und Inhalte von Disease Management Programmen
versuchen dem zu entsprechen. Die wesentliche Schwierigkeit der
Krankenhäuser als einer Institution in dieser Versorgungskette liegt im
unterschiedlichen Selbstverständnis der Medizin und Pflege, was zu
differierenden Handlungsweisen führt. Ein Krankenhaus wird diese
Schwierigkeiten nur überwinden können, wenn beide Berufsgruppen zur
selbstkritischen Handlungsüberprüfung bereit sind und sich auf einen
gemeinsamen Handlungsrahmen verständigen (vgl. Stratmeyer 2002, S.
10). Wenn „Kooperation Handlungsfähigkeit bewirkt, die entsteht, indem sich die
Handlungspartner an gemeinsamen Werten und Zielen orientieren und ihre
Handlungspläne auf gemeinsame Ziele hin koordinieren“ (Hüper 2004, S. 81), lässt
sich im Rückschluss vermuten, dass Disease Management Programme
einen Handlungsrahmen definieren, in dem sich die Handlungspartner an
gemeinsamen Werten orientieren, ihre Handlungspläne auf gemeinsame
74
Ziele hin koordinieren und folglich kooperative Handlungsfähigkeit
fördern.
Im anschließenden Abschnitt sollen die künftigen Anforderungen an
ein Krankenhaus im Sinne der Patientenorientierung unter Berücksichtigung der besonderen Situation chronisch Kranker aufgezeigt werden.
Dabei sollen aus den sich ergebenden Silhouetten einer patientenorientierten Einrichtung die Zukunftsanforderungen für Medizin und
Pflege im Kontext kooperativer Zusammenarbeit abgeleitet werden.
4.3.2 Das Krankenhaus im Dienste der Patientenorientierung
Rückgreifend auf das Konzept des Lean Managements macht Badura
(1996 a, S. 255 ff.) deutlich, dass Modelle moderner Unternehmensführung
in der Organisationsentwicklung auf mehr Patientenorientierung auszurichten sind. Hierbei bedeutet Patientenorientierung die „Erforschung der
‚wirklichen’ Patientenbedürfnisse“ (Badura 1996 a, S. 262), die Betrachtung der
Versorgungsprobleme und der Erfordernisse zu deren Bewältigung aus
Sicht der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Insbesondere die Situation
chronisch Kranker setzt die Betrachtung der Krankheitsverläufe und -interventionen im lebensgeschichtlichen und sozialen Kontext voraus. Der
durch Beständigkeit gekennzeichnete Schaden einer chronischen Erkrankung und die sich daraus ergebende Beständigkeit der Behandlung
und Bewältigungsleistungen erfordern ebenso beständige soziale und
seelische Anpassungsleistungen. Das Versorgungssystem bedarf daher
kontinuierlicher und flexibler, der Situation des Einzelfalls gerecht
werdender Behandlung und Nachsorge unter Beobachtung und Behandlung des körperlichen Zustandes sowie der Förderung der Anpassungsleistungen und Selbsthilfepotenziale der Betroffenen (vgl. Badura 1996 a,
S. 265). Für ein patientenorientiertes Krankenhaus ergibt sich daraus, die
Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen als eine
Episode im Krankheitsverlauf zu betrachten und nicht als abgeschlossenes
Geschehen.
Chronische
Erkrankungen
erfordern
neben
der
langanhaltenden Behandlung oft eine weitreichende und beständige
Neuordnung des Alltagslebens und des Verhaltens, wozu der Patient
befähigt werden muss.
Die Partizipation von Patienten bedeutet daher mehr als die bloße Information und Zustimmung zum Behandlungsgeschehen. Sie äußert sich
75
in einer aktiven Beziehungsgestaltung zur verbesserten Krankheitsbewältigung auf der Grundlage von Arbeitsbündnissen und Aushandlungsprozessen zwischen Patienten und therapeutischem Team. Sie bedeutet die
Abkehr vom paternalistischen Paradigma, das den Patienten verpflichtet,
die Verantwortung in die Hände des Experten zu legen und dessen
Anweisungen zu befolgen, um die Patientenrolle möglichst bald wieder
zu verlassen. Dem paternalistischen Paradigma folgend, befreite die Patientenrolle von allen üblichen sozialen Rollenverpflichtungen und von der
Verantwortung für den eigenen Zustand. Aspekte der Prävention oder
Gesundheitsförderung blieben demnach unbeachtet. Partizipation von Patienten hingegen erweitert die Rollen der Patienten und der
Professionellen. Anstelle des passiven Empfängers von professionellen
Leistungen, dessen Beitrag sich auf Compliance begrenzt, erwächst die
selbstverantwortliche Mitarbeit eines aktiven Partners. Das Ziel von gezielter Vermittlung und Übertragung von Wissen und Informationen zwischen den Patienten und Akteuren des Gesundheitswesens liegt in der
Hilfe zur Selbsthilfe. Diese Wissensübermittlung bedarf der aktiven Rolle
beider Interaktionspartner. Professionelle geben Wissen weiter, Patienten
nehmen dies an und verarbeiten es weiter (vgl. Forster 2003, S. 75 ff.).
Die Umsetzung der Partizipation der Patienten soll hier am Beispiel der
Disease Management Programme erläutert werden. Im Disease Management kommt dem Patienten eine aktive Rolle in der Behandlung seiner Erkrankung zu. Das beginnt bei der Einschreibung der Patienten in Disease
Management Programme auf freiwilliger Basis. Innerhalb von Disease
Management Programmen soll der Betroffenen unter anderem im
Selbstmanagement seiner Erkrankung unterstützt und gefördert werden.
Hierzu tragen die Reminder für Patienten in den Programmen bei.
Reminder oder Erinnerungssysteme sind alle Feedback-Mechanismen, mit
denen dem Patienten, darüber hinaus auch dem Arzt, Informationen zu
den Indikatoren der Prozess- und Ergebnisqualität vermittelt werden
können. Sie können postalischer, telefonischer oder computergestützter
Natur sein. Reminder erinnern beispielsweise an Untersuchungs- und
Kontrolltermine beim Arzt oder fördern verhaltensändernde Maßnahmen
durch gewisse Empfehlungen. So können z. B. Ratschläge zur Ernährung,
Gewichtsreduktion oder Raucherentwöhnung zur Verringerung der
Risikofaktoren übermittelt werden. Ebenso erinnern sie an selbst gesteckte
Therapieziele. Die aktive Rolle des Patienten wird im Disease
76
Management des Weiteren durch die Aufbereitung und Bereitstellung
evidenzbasierter, für Laien verständlicher Leitlinien gefördert. Die
Einhaltung der Patientenleitlinien kann durch den systematischen und
gezielten Einsatz von Remindern unterstützt werden. So kann dem
Patienten
Rückmeldung
über
häuslich
durchzuführende
Blutzuckerselbstmessungen entsprechend der Leitlinie gegeben werden.
Mit Hilfe der Erinnerungsunterstützung wird der Patient im Rahmen
seiner Behandlung über seine medizinischen Werte und Risiken informiert
(vgl. Lauterbach o. J., S. 122 ff.).
Für ein Krankenhaus mit einem Grundverständnis der oben beschriebenen Partizipation von Patienten erfolgt die Messung der Erfolgsparameter hinsichtlich des Beitrages zur verbesserten Krankheitsbewältigung und lässt sich nicht auf die Anzahl erfolgreicher
therapeutischer Verfahren reduzieren. Die zukünftige Entwicklung von
Krankenhäusern wird sich in zwei unterschiedlichen Ausrichtungen
darstellen. Für die Orientierung am Paradigma der Akutversorgung steht
das schlanke Krankenhaus, das hoch spezialisierte Zentrum der HighTech-Medizin. Für die Orientierung an den Bedürfnissen chronisch
Kranker steht das „Krankenhaus ohne Mauern“ (Stratmeyer 2002, S. 294), das
sich
durch
stationäre
und
teilstationäre
Angebote
zur
Gesundheitsförderung, Prävention, Akutversorgung und Rehabilitation in
der primären Versorgung auszeichnet. Chronisch Kranke benötigen
Leistungen, die neben dem körperlichen Zustand auch ihre seelischen und
sozialen Voraussetzungen berücksichtigen. Die Wechselwirkung zwischen
sozialen, seelischen und somatischen Vorgängen beschreiben Badura und
Feuerstein folgendermaßen: „Mensch und Umwelt, Seele und Körper sind durch
Wechselwirkungen auf das engste miteinander verbunden. [...] Soziale, seelische und
physiologische Vorgänge hängen – das bleibt festzuhalten – sehr viel enger miteinander
zusammen, als wir bisher angenommen haben“ (Badura/Feuerstein 1996, S. 18). Sie
schreiben diesen Erkenntnissen die Revolution nicht nur in der
Gesundheitsförderung und Prävention, sondern auch in der Versorgung
chronisch Kranker zu und leiten daraus folgende Konsequenzen für die
Veränderung klinischer Arbeit ab:
eine Aufwertung interaktionsintensiver Leistungen und der sozialen Kompetenz der Beschäftigten
77
eine Aufwertung vor allem der Pflegetätigkeit und schließlich
eine Aufwertung der Beiträge der Erkrankten selbst und ihrer
Angehörigen zur Akutversorgung, Frührehabilitation und
Langzeitbewältigung einer chronischen Krankheit
Die Anerkennung interaktionsintensiver Leistungen ist verbunden mit
der Aufwertung der Pflegetätigkeit, die nur durch größere Selbstständigkeit der Pflegenden und ihre Professionalisierung umzusetzen ist. Die
Neuorientierung eines Krankenhauses hin zu interaktionsorientierten
Handlungen bedarf zudem der Neuorientierung des ärztlichen Selbstverständnisses, da Ärzte das Leistungsgeschehen des Hauses im Wesentlichen bestimmen, weil Patienten in erster Linie wegen einer ärztlichen Behandlung in die Klinik kommen. Die Zukunft eines Hauses hängt demnach stark von der Veränderungsfähigkeit der Medizin ab. Visionär ließe
sich patientenorientierte Krankenhaustätigkeit folgendermaßen formulieren: Pflege, dem Verständnis als einer der Krankenhausmedizin beigeordneten und sie ergänzenden Krankenhausarbeit folgend, bietet die
wissenschaftlich fundierte kritische Instanz ärztlichen Handelns. Ärzte
reflektieren ihr Handeln auf der Grundlage einer intersubjektiven Beziehung mit dem Patienten und seiner lebensweltlich-biografischen Zusammenhänge unter Einbeziehung der Ansichten der Pflege und anderer
Gesundheitsberufe (vgl. Stratmeyer 2002, S. 308). Dieses Verständnis von
Pflege unterstreicht die Aufwertung der Pflegetätigkeit und formt eine
Vernetzung von Medizin und Pflege im Krankenhaus. Im Interesse der
bedarfsgerechten Versorgung chronisch Kranker ist eine Arbeitsweise
anzustreben, die die jeweils eigene Sichtweise der verschiedenen
Spezialisten zu einer teamorientierten interdisziplinären Arbeit
zusammenfinden lässt. Um Versorgungsbrüche zu vermeiden, sind die
Grenzen des institutionsbezogenen Handelns zu überwinden und
nachgelagerte
Prozesse
frühzeitig
einzubinden.
Die
Basis
patientenorientierter Medizin und Pflege ist Kooperation, die sowohl die
Arbeitsbeziehungen der Behandlungsteams als auch die Beziehung zum
Patienten bestimmt (vgl. Hüper 2004, S. 81). Die herkömmliche
Arbeitsteilung zwischen Medizin in Richtung Technikzentrierung und
Pflege mit interaktionsorientiertem Ansatz können diesen Anforderungen
jedoch nicht gerecht werden.
78
Zusammenfassend ist festzustellen, dass auch hier nochmals deutlich
wird, dass Integration Prozesscharakter besitzt und diese integrativen Prozesse einhergehen mit Veränderungen sozialer Beziehungen, beruflicher
Kompetenzen, des Status sowie der institutionellen Strukturen einschließlich ihrer gewachsenen Kulturen. Es ist offensichtlich geworden, dass
Disease Management Programme für Krankenhäuser eine andere Bedeutung haben als für die GKV. Sie können für Krankenhäuser den behutsamen Beginn der Abwendung von den gegenwärtigen Leitgedanken der
Gesundheitsversorgung hin zur Neuorientierung in der Versorgung
chronisch Kranker darstellen. Dahingegen ist für die GKV davon auszugehen, dass Disease Management Programme durch die Kopplung an den
RSA eher von monetärer Bedeutung sind.
5 ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG
Ein wesentliches Problem des deutschen Gesundheitswesens ist die
starre Abschottung zwischen den einzelnen Sektoren und auch Sozialleistungszweigen. Angesichts der heutigen Herausforderungen – veränderte
Alterstruktur mit einer Zunahme chronischer Erkrankungen und Mehrfacherkrankungen sowie bestehende Über-, Unter- und Fehlversorgung und
die Notwendigkeit, mit begrenzten Mitteln das bestmögliche Ergebnis zu
erzielen – müssen die Abschottung und Abgrenzung zwischen den einzelnen Sektoren überwunden werden. Dieses Ziel verfolgt die Integrierte
Versorgung. Bisherige Bestrebungen zur Umsetzung dieses Konzeptes
führten jedoch nicht zu gewünschten Ergebnissen. Eine Ursache dafür ist,
dass Diskussionen zur Integration bislang im Kontext gefährdeter Beitragssatzstabilitäten geführt wurden und somit dem Druck unmittelbar
wirksam werdender Kostenentlastung ausgesetzt sind.
Die Einführung von Disease Management Programmen in das System
der GKV wurde im Wesentlichen durch zwei Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen beeinflusst. Zum einen soll die medizinische
Versorgung chronisch Kranker verbessert werden und zum anderen
sollen alle gesetzlichen Krankenkassen in finanzieller Hinsicht möglichst
so gestellt werden, als ob sie annähernd gleiche Versichertenstrukturen
aufwiesen. Durch die Aufnahme der Disease Management Programme in
den RSA soll eine gerechtere Verteilung der Lasten bei der Versorgung
79
chronisch Kranker auf alle Kassen erfolgen. Krankenkassen, die diese Programme auflegen und ihre chronisch Kranken hierfür gewinnen, erhalten
Finanztransfers. Die finanziellen Anreize sollen einen Wettbewerb zur
optimalen Versorgung chronisch Kranker auslösen. Doch bestehen berechtigte Zweifel, ob eine Kombination von Disease Management und
RSA sinnvoll ist. Krankenkassen verbessern mit Disease Management Programmen ihre Position im RSA.
Wenn weniger die Verbesserung der Gesundheitsversorgung im Mittelpunkt steht, sondern die Auswirkungen auf die Position der Krankenkassen im RSA vordergründig sind, drohen die Disease Management
Programme zu scheitern. Es ist hier an die Verantwortlichen zu appellieren, der Idee des Disease Managements, der Versorgungsverbesserung durch standardisierte und integrierte Behandlungskonzepte, nachzukommen und nicht einer kurzfristigen Kostenminimierung zu unterwerfen. Hierzu bedarf es aber offenkundig einer Ausgestaltung der
Disease Management Programme, die dem tatsächlichen Integrationscharakter entspricht und eine sektoren-, institutions- und professionsübergreifende Arbeit ermöglicht. Die Untersuchung der beiden momentan vorliegenden Anforderungsprofile für Disease Management Programme
Diabetes mellitus Typ 2 und Brutkrebs lässt hier Defizite erkennen.
Bedingt durch den Wandel im Patientenaufkommen wird deutlich,
dass die Orientierung am Paradigma der Akutmedizin keine brauchbare
Handlungsoption darstellt, um der zunehmenden Versorgung chronisch
Kranker gerecht zu werden. Es bedarf einer Neuorientierung in der
Versorgung dieser Patientengruppe, die mit neuen Leitbildern und
Werten
einhergeht
und
den
gegenwärtigen
Ansatz
der
Gesundheitsversorgung ablöst. Die Implementierung von Disease
Management Programmen erzwingt einen grundlegenden Wandel der
Gesundheitsdienste. Die Annahme und Umsetzung der Ziele und Inhalte
der strukturierten Behandlungsprogramme setzt eine Veränderung der
Grundeinstellung der beteiligten Akteure voraus. Dies lässt sich mit dem
Verständnis
von
Integration
begründen,
das
integrierte
Versorgungssysteme als Prozesse beschreibt, die aus Veränderungen
sozialer Beziehungen, beruflicher Kompetenzen und institutioneller
Strukturen einschließlich ihrer Verhaltensorientierung und Kultur
bestehen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Verständnis eingebettet
80
in das Disease Management eine neue Perspektive in Richtung Integrierte
Versorgung darstellt oder ob sich dieses gerade als unüberwindbare
Grenze herauskristallisiert.
Stellen sich Krankenhäuser dem Wandel im Patientenaufkommen und
sind bereit, sich diesem anzupassen und den Bedürfnissen chronisch
Kranker zu folgen, kann durch die Annahme der Disease Management
Instrumente der Prozess der Neuorientierung in der Versorgung
chronisch Kranker durch eine neue Kultur innerhalb der Institution
unterstützt werden. Die künftigen Anforderungen an ein Krankenhaus
unter Berücksichtigung der besonderen Situation chronisch Kranker
lassen das Profil einer patientenorientierten Einrichtung erkennen, woraus
sich unter anderem die Zukunftsanforderungen an Medizin und Pflege im
Kontext kooperativer Zusammenarbeit ableiten. Es ist zu hoffen, dass es
Krankenhäusern gelingt, das in Disease Management Programmen
liegende Potenzial für sich zu nutzen und der im Wesentlichen auch
unvermeidlichen Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung mit dem Prozess
der Integration entgegenzuwirken.
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7 ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Hierarchie wissenschaftlicher Evidenz.............................. 41
Abbildung 2: Ablaufschema eines Disease Management Programms . 44
Abbildung 3: Modultypen im Disease Management Programm........... 45
Abbildung 4: Versorgungskomponenten des Basismoduls.................... 48
Abbildung 5: Versorgungs- und unterstützende Komponenten
des Basismoduls ...................................................................... 49
Abbildung 6: Integrationspotentiale der Anforderungsprofile für Disease
Management Programme Diabetes mellitus Typ 2 und
Brustkrebs................................................................................. 59
Abbildung 7: Neue Regeln der Gesundheitsversorgung durch Disease
Management Programme ...................................................... 70
93
8 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
BÄK
BMG
BV
BVA
COPD
DKG
DMP
DRG
EbM
EU
FAZ
GKV
GMG
KBV
KHK
KV
RSA
RSAV
SGB
SOEP
SVRKAiG
VdAK
Bundesärztekammer
Bundesministerium für Gesundheit
Bundesverband
Bundesversicherungsamt
chronic obstruktive pulmonary disease
Deutsche Krankenhausgesellschaft
Disease Management Programm
Diagnosis Related Groups
Evidence-based Medicine
Erwerbsunfähigkeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Gesetzliche Krankenversicherung
Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Koronare Herzkrankheit
Kassenärztliche Vereinigung
Risikostrukturausgleich
Risikostruktur-Ausgleichsverordnung
Sozialgesetzbuch
Sozio-ökonomisches Panel
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen
Verband der Angestellten-Krankenkasse
94
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