Die autonome diabetische Neuropathie

Werbung
M E D I Z I N
AKTUELL
Joachim Friedrich
Erckenbrecht1
Sabine Flesch1
Thomas Frieling2
Dan Ziegler3
Martin Wienbeck4
Wolfgang Caspary5
ehr als die Hälfte der Patienten mit Diabetes mellitus
klagt über gastrointestinale
Beschwerden (8, 10). Dabei
stehen Obstipation, Diarrhö, Übelkeit und Erbrechen sowie Stuhlinkontinenz im Vordergrund. Es ist allerdings fraglich, ob diese Symptome
ausschließlich durch die bestehende
Blutzuckerkrankheit und eine den
Diabetes mellitus begleitende Neuropathie des autonomen Nervensystems
verursacht werden. Vielmehr spiegeln
sie auch die hohe Prävalenz gastrointestinaler Symptome in der Allgemeinbevölkerung wider. Gastrointestinale Symptome kommen bei TypI-Diabetikern im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe gleichen Alters und
Geschlechts ohne Diabetes mellitus
nicht häufiger vor. Lediglich bei Patienten mit Typ-II-Diabetes treten die
Symptome Übelkeit und Obstipation
öfter als in einer Kontrollpopulation
auf (8, 33) (Grafik 1).
Störungen der gastrointestinalen
Physiologie bei Diabetikern können
auch asymptomatisch bleiben. Dies ist
wahrscheinlich auf eine Schädigung
viszeraler afferenter Nerven zurückzuführen (32). Die Prävalenz gastrointestinaler Symptome repräsentiert
daher nicht die Prävalenz gastrointestinaler Funktionsstörungen bei
Diabetes mellitus.
M
Gastrointestinale
Symptome und autonome
Neuropathie
Es gibt keine Symptome oder pathophysiologische Veränderungen,
die spezifisch für die gastrointestinale
diabetische autonome Neuropathie
sind. Der Verdacht auf das Vorliegen
einer gastrointestinalen diabetischen
Neuropathie liegt nahe, wenn die in
Serie: Diabetische Neuropathie
Die autonome diabetische
Neuropathie des
Gastrointestinaltraktes
Patienten mit Diabetes mellitus, besonders die mit Typ-II-Diabetes, weisen überdurchschnittlich häufig gastrointestinale Symptome auf. Die Ursache dieser Symptome sind Störungen der gastrointestinalen Motilität,
Sekretion, Resorption und Perzeption.
Von diesen sind die gastrointestinalen
Motilitätsstörungen durch den Einsatz
von manometrischen, elektrophysiologischen und szintigraphischen Techniken sowie durch Transitzeitbestimmungen von inerten Markern am
besten charakterisiert. Die so aufgedeckten Funktionsstörungen von Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm
sowie des anorektalen Kontinenzapparates bei Diabetes mellitus korrelieren allerdings nicht mit dem Vorhandensein oder dem Ausmaß einer autonomen diabetischen Neuropathie
außerhalb des Gastrointestinaltrakts.
1
Klinik für Innere Medizin und Gastroenterologie (Chefarzt: Prof. Dr. med. Joachim Friedrich Erckenbrecht), Krankenanstalten FlorenceNightingale, Diakoniewerk Kaiserswerth, Düsseldorf
2 Klinik für Gastroenterologie (Direktor: Prof.
Dr. med. Dieter Häussinger), Medizinische Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
3 Diabetes-Forschungsinstitut
(Direktor: Prof.
Dr. med. Friedrich Arnold Gries), Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
4 Medizinische Klinik III (Direktor: Prof. Dr.
med. Martin Wienbeck), Zentralklinikum Augsburg
5 Zentrum der Inneren Medizin (Direktor: Prof.
Dr. med. Wolfgang Caspary), Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
der Tabelle aufgeführten Befunde erhoben werden können.
Das gemeinsame Auftreten von
therapiebedürftigen gastrointestinalen Symptomen und Zeichen einer
kardialen und/oder urogenitalen autonomen Neuropathie sollte Anlaß zur
weiteren gastrointestinalen Diagnostik geben, insbesondere dann, wenn
zusätzlich eine sonst nicht erklärbare
Stoffwechsellabilität und/oder eine
eingeschränkte oder fehlende Hypoglykämiewahrnehmung vorliegen.
Pathogenese
Die Störungen der gastrointestinalen Physiologie bei Diabetes mellitus beruhen auf einer Dysfunktion der
neuralen Kontrolle von Motilität, Sekretion, Resorption und Perzeption
im Magen-Darm-Kanal. Wichtigste
Ursache ist eine funktionelle Schädigung gastrointestinaler afferenter und
efferenter Fasern des sympathischen
und parasympathischen Nervensystems im Rahmen einer autonomen
Neuropathie. Ob diese funktionelle
Schädigung immer mit morphologischen
Alterationen
einhergeht,
ist ungeklärt. Segmentale Myelinscheidenverluste, Axondegenerationen und Bildung großer Vakuolen im
Zytoplasma wurden beschrieben (38)
und als wahrscheinliche Ursache
eine diabetische Mikroangiopathie
und/oder metabolische Störungen diskutiert (25). Jedoch weisen stoffwechselgesunde Personen, Patienten mit
Diabetes mellitus ohne und mit Organkomplikationen und diabetische
Patienten mit Enteropathie einen weiten Überlappungsbereich der elektronenmikroskopischen neuralen Morphologie auf (38). Der N. vagus als
wichtigster afferenter und efferenter
Strang des autonomen Nervensystems
Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 27, 5. Juli 1996 (41) A-1831
M E D I Z I N
AKTUELL
im oberen Gastrointestinaltrakt weist
zumindest lichtmikroskopisch keinerlei Veränderungen auf (43). Schließlich muß bedacht werden, daß gastrointestinale Bewegungsvorgänge durch
Hypo- und Hyperglykämien, Elektrolyt- und pH-Veränderungen oder
durch endokrinologische (Hypothyreose) und andere Erkrankungen
diabetischen Patienten ohne und bei
etwa 60 Prozent der diabetischen Patienten mit Neuropathie auf (25). Sie
sind vergleichbar mit denen nach einer
Vagotomie. Mit szintigraphischen Methoden kann bei etwa 40 Prozent bis 80
Prozent der diabetischen Patienten eine deutliche Verzögerung der ösophagealen Transitzeit für flüssige und feste
Grafik 1
Völlegefühl
Übelkeit
*
Sodbrennen
Obstipation
*
Diarrhoe
0
2 4 6 8 10 12 14 16
Symptomprävalenz (%) in 4 Wochen
Typ-I-Diabetiker
0
5
10
15
20
Symptomprävalenz (%) in 4 Wochen
Typ-II-Diabetiker
25
Kontrollen
Prävalenz gastrointestinaler Symptome bei Diabetikern (n = 143) und gesunden Personen (n = 143) (33)
(Anorexia nervosa) ebenfalls ohne
Vorliegen einer Neuropathie beeinflußt werden können (14).
Organmanifestationen
Störungen von Perzeption und
Motilität im Rahmen einer diabetischen autonomen Neuropathie können jedes Organ des Gastrointestinaltraktes betreffen (Grafik 2).
Ösophagusmotilitätsstörungen
Störungen der Ösophagusmotilität bei Diabetikern können manometrisch registriert werden. Zu ihnen
zählen eine Abnahme der Kontraktionsamplitude, vermehrte spontane
(tertiäre) Kontraktionen, mehrgipflige
peristaltische Kontraktionen und ein
erniedrigter Druck im unteren Ösophagussphinkter (24). Diese Veränderungen treten bei etwa 40 Prozent der
Speisen nachgewiesen werden (15, 20).
Eine Korrelation zu den manometrischen Befunden besteht nicht. Meist
sind derartige Veränderungen nicht
symptomatisch, so daß diabetische Patienten nur selten Symptome wie Sodbrennen oder Dysphagie angeben (7).
Magenmotilitätsstörungen
Bei etwa der Hälfte aller insulinpflichtiger und nicht insulinpflichtiger
Patienten mit Diabetes mellitus ist die
Magenentleerung gestört (14, 15, 17,
36). Klassische Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, postprandiales Völlegefühl, epigastrischer Schmerz, Gewichtsverlust, postprandiale Hypoglykämie und labile Stoffwechsellage.
Feste Nahrungsbestandteile sind von
der Magenentleerungsstörung stärker
betroffen als flüssige. Allerdings kann
selbst eine ausgeprägte Gastroparese
völlig asymptomatisch verlaufen und
sich erst durch Probleme bei der Blut-
A-1832 (42) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 27, 5. Juli 1996
zuckereinstellung äußern. Etwa 50
Prozent der Patienten mit diabetischer Gastroparese haben keine oder
nur sehr geringe Symptome (14). Das
motorische Korrelat der diabetischen
Magenentleerungsstörung ist eine
postprandiale antrale Hypomotilität
(2, 4, 12). Diese hat zur Folge, daß
feste Nahrungsbestandteile nicht
oder nur verzögert zu einer Partikelgröße von kleiner als ein Millimeter
zermahlen werden, was Voraussetzung für eine normale Magenentleerung ist. Auch die Resorption von
Medikamenten, die in Form von Dragees oder Tabletten eingenommen
werden und daher den Magen erst wie
große, nicht zerkleinerbare Nahrungspartikel mit Einsetzen der
Nüchternmotilität verlassen, kann
durch diesen Mechanismus erheblich
verzögert werden. Zusätzlich kann
die Magenentleerung von Diabetikern durch das gehäufte Auftreten
von tonisch-phasischen Kontraktionen des Pylorus behindert sein (14,
28). Angemerkt sei, daß bei Patienten
mit „frühem“, nicht insulinpflichtigem Diabetes mellitus die Magenentleerung nicht verzögert, sondern im
Gegenteil beschleunigt sein kann
(31). Unabhängig von diabetesbedingten Veränderungen am enteralen
Nervensystem beeinflußt die Höhe
des Blutzuckers die Magenentleerung. Bei einem Blutzucker von über
200 mg/dl wird die Magenentleerungszeit mehr als verdoppelt.
Dünn- und
Dickdarmmotilitätsstörungen
Bei der diabetischen Diarrhö
handelt es sich um eine chronische,
meist intermittierend auftretende
Diarrhö, die von Phasen normalen
Stuhlverhaltens oder von Obstipation
unterbrochen wird. Häufig treten voluminöse wäßrige, manchmal auch
nächtliche Durchfälle auf. Ob bei der
Pathogenese dieser Diarrhöen eine
autonome Neuropathie eine wesentliche Rolle spielt, ist bisher unklar. Zu
bedenken ist, daß Patienten mit Diabetes mellitus gleichzeitig häufiger als
stoffwechselgesunde Personen an anderen Erkrankungen leiden, die mit
chronischen Diarrhöen einhergehen.
Dazu zählen die chronische Pankreatitis und die glutensensitive Enteropa-
M E D I Z I N
AKTUELL
thie (26, 27). Die Diarrhö dieser Patienten kann somit auch unabhängig
von einer autonomen diabetischen
Neuropathie des Gastrointestinaltrakts auftreten (Textkasten).
Die Diarrhö infolge einer bakteriellen Fehlbesiedlung des Dünndarms mit nachfolgender Steatorrhö
wird durch eine neuropathiebedingte
Hypomotilität des Dünndarms mit
verminderter phasischer Kontraktionstätigkeit und nicht fortgeleiteten,
lang anhaltenden Kontraktionsgruppen erklärt (4, 30). Das Fehlen propulsiver motorischer Aktivität im
Nüchtern- und postprandialen Zustand ermöglicht dann eine Keimaszension aus dem Dickdarm in den
Dünndarm (40). Zusätzlich scheint
der Verlust von a2-Adrenozeptoren
der Enterozyten an der Pathogenese
der Diarrhö beteiligt zu sein. Dadurch kommt es zu einer Störung der
autonomen Regulation des Ionentransportes. Dieser Mechanismus
erklärt auch, warum bei streptozotocininduziertem Diabetes mellitus bei
Ratten statt der physiologischen Nettoresorption von Flüssigkeit und
Elektrolyten im Ileum und Kolon eine Nettosekretion in das Darmlumen
stattfindet. Diese ist nach Gabe von
Clonidin reversibel (5, 6). Auch
beim Menschen wurden in Einzelfällen drastische Besserungen einer im
Rahmen eines Diabetes mellitus auftretenden Diarrhö unter Clonidin beschrieben (11).
Die Ursache für die bei Diabetikern gehäuft vorkommende Obstipation ist unklar. Bisher wurde lediglich
eine fehlende Stimulation der Dickdarmmotilität nach Nahrungsaufnahme („gastrokolischer Reflex“) bei
Diabetikern beschrieben (3). Es ist
darüber hinaus vorstellbar, daß die
propulsive motorische Aktivität des
Dickdarms in Analogie zu den übrigen Teilen des Gastrointestinaltrakts
bei diabetischer autonomer Neuropathie vermindert ist. Direkte Untersuchungen der Dickdarmmotilität bei
diabetischer Neuropathie liegen allerdings nicht vor.
Stuhlinkontinenz ist ein häufiges
und oft aus Schamgefühl nicht angesprochenes Symptom bei Patienten
mit und ohne Diabetes mellitus (8,
23). An der Ursache sind ein erniedrigter Ruhetonus des internen Anal-
sphinkters als Hinweis für eine autonome Denervierung, eine verminderte Willkürkontraktion der externen
Analsphinktermuskulatur sowie eine
gestörte rektale Perzeption beteiligt
(9, 42). Allerdings findet sich keine
Korrelation zwischen den Störungen
der anorektalen Funktion bei Diabetikern und dem Auftreten und dem
Tabelle
Verdachtsmomente für das Vorliegen einer
gastrointestinalen autonomen Neuropathie
(modifiziert nach Haselbeck, 1995)
l Eindeutige sensomotorische Neuropathie (insbesondere bei
„schmerzhafter Neuropathie“)
und/oder lange Diabetesdauer
l Nachweis einer kardialen autonomen Neuropathie
l Spezifische Organsymptome
– dyspeptische Symptome,
Übelkeit, Erbrechen
– Diarrhö, Obstipation
– eingeschränkte oder fehlende
Hypoglykämiewahrnehmung
– Ruhetachykardie
– erektile Impotenz
l Nicht erklärbare
Stoffwechsellabilität
Schweregrad einer autonomen oder
peripheren Neuropathie in anderen
Organsystemen (9).
Diagnostik und Therapie
Untersuchungsmöglichkeiten zur
spezifischen Erfassung einer diabetischen autonomen Neuropathie des Gastrointestinaltrakts stehen bisher nur in
Ansätzen zur Verfügung (32). Die Diagnostik muß sich daher auf die Darstellung vermuteter Folgeerscheinungen
der autonomen Neuropathie, die sich
als Störungen der gastrointestinalen
Physiologie äußern, beschränken.
Ebenso wie eine spezifische Diagnostik ist eine spezifische Therapie
der autonomen Neuropathie des Gastrointestinaltrakts bislang nicht bekannt. Entsprechend steht die
Prävention diabetischer Spätkomplikationen durch eine optimale Stoffwechseleinstellung im Vordergrund
der ärztlichen Bemühungen. Im übrigen beschränken sich die therapeutischen Möglichkeiten auf symptomatische Maßnahmen.
Ösophagusmotilitätsstörungen
Symptome von Ösophagusmotilitätsstörungen im Rahmen einer autonomen Neuropathie sind selten. Bei
den ungewöhnlichen Symptomen Dysphagie und Odynophagie ist eine Endoskopie zum Ausschluß einer organischen Ursache notwendig. Bei Sodbrennen kann wegen des hohen prädiktiven Wertes dieses Symptoms für
das Vorliegen einer gastroösophagealen Refluxkrankheit (22) ein symptomatischer Therapieversuch mit einem
Protonenpumpeninhibitor ohne vorherige morphologische Diagnostik begonnen werden. Diese wird spätestens
notwendig, wenn Symptome unter der
Therapie persistieren oder nach Beendigung der Behandlung wieder auftreten. Bei ungenügender Klärung der
Symptome durch Endoskopie und Radiologie ist bei therapiebedürftigen
Symptomen eine weitere spezielle
Funktionsdiagnostik durch Ösophagusmanometrie und pH-Metrie erforderlich. Für eine Genese der Beschwerden im Rahmen einer autonomen Neuropathie des Gastrointestinaltrakts sprechen die Beteiligung anderer Organsysteme (zum Beispiel Herz-Kreislauf-System) und der
manometrische Nachweis einer überdurchschnittlichen Anzahl mehrgipfliger, niedrigamplitudiger Ösophaguskontraktionen. Bei therapiebedürftigen Symptomen im Rahmen einer diabetischen Ösophagusmotilitätsstörung
können motilitätsstimulierende Pharmaka (Cisaprid, Metoclopramid) versucht werden.
Magenentleerungsstörungen
Der Goldstandard für die Diagnose einer diabetischen Gastroparese ist der szintigraphische Nachweis
einer Magenentleerungsstörung für
feste Nahrungsbestandteile. Die Magenentleerung für Flüssigkeiten, die
bei der diabetischen Gastroparese
ebenfalls verzögert sein kann, aber
nicht muß, läßt sich annäherungsweise
auch sonographisch bestimmen. Sonographisch bestimmbare Zusatzinfor-
Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 27, 5. Juli 1996 (43) A-1833
M E D I Z I N
AKTUELL
mationen sind Aussagen über die Frequenz und Intensität antroduodenaler
Kontraktionen (41) und über den
transpylorischen Fluß (Doppler-Sonographie) (18, 21). Möglicherweise
gewinnt der 13C-Oktansäure-Atemtest in näherer Zukunft weiter an Bedeutung. Bei der Gastroskopie und
dem Bariumbreischluck lassen sich
häufig auch nach längerer Nüchternperiode noch Nahrungsreste im Ma-
die durch eine normnahe Einstellung
des Diabetes noch verstärkt werden
kann. Das Zeitintervall zwischen Insulinapplikation und Nahrungsaufnahme muß daher die verzögerte Magenentleerung berücksichtigen; im
Extremfall kann es notwendig sein,
das Insulin erst postprandial zu injizieren (43). Ob durch eine diätetische
Beeinflussung physiologischer Mechanismen der Magenentleerung bei
Grafik 2
Speiseröhre
Kontraktionsamplitude
Kontraktionsdauer
Mehrgipflige Kontraktionen
Transitzeit
Heitmann 1973
Clouse 1986
Leo 1985
Russell 1983
Magen
Magenentleerung
Antrumkontraktionen
Pyloruskontraktionen
P III
Horowitz 1989
Vogelberg 1989
Mearin 1983
Dooley 1987
Dünndarm
Transitzeit
Irreguläre P III
Scarpello 1976
Quigley 1992
Dickdarm
Veränderungen des
„gastro-kolischen Reflexes"
Anorektum
Sensitivität
Sphinkterruhedruck
Sphinkterpressdruck
Battle 1980
Wald 1984
Erckenbrecht 1988
Erckenbrecht 1988
Schematische Darstellung der Störungen der gastrointestinalen Motilität bei Diabetes mellitus. PIII: Phase III
des interdigestiven migrierenden Motorkomplexes
gen nachweisen, eine Quantifizierung
der Gastroparese ist jedoch nicht
möglich. Bei der szintigraphischen
oder sonographischen Untersuchung
der Magenentleerung muß sichergestellt sein, daß die Patienten während
der Untersuchung euglykämische
Blutzuckerwerte aufweisen.
Die Behandlung der diabetischen
Gastroparese ist nur bei symptomatischen Patienten indiziert. Sie hat die
Korrektur der antralen Hypomotilität
zum Ziel. Voraussetzung für eine erfolgreiche medikamentöse Therapie
ist eine optimale Blutzuckereinstellung, um die neuropathieunabhängige, hyperglykämiebedingte Verzögerung der Magenentleerung günstig zu
beeinflussen. Bei Patienten mit neuropathischer Gastroparese kann dies
schwierig sein, da wegen der Gastroparese bereits eine Neigung zu postprandialen Hypoglykämien besteht,
Gesunden mit Einnahme von fettarmen Mahlzeiten und Vermeidung von
nicht resorbierbaren ballaststoffhaltigen Nahrungsmitteln auch bei Patienten mit diabetischer Gastroparese die
Magenentleerung rascher erfolgt als
bei einer fettreichen Kost, ist bisher
nicht in kontrollierten Studien untersucht worden.
Für die medikamentöse Therapie
stehen die Substanzen Metoclopramid, Domperidon, Cisaprid und
Erythromycin zur Verfügung. Sie stimulieren die Magenentleerung durch
die Blockade von Dopamin-Rezeptoren (Metoclopramid, Domperidon),
die Stimulation von Motilin-Rezeptoren (Erythromycin) oder durch Freisetzung von Acetylcholin sowie Stimulation von 5-HydroxytryptaminRezeptoren (Cisaprid, Metoclopramid). Für Cisaprid konnten neben einer Beschleunigung der Magenent-
A-1834 (44) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 27, 5. Juli 1996
leerung bei Patienten mit diabetischer
Gastroparese eine Verminderung der
Beschwerden der Patienten (1) und
eine Gewichtszunahme bei untergewichtigen Patienten mit verzögerter
Magenentleerung nachgewiesen werden (1). Metoclopramid ist wegen seines innerhalb weniger Wochen nachweisbaren Wirkungsverlustes, Domperidon wegen seiner Nebenwirkungen weniger geeignet. Ein neues Therapieprinzip stellt das Makrolidantibiotikum Erythromycin dar. Die Magenentleerung von fester und flüssiger Nahrung wird durch Erythromycin erheblich beschleunigt (16). Seine
Wirkung beruht auf einer Bindung an
und Stimulation von Motilinrezeptoren im oberen Gastrointestinaltrakt.
Dosen von mehr als 3 mg/kg Körpergewicht i. v. oder mehr als 250 mg p. o.
dreimal täglich führen zu kräftigen
fortgeleiteten Kontraktionen im Antrum. Diese reinigen den Magen auch
von größeren Nahrungspartikeln,
zum Beispiel auch von nicht weiter
verkleinerbaren festen Nahrungsbestandteilen pflanzlicher Herkunft, die
bei Retention im Magen Anlaß für eiDiarrhö bei Diabetes mellitus
1. Diarrhö ohne ursächlichen Zusammenhang mit dem Diabetes
1 Chronische Pankreatitis
1 Glutensensitive Enteropathie
2. Diarrhö in ursächlichem Zusammenhang mit dem Diabetes
1 Dünndarmmotilitätsstörungen
Õ langsamer Transit
Õ bakterielle Fehlbesiedlung
Õ Steatorrhö
1 Veränderte intestinale Permeabilität
1 Flüssigkeitssekretion durch
adrenerge Fehlregulation
ne Bezoarbildung geben können. Für
die Langzeit-Therapie der diabetischen Gastroparese werden zur Zeit
Erythromycin-Analoga mit motilinagonistischer, aber fehlender antibiotischer Wirkung entwickelt. Ihre
Wirksamkeit auch bei langdauernder
Anwendung sowie ihre Nebenwirkungen sind bisher noch unbekannt.
M E D I Z I N
AKTUELL
Dünn- und
Dickdarmmotilitätsstörungen
Bei der Diagnostik von diabetischen Patienten mit therapiebedürftiger Diarrhö steht der Ausschluß diabetesunabhängiger Ursachen im Vordergrund. Wichtig ist auch der Ausschluß einer bakteriellen Fehlbesiedlung des Dünndarms infolge einer
durch die Neuropathie bedingten enteralen Hypomotilität. Dazu eignet
sich unter klinischen Bedingungen der
H2-Atemtest mit Glukose (19). Bei
Nachweis dieser Erkrankung erscheint
unter theoretischen Gesichtspunkten
neben einer intermittierenden antibiotischen Therapie eine Behandlung der
zugrundeliegenden Dünndarmstase
mit einer motilitätsstimulierenden
Substanz sinnvoll. Valide Therapiestudien zu diesem Behandlungskonzept
fehlen jedoch bislang. Die Standardtherapie der diabetischen Diarrhö
bei Ausschluß anderer Ursachen ist
Loperamid. Bei Patienten, bei denen
als Ursache der Durchfälle eine neuropathieassoziierte Flüssigkeitssekretion in das Darmlumen infolge adrenerger Fehlregulation vermutet
wird, kann ein Therapieversuch mit
dem a2-Sympathomimetikum Clonidin zu einer Besserung führen. Clonidin bewirkt eine Abnahme des
Stuhlvolumens und eine Zunahme der
intestinalen Wasser- und Elektrolytresorption (37). Hypotensive Nebenwirkungen treten bei Patienten mit Diabetes mellitus selten auf (11). Als Ultima ratio kann ein Therapieversuch mit
dem stark antidiarrhöisch wirkenden
Somatostatin-Analogon Octreotid unternommen werden (39).
Obstipation
Die Diagnostik und Therapie der
Obstipation bei Patienten mit Diabetes mellitus und autonomer Neuropathie unterscheiden sich nicht von denen von Nicht-Diabetikern. Wichtig
ist die Unterscheidung von Obstipation, bedingt durch einen langsamen
Transport des Darminhalts durch den
Dickdarm, von einer anorektalen
Form der Obstipation (35). Patienten
mit Obstipation infolge einer generalisierten Transportstörung müssen
mit motilitätsstimulierenden Laxanzien behandelt werden. Bei Patienten
mit einer anorektalen Form der Obstipation ist häufig eine lokale, nicht
medikamentöse Therapie möglich.
Anorektale Inkontinenz bei
Diabetes mellitus
Zur Quantifizierung der rektoanalen Funktionsstörung sowie zur
Festlegung des Therapiekonzeptes ist
nach Ausschluß morphologischer UrIn der Serie
„Diabetische Neuropathien“
sind bisher erschienen:
Editorial „Diabetische Neuropathie – Einführung in die Thematik
der Serie“, Gries F A: Dt Ärztebl
1996; 93: A-678 [Heft 11]
(2) Ziegler D, Gries F A: „Klassifikation, Epidemiologie, Prognose
und sozialmedizinische Bedeutung“. Dt Ärztebl 1996; 93: A680–684 [Heft 11]
(3) Reichel G, Neundörfer B: „Pathogenese und Therapie der peripheren und diabetischen Polyneuropathien“. Dt Ärztebl 1996; 93:
A-963–968 [Heft 15]
(4) Ziegler D, Claus D, Meinertz T,
Gries F A: „Klinik, Diagnostik und
Therapie der kardiovaskulären
autonomen Neuropathie“. Dt
Ärztebl 1996; 93: A1262–1272 [Heft 19]
(5) Neundörfer B, Claus D, Luft D:
„Klinik und Therapie der sensomotorischen diabetischen Polyneuropathie“. Dt Ärztebl 1996;
93: A-1529–1532 [Heft 23]
(1)
sachen bei allen Diabetikern mit
Stuhlinkontinenz die Durchführung
einer Rektummanometrie mit Bestimmung der Sphinkterfunktionen
und der rektalen Perzeptionsschwellen erforderlich. Bei verminderter
Funktion des M. sphincter ani externus oder einer im Vordergrund stehenden Perzeptionsstörung besteht
die Therapie in einem BiofeedbackTraining (42). Bei gleichzeitiger Diarrhö können die Inkontinenzereignisse durch Loperamid reduziert werden (34). Ob dabei Loperamid eine
eigenständige Wirkung auf den internen Analsphinkter hat, ist umstritten
(29, 34).
Resümee
Patienten mit Diabetes mellitus,
besonders mit Typ-II-Diabetes, weisen
überdurchschnittlich häufig gastrointestinale Symptome auf. Als Ursachen
kommen Störungen der gastrointestinalen Motilität, Sekretion, Resorption
und Perzeption in Frage. Bisher sind
die gastrointestinalen Motilitätsstörungen durch Einsatz manometrischer,
elektrophysiologischer und szintigraphischer Techniken sowie durch Transitzeitbestimmungen von inerten Markern am besten charakterisiert. Die
Funktionsstörungen von Speiseröhre,
Magen, Dünn- und Dickdarm sowie
des anorektalen Kontinenzapparates
bei Diabetes mellitus sind nicht spezifisch für das Vorhandensein einer autonomen Neuropathie im Gastrointestinaltrakt. Sie können auch neuropathieunabhängig durch die den Diabetes
mellitus begleitende Hyperglykämie
oder durch diabetesunabhängige metabolische oder endokrinologische Veränderungen entstehen. Direkte Untersuchungsmöglichkeiten, die eine eindeutige Zuordnung der Funktionsstörungen zu einer autonomen Neuropathie des Gastrointestinaltrakts erlauben würden, sind nur in Ansätzen vorhanden. Eine kausale Therapie der diabetischen autonomen Neuropathie des
Gastrointestinaltrakts ist bisher nicht
möglich. Im Vordergrund steht die
Prävention durch normnahe Stoffwechseleinstellung. Die medikamentösen Therapiemöglichkeiten beschränken sich auf Behandlung der durch die
Neuropathie ausgelösten gastrointestinalen Symptome.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-1831–1835
[Heft 27]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med.
Joachim Friedrich Erckenbrecht
Klinik für Innere Medizin und
Gastroenterologie
Florence-NightingaleKrankenanstalten
Diakoniewerk Kaiserswerth
Kreuzbergstraße 79 · 40489 Düsseldorf
Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 27, 5. Juli 1996 (45) A-1835
Herunterladen