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 Abschlussbericht zum Forschungsprojekt
„Evaluation der Wirksamkeit von Reittherapie bei Kindern mit ADHS
und/oder einer Störung des Sozialverhaltens“
Projekttitel:
Modellprojekt „Jim Knopf“. Evaluation der Wirksamkeit von
Reittherapie bei Kindern mit ADHS und/oder einer Störung des
Sozialverhaltens
Projektförderung:
Volkswagen Financial Services AG
Antragsstellerin:
Prof. Dr. Daniela Hosser
Technische Universität Braunschweig
Institut für Psychologie
Abteilung für Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Forensische
Psychologie
Humboldtstr. 33, 38106 Braunschweig
[email protected], 0531/391-2812 (Sekretariat)
Kooperationspartner:
Reit- und Therapiezentrum Braunschweig
Friederike Bewig
Am Forst 10 A
38108 Braunschweig OT Querum
Telefon: 0531 / 21 49 49 4
E-Mail: [email protected]
Förderzeitraum:
01.08.2010 bis 31.01.2012
-2-
Inhalt
Zusammenfassung..........................................................................................................................................4 1 Reittherapie bei Kindern mit Aufmerksamkeits-­ und Verhaltensstörungen ........................5 1.1 Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd....................................................................................................5 1.2 Reittherapie bei Kindern mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens...........................................7 1.3 Das Modellprojekt „Jim Knopf“................................................................................................................................9 2 Methodische Umsetzung........................................................................................................................ 10 2.1 Untersuchungsdesign und Durchführung ....................................................................................................... 10 2.2 Änderungen im Projektablauf.............................................................................................................................. 11 2.3 Teilnahmekriterien und Stichprobe .................................................................................................................. 12 2.4 Erhebungsinstrumente............................................................................................................................................ 14 2.5 Nachhaltigkeit des Projektes ................................................................................................................................ 18 3 Ergebnisse .................................................................................................................................................. 18 3.1 Veränderungen der Störungssymptomatik.................................................................................................... 19 3.2 Veränderungen der Kognitionen, Emotionen und Sozialen Kompetenzen ...................................... 22 5 Zusammenfassung und Ausblick ........................................................................................................ 24 6 Literatur ...................................................................................................................................................... 25
-3-
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie untersuchte die Wirksamkeit einer Reittherapie bei der Behandlung
von Kindern mit ADHS und/oder einer Störung des Sozialverhaltens. Ausgangspunkt war die
Annahme,
dass
therapeutisches
Reiten
zu
einer
deutlichen
Verbesserung
der
Störungssymptomatik führt. Darüber hinaus sollten mögliche positive Effekte im Bereich der
Kognitionen (Konzentration, Selbstwirksamkeit), Emotionen (allgemeines Wohlbefinden,
Selbstwert, Depressivität, Ängstlichkeit,) und sozialen Kompetenzen (Empathiefähigkeit,
kooperatives Verhalten) sowie der Therapiemotivation ermittelt werden. Basierend auf einem
randomisierten Kontrollgruppendesign nahmen je 20 Kinder, im Alter von 5-12 Jahren über
40
Wochen
an
einer
Reittherapie
oder
einem
erlebnispädagogischen
sozialen
Gruppenprogramm teil. Die Befragung erfolgte mit Hilfe standardisierter Skalen im Rahmen
von Interviews mit den Kindern und je einem Elternteil. Im Prä-/Postvergleich konnte bei
beiden Behandlungsgruppen eine starke Verbesserung der ADHS-Symptomatik sowie ein
deutlicher Rückgang oppositionell-aggressiver Verhaltensweisen festgestellt werden. Darüber
hinaus zeigten sich keine signifikanten Veränderungen im Bereich der Kognitionen,
Emotionen und sozialen Kompetenzen. In ihrer Effektivität ist die Reittherapie mit
herkömmlichen kindzentrierten Trainingsprogrammen vergleichbar, diesen aber nicht
überlegen. Die Teilnahmemotivation der Kinder an der Reittherapie ist jedoch
außerordentlich hoch. Zusammengefasst belegen die Befunde die Wirksamkeit der
Reittherapie als einer ergänzenden Therapiemaßnahme bei der Behandlung von Kindern mit
externalisierenden Störungen.
-4-
1
Reittherapie bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und
Verhaltensstörungen
1.1
Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd
Dem Reiten wird eine positive Wirkung auf Körper und Psyche des Menschen nachgesagt.
Diesen positiven Einfluss des Reitens bzw. des Umgangs mit dem Pferd macht sich die
Reittherapie bzw. das Therapeutische Reiten zu Nutze. Unter dem Begriff „Therapeutisches
Reiten“ wird allgemein der ganzheitlich fördernde und heilende Einsatz des Pferdes in der
heilpädagogischen, psychologischen, medizinischen und sportlich-integrativen Arbeit mit
Menschen bezeichnet (DKThR, 2010). Die Maßnahmen des Therapeutischen Reitens richten
sich an Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit körperlichen, psychischen und
psychosozialen Störungen, Behinderungen oder Erkrankungen.
Innerhalb
des
interdisziplinären
Forschungs-
und
Praxisfeldes
der
tiergestützten
Psychotherapie (pet facilitated therapy) wird davon ausgegangen, dass durch den Umgang mit
Tieren heilend und helfend auf den Klienten eingewirkt werden kann. Tiere sollen Interesse
und Lebensfreude vermitteln, das Verantwortungsbewusstsein und soziale Kompetenzen
fördern sowie die psychische Gesundung durch Anregung und Stabilisierung beschleunigen.
Darüber hinaus kann durch den Aufbau von Beziehungen zu einem Tier der Aufbau von
interpersonellen Beziehungen allgemein erleichtert und der Zugang des Therapeuten zu den
Klienten gefördert werden (Greiffenhagen, 2009; Stoffl, 2007). Durch die vielfältigen
pädagogisch-psychologischen Wirkungs- bzw. Einsatzmöglichkeiten kann das Therapeutische
Reiten als ganzheitlicher Ansatz verstanden werden: „Das Pferd ist eine Zwischeninstanz der
psychotherapeutischen Beziehung, sein breites Spektrum allgemeiner Wirkungsmöglichkeiten
kann im Einzelfall höchst individuell genutzt werden“ (Papke, 1998, S. 13).
Im KOGNITIVEN BEREICH sollen durch das Therapeutische Reiten die Wahrnehmung geschult,
Sprachverständnis und Sprechbereitschaft des Klienten in der Interaktion mit Pferd und
Therapeut gefördert und die Lern- und Leistungsbereitschaft erhöht werden (Steiner, 2008;
Stoffl, 2007). Weiterhin wird von einer Erhöhung der Frustrationstoleranz (Steiner, 2008) und
einer
Verbesserung
der
Konzentrationsfähigkeit
sowie
des
Durchhaltevermögens
ausgegangen (Kardos, 2008; Kröger, 2004; Papke, 1998; Steiner, 2008). Durch konkrete
Selbsterfahrungen im Umgang mit und auf dem Pferd können die Klienten zu einer
-5-
realistischen
Selbsteinschätzung
gelangen
(Kröger,
2004;
Stoffl,
2007),
Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstkontrolle werden erhöht (Kardos, 2008; Stoffl, 2007).
Darüber hinaus wird immer wieder berichtet, dass durch das Therapeutische Reiten die
soziale Informationsverarbeitung und die Empathiefähigkeit verbessert werden können
(Schmid, 1989).
Im EMOTIONALEN BEREICH berichtet Mehlem (1994) von einer Förderung der
Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation durch das Reiten. Das Pferd reagiert wie ein
Spiegel, was dem Kind eine Auseinandersetzung mit seinem Verhalten und Emotionen
erleichtert (Ewing, Mac Donald, Taylor & Bowers, 2007). Die Identifikation mit dem Pferd
wird von Schultz, Remick-Barlow und Robbins (2006) als zentraler Aspekt in der
Reittherapie betrachtet. In ihrer Untersuchung von 63 Jungen und Mädchen mit
unterschiedlichen psychosozialen Symptomen konnten die Autoren entsprechend eine
Verbesserung der psychologischen, sozialen und schulischen Funktion nachweisen. Ein
wesentlicher positiver Effekt ist dabei auch die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse durch
das Pferd, wie beispielsweise die Bedürfnisse nach Wertschätzung und Zuneigung. Dies geht
mit einer Steigerung des Selbstwertgefühls und der subjektiven Lebenszufriedenheit einher
(Baum, 1980; Kröger, 2004; Papke, 1998; Steiner, 2008; Vorsteher, 2003).
Im SOZIALEN BEREICH wird durch das Therapeutische Reiten eine Verbesserung der
Beziehungsfähigkeit (z.B. Kröger, 2004; Papke, 1998; Stoffl, 2007), der Abbau von
Antipathien und aggressiven Verhaltensweisen (z.B. Kröger, 2004; Steiner, 2008; Kaune,
1993) sowie der Erwerb von Sozialkompetenzen (z.B. Baum, 1980; Papke, 1998; Vorsteher,
2003) angestrebt. Die Klienten können durch das Reiten und den Umgang mit dem Pferd
lernen, Verantwortung zu übernehmen (z.B. Stoffl, 2007; Steiner, 2008; Kardos, 2008),
rücksichtvoll zu handeln und konstruktive Problemlösefertigkeiten zu erwerben. Indem die
Klienten lernen, Kontakt zu Anderen aufzunehmen und sich auf ihr Gegenüber einzustellen,
können die Kooperations- und Hilfsbereitschaft sowie der Respekt gegenüber anderen
Menschen und ihren Bedürfnissen gefördert werden (Stoffl, 2007).
Im
MOTORISCHEN
BEREICH setzt das Therapeutische Reiten an der Körperwahrnehmung,
Motorik und Körperbeherrschung der Klienten an. Durch die rhythmischen Bewegungen des
Pferdes während des Reitens wird eine Lockerung der Muskulatur, eine Schulung des
Gleichgewichts,
eine
Verbesserung
der
-6-
Muskelspannung,
eine
Schulung
der
Raumlagekoordination und eine Verbesserung der Eigenwahrnehmung angestrebt (Steiner,
2008) sowie die Sensomotorik geschult (Kröger, 2004). Diese positiven Auswirkungen der
Reittherapie auf die physische Entwicklung der Kinder sind empirisch belegt. In ihrer
Analyse von elf Studien mit 4 bis 30 Personen, die über einen Zeitraum von 4 bis 39 Wochen
am therapeutischen Reitunterricht teilnahmen, konnten Mac Kinnon, Noh, Laliberte und
Kollegen (1995) signifikante Verbesserungen in den genannten Bereichen der motorischen
Entwicklung nachweisen.
1.2
Reittherapie bei Kindern mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt zu den häufigsten
Verhaltensstörungen im Kindesalter. Nach dem Internationalen Klassifikationssystem ICD-10
(engl. International Classification of Diseases and Health Problems; WHO, 2011) müssen für
die Diagnose von ADHS situationsübergreifend und in beeinträchtigendem Ausmaß
Störungen in den Bereichen der Aufmerksamkeitsleistung und Impulskontrolle, sowie eine
deutliche motorische Unruhe vorliegen. Die Prävalenzrate liegt im Kindesalter bei 5%.
Jungen sind im Vergleich zu Mädchen etwa doppelt so häufig von einer primären
Aufmerksamkeitsstörung
und
etwa
fünfmal
häufiger
von
einer
Hyperaktivitäts-
/Impulsivitätsstörung betroffen (Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2000). Bei 30 % bis 50 % der
Kinder tritt zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens auf, gekennzeichnet durch
oppositionelle, aggressive und dissoziale Verhaltensprobleme. Begleitende affektive
Störungen zeigen 15 bis 20 % der betroffenen Kinder, 20 % bis 25 % leiden unter
Angststörungen und 10 % bis 25 % unter Lernstörungen (Döpfner, Görtz-Dorten &
Lehmkuhl, 2008). Durch die Symptome sind die Kinder im Alltag, in der Familie, der Schule
und im Freundeskreis in der Regel so stark belastet und in ihrem Leistungsvermögen
beeinträchtigt, dass sie therapeutische Hilfen benötigen. Neben einer Verhaltenstherapie oder
einem verhaltenstherapeutischen Trainingsprogramm, Psychoedukation und ggf. einer
ergänzenden
medikamentösen
Behandlung,
kommen
als
weitere
unterstützende
Fördermaßnahmen häufig auch Ergotherapie oder soziale Trainings zum Einsatz. Zu den
Fördermaßnahmen, die nach oder während einer psychotherapeutischen Behandlung
ergänzend eingesetzt werden können, zählt auch das Therapeutische Reiten.
Immer mehr Reittherapeuten bieten daher gezielte Angebote für Kinder und Jugendliche mit
ADHS an. Die Reittherapie scheint dabei besonders für solche Kinder geeignet, die größere
-7-
Schwierigkeiten im Beziehungsaufbau und Bindungsverhalten sowie dem Sozialverhalten in
der Gruppe haben. Den Nutzen der therapeutischen Arbeit mit dem Pferd sieht Hamsen
(2006, S.38) darin, dass die Pferdepflege sowie das Putzen und Satteln die Handlungsplanung
und -steuerung der Kinder fördert. Den Gangqualitäten des Pferdes wird eine
konzentrationsfördernde Wirkung nachgesagt. Bei der Arbeit mit Kind und Pferd muss der
Therapeut nicht ständig regulierend eingreifen, was besonders aufgrund der häufig negativen
Vorerfahrung
mit
Autoritätspersonen
von
Kindern
mit
externalisierenden
Verhaltensstörungen als sehr positiv zu bewerten ist. Zudem verlangt das Reiten vom Kind
eine Anpassung an das Pferd sowie Verständnis und Respekt für die Reaktionen und
Eigenheiten des Pferdes. Dabei kann das Kind die Erfahrung machen, dass letztlich nur
einfühlsames, kooperatives Verhalten des Reiters im Umgang mit dem Pferd zum Erfolg
führt.
Trotz
der
vielfältigen
Wirkannahmen
fehlt
es
bisher
jedoch
an
empirischen
Evaluationsstudien, welche die Wirksamkeit des Therapeutischen Reitens bei Kindern mit
ADHS und Störungen des Sozialverhaltens überzeugend belegen. Abgesehen von einer
größeren, methodisch anspruchsvollen Studie von Riedel (2005), liegen bislang vor allem
qualitative Einzelfallstudien bzw. Untersuchungen mit sehr wenigen Teilnehmern vor, die
keine Generalisierung der Befunde erlauben (Gomolla, 2009). Zwar deuten die vorliegenden
Befunde auf eine Verbesserung der Symptomatik im Sozialverhalten und im emotionalen,
kognitiven und motorischen Bereich hin, reichen aber aufgrund ihrer mangelnden
wissenschaftlichen Qualität insgesamt nicht aus, um gesicherte Aussagen treffen zu können
(Gomolla, 2009).
In einer qualitativen Einzelfalldarstellung, in welcher sechs Kinder mit ADHS über einen
Zeitraum von 15 Wochen zweimal wöchentlich an der Reittherapie teilnahmen, fand Hamsen
(2003)
positive
Auswirkungen
des
Reitens
auf
das
Aufmerksamkeits-
und
Bewegungsverhalten der Kinder. Die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung ließ sich
sogar in der schulischen Situation und in der heimischen Situation bestätigen. In der
methodisch aufwändigen Untersuchung von Riedel (2005) an 30 Kindern mit ADHS, die über
15 Wochen zweimal wöchentlich am Therapeutischen Reiten (Koordinations- und
Ausdauertraining mit und auf dem Pferd) teilnahmen, zeigte sich auch im Vergleich mit einer
Kontrollgruppe unbehandelter Kinder, dass der festgestellten motorischen Retardation von
Kindern mit ADHS durch gezielte Förderung in Form des Therapeutischen Reitens
-8-
entgegengewirkt
werden
kann
und
das
Reiten
zu
einer
Verbesserung
der
Ausdauerleistungsfähigkeit sowie ruhigerem Verhalten aufgrund einer veränderten Aktivität
des vegetativen Nervensystems führte.
Unterstützt wird die Annahme positiver Effekte auch von einer Pilotstudie von Cuypers, de
Ridder und Strandheim (2011) mit fünf Kindern mit ADHS, die über den Zeitraum von acht
Wochen zweimal wöchentlich für eine Stunde am Therapeutischem Reiten teilnahmen. Es
zeigte sich eine Verbesserung des Verhaltens und der Lebensqualität der Kinder während der
Intervention, während sich in den Phasen ohne Therapeutisches Reiten keine positiven
Veränderungen einstellten. Die Angaben beruhten dabei auf Fremdeinschätzungen durch
Eltern und Lehrer aber auch Selbsteinschätzungen der Kinder.
Ein weiterer wesentlicher Punkt betrifft die Teilnahmemotivation der Kinder an der
Reittherapie. Während es bei Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen bei
konventioneller Behandlung sehr häufig zu Therapieabbrüchen kommt, verhält sich dies bei
der Reittherapie anders. Sowohl Eltern als auch Kinder geben eine höhere Motivation zur
Teilnahme am Therapeutischen Reiten an, als an traditionellen Therapieformen. In ihrer
Studie, welche die Auswirkungen einer zweimal wöchentlich über sechs Wochen lang
stattfindenden Reittherapie mit einer traditionellen Therapie an drei Jungen mit
Lernschwierigkeiten verglich, konnten Macauley und Gutierrez (2004) positive motivationale
Effekt der Reittherapie belegen.
1.3
Das Modellprojekt „Jim Knopf“
Ausgehend vom zunehmenden Einsatz des Therapeutischen Reitens bei Kindern mit
externalisierenden Verhaltensstörungen und der gleichzeitig mangelnden empirischen
Befundlage, war es das Ziel, des von der Volkswagen Financial Services AG finanzierten
Modellprojekts „Jim Knopf“ (8/2010-1/2012), die Wirksamkeit von Reittherapie als
heilpädagogische
Maßnahme
bei
Kindern
mit
einer
Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und/oder einer Störung des Sozialverhaltens (SSV) zu
untersuchen. Es wurde von der Annahme ausgegangen, dass sich durch die Reittherapie eine
signifikante intraindividuelle Verbesserung der Störungssymptomatik (ADHS und SSV) in
den Bereichen Kognition, Emotion und (Sozial-)Verhalten feststellen lässt. Neben der ADHSund SSV-Symptomatik sollten Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit und
-9-
Selbstwirksamkeit
sowie
das
allgemeine
Wohlbefinden,
Selbstwert,
Depressivität,
Ängstlichkeit, Empathiefähigkeit sowie die sozialen Kompetenzen ermittelt werden.
Außerdem wurde angenommen, dass die Reittherapie in Bezug auf Ihre Wirksamkeit in den
angesprochenen Bereichen anderen unterstützenden Behandlungsmaßnahmen überlegen ist,
da sie stärker ganzheitlich auf die Kernsymptomatik von ADHS einwirkt und eine höhere
Teilnahmemotivation der Kinder zur Folge hat.
2
2.1
Methodische Umsetzung
Untersuchungsdesign und Durchführung
Bei der Untersuchung handelte es sich um eine Längsschnittstudie mit randomisiertem
Kontrollgruppendesign. Eine Behandlungsgruppe von 20 zufällig ausgelosten Kindern, erhielt
über 40 Wochen hinweg einmal wöchentlich Reittherapie, während eine vergleichbare
Gruppe von ebenfalls 20 Kindern im gleichen Zeitraum an einem erlebnispädagogisch
orientierten sozialen Training teilnahm. Die Kinder beider Gruppen und ihre Eltern wurden
vor Beginn der Behandlung, nach den ersten 20 Behandlungswochen und nach Beendigung
der Maßnahmen anhand standardisierter Interviews befragt. Die Interviews, die ca. 45 bis 60
Minuten dauerten, wurden von jeweils zwei geschulten studentischen Interviewerinnen
durchgeführt und fanden größtenteils in der häuslichen Umgebung der Familien statt, in
einigen Fällen jedoch auch in den Räumlichkeiten der Universität. Die Befragungen der
Eltern (in der Regel der Mutter) und des Kindes wurden getrennt vorgenommen.
Die Durchführung der Reittherapie und des parallel laufenden erlebnispädagogischen sozialen
Trainingsprogramms übernahm das Reit- und Therapiezentrum Braunschweig. Bei der
Reittherapie arbeitete eine Reittherapeutin einmal wöchentlich 60 Minuten mit einer festen
Gruppe von jeweils vier bis sechs Kindern, wobei sie nach Bedarf von ein bis zwei
studentischen Mitarbeiterinnen unterstützt wurde. Neben dem Voltigieren und Reiten
beinhaltete die Reittherapie auch Gruppenübungen, wie gemeinsame Pferdepflege,
wechselseitiges Führen des Pferdes, gemeinsames Bemalen des Pferdes und Basteln, um
achtsames Verhalten auch in der Gruppe einzuüben.
Das ebenfalls einmal wöchentlich stattfindende, 90 Minuten dauernde, erlebnispädagogische
soziale Training wurde von einer Gruppenleiterin mit ebenfalls vier bis sechs Kindern
- 10 -
durchgeführt, wobei jeweils zwei studentische MitarbeiterInnen behilflich waren. Spiel- und
Kletterübungen im Freien sowie Bastelübungen dienten zur Förderung der Grob- und
Feinmotorik, gleichzeitig aber auch der Einübung kooperativer Verhaltensweisen.
Spielerische Beobachtungsübungen dienten der Steigerung der Aufmerksamkeit und
Konzentration, Selbstbeschreibungen und die Verbalisierung eigener Gefühle sollten die
Emotionswahrnehmung der Kinder und ihre Empathiefähigkeit fördern. Da es sich explizit
um keine therapeutische Maßnahme handelte, wurde auf den Einsatz strukturierter
Aufgabenstellungen und Verstärkersysteme verzichtet.
2.2
Änderungen im Projektablauf
In einigen Punkten musste bei der Durchführung der wissenschaftlichen Begleitforschung von
der ursprünglichen Projektplanung abgewichen werden. Zu Beginn des Projektes wurden die
Eltern nach ihrem Einverständnis gefragt, die Meinung der Klassenlehrerin oder des
Klassenlehrers über Verhalten und Entwicklung des Kindes im schulischen Bereich
einzuholen. Viele der angesprochenen Eltern lehnten dies jedoch ab. Bei einigen der
Familien, deren Kinder bereits in einer (psycho-)therapeutischen Behandlung waren, waren
die Klassenlehrer bereits im Rahmen der Diagnostik und Therapieplanung einbezogen
worden. Ein nochmaliges Bemühen der Lehrer wurde daher von den Eltern kritisch gesehen.
Bei anderen Eltern bestanden wiederum Ängste, dass die Lehrer, wenn sie auf die
Problematik des Kindes aufmerksam gemacht würden, dieses noch stärker beobachten oder
benachteiligen könnten. Mit Blick auf die Befürchtungen der Eltern wurde daher auf die
Lehrerbefragung verzichtet.
Aufgrund des hohen Stichprobenausfalls und der daraus resultierenden zu geringen
Stichprobengröße konnte zudem die ursprünglich geplante Follow-Up-Erhebung drei Monate
nach Therapieende nicht durchgeführt werden. Die Daten wären nicht sinnvoll verwertbar
gewesen. Ebenso musste auf die ursprünglich geplanten Videoanalysen im Therapieverlauf
verzichtet werden. Kameras und das verfügbare Analysesystem waren auf eine stabile
Bildqualität angewiesen. Da die Reittherapie aber zumeist im freien Gelände erfolgte und
auch das soziale Training stets in variierenden Konstellationen durchgeführt wurde, zudem
am Spätnachmittag die Lichtverhältnisse nicht ausreichten, konnten nicht genügend
Aufnahmen mit ausreichender Bildqualität von den Kindern gemacht werden. Einzelne
Aufnahmen wurden daher lediglich gemeinsam mit den Kindern betrachtet und besprochen,
- 11 -
aber nicht wissenschaftlich ausgewertet. Von diesen unumgänglichen Änderungen abgesehen,
folgte der Ablauf der Projektplanung.
2.3
Teilnahmekriterien und Stichprobe
Das Modellprojekt richtete sich an deutschsprachige Kinder mit ADHS und oder einer
Störung des Sozialverhaltens, im Altersbereich von 5 bis 12 Jahren. Die teilnehmenden
Kinder durften keine Tierhaarallergie und keine (umfangreiche) reiterliche Vorerfahrung
haben. Keines der Kinder befand sich während der Programmteilnahme in einer laufenden
psychotherapeutischen Behandlung. Die Rekrutierung der Untersuchungsteilnehmer erfolgte
drei Monate vor Beginn der Maßnahmen durch die Verteilung von Informationsbroschüren an
kinder- und jugendpsychiatrische bzw. psychotherapeutische Praxen in Braunschweig sowie
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Personen, die sich für eine Projektteilnahme
interessierten, wurden Anfang Juni 2010 zu einem Informationsabend eingeladen, an dem sie
über das Projekt und die Teilnahmebedingungen, u.a. die Zulosung zu den beiden
Behandlungsgruppen, informiert wurden. Die Teilnahme an dem Projekt war, dank der
finanziellen Förderung durch die VW Financial Services AG, für alle Kinder kostenlos.
An der Befragung vor Trainingsbeginn nahmen 40 Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren
und ihre jeweiligen Erziehungsberechtigten teil. Durch Zulosung wurden 16 Jungen und 4
Mädchen der Reittherapie und 16 Jungen und 4 Mädchen dem erlebnispädagogischen
sozialen Training zugeteilt. Das Geschlechterverhältnis im Projekt entspricht mit 80 %
Jungen zu 20 % Mädchen dem 4:1 Geschlechterverhältnis bei der Auftretenshäufigkeit von
ADHS. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug beim ersten Interview 9.5 Jahre (SD = 1.7).
Zwischen den beiden gebildeten Gruppen, die nachfolgend kurz als EG = Reittherapie und
KG = Soziales Training bezeichnet werden, bestand ein signifikanter Altersunterschied (t =
3.16, df = 37, p < .01). Die Kinder in der EG waren im Durchschnitt 8.6 Jahre (SD = 1.6), die
Kinder in der KG 10.2 Jahre (SD = 1.4).
Eine ärztlich diagnostizierte psychische Störung wiesen 18 Kinder auf (45 %), davon 11 im
sozialen Training und 7 in der Reittherapie. Mädchen waren signifikant seltener von einer
oppositionellen Störung des Sozialverhaltens betroffen (r = -.39, p < .05). Bei jüngeren
Kindern war häufiger eine dissozial-aggressive Störung des Sozialverhaltens festzustellen (r =
-.32, p = .05). Alle 18 diagnostizierten Kinder wurden zum Zeitpunkt des Erstinterviews auch
medikamentös behandelt, wobei es sich bei den Medikamenten, die von den
- 12 -
Erziehungsberechtigten regelmäßig verabreicht wurden, ausschließlich um derartige handelte,
die bei ADHS-Diagnosen für gewöhnlich Anwendung finden (z. B. Ritalin, Medikinet,
Risperidon etc.). Die Kinder, die medikamentös behandelt wurden, wiesen erwartungsgemäß
eine signifikant stärkere Symptombelastung der ADHS auf (t = 4.6, df=37, p < .001), nicht
aber der Störung des Sozialverhaltens. Trotz der scheinbaren Ungleichverteilung in den
Untersuchungsgruppen unterschieden sich diese hinsichtlich der ärztlichen Diagnose und der
Medikation statistisch nicht signifikant voneinander.
Nur 18 (45 %) Kinder wurden von beiden leiblichen Elternteilen gemeinsam erzogen oder
betreut. Von nur einem Elternteil, ggf. unter Mithilfe der neuen Lebensgefährtin oder des
jeweiligen neuen Lebensgefährten, wurden 20 Kinder (50 %) erzogen. Aus Pflegefamilien
bzw. sozialen Einrichtungen kamen 2 (5 %) Kinder. In 8 von 36 Fällen waren die Eltern der
Kinder geschieden, davon bei 7 Kindern aus dem sozialen Training und nur bei einem aus der
Reittherapie. Im Hinblick auf die Scheidung der Eltern unterschieden sich die beiden Gruppen
damit signifikant (χ2(1) = 5.0; p < .05). Obwohl zum Zeitpunkt der Erstbefragung noch nicht
alle Kinder schulpflichtig waren, wurden trotzdem in 26 von 38 Fällen (68%) von den Eltern
Lernschwierigkeiten berichtet. Beide Gruppen unterschieden sich hinsichtlich der besuchten
Schulformen statistisch nicht voneinander (χ2(1)= 2.6; p > .05). Auch im Hinblick auf die
Durchschnittsnoten unterschieden sich die beiden Gruppen statistisch nicht (χ2(1)1.2; p > .05;
vgl. Tab. 2). Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass sich die beiden
Behandlungsgruppen anhand der soziodemographischen Ausgangsmerkmale der Kinder und
ihrer Familien in Bezug auf nahezu alle bedeutsamen Variablen statistisch nicht voneinander
unterschieden.
Im Behandlungsverlauf waren erhebliche Stichprobenausfälle zu verzeichnen, wobei sich
hierbei die Untersuchungsgruppen dramatisch unterschieden. In der Reittherapie kam es kaum
zu Teilnehmerausfällen. Lediglich ein Kind (5%) schied nach drei Monaten aus der EG aus,
da es nach eigenem Bekunden keinen Spaß am Reiten hatte und sich in der Gruppe nicht wohl
fühlte. Im Unterschied hierzu, waren bereits nach 20 Wochen 14 Kinder (70%) aus der KG
ausgeschieden. Der überdurchschnittlich hohe Stichprobenausfall war bei fünf Kindern (25%)
durch Faktoren erklärbar, die nichts mit dem Training zu tun hatten (Umzug, schwere
Erkrankung), bei fünf Kindern (25%) wurde explizit Unzufriedenheit mit dem Programm und
der Leitung genannt, bei weiteren vier Kindern (20%) blieben die Gründe für den Abbruch
offen.
- 13 -
Bei der abschließenden Befragung der Eltern nach 40 Behandlungswochen, konnten
insgesamt nur 25 Familien erreicht werden, davon 14 (56%) aus der Reitgruppe und 11 (44%)
aus dem Trainingsprogramm. Bei der Reitgruppe war die Beteiligung an der
Schlussbefragung durch den Umzug von vier Familien reduziert. Dadurch hatten zwei Kinder,
ihre Beteiligung an der Reittherapie bereits zwei bis drei Wochen vor der regulärem
Abschluss
vorzeitig
beenden
müssen,
bei
zwei
weiteren
Kindern
wurde
die
Abschlussbefragung durch einen Umzug direkt nach Abschluss der Reittherapie verhindert.
Auf schriftliche Anfragen meldeten sich die Familien nicht. Bei der Trainingsgruppe konnten
fünf Familien nicht mehr erreicht werden, die anderen Familien verweigerten die Teilnahme
an der Abschlussbefragung.
Bei der statistischen Auswertung wurde dem Stichprobenausfall dadurch Rechnung getragen,
dass bei den ausgeschiedenen Kindern, im Sinne von Intention-To-Treat-Analysen, der
jeweils letzte verfügbare Messwert in den Auswertungen zugrunde gelegt wurde. Aus der
Verlaufsbefragung, 20 Wochen nach Behandlungsbeginn, standen die Daten von 33 Familien,
davon 19 aus der Reittherapie (100%) und 14 aus dem sozialen Training (70%) zur
Verfügung.
2.4
Erhebungsinstrumente
Einen Überblick über die im Eltern- und Kinderinterview eingesetzten Erhebungsinstrumente
liefert Tabelle 1. Das erste Elterninterview beinhaltete zusätzlich einen ausführlichen
Anamneseteil, der Angaben zu den Eltern (z. B. Alter, Konfession, Beruf, Erkrankungen,
Erkrankungen in der Familie), dem Kind (z. B. Entwicklungsverlauf, Schullaufbahn,
bestehende Diagnosen, bisherige Behandlung, Medikation), Geschwistern (z. B. Alter,
Ausbildungsstand, Gesundheitszustand) und allgemeine Aspekten (z. B. Wohnsituation)
erfasste.
SELBSTWERT, KÖRPERLICHES UND PSYCHISCHES WOHLBEFINDEN wurden mit dem KidKINDL (Ravens-Sieberer & Bullinger, 2000) operationalisiert. Dieser erfasst die sechs
Dimensionen: körperliches und psychisches Wohlbefinden, Selbstwert, Familie, Freunde und
Funktionsfähigkeit im Alltag (Schule bzw. Kindergarten) mit jeweils vier Items von 0 (nie)
bis 4 (immer). Die sechs Subskalen können zu einem Gesamtskalenwert zusammengefasst
- 14 -
werden. Der Fragebogen wurde in der Selbstbeurteilung durch das Kind und als
Fremdbeurteilung durch einen Elternteil ausgefüllt. Wie in der Selbstbeurteilung werden die
Dimensionen auch in der Fremdbeurteilung zu einem Gesamtskalenwert aggregiert.
PROBLEMVERHALTENSWEISEN
UND
STÄRKEN des Kindes wurden mittels des Strength
and Difficulties Questionaire (SDQ; Goodman, 1997) einem Verhaltensscreening für 3-16
Jährige erhoben. Auf einer dreistufigen Skala (nicht zutreffend, teilweise zutreffend, eindeutig
zutreffend) werden von den Eltern je 25 Items zu den fünf Bereichen emotionale Probleme,
Verhaltensprobleme, Hyperaktivität, Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen und prosoziales
Verhalten beantwortet (je fünf pro Subskala).
EMPATHIE wurde anhand einer Subskala des Inventar zur Erfassung von Impulsivität,
Risikoverhalten und Empathie (IVE; Stadler, Janke & Schmeck, 2004) erfasst. Das IVE ist
ein Selbstbeurteilungsfragebogen für Kinder und Jugendliche, bei welchem auf einer
vierstufigen Likert-Skala von 0 (nie) bis 4 (immer) Items zur Impulsivität, dem
Risikoverhalten und der Empathie beantwortet werden. Die hier verwendete Subskala
Empathie (16 Items) erfasst das Einfühlungsvermögen und die Sensitivität gegenüber den
Gefühlen anderer Menschen.
Tabelle 1: Erhebungsinstrumente der Kind-­‐ und Elternbefragung Erfasster Problembereich
Verwendete Skalen
Kinder
Selbstwert, phys. + psych. Wohlbefinden Kid-KINDL
Problemverhalten
SDQ
Empathie
Prosozialität
IVE
FEPAA: Prosozialität
Aggressionshäufigkeit
Aufmerksamkeit
FEPAA: Aggressionshäufigkeit (AH), Form B
BUEGA: Bp-Test; BUEVA: FTF-K
Nonverbale Intelligenz
BUEGA: Matrizen- Test
Eltern
ADHS
DISYPS- II: Skala FBB-ADHS
Störung des Sozialverhaltens
Kooperatives Verhalten
Selbstkontrolle
Erziehungsfragebogen
Phys. und psych. Wohlbefinden
DISYPS- II: FBB- SSV
JCTI 7-11: Kooperation (KO)
JCTI 7-11: Selbstlenkungsfähigkeit (SL),
Selbstranszendenz (ST)
EFB; EFB- K zu t2
SF- 36
Stress
ESF
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PROSOZIALES
UND AGGRESSIVES
VERHALTEN wurden mit dem Fragebogen zur
Erfassung von Empathie, Prosozialität, Aggressionsbereitschaft und aggressiven Verhalten
(FEPAA;
Lukesch,
2006)
erhoben,
wobei
nur
die
Skalen
Prosozialität
und
Aggressionshäufigkeit eingesetzt wurden. Aufgrund fehlender Altersnormen wurde die
Empathie anhand des IVE operationalisiert. Beim FEPAA handelt es sich um ein
Selbstbefragungsinstrument, bei welchem von den Kindern auf einer vierstufigen LikertSkala (0=nie bis 4=immer) geantwortet wird. Der Fragebogen ist für Kinder ab 12 Jahren
konzipiert worden, so dass er für die vorliegende Untersuchung in den Formulierungen
angeglichen werden musste. Aus diesem Grund lässt sich nur eine statistische intra- und
interindividuelle, jedoch keine klinische (im Vergleich zu der Normierungsstichprobe)
Differenz festhalten.
AUFMERKSAMKEIT und
NONVERBALE
INTELLIGENZ wurden schließlich mit der
Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA; Esser,
Wyschkon & Ballaschk, 2008) getestet. Die Aufmerksamkeit wurde anhand des bp-Subtests
bei den Kindern zwischen sechs und elf Jahren getestet. Für Kinder, die jünger als sechs Jahre
waren und noch nicht lesen und schreiben konnten, wurde auf die Basisdiagnostik für
umschriebene
Entwicklungsstörungen
im
Vorschulalter
(BUEVA;
Esser,
2002)
zurückgegriffen. Bei beiden Testformen haben die Kinder die Aufgabe in einer bestimmten
Zeit vorgegebene Buchstaben (b, p) bzw. vorgegebene Zeichen (Äpfel, Birnen) zwischen
anderen Buchstaben oder Zeichen zu markieren. Beide Tests gelten als reliabel und valide.
Die nonverbale Intelligenz wurde anhand des Matrizen-Tests aus der BUEGA getestet. Die
Aufgabe der Kinder bestand in diesem Teil darin, passende Figuren auszuwählen um sie in
eine bereits bestehende Anordnung von verschiedenen Bildern sinnvoll einzuordnen. Die
Schwierigkeitsstufen variieren im Verlauf des Tests. Auch hier findet sich eine
zufriedenstellende Zuverlässigkeit und Messgenauigkeit des Tests.
ADHS
UND
STÖRUNGEN
DES
SOZIALVERHALTENS wurden anhand des Diagnostik-
System für Psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche
(DYSIPS- II; Döpfner, Görtz-Dorten & Lehmkuhl, 2008) erfragt. Das DYSIPS liegt in je
einer Version für die Kinder und für die Eltern vor und erfasst psychische Störungen
entsprechend den Diagnosekriterien von ICD-10 und DSM-IV. Eingesetzt wurde die
Fremdbeurteilung (FBB) der Eltern bezüglich der aktuellen Ausprägung der kindlichen
Störungen. Eine Selbstbeurteilung ist erst ab dem elften Lebensjahr möglich und wurde daher
nicht durchgeführt. Ziel dieses Diagnosesystems ist eine differenzierte dimensionale
Beschreibung psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 18
- 16 -
Jahren. Die beiden verwendeten Skalen (ADHS und SSV) sind von 0 (gar nicht) bis 3
(besonders) skaliert und weisen gute Gütekriterien auf.
KOOPERATIVES VERHALTEN
UND
SELBSTKONTROLLE wurden anhand des Junior
Temperament und Charakter Inventar (JTCI; Goth, Schmeck, 2009) erfragt, einem Inventar
zur Erfassung der Persönlichkeit vom Kindergarten- bis zum Jugendalter. Das Inventar basiert
auf Cloningers biopsychosozialem Persönlichkeitsmodell, wonach Charakter anhand der drei
eigenständigen
Skalen
Selbstlenkungsfähigkeit
(SL),
Kooperativität
(KO)
und
Selbsttranszendenz (ST) definiert wird. Diese drei Charakterskalen beschreiben Unterschiede
in zentralen Selbstkonzepten, die Einstellungen, Werte und Ziele umfassen, und letztlich die
Fähigkeit begründen, mit sich und seiner Umwelt zurecht zu kommen. Anhand einer
Skalierung von 0 (nie) bis 4 (immer) erfasst das JTCI die elterliche Einschätzung über
Verhaltensweisen, Einstellungen, Meinungen, Interessen und Gefühle des Kindes.
ERZIEHUNGSVERHALTEN der Erziehungsberechtigten wurde anhand der deutschen
Fassung der Parenting Scale (PS; Arnold, O´Leary, Wolff & Acker, 1993, zitiert nach
Naumann, Bertram, Kuschel, Heinrich, Hahlweg & Döpfner, 2010) erfragt. Die Skala erweist
sich im deutschsprachigen Raum als geeignetes Maß (Lübeck et al., 2000, zitiert nach
Naumann et al., 2010). Die Autoren dieser Studie übersetzten den Titel mit
Erziehungsfragbogen, kurz EFB. Beim Zweitinterview wurde im Unterschied zum
Erstinterview die Kurzform des EFB, der EFB-K genutzt, der sich in deutschen Studien bisher
ebenfalls sehr gut bewährt hat (Naumann et. al, 2010). Je Item werden zwei mögliche
Reaktionen
auf
kindliches
Verhalten
genannt,
die
effektives
bzw.
ineffektives
Erzieherverhalten repräsentieren. Die Eltern geben auf einer Skala von 1 (trifft nicht zu) bis
drei (trifft zu) an, wie sehr das beschriebene Erziehungsverhalten auf sie zutrifft.
PSYCHISCHES WOHLBEFINDEN
DER
ELTERN wurde durch den SF-36 (Bullinger &
Kirchenberger, 1998) und den Elternstressfragebogen (ESF; Domsch & Lohaus, 2010)
erfasst. Beide Fragebögen haben sich in der psychologischen Praxis bisher gut bewährt. Sie
wurden den Eltern als Fragebogen vorgelegt. Bei dem ESF geben die Erziehungsberechtigten
auf einer vierstufigen Skala (0= trifft nicht zu, 3= trifft genau zu) an, inwiefern sie z. B.
soziale Unterstützung erfahren oder wie gut sie mit dem Kind subjektiv zurechtkommen. Die
verwendeten Skalen des SF-36 beinhalten zwei unterschiedliche Dimensionen. Auf einer
fünfstufigen Skala soll angeben werden wie der eigene Gesundheitszustand empfunden wird
(1= ausgezeichnet, 5= schlecht), zudem sind Angaben zur Gesundheitswahrnehmung und der
sozialen Funktionsfähigkeit zu machen (1= trifft völlig zu, 5= trifft gar nicht zu). Das
Psychische Wohlbefinden wird durch eine sechsstufige Skala erfasst (1= immer, 6= nie).
- 17 -
2.5
Nachhaltigkeit des Projektes
Neben den unmittelbaren Projektergebnissen ist ein Ertrag des Projektes auch darin zu sehen,
dass es maßgeblich zur Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses beitrug und
dadurch langfristig nachwirkt. Insgesamt 14 Studierende der Psychologie absolvierten im
Rahmen des Projektes ein Forschungspraktikum im Umfang von 210 Stunden. Den
Studierenden wurden umfassende Möglichkeiten zur Erlangung von Praxiserfahrungen im
Umgang mit psychisch auffälligen Kindern und teilweise hoch belasteten Familien gewährt,
wie auch die Mitarbeit in allen Phasen eines Forschungsprozesses gestattet. Zwei der
Studierenden möchten sich aufgrund der gesammelten Erfahrungen später auch beruflich
weiter mit der tiergestützten Therapie befassen.
Aus dem Projekt entstanden außerdem drei Bachelorarbeiten. In der Arbeit von Nina Grimm
(2011) wurden die Zusammenhänge zwischen elterlichem psychischen Befinden, elterlichem
Erziehungsverhalten und kindlicher ADHS-Symptomatik betrachtet. Die Arbeit von Amelie
Engels und Nele Vrielink (2011) untersuchte die Wirkung des Heilpädagogischen Reitens und
Voltigierens auf das Sozialverhalten von Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen.
Die Ergebnisse beider Arbeiten sollen auszugsweise demnächst veröffentlich werden. Ein
Konferenzbeitrag über die zentralen Ergebnisse des Modellprojekts soll außerdem 2012 auf
dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vor einem Fachpublikum
präsentiert und anschließend veröffentlicht werden. Die Ergebnisse werden an das Deutsche
Kuratorium für Therapeutisches Reiten weitergeleitet und tragen damit hoffentlich weiter zur
Etablierung der Reittherapie als Behandlungsmethode bei Kindern mit Verhaltensstörungen
bei.
3
Ergebnisse
Neben den statistischen Signifikanzen werden, um die praktische Bedeutsamkeit der
gefundenen Effekte einschätzen zu können, im Folgenden auch die Effektstärken berichtet.
Bei dem verwendeten Untersuchungsdesign wird als Effektstärke Cohens d (d) angegeben,
wobei nach Cohen (1988) bei d= 0.2 ein schwacher Effekt, bei d= 0.5 ein mittlerer Effekt und
bei d= 0.8 ein starker Effekt vorliegt. Da bei den vorab durchgeführten statistischen
Ausreißeranalysen ein Kind (2,5%) durch extrem auffällige Werte und ein inkonsistentes
Antwortverhalten aus dem Rahmen fiel, wurde es von den Auswertungen ausgeschlossen.
- 18 -
Dies erscheint gerechtfertigt, da bei der vorliegenden geringen Stichprobengröße bereits eine
einzelne Person mit Extremantworten die Ergebnisse der gesamten Studie verfälschen kann.
Aufgrund der hohen Abbrecherrate wurde außerdem das Intention-To-Treat-Prinzip
angewandt. Hierbei wird der jeweils letzte Messwert als Post-Messung angesehen, sodass die
statistische Auswertung alle Teilnehmer berücksichtigen kann. Dieses Verfahren verhindert,
dass es zu Verzerrungen kommt, da davon ausgegangen wird, dass Abbrecher schlechtere
Ergebnisse aufweisen als Nicht-Abbrecher. Durch die besonders hohe Abbruch-Rate unter
den Teilnehmern des sozialen Trainings könnten die Ergebnisse ohne das Intention-To-TreatPrinzip positiver wirken, als sie real sind, da die Personen, die nicht von der Intervention
profitierten abgebrochen haben. An dieser Stelle ist jedoch auch anzumerken, dass die
grundsätzlich durch die fehlenden Werte entstandene Verzerrung nicht minimiert werden
kann. Die Methode dient lediglich dazu diese nicht noch zu vergrößern.
3.1
Veränderungen der Störungssymptomatik
Zunächst wurde die Veränderung der ADHS Symptomatik untersucht. Zu diesem Zweck
wurde eine multivariate Varianzanalyse mit Messwiederholung über die unterschiedlichen
Symptombereiche hinweg berechnet. Die Kompetenzskala wurde dabei außer Acht gelassen.
Es ergab sich multivariat ein signifikanter positiver Gesamteffekt (F = 2.85, df = 4, p = .039,
ES = .09). Sowohl im Hinblick auf den ADHS-Globalwert als auch in Bezug auf die Bereiche
Aufmerksamkeit und Impulsivität sind starke, signifikante positive Veränderungen in der
erwarteten Richtung erkennbar (Tab. 2). Hinsichtlich der Symptomatik der Hyperaktivität ist
insbesondere bei der Reittherapie ein positiver Entwicklungstrend erkennbar, der jedoch
knapp die statistische Signifikanz verfehlt. Zwischen den beiden Behandlungsgruppen finden
sich keine signifikanten Unterschiede. Kinder, die Medikamente aufgrund ihrer ADHS
verschrieben bekamen, wiesen zu Behandlungsbeginn erwartungsgemäß eine geringere
Störungssymptomatik auf. Die Medikation nahm aber keinen Einfluss auf die Veränderung
der Störungssymptomatik im Behandlungsverlauf. Keine Behandlungseffekte zeigten sich bei
den störungsbezogenen Kompetenzen.
- 19 -
Tabelle 2: MANOVA mit Messwiederholung bezüglich der ADHS-Skalen: Univariate
Vergleiche
ADHS-Skalen
Gruppe
M1 (SD)
M3(SD) F-Wert p-Wert Cohens d
EG
1.66 (0.6) 1.43 (0.61)
7.46
.010
.39
Gesamtwert
KG
1.85 (0.63) 1.70 (0.57)
EG
1.80 (0.51) 1.52 (0.56)
7.95
.008
.54
Aufmerksamkeit
KG
1.90 (0.62) 1.78 (0.63)
EG
1.35 (0.91) 1.06 (0.80)
3.84
.058
.35
Hyperaktivität
KG
1.54 (0.99) 1.40 (0.81)
EG
1.87 (0.92) 1.54 (1.00)
9.31
.004
.35
Impulsivität
KG
2.24 (0.79) 1.96 (0.77)
EG
1.09 (0.53) 1.07 (0.55)
0.36
.552
.04
Kompetenzen
KG
0.96 (0.51) 1.08 (0.59)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Bei der Störung des Sozialverhaltens ergibt sich ebenfalls multivariat ein positiver
Gesamteffekt (F = 4.15, df = 3, p = 0.13, ES = .11). In beiden Gruppen ist dies in erster Linie
auf eine signifikante Reduzierung von oppositionellem Verhalten zurückzuführen (Tab. 3).
Praktisch liegt die erzielte Veränderung im mittleren Bereich. Bei Vorliegen einer stärker
ausgeprägten dissozialen Störung des Sozialverhaltens konnten keine signifikanten Effekte
erzielt werden, wohl aber ein Entwicklungstrend in erwarteter Richtung, welcher allerdings
nur bei der Reittherapie, nicht beim sozialen Training auftritt. Die störungsbezogenen
Kompetenzen veränderten sich im Therapieverlauf nicht signifikant.
Tabelle 3: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der SSV-Skalen
SSV-Skalen
Gruppe
M 1 (SD)
M 3 (SD)
F-Wert
p-Wert Cohens d
EG
1.64 (1.61) 1.07 (1.29)
7.29
.010
.4
Gesamtskala
KG
0.96 (0.64) 0.26 (0.55)
EG
1.66 (0.76) 1.30 (0.73)
11.83
.001
.5
Opp. Verhalten
KG
1.96 (1.22) 1.69 (1.17)
EG
1.61 (2.51) 0.92 (1.95)
1.45
.236
.48
Diss. Verhalten
KG
0.39 (0.41) 0.32 (0.28)
EG
1.78 (0.52) 1.85 (0.56)
0.00
.948
.13
Kompetenzen
KG
1.98 (0.70) 1.10 (1.31)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Die positive Veränderung der Störungssymptomatik bestätigt sich auch anhand der Antworten
auf die Fragen nach den Stärken und Schwächen der Kinder (SDQ), die sowohl im
- 20 -
Elternurteil (Tab. 4) als auch im Selbsturteil (Tab 5) erfasst wurden.
Tabelle 4: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der SDQ-Skalen
(Elternfragebogen)
SDQ
Gruppe
M1 (SD)
M3 (SD)
F-Wert p-Wert Cohens d
EG
19.16 (5.38)
12.74 (8.16)
28.50
.000
.95
Gesamtwert
KG
21.00 (4.76)
11.15 (9.71)
EG
4.689 (3.59)
3.58 (2.83)
3.74
.061
.35
Emotionale Probleme
KG
5.10 (2.31)
4.50 (1.82)
EG
3.89 (2.00)
3.42 (1.84)
0.91
.347
.25
Verhaltensprobleme
KG
4.00 (2.13)
3.90 (1.65)
EG
5.00 (1.15)
3.89 (2.11)
26.38
.000
.67
Hyperaktivität
KG
6.10 (1.45)
3.65 (2.58)
EG
Probleme mit
5.78 (1.35)
5.26 (1.79)
0.91
.346
.34
Gleichaltrigen
KG
5.80 (1.70)
5.60 (1.19)
EG
7.26 (1.45)
7.89 (1.76)
1.55
.220
.4
Prosoziales Verhalten
KG
7.40 (2.09)
7.50 (1.79)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Tabelle 5: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der SDQ-Skalen
(Kinderfragebogen)
SDQ-Skalen
Gruppe
M1 (SD)
M3 (SD)
F-Wert
p-Wert Cohens d
EG
17.74
11.21
(4.76)
(5.83)
24.30
.000
1.26
Gesamtwert
KG
19.10
10.95
(4.14)
(9.88)
EG
Emotionale
2.63 (1.86) 2.05 (1.90)
0.57
.453
.32
Probleme
KG
4.25 (2.00) 4.36 (2.52)
EG
3.42 (2.01) 2.84 (1.34)
0.11
.743
.35
Verhaltensprobleme
KG
3.55 (1.76) 2.95 (1.67)
EG
6.68 (1.53) 5.00 (2.49)
26.16
.000
.84
Hyperaktivität
KG
6.45 (1.00) 3.90 (2.85)
Verhaltensprobleme EG
5.00 (1.20) 4.26 (1.88)
2.53
.120
.48
mit Gleichaltrigen
KG
4.85 (1.31) 4.65 (1.73)
EG
7.84 (2.22) 7.68 (2.36)
0.82
.373
.07
Prosoziales
Verhalten
KG
7.85 (1.35) 7.35 (1.93)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke, Verhaltensprobleme (VP).
Eltern und Kinder berichteten übereinstimmend eine stark verbesserte psychosoziale
Anpassung nach der Therapie, die in erster Linie auf eine starke Reduzierung der
Hyperaktivität zurückzuführen ist. Auch hier hatten Kinder, die eine Medikation erhielten,
eine geringere Symptombelastung, wobei die Medikation keinen Einfluss auf die Entwicklung
- 21 -
im Behandlungsverlauf nahm. Die Eltern nahmen außerdem einen tendenziellen Rückgang
emotionaler Probleme bei ihren Kinder wahr, wobei sich hier aber kein signifikanter Effekt
sondern lediglich eine Entwicklungstendenz abzeichnet. Besonders hervorzuheben ist, dass
sich nach Therapieende gemäß der Fragebogenkennwerte keiner der Teilnehmer der
Reittherapie noch im klinisch auffälligen Bereich befand.
3.2
Veränderungen der Kognitionen, Emotionen und Sozialen Kompetenzen
Neben der Veränderung der Störungssymptomatik wurde nach weiteren Veränderungen im
Bereich der Kognitionen, Emotionen und der Sozialen Kompetenzen gesucht. Mittels des
KINDL-Fragebogens wurden im Eltern- und Kindurteil Veränderungen des körperlichen und
psychischen
Wohlbefindens,
des
Selbstwertes,
der
familiären
Beziehungen,
der
Freundschaftsbeziehungen und der Funktionsfähigkeit in Schule und Kindergarten untersucht.
Im Elternurteil konnten diesbezüglich keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden
(Tab. 6).
Tabelle 6: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der KINDLSkalen (Elternfragebogen)
KINDL
Gruppe
M1 (SD)
M3 (SD)
F-Wert
p-Wert Cohens d
Körper
EG
3.09 (0.61) 2.95 (0.97)
1.35
.252
.18
KG
3.44 (0.61) 3.25 (0.54)
Psyche
EG
2.91 (0.67) 2.84 (0.68)
0.73
.398
.11
KG
3.04 (0.68) 2.90 (0.76)
Selbstwert
EG
2.58 (0.61) 2.36 (0.63)
1.98
.168
.36
KG
2.66 (0.51) 2.41 (0.94)
Familie
EG
2.68 (0.70) 2.68 (0.62)
0.36
.553
.0
KG
2.84 (0.76) 2.68 (0.79)
Freunde
EG
2.14 (0.85) 2.45 (0.82)
0.30
.589
.38
KG
2.61 (0.83) 2.44 (0.81)
Schule
EG
2.84 (0.75) 2.71 (0.83)
0.24
.631
.17
KG
2.69 (0.72) 2.65 (0.64)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Die Auswertung des Kinderfragebogens ergab ein tendenziell verbessertes psychisches
Wohlbefinden (F = 3.87, df = 1, p = .057, ES = .11), das Signifikanzniveau wurde hier nur
knapp verfehlt. In den anderen Bereichen fanden sich keine statistisch bedeutsamen
Veränderungen.
- 22 -
Im Bereich der Kognitionen stellt die Selbstkontrollfähigkeit der Kinder eine wichtige
Voraussetzung für normangepasstes Verhalten dar. In diesem Bereich ließ sich allerdings
keine Veränderung im Therapieverlauf feststellen (Tab. 8).
Tabelle 8: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der JTCI-Skalen
JTCI-Skalen
Gruppe
M1 (SD)
M3 (SD)
F-Wert
p-Wert Cohens d
EG
23.58
23.37
(4.19)
(5.71)
0.24
.625
.04
Selbstlenkungsfähigkeit
KG
23.50
22.95
(4.12)
(3.55)
EG
17.37
17.42
(5.45)
(4.36)
0.57
.457
.01
Selbsttranszendenz
KG
15.90
14.80
(3.86)
(5.36)
EG
30.47
26.63
(10.62
(8.28)
6.21
.017
.41
Kooperation
KG
28.40
26.55
(6.52)
(5.73)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Tabelle 9: Mittelwertvergleiche (ANOVA mit Messwiederholung) bezüglich der IVE- und
FEPAA-Skalen
Skalen
Gruppe
M1 (SD)
M3 (SD)
F-Wert
p-Wert Cohens d
IVE
EG
32.26
32.36
Empathie
(15.97)
(16.52)
0.11
.743
.01
KG
38.20
36.50
(13.26)
(12.18)
FEPAA
EG
36.95 (9.42) 33.05 (8.59)
3.07
.088
.44
Prosozialität
KG
40.45
38.90
(10.39)
(12.30)
Anmerkungen: Reittherapie (EG): N=19, Soziales Training (KG): N=20; Cohens d =
Effektstärke.
Die Kooperationsfähigkeit der Kinder nahm dem Elternurteil zufolge im Therapieverlauf
sogar signifikant und stark in beiden Gruppen ab (Tab. 8). Damit in Einklang stehend, gehen
die Eltern tendenziell auch von einer Abnahme prosozialer Verhaltensweisen aus. Allerdings
ist dieser Effekt nicht statistisch signifikant, spiegelt aber die negative Entwicklungsrichtung
in diesem Bereich wider. Im Empathievermögen der Kinder konnten hingegen keine
Veränderungen ausgemacht werden (Tab. 9).
- 23 -
5
Zusammenfassung und Ausblick
Ziel des Projektes war die Überprüfung der Wirksamkeit von Reittherapie als
heilpädagogische Maßnahme bei Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen, d.h.
mit
einer
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
und/oder
einem
gestörten
Sozialverhalten. Die Befunde belegen, dass die Reittherapie eine wirksame therapeutische
Maßnahme bei der Behandlung von Kindern mit ADHS darstellt. Bereits nach 20 Wochen
war eine starke Verbesserung der ADHS-Symptomatik zu beobachten, die bis zum Ende der
Therapie nach 40 Wochen anhielt. Auch medikamentös und zuvor therapeutisch behandelte
Kinder konnten von der Reittherapie in ihrer Entwicklung noch weiter profitieren. Neben der
ADHS-Symptomatik konnten außerdem die Symptome einer oppositionell-aggressiven
Störung des Sozialverhaltens signifikant reduziert werden. Eltern und Kinder berichteten
zudem übereinstimmend eine starke Verbesserung der psychosozialen Anpassung bzw.
Reduzierung von Verhaltensauffälligkeiten, was sich in erster Linie auf eine Verringerung der
Hyperaktivität und ihrer Folgen zurückführen lässt.
Die Reittherapie war in ihrer Wirksamkeit mit einem sozialen Trainingsprogramm
vergleichbar, die Kinder in der Reittherapie wiesen allerdings eine deutlich höhere
Teilnahmemotivation auf. Sie berichteten in ihren Tagebüchern von großem Spaß beim
Reiten und im Umgang mit dem Pferd. Die Reittherapie wurde außerdem auch von den Eltern
überaus positiv wahrgenommen. Eltern, die auf dem Reiterhof gemeinsam auf ihre Kinder
warteten, konnten sich untereinander austauschen und Fortschritte ihrer Kinder unmittelbar
beobachten; ein großer Vorteil, der bei herkömmlichen Gruppenprogrammen entfällt. Hinzu
kam, dass selbst körperlich hoch aggressive und massiv auffällige Kinder in die Reitgruppen
mühelos integriert werden konnten, während es bei alternativen Beschäftigungen ohne Pferd
schwer war, Streitereien und Übergriffe zu unterbinden. Die Anwesenheit der Pferde bewirkte
hingegen eine starke Dämpfung des aggressiven Affektes, selbst wenn die Kinder vorher hoch
erregt waren.
Angesichts dieser sehr positiven Effekte erstaunt allerdings, dass neben der deutlichen
Verbesserung der psychischen Symptomatik keine weiteren positiven Begleiterscheinungen
der Reittherapie, wie z. B. verbesserter Selbstwert, Empathiefähigkeit oder Selbstkontrolle zu
bemerken waren. Eine Generalisierung der positiven Verhaltenseffekte auf den familiären
oder schulischen Bereich war ebenfalls nicht festzustellen, was in gewissem Widerspruch zu
- 24 -
bereits vorliegenden Studien steht. Auch sonstige Zusammenhänge zwischen der Reittherapie
und Merkmalen der Familie, dem psychischen Befinden der Eltern, dem Erziehungsverhalten
und dem sozialen Umfeld waren nicht festzustellen. An dieser Stelle ist damit sicherlich
weitere Forschung notwendig, um zu klären, ob dies ein generelles Befundmuster darstellt
oder auf die spezifische Angebotsstruktur im Modellprojekt zurückzuführen ist.
Es ist dabei festzuhalten, dass Eltern stark auffälliger Kinder oft einen solch belasteten Alltag
erleben, dass eine ressourcenorientierte Betrachtung des Kindes in den Hintergrund tritt.
Denkbar wäre somit durchaus die Möglichkeit, die Eltern in die Reittherapie und andere
Behandlungsprogramme enger einzubeziehen und ihnen die Fortschritte der Kinder direkter
zurückzumelden. Somit hätten sie einerseits einen Einblick in die jeweiligen Vorgänge und
könnten des Weiteren auch selbst im Alltag lernen, Entwicklungen ihrer Kinder besser
wahrzunehmen. Dies könnte sich in differenzierteren Angaben in den Fragebögen zeigen. Ein
weiterer interessanter Aspekt ist jener der pferdegestützten Psychotherapie. Bei dieser Form
wird die Reittherapie durch Psychotherapeuten durchgeführt und ermöglicht dadurch auch
gezielt symptomorientiertes Arbeiten. Es wäre zu untersuchen, ob sich durch die Integration
von Elternarbeit, Ressourcenaktivierung und gezielter symptomreduzierender Maßnahmen
durch psychotherapeutische Interventionen mit dem Pferd ein Gesamtkonzept der
Reittherapie entwickeln ließe, dessen positive Effekte sich dann auch auf unterschiedliche
Alltagsbereiche auswirken.
6
Literatur
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Sozialisationsprozessen. Zeitschrift Therapeutisches Reiten, 4, 16-19.
Bullinger, M. & Kirchenberger, I. (1998). SF-36. Fragebogen zum Gesundheitszustand.
Göttingen: Hogrefe.
Cuyper, K., Ridder, K. & Strandheim, A. (2011) The effect of therapeutic horseback riding on
5 children with Attention Deficit Hyperactivity Disorder: A Pilot Study. The Journal
of Alternative and Complementary Medicine, 17 (10), 901-908.
DKThR (2010). Bereiche im Therapeutischen Reiten. Verfügbar unter
http://www.dkthr.de/dkthrfakten.php?n2=therapie [17.03.2011].
DKThR (2010). Heilpädagogische Förderung. Verfügbar unter
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Domsch, H. & Lohaus, A. (2010). Elternstressfragebogen. Göttingen: Hogrefe.
Döpfner, M., Görtz-Dorten A. & Lehmkuhl G. (2008). DISYPS II – Diagnostik-System für
- 25 -
Psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche – II.
Göttingen: Hogrefe.
Döpfner, M., Fröhlich, J. & Lehmkuhl, G. (2000). Hyperkinetische Störungen. Leitfaden
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