Fünf Monate veränderten Frankreich, Europa und die Welt: Zwischen Mai und Oktober 1789 brach das Ancien Régime zusammen, es siegte die bürgerliche Revolution. Der große Sommer der Nation 24 SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 Prozession der 1139 Vertreter der Generalstände am 4. Mai 1789 in Versailles Von ROMAIN LEICK ten Tag vorausging. Zum ersten Mal auch erlebten die Abgeordneten, und s war ein Spektakel, wie es mit ihnen der gesamte Hofstaat, etwas die Residenzstadt Versailles bis dahin Unerhörtes: Zurufe der Ermunoch nie gesehen hatte. Zu tigung und der Ablehnung, Beifall und Tausenden waren die Gaf- Beschimpfungen aus der Bevölkerung. Die öffentliche Meinung war in Verfer aus dem nahen Paris herbeigeströmt, sie füllten die Straßen sailles eingebrochen, der Druck der Straund hingen aus den Fenstern, jubelnd ße ein politischer Hebel geworden, und und schmähend, applaudierend und fei- fortan sollte die Stimme des Volkes nicht xend. Zum ersten Mal zeigten sich an mehr verstummen. Schon allein dieses Schauspiel zerdiesem Montag, dem 4. Mai 1789, die frisch gewählten Vertreter der General- störte eine Illusion, die jahrhundertestände in einem geschlossenen Zug; in lang das Fundament des Ancien Régime einer großen Prozession marschierten gebildet hatte: das Gottesgnadentum der sie zur Kathedrale Saint-Louis, wo ein absoluten Monarchie. Der König war feierlicher Gottesdienst der offiziellen entweiht. Er wusste es nur noch nicht. Eröffnung der Versammlung am nächs- Oder ahnte er es doch? Seine Umgebung GIANNI DAGLI ORTI/THE ART ARCHIVE E SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 hatte jedenfalls den Eindruck, dass sich eine Beklemmung, ja eine leise Furcht auf das Gemüt des Herrschers gelegt hatte, trotz der entfalteten Pracht und Herrlichkeit. Dass die Regierung den Wandel der Zeit nicht richtig begriffen hatte, obwohl es Warnungen genug gab, zeigte sich mehrmals während des höfischen Zeremoniells. Am Samstag, dem 2. Mai, hatte Ludwig XVI., stehend zwischen seinen beiden Brüdern, die 1139 Vertreter der drei Stände im Schloss von Versailles empfangen. Drei Stunden mussten die 578 Abgeordneten des dritten Standes hinter einer Absperrung warten, bis der König die Geistlichkeit und den Adel begrüßt hatte. Erst dann defilierten sie 25 GEBURT DER REVOLUTION 26 schürzte der König, wie Leopold von Ranke später urteilte, „den Knoten seines ganzen Schicksals“. Das tragische Ende war indes nicht vorbestimmt, die Weichen waren nicht unverrückbar gestellt, als das Rad der Geschichte sich im Schicksalsjahr 1789 immer schneller zu drehen begann. Es bedurfte einer ganzen Kette von Fehlern, um den Kredit der Krone zu verspielen. Noch erfreute sich der König eines unschätzbaren Kapitals, der Zuneigung seines Volkes, das bei allen Wutund Gewaltausbrüchen dazu neigte, die Schuld an himmelschreienden Missständen nicht bei Ludwig XVI. zu suchen, sondern am schlechten Einfluss seiner Umgebung, der Königin Marie Antoinette, den Beratern und Beamten, kurz: im System. Das Volk wollte seinen König für sich gewinnen, deshalb hätte der König das Volk auch für sich gewinnen können. Den ersten dieser Fehler beging Ludwig in der Eröffnungssitzung der Generalstände am 5. Mai. In den Monaten zuvor, als über Wahlmodus und Zusammensetzung der Versammlung debattiert worden war, hatte er widerstrebend dem Vorschlag zugestimmt, dem dritten Stand ungefähr so viele Vertreter zuzugestehen wie den beiden anderen Ständen zusammengenommen. Aber er ließ offen, wie sie tagen sollten: ob wie früher getrennt, wobei jeder Stand für sich abstimmen würde; oder vereinigt mit Beschlussfassung durch die Mehrheit der Abgeordneten. Dieser technischen Verfahrensfrage kam in Wirklichkeit zentrale Bedeutung zu. Bei getrennter Sitzung und Abstimmung hätten Adel und Geistlichkeit faktisch ein Vetorecht ausüben können; in gemeinsamer Sitzung und Abstimmung im Plenum hätte der dritte Stand das Sagen bekommen. Sorgfältig hatten der König und seine Vertrauten die Listen mit den Gewählten durchgesehen: Die Geistlichkeit stellte 291 Abgeordnete, darunter nur knapp 50 Bischöfe, aber 208 einfache Pfarrer. Der Adel entsandte 270 Vertreter, ein Drittel der Gruppe galt als liberal und Reformen aufgeschlossen. Und der dritte Stand hatte 578 Repräsentanten, deren Homogenität ins Auge stach – nur SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 ERICH LESSING / AKG ohne Anrede vorbei; in schlichtem des Klerus verbünden und versuchen, Schwarz, das von diesem Tag an zum fei- mit einer Demonstration der Stärke den erlichen Ehrenkleid der bürgerlichen dritten Stand niederzuhalten. Oder er konnte den dritten Stand – das Volk – auf Gesellschaft wurde. Klassenunterschiede auch während seine Seite ziehen und sein Reich von der Prozession und des Gottesdienstes Grund auf reformieren. Das wäre die Ream 4. Mai: Der dritte Stand, wieder in volution von oben gewesen, um der von Schwarz, eröffnete den Zug mit großem unten drohenden zuvorzukommen – mit Abstand, so weit wie möglich vom König dem König als Volksmonarch. Am Ende seiner Möglichkeiten war entfernt. In der Kathedrale angekommen, nahmen die Geistlichen und die Ludwig XVI. Anfang 1789 keineswegs, Adligen reservierte Plätze in der Mitte zumal niemand ihm zu diesem Zeitdes Schiffs ein, während die Bürgerli- punkt die exekutive Gewalt streitig chen sich, so gut es eben ging, an den Seiten niederließen. In seiDie drei Stänner Ansprache entbot der Bischof de – Klerus, von Nancy dem König die „HulAdel, Bürger – digung“ des Klerus, die „Ehrerhuldigen bietung“ des Adels und die „allerLudwig XVI. demütigsten Bitten“ des dritten und dessen Standes. Das war ein peinlicher Finanzminister Misston des Protokolls, denn zu Necker Demut, gar zu Flehbitten sahen Zeitgenössidie Volksvertreter keinen Anlass. sches Gemälde Ohne sie ging nichts mehr, das wussten die Generalstände. Sie waren seit 175 Jahren nicht mehr einberufen worden; zuletzt hatten sie 1614 getagt. Eine reguläre Institution des Königreichs waren sie nie gewesen. Die Generalstände traten immer nur in Krisenzeiten zusammen, etwa während der Religionskriege im späten 16. Jahrhundert. Noch 1614 hatten sie ihre Hauptschwäche offenbart: die Unfähigkeit, sich untereinander ins Benehmen zu setzen, weil die Interessenkonflikte der drei Stände überwogen. Das war auch jetzt in Versailles nicht anders. Sie wussten, was sie wollten – den Absolutismus des Königshauses begrenzen; aber jeder erwartete etwas anderes: machte. Am gefährlichsten war nur EntDer Adel wollte seine Privilegien, vor al- schlusslosigkeit. Aber genau die legte er lem die Steuerfreiheit und den direkten an den Tag, und zwar an praktisch jeder Zugang zu den hohen Ämtern in Staat Weggabelung in den folgenden fünf Mound Armee, aufrechterhalten. Die Bür- naten, die nach Ansicht des Historikers gerlichen verlangten Freiheit, Gleichheit François Furet „die wichtigsten der Reund Gerechtigkeit, mithin die entschei- volution und vielleicht der Geschichte dende Teilhabe am politischen Leben. Frankreichs“ wurden. „Die Ereignisse scheinen ihn überUnd die Geistlichkeit, selbst gespalten in hohe Würdenträger der Kirche und haupt nicht zu berühren“, staunte der die Mehrheit der kleinen Gemeindepfar- Außenminister Armand de Montmorin rer, die das Ohr nahe am Volke hatten, während jener Wochen, „wenn man mit blieb zwischen beiden hin- und herge- diesem trägen Menschen über politische rissen, schien aber auch deswegen gut Fragen spricht, könnte man meinen, es handele sich um Dinge, die den Kaiser als Vermittler zu taugen. In diesem Dreieck verfügte der König von China angehen.“ Aussitzen, abwarüber zwei taktische Möglichkeiten: Er ten, schwanken zwischen Reform und konnte sich mit dem Adel und einem Teil Reaktion: Durch seine Unbeweglichkeit Auf der Gegenseite aber stand nichts. wenige Bauern, kaum Arbeiter und Was ist er bis jetzt in der politischen OrdHandwerker, dafür eine klare bürgerli- nung gewesen? – Nichts! – Was verlangt Der Konterrevolution fehlte ein Kopf. Der König, gutwillig, doch überfordert, che Mehrheit von Anwälten, Gelehrten er? – Etwas zu sein.“ Unter den hohen Geistlichen ragte ängstlich, hilflos und oft genug nur und Kaufleuten. Leute von Besitz und Bildung also, die durch das Gedankengut Charles-Maurice de Talleyrand hervor, schläfrig, war jedenfalls nicht die Fühder Aufklärung, durch Montesquieu, die der erst kurz zuvor zum Bischof von Au- rungsfigur, die sich dem Mahlstrom hätEnzyklopädisten, Philosophen wie Rous- tun ernannt worden war. Bis dahin hatte te entgegenstemmen können. Am 5. Mai um ein Uhr mittags betrat seau, Diderot und Voltaire, aber auch dieser durchtriebene Mann mit dem durch die marktwirtschaftlichen Theo- Klumpfuß und dem gewaltigen Selbstbe- Ludwig den großen Plenarsaal, in dem rien der Physiokraten und deren libera- wusstsein die Vergünstigungen der Kirche die Ständevertreter sich seit acht Uhr les Motto „laissez-faire, laissez-passer“ verteidigt. Nun schlug er sich auf die Seite früh zum Namensappell versammelt hatgeprägt waren. „Wir haben einen Ideen- des Volkes und des Prinzips der Egalität – ten. Rechts neben ihm die Königin, vorsprung“, frohlockte einer von ihnen, es war der Beginn einer langen politischen hinter ihm die Minister. An den Seiten hatten die Graf Honoré GaErster und zweiter Stand besitzen zusammen ca. 30 Geistlichen und briel de Mirabeau. bis 40 Prozent des Bodens, sind praktisch steuerfrei die Adligen Platz Mirabeau war Die Staatsund Gesellschaftsordnung genommen, in der einer von elf AdliMitte vor dem ergen, die von ihren vor 1789; Anteil an der Bevölkerung KÖNIG höhten Thron mit Standesgenossen STEUERN und SOLDATEN violettem Baldaverschmäht und ABGABEN und DIENSTE chin rumorte die auf der Liste des ERSTER STAND Klerus ca. 0,5 % Menge des dritten dritten Standes geStandes. Die Anwählt worden waZWEITER STAND Adel ca. 1,5 % sprache des Kören. Pockennarbig nigs war knapp und übel beleuSTEUERN DRITTER STAND Bürger … ca. 16 % und wohlabgewomundet, mit einem gen, ohne Überraauffallenden LöGroßbürgertum schung, aber auch wenkopf, war er Steuerpächter, Großkaufleute, ohne Provokation: sich der historiManufakturbesitzer, Reeder, Bankiers (besitzen ca. Reformen in Maschen Bedeutung 30 Prozent des Bodens) ßen ja, Umsturz des Moments beder bestehenden wusst und wurde mittleres Bürgertum Ordnung nein. Er schnell einer der Handwerker, Kaufleute, freie Berufe scharfsinnigsten … und Bauern ca. 82 % drückte seine Hoffnung aus, dass und am meisten Kleinbürger wohlhabende Bauern, bewunderten Redkleine Handwerker, arme Bauern, die „Versammlung ner der VersammHändler, Gesellen, Landarbeiter der RepräsentanLehrlinge, Lohnten der Nation silung. Er hielt die arbeiter, Becherlich nur auf Revolution für undienstete den Rat der Weisvermeidbar, aber heit und der Umer wollte sie nicht sicht hören“ werde. gegen das KönigQuelle: Putzger Man klatschte, tum herbeiführen, man ließ den Kösondern mit diesem. Wie kein anderer erkannte er die Karriere voller Kehrtwenden und Front- nig hochleben, der dritte Stand war Gefahr des Radikalismus, der Anarchie wechsel, die ihn sicher durch alle Phasen keine Rabaukenfraktion. Aber das Entmit ihren Gewaltexzessen; die Monar- der Revolution, die napoleonische Ära scheidende wurde ausgelassen: Wie chie schien diesem Abenteurer, der nach und die Restauration der Bourbonen führ- sollte die Versammlung tagen? Wie beden Maßstäben der Zeit als verkrachte te. Hochverrat sei eine Frage des Zeit- schließen? Welche Kompetenzen sollte Existenz gelten konnte, eine unerlässli- punktes, soll er gesagt haben – eine ebenso sie haben? zynische wie talentierte Spielernatur. Für die Enttäuschung des Tages sorgche Sicherung der Vernunft. te Finanzminister Jacques Necker, ein Ein anderer Star des dritten Standes war der Priester Emmanuel Joseph Sie- Und noch eine Gestalt, deren Name protestantischer Bankier aus Genf, yès, dessen Pamphlet „Was ist der dritte Geschichte machen sollte, war seit An- durch geschickte Spekulationen reich Stand?“ im Januar kurz vor den Wahlen beginn dabei: Maximilien de Robes- geworden und schon zweimal seit 1777 erschienen war und seinem Verfasser pierre, ein Armenanwalt aus Arras in mit der Finanzverwaltung betraut. Der eine ungeheure Popularität als Vorden- Nordfrankreich mit betont frugaler Le- ganze Bürgerstand, die Städte und die ker der Volkssouveränität bescherte, ob- bensführung, der seine Jungfernrede, Provinz erwarteten von ihm das Heil – wohl er sich als schwacher Redner er- noch vergleichsweise wenig beachtet, doch der Staatsmann in ihm versagte in wies. Drei Fragen und drei Antworten am 18. Juni hielt. Mehr als 500-mal er- diesem Moment. Drei Stunden dauerte aus dem Traktat konnte bald jeder auf- griff er in den folgenden Jahren das sein technokratischer Vortrag, er schilderte die finanzielle Notlage des Königsagen: „Was ist der dritte Stand? – Alles. – Wort in der Nationalversammlung. König von Gottes Gnaden SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 27 reichs, räumte ein Defizit von 56 Millionen Livres ein (es war in Wahrheit viel höher) und schlug eine Anleihe von 80 Millionen vor. Dafür appellierte er an die Hilfe der Stände. Gewiss, am Anfang der Revolution stand die Finanzkrise. Aber inzwischen war die Zeit über die alleinige Frage hinweggegangen, wie das Defizit zu decken sei, mit neuen Schulden oder mit neuen 28 Steuern für wen. Die Finanzkrise war längst mehr als der zündende Funke. In ihr konzentrierten sich sämtliche sozialen und politischen Widersprüche des Ancien Régimes. Ohne die Machtfrage zu stellen, ließ sie sich nicht mehr lösen, ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft lief nichts mehr. Doch über politische Auswege, insbesondere über eine Verfassung für die Monarchie, verloren Lud- wig und sein vermeintlicher Wunderheiler Necker kein Wort. In seinem Journal attackierte Mirabeau die „unerträglichen Längen“ der Rede Neckers, die „zahllosen Wiederholungen“, die „mit Pomp vorgetragenen Trivialitäten“. Und er blieb fest: gemeinsame Beratung im Plenum, gemeinsame Abstimmung, nicht nach Ständen getrennt. Das war die Machtfrage. SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 AKG JACQUES-LOUIS DAVID Der Hofmaler des französischen Königshauses schloss sich während der Revolution den Jakobinern an, wurde Mitglied des Konvents und entging als Freund Robespierres und Marats nur knapp seiner Exekution. Im Auftrag der Gesetzgebenden Versammlung begann David (1748 bis 1825) das Monumentalgemälde über den feierlichen „Ballhausschwur“, das die Stirnwand der Nationalversammlung schmücken sollte, jedoch unvollendet blieb. Bürgertums fest: „Wenn der Hass noch einige Zeit im Volk gegen die privilegierten Stände lodert, wenn die Staatsmacht ihn nicht besänftigt oder löscht, dann steht zu befürchten, dass der besitzlose Teil des Volkes von Schloss zu Schloss rennt, um alles zu plündern und alles zu zerstören.“ Der König wirkte derweil wie ge- Kostbare Wochen verstrichen ohne Ergebnis. In Paris wuchs die Ungeduld, nach der Missernte des Vorjahres und einem ungewöhnlich harten Winter, in dem die Seine wochenlang zugefroren war, kletterte der Brotpreis auf Rekordhöhen, überall belagerte die Menge der Hungrigen die Bäckereien, vom Land strömten Arbeitslose und Verelendete in die Hauptstadt. Von den Zuschauer- SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 rängen forderten zunehmend nervöse Bürger die Vertreter ihres Standes zum Handeln auf. Necker musste feststellen: „Es gibt nirgendwo mehr Gehorsam, und man ist nicht einmal der Truppen sicher.“ Auch die Soldaten in Paris bekamen zu wenig und zu schlechtes Brot. Der Verleger Voltaires, der Buchhändler Nicolas Ruault, hielt in Briefen an seinen Bruder die Sorge des gehobenen lähmt. Trauer hielt ihn gefangen. Sein ältester Sohn, der Dauphin, war am 4. Juni nach langem Siechtum an Tuberkulose gestorben. Am 10. Juni endlich beschloss der dritte Stand auf Vorschlag von Sieyès, „eine zu lange Untätigkeit“ zu beenden. Seine Vertreter luden die der beiden anderen Stände ein, sich ihnen anzuschließen. Die ersten Geistlichen, darunter der Abbé Henri Grégoire, ein vehementer Gegner der Sklaverei in den Kolonien und Befürworter einer erneuerten nationalen katholischen Kirche, liefen über. Am 17. Juni folgte ein entscheidender Schritt, ein veritabler „Point of no return“: Sieyès setzte nach zweitägiger Debatte durch, dass der dritte Stand sich als „Nationalversammlung“ konstituierte. Den Vorsitz übernahm der Pariser Deputierte Jean Sylvain Bailly, Astronom und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Was auf den ersten Blick wie eine bloße Umetikettierung aussah, war in Wirklichkeit der Vollzug eines „großen revolutionären Aktes“, so der Historiker Furet: „Der dritte Stand hat die alte politische Gesellschaft zerstört und eine neue, vom König unabhängige Macht geschaffen.“ Der Atem der Geschichte ging schneller. Schon am nächsten Tag erkannten sich die Abgeordneten die Steuerhoheit zu – und damit die Kontrolle über den Staatshaushalt, den Lebensnerv der Politik. Am 19. Juni sprach sich die Mehrheit der Geistlichen für die Vereinigung mit dem dritten Stand aus. Bei den Adligen stimmten immerhin 80 Abgeordnete dafür. Eine neue Quelle der Souveränität war entstanden, die alte aber noch nicht zugeschüttet. Ohne Regelwerk – also ohne Verfassung – konnten die beiden Gewalten nicht nebeneinander bestehen. Der König musste nachgeben – oder kämpfen. Wie immer zögerte Ludwig. Für den 23. Juni setzte er eine gemeinsame Sitzung der Stände unter seinem Vorsitz an, um sein Schiedsurteil zu fällen. Bis dahin sollten die Beratungen ruhen, der große Saal im Hôtel des Menus 29 GEBURT DER REVOLUTION Plaisirs, wo der dritte Stand tagte, wurde geschlossen. So standen die Abgeordneten am 20. Juni draußen buchstäblich im Regen. Einige hegten den Verdacht, der König plane einen Staatsstreich; andere wollten nach Paris, das Volk aufwiegeln und zu Hilfe holen. Die Erregung steigerte sich von Minute zu Minute, bis man auf den Gedanken kam, in den benachbarten Ballsaal des Schlosses zu ziehen, einen großen kahlen Raum ohne Sitze, dessen hoch umlaufende Fenster sogleich von aufgewühlten Zuschauern besetzt wurden. Dort kam es zu der berühmten Szene, die der Revolutionsmaler Jacques-Louis David verewigt hat: dem feierlichen Schwur im Ballhaus zu Versailles („Le Serment du Jeu de paume“). Alle anwesenden Abgeordneten, mit einer Ausnahme, leisteten den Eid, sich nicht zu trennen, sich überall zu versammeln und nicht zu ruhen, bis eine Verfassung für das neue Frankreich geschaffen sei. Der revolutionäre Wille war damit „unerschütterlich“ besiegelt. Der Präsident der Versammlung, Bailly, las die vom Abgeordneten Jean-Joseph Mounier vorgeschlagene Formel des Schwurs vor. Sofort danach schwärmten die Vereidigten in den Straßen von Versailles und Paris aus und verbreiteten die Kunde. Jetzt hing alles vom Verhalten des Königs am 23. Juni ab. Dreimal beriet sich der König zuvor mit seinen Getreuen. Necker empfahl seiner Gewohnheit gemäß einen Kompromiss, Justizminister Barentin warnte vor weitgehenden Zugeständnissen, Ludwigs Verwandtschaft plädierte für Härte. Wie meistens konnte der Hofrat dem Monarchen keine eindeutige Empfehlung geben. Doch nun raffte der willensschwache Herrscher sich auf, zum ersten und letzten Mal suchte er eine klare königliche Staatsdoktrin zu definieren. Sein Programm war angesichts der Entwicklung bereits ein Anachronismus. Er gestand den Ständen zwar das Recht zu, den Steuergesetzen zuzustimmen oder sie auszusetzen. Er erkannte die Freiheit des Einzelnen und der Presse an. Er willigte in eine Verwaltungsreform ein und drückte den Wunsch nach Beseitigung der Steuerbefreiungen für die privilegierten Stände aus. Aber er erklärte auch in hartem Ton, dass er die Konstituierung des dritten Standes zur Nationalversammlung als nichtig und ungesetzlich verwerfe. Er 30 verkündete die Erhaltung der ständischen Gliederung, sprach damit dem dritten Stand die Schlüsselrolle ab, und er beharrte darauf, dass die gesetzgebende Gewalt, nicht nur die exekutive, ausschließlich Vorrecht des Königs bleiben müsse. Er schloss die Sitzung mit einer kaum verhohlenen Drohung: „Wenn Sie mich bei einem so schönen Unterfangen im Stich lassen sollten, werde ich allein für das Glück meines Volkes sorgen.“ Wollte er notfalls die Generalstände auflösen? Viele Abgeordnete empfanden es wohl so. Dann gab Ludwig ihnen den Befehl, sofort auseinanderzugehen und am nächsten Morgen nach Ständen getrennt weiterzuberaten. Die Deputierten des dritten Standes und viele einfache Geistliche blieben schweigend sitzen. Der junge Marquis de Dreux-Brézé, der als ZeremonienBeginn der Revolution 1,0 0,8 0,6 0,4 Knappes Brot Preis für einen Liter Weizen in Paris, in Gramm Silber 0,2 0,0 1780 1790 Quelle: Labrousse, Dreyfus 1800 meister amtierte, trat vor: „Meine Herren, Sie kennen den Willen des Königs. Seine Majestät lädt die Abgeordneten des dritten Standes dazu ein, sich zurückzuziehen.“ Als Antwort wurden ihm drei legendär gewordene Sätze entgegengeschleudert, in denen sich das revolutionäre bürgerliche Selbstbewusstsein wie in Marmor gemeißelt für die Geschichtsbücher verewigte. Der Präsident der Nationalversammlung Bailly sagte: „Die versammelte Nation kann keine Befehle entgegennehmen.“ Sieyès, der Revolutionstheoretiker im Priestergewand, sagte seinen Kollegen: „Meine Herren, Sie sind heute, was Sie gestern waren; setzen wir unsere Beratungen fort.“ Und Mirabeau rief dem königlichen Hofbeamten zu: „Nur unter der Gewalt der Bajonette werden wir unsere Plätze räumen.“ Die Soldaten draußen vor der Tür griffen nicht ein. Damit war der Widerstand der Regierung und der ersten beiden Stände endgültig gebrochen. Immer mehr Geist- liche und selbst Adlige schlossen sich der in den Augen des Königs illegalen Nationalversammlung an. Ludwig war erschöpft, er wollte seine Ruhe. Am 27. Juni fand er sich mit den Tatsachen ab und lud seine „getreue Geistlichkeit“ und seinen „getreuen Adel“ selbst ein, sich dem dritten Stand anzuschließen. Paris feierte. Der weitere Weg schien vorgezeichnet. Am 7. Juli setzte die Nationalversammlung einen Verfassungsausschuss ein. Die königliche Autorität löste sich selbst auf, doch die Versammlung blieb auch jetzt noch royalistisch gesinnt. Mirabeau aber bemerkte voll düsterer Ahnung, dass man auf diese Weise die Könige zum Schafott führe. Die Furcht vor Blutvergießen und unkontrollierbarer Gewalt war berechtigt. Bisher hatten überwiegend belesene und gebildete Volksvertreter, Männer des Rechts, die Revolution angeführt. Sie war in einigermaßen geordneten Bahnen verlaufen. Doch auf diese erste, parlamentarische Revolution schoben sich im Juli und im August zwei andere: die der Straße von Paris und die der Bauern überall auf dem Land. Alle drei Revolutionen folgten jeweils einer eigenen Dynamik und wirkten trotzdem verstärkend aufeinander. Während die Nationalversammlung bereit schien, ihren Sieg auszukosten und rechtmäßig auszubauen, trieben Aufrührer von ganz unten, Schichten, die Marxisten später als „Lumpenproletariat“ bezeichneten, die bürgerlichen Kräfte vor sich her zu immer weiter gesteckten Grenzen und neuen Zwischenetappen der Radikalisierung. Die städtischen und ländlichen Massen stärkten den Vertretern des dritten Standes den Rücken im Kampf gegen das Ancien Régime. Die revolutionären Beschlüsse der Delegierten wiederum ermunterten die städtische Unterschicht und die am Rande des Existenzminimums vegetierenden Bauern, in jedem Stadium mehr zu verlangen als das, was bis dahin erreicht worden war. So geriet nicht nur der König, sondern auch die Nationalversammlung mehr und mehr unter den Druck der Straße und des chaotischen Mobs. Die Abgeordneten mussten beweisen, dass sie nicht nur bürgerliche Eliten vertraten, sondern sich auch als Volkstribune bewährten. Der historische Moment der besonnenen Patrioten drohte zur Stunde der kriminellen Demagogen zu werden. Die Unruhe in Paris veranlasste den Hof, nun doch vermeintlich regimetreue SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 Truppen um die Hauptstadt zusammenzuziehen. Zugleich schickte der König Necker, der sich geweigert hatte, an der denkwürdigen Sitzung vom 23. Juni teilzunehmen, am 11. Juli ins Exil und feuerte die liberalen Minister. Er konnte sich denken, dass dieser Coup eine heftige Volksreaktion auslösen würde. Einer der Minister, die mit Necker gehen mussten, der Graf Saint-Priest, notierte verzweifelt: „Der König befand sich in einem Angstzustand, den er verbarg, indem er dem Schlaf noch mehr nachgab als gewöhnlich, denn man muss wissen, dass er während der Ratssitzungen häufig einschlief und lautstark schnarchte.“ Er sollte unsanft geweckt werden. Denn die Entlassung Neckers und die Ernennung eines reaktionären Kampfkabinetts gaben dem Volk einen Anlass für das bis heute symbolträchtigste Ereignis der Revolution: den Sturm auf die Bastille. Die Stadt kochte am 12. Juli, einem Sonntag, über vor Gerüchten. Necker, liebevoll „Vater des Volkes“ genannt, entlassen, davongejagt von Aristokraten? Verrat! Hatten die fremden Truppen, die auf dem Marsfeld kampierten, Schießbefehl? Ein Blutbad drohte! Das Volk schrie nach Waffen, man beschwor eine neue Bartholomäusnacht, ein Massaker an den Patrioten wie im August 1572 an den Protestanten. Die Plünderungen und Brandschatzungen begannen am Morgen des 13. Juli. Aus den Vororten strömten wilde Gesellen durch die Stadttore, sie hatten es nicht nur auf Waffen abgesehen, sie räumten mit Inbrunst Bäckereien und Weinhandlungen aus. In den Kellern des verwüsteten Klosters Saint-Lazare wurden später die Leichen von Plünderern gefunden, in Weinfässern ersoffen. Nach einer heißen Nacht, in der Banden von Strolchen und Strauchdieben die Straßen durchstreiften, versammelten sich in der Frühe des 14. Juli fast 50 000 Menschen vor den Gräben, die den großen Gebäudekomplex des Hôtel des Invalides umgeben. „Waffen! Wir wollen Waffen!“ Die Erregung der Menge stieg. Die Soldaten unter dem Befehl des Generals Besenval auf dem nahen Marsfeld hörten die Rufe, aber sie rührten sich nicht. Besenval zweifelte, ob sie einem Schießbefehl gehorchen würden. Er beschloss, sich herauszuhalten – und der blutige Dienstag nahm seinen Lauf. Die aufgebrachten Demonstranten kletterten über die Gräben, drückten die SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 Tore ein, holten sich über 30 000 Gewehre aus den Magazinen im Keller, schleppten ein Dutzend Kanonen davon. Die Wache, darunter viele mit dem Volk sympathisierende Kriegsversehrte, leistete keinen Widerstand. Noch fehlte es an Munition. Woher der Ruf kam, weitere Waffen, Kugeln und Pulver gebe es in der Bastille, dem alten düsteren Festungsgefängnis mit den acht hohen Türmen, in dem der König Unliebsame ohne Gerichtsurteil einsperren lassen konnte, wusste nachher keiner mehr genau. Der Festungsgouverneur, der Marquis Bernard de Launay, verfügte über eine Garnison von 82 Invaliden und 32 Schweizer Soldaten. Aber draußen rotteten sich mindestens hunderttausend Pariser zusammen, unter sie hatten sich Soldaten gemengt, die nicht mehr auf ihre Offiziere hörten. An der Bastille hat die Revolution an diesem Tag ihre Unschuld verloren. Launay verlegte sich aufs Verhandeln und auf Deeskalation. Er werde nicht schießen, wenn er nicht angegriffen werde, erklärte er einer Abordnung. Er ließ sie sogar die Festung besichtigen, in der gerade mal sieben Häftlinge saßen, vier Fälscher und Betrüger, zwei Verrückte und ein Sittenstrolch. Aber er wollte keine Munition herausgeben, Befehle hatte er nicht. Was tun? Das Geplänkel zog sich bis in die Nachmittagsstunden hin. Die Menge, viele nur Schaulustige, auch Frauen in eleganten Kleidern, dürstete nach Taten. Sie drang in die vorderen Höfe ein, bis zur zweiten Zugbrücke. Da ließ Launay feuern. An die hundert Belagerer lagen in ihrem Blut. Nun gab es kein Halten mehr, das Volk raste. Bürger und 300 Gardesoldaten, angeführt vom Unteroffizier Hulin und Oberleutnant Elie, fuhren ihre Kanonen auf. Elie gab sein Offizierswort, dass keinem ein Haar gekrümmt werde, wenn die Garnison sich ergebe. Kurz nach 17 Uhr bot Launay die Kapitulation an und ließ die Tore öffnen. Die Men- schen stürzten hinein, was galt jetzt noch das Ehrenwort eines Leutnants? Dies war kein Gefecht nach den ritterlichen Regeln der Kriegskunst. Drei Offiziere und drei Soldaten wurden an Ort und Stelle umgebracht, man ergriff den armen Launay, schleppte ihn zum Rathaus, schlug und beschimpfte ihn. Dann steckte sein Haupt auf einem Dreizack. Ein Kochgehilfe namens Desnot, der aus Neugier zur Bastille gekommen war, hatte den Kopf des „Monsters“ mit seinem Taschenmesser abgesäbelt. Enthauptet wird auch der des Verrats beschuldigte alte Bürgermeister Flesselles; die Köpfe der Unglücklichen werden im Garten des Palais Royal ausgestellt. Rädelsführer legen schwarze Listen mit weiteren Todeskandidaten an. Illustre Namen sind dabei: der Bruder des Königs, der Kriegsminister Victor François de Broglie, General Besenval, der nun mit seiner Truppe die Stadt verlässt, viele andere. An der Bastille hat die Revolution an diesem Tag ihre Unschuld verloren. Sie hat eine lange Serie von Gräueln eröffnet, die noch kommen werden. Die braven Bürger von Paris schaudern, das haben sie nicht gewollt. Und die ersten Adligen, auch die beiden Brüder des Königs, fliehen ins Exil, um vom Ausland aus den Kampf aufzunehmen. Der Buchhändler Ruault sieht „unabsehbare Folgen“ voraus und notiert: „Der Dienstag hat die Macht des Königs vernichtet.“ Ludwig in Versailles, der die Pariser Geschehnisse zunächst nur für einen der üblichen periodischen Tumulte hielt, war an diesem 14. Juli jedenfalls nicht auf die geliebte Jagd gegangen. Deshalb trug er in sein Tagebuch, in dem er normalerweise seine Beute vermerkte, nur lapidar ein: „Nichts.“ Der Sturm auf die Bastille ging in die Legende ein, der 14. Juli wurde der nationale Feiertag der Revolution. Bedeutsam und unheildräuend war er, weil sich der noch ferne Terror ankündigte: ein Vorbote des Bürgerkriegs. Doch weder die Revolutionäre noch die Höflinge hielten den Fall und die Schleifung der Festung für einen Höhepunkt oder ein kapitales Ereignis, eher für eines, das unter Vermischtes fiel. Die Unruhen setzten sich ja in den nächsten Tagen fort, die Gerüchte waberten weiter, noch mehr Köpfe wurden abgeschnitten und wie Trophäen auf Piken herumgetragen. Zur Wiederherstellung der Ordnung stellten die braven 31 Dafür war er bereit, sich vor dem rebellischen Volk zu verbeugen. Persönlich teilte er den Abgeordneten der Nationalversammlung den Rückzug der Truppen mit. Er willigte ein, Necker wieder in seine Funktionen einzusetzen. Und am Freitag, dem 17. Juli, begab er sich nach Paris. Als Bailly ihm die Schlüssel der Stadt überreichte, erinnerte der neue Bürgermeister an den guten König HeinZum ersten Mal schienen sogar die rich IV.: „Er hatte sein Volk wiedergeInteressen der Parlamentarier und des wonnen, hier hat das Volk seinen König Königs zusammenzufließen: Beide Sei- wiedergewonnen.“ Dieser große Tag, ten fürchteten Chaos und Anarchie. Sei- meinte Bailly, werde nie vergessen, es ne Umgebung, auch Marie Antoinette, sei der schönste der Monarchie, die Zeit riet Ludwig, sich nach Metz abzusetzen einer erhabenen, ewigen Allianz zwiund dort loyale Truppen zusammenzu- schen dem Herrscher und dem Volk. Ludwig murmelte: „Mein Volk kann ziehen. Aber der Charakter des Königs war nicht so. Er suchte den Ausgleich. sich immer auf meine Liebe verlassen.“ Bürger der Hauptstadt eine Miliz auf, deren Kommando der Marquis de La Fayette, gewählter Vertreter des Adelsstandes und Held des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, übernahm. Und der Präsident der Nationalversammlung, Bailly, trat nun das Amt des Bürgermeisters an – im Namen des Volkes, nicht mehr des Königs. 32 An seinen Hut steckte man die neue blau-weiß-rote Kokarde: blau und rot, die Farben der Stadt Paris, dazwischen das Weiß der Monarchie. Draußen rief das Volk: „Vive la nation!“ Und nicht: „Vive le Roi!“ Der Botschafter der jungen USA in Paris, Thomas Jefferson, war als Augenzeuge beim Empfang im Rathaus dabei. „Es war eine gefährlichere Szene“, schrieb er, „als alle, die ich in Amerika gesehen habe oder die Paris in den letzten fünf Tagen geboten hat. So endet eine Abbitte, wie sie kein Herrscher jemals geleistet und kein Volk jemals entgegengenommen hat.“ Der Sieg in Paris blieb nicht isoliert. Im ganzen Königreich folgten die Städte dem Beispiel der Hauptstadt, setzten, gestützt auf die öffentliche Meinung, neue SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 BRIDGEMANART.COM Eroberer der Bastille vor dem Pariser Rathaus Gemälde von Hippolyte Delaroche GEBURT DER REVOLUTION dalsystems. Ludwig sträubte sich, nahm Zuflucht zu Verfahrenstricks, taktierte und lavierte. „Ich werde niemals einwilligen, meinen Klerus, meinen Adel zu berauben“, hatte er dem Erzbischof von Arles geschrieben. Zugleich rief er wieder Truppen herbei: Am 23. September traf das Flandern-Regiment in Versailles ein. Was hatte Ludwig vor? Ganz Paris fühlte sich bedroht, die Obstruktion des Monarchen löste die dritte Krise mit der Nationalversammlung aus, nach der vom Juni und Juli. Und abermals handelte das Volk von Paris, immer noch ausgehungert, von steigender Inflation und Arbeitslosigkeit geplagt. Alle forderten den Rückzug des Regiments – vor allem nachdem berichtet worden war, die Offiziere hätten bei einem Bankett die Trikolore mit Füßen getreten – und die Zustimmung des Königs zu den Dekreten der Nationalversammlung. Am 5. Oktober bildete sich am Rathaus ein Zug, hauptsächlich von Frauen, vorneweg die berüchtigten Fischweiber, der zum Schloss nach Versailles aufbrach. Sie wollten dem König ins Gesicht sagen, was das Volk von ihm wünschte: Brot und Botmäßigkeit. Im Morgengrauen des nächsten Tanenaufgang“ nannte Hegel die Französische Revolution in seinen Berliner Vor- ges drangen Demonstranten nach durchlesungen zur Philosophie der Geschich- wachter Nacht in das Schloss ein, es gab te: „Ein Enthusiasmus des Geistes hat Tote auf beiden Seiten, die Menge gedie Welt durchschauert, als sei es zur langte bis zu den Gemächern der Köniwirklichen Versöhnung des Göttlichen gin, die, kaum bekleidet, gerade noch entkam. La Fayette mit seinen Nationalmit der Welt erst gekommen.“ Artikel 3 der Menschenrechtserklä- garden, die dem Zug gefolgt waren, retrung bestimmte ausdrücklich die Nation tete die Situation. (und bezeichnenderweise nicht das Volk, nach den Gewalterfahrungen mit dem „Nach Paris! Nach Paris!“, rief einPariser Pöbel und den zerlumpten Bau- hellig das Volk. Das Unerhörte geschah, ern) zum Ursprung und zur Trägerin je- der König willigte ein, die Menge jubelte der Souveränität. Aber damit war die ihm zu. Erst in der Niederlage gewann Machtverteilung zwischen König und Ludwig XVI., wie schon ein paar Mal Nationalversammlung nicht geklärt. zuvor, seine Popularität zurück. Sollte der Monarch ein uneingeschränkNoch am selben Nachmittag eskortes Vetorecht gegen die Entscheidungen tierte ihn, seine Frau und den Kronprinder Abgeordneten bekommen, wie die zen ein phantastischer Zug von über Fraktion der „monarchiens“ meinte? 30 000 Menschen – Frauen, Soldaten, Oder musste er alles exekutieren, was Nationalgarden, Gaffer und Mitläufer – die Legislative als Souverän beschloss? nach Paris in den Tuilerien-Palast. Die Damit hielten es die „patriotes“, ange- Mitglieder der Nationalversammlung führt vom unbeirrbaren Abbé Sieyès. Am folgten ihm. Die Frauen trugen Gewehre, 11. September stimmte die Nationalver- die Soldaten hatten Brotlaibe auf die Basammlung einem Kompromiss zu, der jonette gespießt. Die Pariser genossen dem König ein aufschiebendes Veto für das Spektakel der Ankunft. die Dauer von zwei Legislaturperioden Ludwig XVI. hatte keine Untertanen (zu je zwei Jahren) einräumte. mehr. Er war selbst der Untertan seines Fehlte noch die Unterschrift des Kö- Volkes geworden, das fortan über ihn nigs unter die Beschlüsse vom 4. und 11. wachte wie der Aufseher über seinen August, also die Abschaffung des Feu- Gefangenen. tionalversammlung zerstört das Feudalregime vollständig.“ Der Bruch mit jahrhundertealten Vorrechten von Adel und Kirche, urteilt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler, „war ein Signal, das in ganz Europa gehört wurde“. Es ging Schlag auf Schlag. Schon am 26. August verabschiedete die Nationalversammlung einen weiteren Beschluss von weltgeschichtlicher Bedeutung: die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (siehe Seite 44). Der erste Entwurf stammte von La Fayette, der sich Auf dem Lande breitete sich derweil am amerikanischen Vorbild orientierte in der zweiten Julihälfte und im August und sich bei der Abfassung von Jefferson die „große Angst“ aus, wie spätere His- helfen ließ. Die Revolution hüllte sich toriker das Phänomen nannten: eine kol- in eine universelle Fahne, der bürgerlilektive Panik mit irrationalen Zügen, die che Individualismus mit seinem Streben von der allgemeinen sozialen und wirt- nach Freiheit und Eigentum hatte nunschaftlichen Unsicherheit genährt wur- mehr seine große Charta. Frankreich, de. Ein lokaler Zwischenfall, oft schon mehr als Amerika, war die Heimat der ein Gerücht, genügte, um alles aus dem Menschenrechte geworden. Die PhiloRuder laufen zu lassen, zumal die Bauern sophen der Aufklärung hatten die Fackel keine verlässlichen Nachrichten aus der weitergegeben. Einen „herrlichen SonRäte, Verwaltungen und Ordnungshüter ein. In die Nationalgarden strömten mehr Freiwillige, als man aufnehmen und bewaffnen konnte. Ob Dijon, Rouen, Nantes, Bordeaux oder Lyon – überall gewannen die Provinzmetropolen plötzlich größere Autonomie als unter der königlichen Intendanz. Der Bruch mit dem Verwaltungszentralismus brachte der Bourgeoisie und ihren Städten Freiheit, ohne die politische Einheit des Königreichs zu gefährden. „Ein Signal, das in ganz Europa gehört wurde.“ Hauptstadt bekamen. Sie fürchteten um ihre Ernte, sahen in ihrer Vorstellungswelt überall Vagabunden und Marodeure, erwarteten die Söldnerheere eines aristokratischen Gegenschlags oder eine ausländische Invasion. Mancherorts griffen bewaffnete Bauern Schlösser und Abteien an, zerstörten die Archive mit ihren Grundbüchern und Lastenheften. Aus dem allgegenwärtigen Misstrauen konnte jederzeit ein Flächenbrand entstehen. Gerade weil sie so wenig geplant, organisiert und zielgerichtet war, bedrohte diese dritte revolutionäre Kraft der wehrhaften Bauern auch die bürgerliche Revolution. Die Nationalversammlung war gefangen in ihrem Anspruch, das Volk – auch das „einfache“ Volk – zu vertreten. Der Einsatz von Gewalt verbot sich. Die Revolution musste den Ärmsten in Stadt und Land etwas geben, wenn sie das Feuer löschen wollte. So beschloss die Nationalversammlung in einer berühmten Nachtsitzung vom 4. August nicht weniger als die Beseitigung des Feudalsystems, der Steuerprivilegien, der persönlichen Gutsuntertänigkeit, der grundherrlichen Gerichtsbarkeit, der Jagd- und Fischereirechte des Adels sowie die Abschaffung des Kirchenzehnten. Eine Woche später bestätigte sie in Form eines Dekrets: „Die Na- SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2010 33