1 Grossmütter Revolution Autonomie im Alter – Abhängige

Werbung
1
GrossmütterRevolution
AutonomieimAlter–AbhängigeUnabhängigkeit
Frühlingstagung14.April2016
LiebeGrossmütter,liebeFrauen
HerzlichenDankfürIhreEinladung,andiesemNachmittagüberAutonomieimAlterreferieren,mit
IhnennachdenkenundIhnenzuhörenzudürfen.SiehabensichjabereitsmiteinerzentralenFrage,
nämlich:„wasistfürmichAutonomie?“ineinemWorkshopauseinandergesetztundsichkonkret
persönlichaufIhreErfahrungenmit„Autonomie“eingelassen.MeinAuftragistes,Ihnenals
PhilosophineinigeGedankenzudiesemThemavorzulegen,„Autonomie“quasizuproblematisieren,
umdannkontroversgemeinsamzudiskutierenundeigeneIdeenundVorstellungenweiterzutreiben.
ZumAuftraggehörtauch,dassichmichindenDenk-TraditionenvonFrauenumschaueundIhnen
gewisseIdeenvonVordenkerinnenpräsentiere.
IchmöchtemichIhremFrühlingsthema„AutonomieimAlter-AbhängigeUnabhängigkeit“indrei
Fragmentenannähern.IneinemerstenZugangwillichdieEntwicklungderAutonomie,alsoder
Selbstbestimmungnachzeichnen,wiesichdiesfürFrauenangebotenhatteundwiewirsieheute
kritischüberdenkenkönnen.IneinemzweitenFragmentwillichdasUngleichgewichtzwischen
AutonomieundAbhängigkeitschärfenundderFragenachgehen,warumAbhängigkeitspontan
vermiedenodergarverleugnetwird,UnbehagenodergarÄngsteauslöst.Undschliesslichmöchteich
imdrittenundletztenFragmentdenAkzentvonderAutonomieverschieben,undzwaraufmeine
VorstellungvonIntegrität-in-Abhängigkeitsverhältnissen.
Ichbin–altersmässig–wohlehereinerIhrerTöchter.AlskulturelleTochterhabeichvonIhren
politischenKämpfenummehrRechteundvonIhrenVorstellungenvonweiblicherSelbstbestimmung
profitiertunddahervielesinmeinemLebenundArbeiteneigenständiggestaltenkönnen.Dassich
eineGenerationjüngerbin,zeigtsichwahrscheinlichauchindenGedanken,dieichIhnennun
vorstellenmöchteunddievielleichtfürSiebefremdendanderssind.Vielleichtgelingtesmir,Sie
durcheinanderzubringen…
1.Fragment:vonderSelbstlosigkeithinzurSelbstbestimmung
EineselbstbestimmteFrauzuseinundautonomzuleben–daskennenSiesicherlichalle–istgerade
nichtselbstverständlich,sondernsetzteinenmutigenProzessvoraus.DieZüricherPhilosophin
BrigitteWeisshauptskizziertdiesenProzessalsWegindreiEtappen:erstEtappe:dieverordnete
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
2
Selbstlosigkeit,zweiteEtappe:eineoftirritierende,verunsicherndeSelbstsucheundschliesslichdie
dritteEtappe,dieSelbstbestimmung.1
Nochinden50er-Jahrendes20.JahrhundertswarderWegfüreinejunge,bürgerlicheFraumeist
vorbestimmt,nämlich:HeiratundMutterschaft.JungeFrauenfügtensichdamalsmehrheitlichnoch
selbstverständlichindieRollederEhefrau,derMutterundderfreiwilligeHelferindesberufstätigen
Ehemannes.Esgaltalsselbstverständlich,dasssiesichindiesegesellschaftlichenVorgaben,ineine
EheeinfügtenundeineNormbiographiequasiübernahmen,dasssiekaumnachihrenBedürfnissen
gefragtwurdenunddemMannunddenKindernzudienten.DieseFrauengaltenalsselbst-lose
FrauenundihreSelbstlosigkeitwurdechristlichüberhöhtundgesellschaftlichanerkanntundauchim
Eherechtverankert.Selbstlosigkeit,wiesievonFrauenjenerGenerationverkörpertwordenist,
wurdezueinemVerhaltenscodexundzueinerweiblichenTugendschlechthin.EineFrauwardann
eineanständigeEhefrauundeinenguteMutter,wennsiesichselberaufopfertefürandere.Und
selbstwennFrauendamalsberufstätigwerdenwolltenoderarbeitenmussten,hattensieihre
TugendderSelbstlosigkeitmiteinemBerufzuvereinbarenundfolglicheineneherdienenden,eben
weiblichenBerufergreifenmüssen.
SelbstlosigkeitwurdedenFrauenquaGeschlechtzugeordnetundalsTugendveredelt.Diese
spezifischeSelbstlosigkeitalsverordneteTugendistauszweiGründenheikel:EineTugendistjaein
Wert,fürdenmanausfreierEntscheidungundauseigenerÜberzeugungeinsteht.Wirdnunein
Wertverordnetunddamitaufgezwungen,wirddiefreieEntscheidungmissachtet.Alsverordnete
TugendverliertSelbstlosigkeitseinenWertfürFrauen:ihreWahlwurdeübergangen.Heikelist
Selbstlosigkeitzumzweiten,weilsieFrauenzuFrauenohneeinSelbst,alsozuPersonenohneeinIch
werdenlassen.FrauenmusstenalsoihrSelbstignorierenodergarloswerden,umtugendhaftzu
lebenundgesellschaftlichanerkanntzuwerden.Erstwennsieselbstloswaren,wennsiePersonen
ohneIchwaren,galtensieinderGesellschaftalsrichtige,alsoangenehmeundangeseheneFrauen.
DieÜberwindungderverordnetenSelbstlosigkeitbeginntindividuellmiteineroftauchirritierenden
Selbst-SucheundkollektivmitdemProzessderEmanzipation.Dasnochimmerkulturellstark
wirksameBildweiblicherSelbstlosigkeitundweiblicherOpferbereitschafterschwertdenFrauenoft
dieEntwicklungeinesSelbstalsnotwendigeVoraussetzungzurSelbstbestimmung.Daherwarundist
dieEmanzipationeinwichtigerSchrittderkollektivenBefreiungausherrschendenVorstellungen,wie
Frauenzuseinhattenbzw.wannFraueinerichtigeFrauwar.Frauen-Emanzipationverstandsichals
BefreiungausdenherrschendenkulturellenVorgaben,ausderBevormundungdesPatriarchats,das
vorschrieb,wieFrauenseinsollten,unddiesepolitischeBefreiungbotineinemspäterenSchrittdie
Möglichkeit,selberzuentwerfen,wieFrauenseinwollten.Emanzipationwarpolitischein
1
Vgl.Weisshaupt,Brigitte:SelbstlosigkeitundWissen,in:Conrad,Judith/Konnertz,Ursula(Hg.):Weiblichkeitin
derModerne.AnsätzefeministischerVernunftkritik,Tübingen1986,S.21-39
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
3
Aneignungsprozess:dasStimm-undWahlrecht,derGleichstellungsartikel–alldiese
ErrungenschaftenbotendieChance,denöffentlichenRaumanzueignenundmitzugestalten.Als
GrossmütterwerdenSiedieseZeitenderFrauenbefreiungsbewegungen,derfarbig-erfolgreichen
Demonstrationender70erJahreunddesFrauenstreiktagsvon1991miterlebthabenundsich
erinnernkönnen.
Emanzipation–obindividuelloderkollektiv–kannalsozueinerSelbstbestimmungführen.Befreit
ausfremdenVorgabenkanndieFraualspolitischesSubjektübersichselberverfügenund
bestimmen;siewirdsoautonom.Inderherkömmlichengesellschaftspolitischenund
philosophischenTraditiongeniesstSelbstbestimmungeinenhohenStellenwert:esistdieKrönung
desMenschen.DerMensch,obMannoderFrau,istselbstbestimmt,wennerodersieüberVernunft
verfügtundmitdieserVernunftbegabungeigeneEntscheideüberdenken,angemessenhandelnund
sichselberkritischreflektierenkann.ErstdieVernunftundderWille,dieseVernunftauch
anzuwenden,befähigendenMenschenzurAutonomie.Autonomieheisst:derMenschistmithilfe
derVernunftfähig,sichseineigenesmoralischeGesetzzugebenundgemässdiesemGesetzzu
leben,alsoeineeigene,vernünftigeundnachvollziehbare,alsoeinemoralischfairePraxis
einzuhalten.Selbstbestimmungbedeutet,dassichvernünftigmitmirundmitdenanderen
MenscheninmeinemnäherenundweiterenUmfeldumgehe.Damitwirdzweierleiklar:Erstenswird
deutlich,dassSelbstbestimmungzwingendandieVernunftzurückgebundenist.OhneVernunftkeine
Selbstbestimmung.Zweitenswirdklar,dassSelbstbestimmungnurineinerWechselwirkung
entstehenundpraktiziertwerdenkann:meineSelbstbestimmungistbereichertundbegrenztdurch
dieSelbstbestimmungandererMenschen.DieindividuelleSelbstbestimmungwirdfolglichvonjener
derAnderenbegrenzt.
SelbstbestimmungistphilosophischgesprochenkeinFreipassfüregoistischesVerhalten.Vielmehr
willSelbstbestimmungdeneinzelnenMenschen,FrauenwieMännern,einmöglichsteigenständiges,
freiesLebeneröffnen.SelbstbestimmungverstehtsichalsonurausdemProzessderEmanzipation
herausundmussmitderWechselwirkungderSelbstbestimmungdesAnderenzusammengedacht
werden.
DieserWegvonderverordnetenSelbstlosigkeitüberdieSelbstsuchehinzueinerSelbstbestimmung
istsowohleinindividuellerProzesseinerjedenFrau,aberaucheinvielfältigerkollektiverProzessder
Frauenbewegungen.PerspektiveodergarZielindiesenProzessenistimmereineEmanzipation,eine
BefreiungvonfremdenZuschreibungenundzugleicheineBefreiunghinzueinerweiblichenFreiheit.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
4
VielleichtahnenSieesbereits:ichbinskeptischgegenüberdiesertraditionellenVorstellungvon
Selbstbestimmung.SieerscheintmirdeutlicherdennjeeineverhängnisvolleFiktion.MeineSkepsis
beruhtaufzweiGründen:
DernachskizzierteWegvonderSelbstlosigkeithinzurSelbstbestimmungfolgteinermir
unheimlichenFortschrittslogik.EineFortschrittslogiknachdemMuster:immerbesserundimmer
mehr….EsisteinFortschrittvonderSelbstlosigkeitindieSelbstbestimmung.Undesistquasiauch
eingesellschaftlicherzwungenerFortschritt:jedeundjedermussdiesenWeggehen,willerodersie
alserwachsenePersonrespektiertwerden.Soverwunderteskaum,dassindieserLogikeine
VeränderungderSelbstbestimmungzwingendeingravierenderVerlust,einharterEinbruchim
eigenenLebenseinmuss.WerimAlterwenigerSelbstbestimmungerreichtodererfüllenkann,erlebt
einenbedauernswertenMangel–undfälltherausausdieserKrönungderMenschen.
UndzweitensistdieklassischeSelbstbestimmungzwingendandieVernunftzurückgebunden.Nun
istaberauchdieVorstellungvonVernunftgeprägtvoneinerpolitischenAufklärung,dieihrerseits
denweissenmittelständischenMannundseineErfahrungenzurNormerhebt.2Isteswirklichdiese
halbierte,männlicheVernunft,dieunsereVorstellungvonSelbstbestimmungprägenund
einschränkensoll?
2.Fragment:AutonomieundAbhängigkeit–ständigeinKonflikt
Autonomie,daswillichnochmalshervorstreichen,istinunsererGesellschafteinzwingendzu
erreichendesZiel,eineunausweichlicheVorgabe.Esgibtdiese(normative)Selbstverständlichkeit:
manwillautonomsein.UndesgibtdiesensozialenDruck:manmussautonomseinundesauch
unbedingtbleiben.WirlebenineinerZeit,dievomImperativgeprägtist:Seiautonom!Daszeigtsich
beispielsweiseauchimneuenErwachsenenschutzrecht,dasdieSelbstbestimmungzumobersten
Gebotmacht.Gleichzeitigistebensoklar,dassniemandabhängigwerdenwill,dassAbhängigkeitein
Zustandist,denmanvermeidenmuss.EsbestehtalsoeinekrasseAsymmetrie.Diesesfrappante
UngleichgewichtzwischenAbhängigkeitundUnabhängigkeitmöchteichimzweitenFragmentetwas
schärfen.
DieSelbstbestimmungdertraditionellenPhilosophieunddieEmanzipationderFrauenbewegung–
beideMomentebeschreibeneinIdeal.AlsIdealistSelbstbestimmungundEmanzipationein
Leitstern,eineOrientierungshilfeimLeben;aberalsIdealsindsienichteinfachzukonkretisierenund
imAlltagumzusetzen.
2
Vgl.Weisshaupt,Brigitte:SchattenüberderVernunft,in:Nagl-Docekal,Herta(Hg):FeministischePhilosophie,
Wien/München1990,136-157.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
5
ImAlltagerfahrenwirFrauenunsseltenalsausschliesslichautonom.EinigealltäglicheBeispieleaus
meinemeigenenLebenskontext:
*IchmachemorgensFrühstückundschneideBrot.Damitistbereitsausgesagt,dassichvomBäcker
oderderBäckerinabhängigbin,diemirBrotverkauft.DerBäckerwiederumistvomBauerabhängig,
derKornanpflanzt.–DieArbeitsteilunginunsererGesellschaftverweistdarauf,dasswirständig
voneinanderabhängigsindunddassindieserAbhängigkeitdieSelbstbestimmungbegrenztist.Ich
kannwählen,welchesBrotichkaufenwill,beiwelchemBäckericheinkaufenwill,obichselberBrot
backenwilloderobichüberhauptBrotzumFrühstückessenwill,etc.WirlebenmitanderenWorten
ineinerGesellschaftsordnungundvorallemauchineinemWirtschaftssystemderArbeitsteilungen.
IndenherrschendenVerhältnissensindwiraufgrundderArbeitsteilungfundamentalvonanderen
Menschenabhängig,dieihrerseitsspezifischeArbeitenmachen.DieseArbeitsteilungerfasstnicht
nurdieLohnarbeit,sondernauchdieprivateAufteilungvonArbeitenimHaushalt.
GeheichzurArbeitinmeinePraxis,binichdavonabhängig,dassdiePatientinnendieTermine
einhalten,dasssiesicheinigermassenangemeinsamvereinbarteRegelnhalten,dassdie
KrankenkassendieHonorarezahlen,dassderVermietersichandenMietvertraghält,etc.–Auchin
konkretenunmittelbarenprofessionellen(Arbeits-)Beziehungenbinichabhängig.Diesozialen
VerhältnissewiderspiegelnsichauchinprofessionellenBeziehungsarbeiten.
UndinderNachbarschaftunseresMiethausesbinichauchvonderFreundlichkeitder
Mitbewohnerinnenabhängig.–DieAbhängigkeitzeigtsichmitanderenWortenauchinden
halböffentlichenVerhältnissen.
UndauchalsTochterwarichaufdieZuneigungundFürsorglichkeitmeinerElternbzw.Mutter
angewiesen,alsMutterbinichwiederumaufeinegewisses„MitmachenundMitspielen“derKinder
angewiesenundalsGrossmutter,daswerdenSiemirbestästigen,werdeichauchdaraufangewiesen
sein,dassmirmeineTochterdenZugangzudenEnkelinnennichtverbietet.–ImprivatenRahmen
derFamilienwirddeutlich,dassdieGenerationenuntereinanderaufvielfältigeWeisevoneinander
abhängigsindunddasszugleichderImpuls,ausdieserAbhängigkeitherauszukommen,starkistund
Widersprüchegeneriert.
Selbstjetzt,wennichhiermeineGedankenausbreiteunddanachmitIhneninsGesprächkommen
möchte,binichdaraufangewiesen,dassSieebenfallsinsGesprächkommenwollen.Zwarhabeich
meineAusführungenausgewähltundstrukturiertunddamitmeineSelbstbestimmungausgelebt,
zugleichbinichvonIhremWunschnachAustauschabhängig.
Ichkannalsonichtselbstbestimmtsein,ohneinKonfliktmitvielfältigenFormenvonAbhängigkeiten
zugeraten.UnserezentraleErfahrungalsFrauen(undMänner)sindAbhängigkeitsverhältnisse–und
dieAutonomiemüssenwirunserringenunderarbeiten.ZugleichistebensozentraldieErfahrung,
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
6
dasswirauchmiteinergewissenSelbstständigkeitnieganzfreivonAbhängigkeitensind.Inden
realenVerhältnissenunseresLebensundunseresAlltagesistAbhängigkeitunmittelbarpräsent–und
zwarindenöffentlichenherrschendenVerhältnissenebensowieindenprivatenVerhältnissen.
Warumalsoistdenn‚Abhängigkeit‘einsoschwierigesPhänomenundphilosophischein
stiefmütterlichbehandeltesThema?
InmeinerRechercheistmiraufgefallen,dassfeministischeVordenkerinnengewisseAlternativen–
imSinneeinesAuswegesausderDualitätAbhängigkeit-Unabhängigkeit–anbieten.Zweidieser
Denk-Richtungen,diederSelbstbestimmungkritischgegenüberstehenunddieseausFrauensicht
erweiternwollen,willichIhnenvorstellenundskizzieren.
EinedieserAlternativenhatCarolGilligenmitihrerPolitisierungderFürsorgevorgeschlagen.3Sie
gehtdavonaus,dassjederMensch,geradeinderKindheitundimErwachsenwerden,aufFürsorge
angewiesenistunddassdieseFürsorgeGrundlagenichtnurindividuellerEntwicklungen,sondern
auchderMitmenschlichkeitunddergesellschaftlichenGerechtigkeitist.Fürsorglichkeit,so
beobachtetGilligan,istjedochwiedereineeherweiblicheTugend.DamitFürsorglichkeitnicht
wiederzueinerverordnetenSelbstlosigkeitwird,fordertGilliganeinePolitisierungderFürsorge:
Frauen(undauchfürsorglicheMänner)sollensichkritischbefragen,wemsiewieFürsorge
zukommenlassenwollen,undentsprechenddiesereigenenReflexionauchauswählen.Geradeinder
Möglichkeit,dieeigeneFürsorglichkeitgezielteinzusetzenundbewusstauszuwählen,werdavon
profitierensoll,geradedarinliegteinMomentderSelbstbestimmung.DerVerdienstvonCarol
Gilliganwarundistes,denAspektnotwendigerBeziehungsarbeithervorzustreichenunddas
KonzeptderAutonomieindenKontextvonBeziehungenzustellen.
InderNachfolgevonCarolGilligankritisiertenfeministischePhilosophinnenwieElisabethConradi
dasParadigmadesautonomen(klassisch-philosophischen)Subjektsalsbindungsloses,eher
autistischesSubjektundentwarfeneinanderesVerständnisvonMensch-sein.DasSubjekt–Frau
oderMann–istgrundlegendkörperlichundinvielfältigenBeziehungen,istfolglichwiederumnurso
weitüberhauptselbstbestimmt,wieesdereigeneKörperundderAustauschmitanderenMenschen
zulassen.4
DieserAnsatzderpolitisiertenFürsorglichkeitwurdewiederumvonderCare-Bewegungaufgegriffen
undweitergetrieben.SolenkendieVertreterinnenderCare-ÖkonomiedasAugenmerkaufdie
unbezahlten,freiwilliggeleistetenArbeitenimPflege-undVersorgungsbereich,dervorallemvon
FrauenerbrachtwirdundinkeinerVolkswirtschaftsrechnungauftaucht.DieVerfechterinnender
Care-ÖkonomiewollendieklassischeAufteilung–hierdiegewichtigeÖkonomie,dortdasbanale
3
4
Gilligan,Carol:DieandereStimme.LebenskonflikteundMoralderFrauen,München1984.
Vgl.Conradi,Elisabeth:TakeCare.GrundlageneinerEthikderAchtsamkeit,Frankfurt2001.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
7
Haushalten–unterwandern,dieArbeitsverhältnissevonproduktiverLohnarbeitundreproduktiver
Care-Arbeitsichtbarmachen,kritischbefragenundeigenständiginterpretieren.5InaPraetorius
drehtdieVerhältnisseum,wennsiepointiertformuliert:„WirtschaftistCare“.6
EineandereAlternativebietendieDiotima-Frauen,einKollektivausItalien,dasgemeinsamdenkt
unddeneigenenAlltagbeschreiben,verstehenundvermittelnwill.IhrersterPaukenschlagistdie
Einsicht,dassdieEmanzipationeineGabe/einGeschenkdesPatriarchatsistunddieFrauenweiterhin
inAbhängigkeithält:DenndiegesellschaftspolitischeEmanzipationhabedieFrauennur
vordergründigausderBevormundungderMännerbefreit.NachdemZweitenWeltkrieghätteman
denFrauenetwasmehr(juristischverankerte)Rechteeinräumenmüssen,eineStrategie,die
langfristigwiederumdieFrauenstillgestellthätte.DieFrauenhättensichmiteiner(vorbestimmten)
Emanzipationbegnügenmüssen,diedieFrauenindasGesellschaftsmodellderMännerintegrieren
unddiedenFrauenweiterhineinenklarumrissenenPlatzindieserGesellschaftundanderSeitedes
MannesinderEhevorzeichnenwürde.WenndieFrauendergeschenktenEmanzipationFolge
leisten,müssensiedieselbeVorstellungvonAutonomieundGleichstellung,aberauchähnlicheIdeen
zueinemGesellschafts-undGeschlechtervertragübernehmenundkönntenkeineeigenen
Vorstellungenentwickeln.7AusdiesemGrundlehnendieDiotima-FrauendieEmanzipationabund
kritisierendenFeminismusalsStaatsfeminismusheftig.IhrzentralesAnliegenisteinDenkender
Frauen,dasunmittelbarvomeigenenerlebtenAlltagausgeht,vondereigenenPraxisundeinem
eigenenErlebenvonFreiheit,kurz:zentralistes,vonsichselberauszugehen.8
Wasaberbedeutetes,vonsichselberauszugehen?
WennichvonmirundmeinenErfahrungenausgehe,erlebeichAbhängigkeitundSelbstbestimmung
gleichzeitigundkonfliktreich.Ichgehevonmiraus,vonmeinenErfahrungen,undzwarausmeinem
Lebenskontextheraus,undwillmichmitanderenFrauen(undMännern)imberuflichenwieprivaten
5
Vgl.Ryter,Elisabeth/Barben,Marie-Louise:Care-ArbeitunterDruck.EingutesLebenfürHochaltrigebraucht
Raum.HerausgegebenvonderGrossmütterRevolution,Bern/Basel2015.
6
Praetorius,Ina:WirtschaftistCare.Oder:DieWiederentdeckungdesSelbstverständlichen,Berlin
2015/HeinrichBöllStiftungBand16.Oderauch:Praetorius,Ina(Hg.).SichinBeziehungsetzen.ZurWeltsicht
derFreiheitinBezogenheit,Königstein/Taunus2005.
WerfürdiePflegevonbetagtenElternverantwortlichist,wirdoftmalswiederandieTöchterdelegiert
und/oderzumindestinnerhalbderFamiliendiskutiert.Hierwirdabermalsprivatisiert,wasöffentlichdiskutiert
undschliesslichauchvonderGesellschaftunterdemAspektdes„gutenZusammenlebens“politischverhandelt
werdenmuss.
7
Vgl.Muraro,Luisa:Nichtalleslässtsichlehren,Rüsselsheim2015.Vgl.Diotima(Hg.):MachtundPolitiksind
nichtdasselbe.Sulzbach/Taunus2012.Vgl.auchZamboni,Chiara:DenkeninPräsenz.Gespräche,Orte,
Improvisationen.Rüsselsheim2013.Undvgl.Hangartner,Li/Schmuckli,Lisa:DasAnderederPolitik,in:Neue
Wege5/2015,S.148-152
8
Vgl.Diotima(Hg.):DieWeltzurWeltbringen.Politik,GeschlechterdifferenzunddieArbeitamSymbolischen,
Königstein/Taunus1999.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
8
Alltagverbindenundaustauschen.IndiesemAustauschersterfahreichsinnlichmeine
Selbständigkeit:ichbringemicheinalsindividuelleFraumiteigenenIdeenundVorstellungen,mit
meinenÄngstenundFreudenundBedürfnissen,mitmeinenZweifelnundPlänenundWünschen.
GleichzeitigerfahreichauchindiesenAugenblickenmeineAbhängigkeitvomGegenüber.Ichbin
daraufangewiesen,dassmanmichhört,aufnimmt,dassmanmirantwortet.UndjusteineReaktion
desGegenübersschränktmeineSelbstbestimmungwiederein.
IndiesemAustauschentstehteinDurcheinander.9Wennichvonmirausgeheundmichaustauschen
will,wirdesimVerlaufedesProzesses/desGeschehensnichtmehrentscheidendsein,dassdies
meinGedankeist,dassdasihreIdeeist,dassdaseinklarumrissenerBeitragvonjenerist…Ichmuss
indiesemAustauschnichtmehrübermichselberbestimmen,mussmichnichtpermanentgegen
meinGegenüberabgrenzen,umsichtbarzumachen:Dasbinich!StattdemPrimatder
Selbstbestimmung(undderIdentitätslogik)folgeichderVertrauensbeziehung.Durch-ein-Ander
werdeichübermichselbermehrKlarheiterfahrenundzugleichimAustauschbleiben.
WennichdieserÜberlegungfolge,vonmirauszugehenundmichmitanderenauszutauschen,dann
geschiehtzweierlei:IchmusszumeinenmichselberundmeineunmittelbareWelt,inderichmich
verortetweiss,genauwahrnehmenundauchernstnehmenalsBasismeinereigenenPraxisundals
AusgangspunktmeinerpolitischenWünsche.IchmussetwasvonmirundmeinerWeltwissenund
erzählenkönnen,sodassichmichaustauschenundverbindenkannmitmeinenInteressenund
Wünschen.ZumandernwirdindiesemAustauschdeutlich,dasswirZeitbrauchen.DerFaktorZeit
spielthierrein:WahrnehmungundAustauschbewirkeneinewohltuendeEntschleunigung
gegenüberdemrasendenFortschritt.
AusdiesenAnregungenderVordenkerinnenstelleichnunfolgendesfest:Ichdenke,dassdasPrimat
derSelbstbestimmungunserenAlltagnichtnurdominiert,sondernauchinUnordnungbringt.Ja,Sie
hörenrichtig:diesespezifische,eindimensionaleSelbstbestimmungbringtunserenAlltagin
UnordnungundineinebedrohlicheSchieflage.DenndieSelbstbestimmungwidersprichtunseren
Erfahrungenundverlangtvonuns,unsaufeinespezifischeWeiseanherkömmlicheNormen
anzupassen.DieseUnordnunggiltes,wiederaufräumen.
DieUnordnungzeigtsichschmerzlichauchdort,woderVerlustdereigenenSelbstbestimmung
ebensoAngstauszulösenvermag,wiederVersuch,Selbstbestimmungfreiwilligzuüberdenken.
9
Vgl.Knecht,Ursulaundandere(Hg.):ABCdesgutenLebens,DwieDurcheinander,Rüsselsheim2012,hier
besondersS.52ff.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
9
3.Fragment:Integrität-in-Abhängigkeitsverhältnissen
SiebeschäftigensichmitderAutonomieimAlter,mitderabhängigenUnabhängigkeit(soder
Tagungstitel).WasalsokönnteichdaIhnenvermittelnundfürIhreeigeneBeantwortungdieser
FragenachderAutonomieimAlterbeitragen?
IchmöchtevonmeinenVordenkerinneneinigeAspekteherausgreifen,etwasEigenesdaraus
gestaltenundIhnenmeineigenesPuzzlealsGegenentwurfzueinertraditionellenSelbstbestimmung
präsentieren.FürmeineVorstellunggreifeichaufdreiZutatenzurück,dieichIhnenskizzierthabe:
dasVon-mir-Selbst-AusgehenistdieersteZutat,diezweiteistdasDurcheinander,diedritteistder
eigeneKörper,undschliesslichfügeicheineweitere,eigeneZutathinzu,nämlichIntegrität.
DieDiotima-FrauenbetonendieNotwendigkeit,vonsichselberauszugehen.Wieschonangedeutet,
bedeutetdiesfolgendes:Ichgehevonmiraus,vonmeinemKontextundmeinerPraxis,ichgehevon
meinenErfahrungen,ÜberlegungenundBedürfnissenaus,nichtjedoch,umwiederumbeimirzu
enden,sondernummichvondiesemAusgangspunktausmitanderenFrauen(undMännern)zu
verbinden.IchbringemeineErfahrungenausdemberuflichenundprivatenAlltagzurSprache,ich
kanndieseErfahrungenüberdenkenunddieGedanken,Wünsche,VorstellungenundGefühlemit
anderenaustauschen,ichgewinneEinsichtenübermeinePositionalsFrauindieserBerufsweltund
indieserunübersichtlichenGegenwart.IchkannRechenschaftdarüberablegen,wasmich
beschäftigt,wasmichumtreibt,wasmitmirgeschiehtundwasmichberührt.Ichkannalsomeine
WeltzurSprachebringenundmichsomitanderenaustauschen.Genauso,wieSieesnunim
EinstiegsworkshopzurFrage:wasistfürmichAutonomie?gemachthaben.DieDiotima-Gründerin
LuisaMuraroschreibtdazu:„WennwirunsalsoindiesemSinneinBewegungsetzen,istdie
wichtigsteEntdeckungdiedesSubjekts.ManentdecktdasSubjekt,sichselber,nichtinderPosition
desSubjekts,sondernvondemaus,wasesvervollständigt:ichfindemichinderBeziehungmit
anderen,bewohntvonErinnerungen,bewegtvomBegehren.IchfindealsoWünsche,diemichin
Bewegungsetzen,Erinnerungen,diemichbeschäftigen,anderenFrauenundMänner,diezumir
sprechenoderdiesogarstellvertretendfürmichsprechen,vielleichtauch,ummirzu
widersprechen!“10LuisaMurarobetonthiersehrdeutlich:nichtdieSelbstbestimmungzeichnetdie
Frauaus.VielmehrwerdeichzueinemSubjektFraudurchdas,wasmichvervollständigt.Das,was
michergänztoderbereichert,das,wasanderehinzufügen–erstdiesesMomentlässtmichzueinem
SubjektFrau,zueinereigenwilligenPersonwerden.IchinterpretierediesePassageso:Ichkenne
zwarmeinenAusgangspunkt,ichweiss,wovonichspreche,wennichvonmirausgehe.Abererstder
Austausch,erstdieErweiterungoderZugabevonmeinerGesprächspartnerinodervonmeinen
10
Muraro,Luisa:Vonsichselbstausgehenundsichnichtfindenlassen,in:Diotima(Hg):DieWeltzurWelt
bringen.Königstein/Taunus1999,S.18.38,S.35.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
10
GesprächspartnerinnenvervollständigtmichundlässtmichsozueinemIndividuumwerden.Der
BeitragderanderenistentscheidendfürmeinSubjektsein.AlsindividuelleFraubinichbegrenzt
vollständig;ichbenötigeexistentielldiekonkretanderenFrauen(undMänner),ummichselberund
meineWeltzuverstehen.ErstdieseErgänzungoderdiesesWidersprechenvervollständigtmich
etwasmehr,machtmichabernichtzueinerabgeschlossenen,verschlossenenPerson.Essindauch
dieseErgänzungenundWidersprüche,diemireinenanderenBlickaufmichermöglichen,mich
neugierigaufmichselberindieserWeltbleibenlassen.
DiesenotwenigeErgänzung,vonderLuisaMuraroindiesemAustauschspricht,setztAbhängigkeit
voraus.EsistjedocheineganzandereQualitätvonAbhängigkeitalsesdietraditionelleVorstellung
suggeriert.DieQualitätdieserhierangesprochenenAbhängigkeithatetwasmitSinnlichkeitundmit
Vermittlungzutun,bautaufderNeugierundaufdemMitteilenauf.
LassenSieesmichmitfolgendemBildsymbolisieren:ichbrauchedenSeeoderdasMeer,wennich
schwimmenwill,brauchedennassenWiderstanddesWassers,ummeineKraftimKörperzuspüren
undmeineBewegungauszuüben;ebensobraucheichandereFrauenunddengemeinsamen
Austausch,wennichmichalsFrauindieserZeitverstehenwill.
UndnocheinandererAspektistsozentralfürdasVon-sich-selber-ausgehen:nämlichdieErfahrung.
JetztgehtesnichtmehrumdenAustauschvonSelbsterfahrungen,jetztgehtesdarum,die
ErfahrungenalsunhintergehbarePraxisindiePolitikeinzubringen.LuisaMuraroschreibtdazu:„Die
ErfahrungistetwasUnverhandelbares,allerdingsisteskeinkonfliktfreies,geschweigedenn
definitivesUnterfangen,sieinWortezufassen.WennwirdenBezugzurErfahrungverlieren,
verlierenwirdieBedeutungdessen,waswirdankderErfahrungfindenkönnen,einschliesslichunser
Begehren.“11DieErfahrungenalsAusgangspunktunserespolitischenVerständnissesverankertunsin
derRealität,eröffnetunseineigenständigeInterpretationderGegenwartundverweistunsaufunser
Begehren.
MeinezweiteZutatistdasDurcheinander.Ichbehaupte,dassdieradikaleBevorzugungder
Autonomie,dassdiehartnäckiganhaltendeDominanzderVorstellung,autonomseinzumüssenbis
inshöchsteAlter–dassdieseVorstellungeinfurchtbaresDurcheinanderimZusammenlebenundim
eigenenSelbstverständnisschafft.
Wasgeschiehtdennmitmirindividuell,wennichpermanentbeweisenmuss,dassichselbständig
bin?WaspassiertmiteinerGesellschaft,wenndieseimmerwiederAutonomie,seitjüngsterZeit
politischverstärktunterdemLabel‚Eigenverantwortung‘,gnadenloseinfordertundzugleich
Menschen,diedieseAutonomieausvielfältigenGründenwieUnfälle,Krankheit,Geburtsgebrechen,
Alterbzw.Kindheitnichtleistenkönnen,subtilausgrenzt?
11
Muraro,Luisa:Nichtalleslässtsichlehren,Rüsselsheim2015,S.86.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
11
SeitKindsbeinenanlernenwirmeistunkompliziert,dasswiraufeinanderangewiesensind.Mitder
Geburtwirddeutlich,dassdaeinKleinkindaufjemandenangewiesenist,umüberhauptzu
überlebenundumindieWelteingeführtzuwerden.AlleMenschenwurdengeborenundwaren
abhängigKleinkinder.NatürlichgehörtauchdieErfahrungdazu,esselbermachenzuwollen/zu
können.Dasfröhlicheoderernsteoderexperimentelle:Sälbermache!desKindesverweistjagerade
auchaufdieAbhängigkeit,nämlich,dassderElternteiloderdieGrossmutterdemKinddenSpielraum
desExperimentesfreihält.
SeitKindsbeinenerfahrenwir,dasswirnurdurcheinanderzueigenständigenPersonenwerden,und
lernen,quasizumTrotz,dieseErfahrungzuverleugnenunddasIdealderSelbstbestimmung
hochzuhalten.GleichzeitigerahnenwirindiesemProzess,wiefragilundanstrengend,wiemühsam
undwunderbarSelbstbestimmungist.
SeitdenKindertagenwissenwir,dasswirfürdasSpielen,Lernen,Kochen,Reden,selbstfürs
TelefonierenoderStreitenaufandereangewiesensind.WirahnenmitdiesenErfahrungen,dass
Beziehungslosigkeit,UnverbundenheitodersozialeIsolationfürunslebensbedrohlichsind.
AlldiesekonkretensinnlichenErfahrungenfindenkaumodernurwenigEingangineinerweitertes
VerständnisvonSelbstbestimmung.DieklassischeAutonomie,dieaufeinemvernünftigengesunden
weissenSubjekt-MannaufbautundgegenwärtigverdächtigeautistischeZügeaufweist,dieses
VerständnisvonAutonomieentwertetzugleichjedeFormderAbhängigkeitundverlängertdie
massiveAsymmetrie.12
Das,waswirvonKindsbeinenanmitbekommenhaben,wurdeimVerlaufedesErwachsenwerdens
durcheinanderundineinegravierendeUnordnunggebracht,dieesjetztwiederaufzuräumengilt.
UnddasDurch-ein-Anderbetontgerade,dassdasAufräumenunddasVerstehen,wiewirgemeinsam
dasZusammenlebenund–arbeitengestaltenwollen,nurdurcheinanderfunktioniert,seltener
gegeneinander,sicherlichnichtohneeinander.HiersetzenimDurcheinanderdie
Vertrauensbeziehungenein.
WirtreffenunshieralsFrauen,alsGrossmütter.Wirsindkörperlichpräsent.DieFürsorglichkeit,die
SieTöchternundSöhnen,EnkelundEnkelinnenzukommenliessenundweiterhinzukommenlassen,
istgrundlegendkörperlich,sinnlich.WirsindhieralsTöchter,diegeborenwordensind,undals
Frauen,diemöglicherweiseauchgeborenhaben.DereigeneKörperistinunseremAlltagpräsent.
UnserKörperistmalunserTempelderLust,malHölledesSchmerzens,malHeimatderSeele,mal
TrägerdesKopfs...Waswirsehen,fühlen,spüren,riechen,kosten,waswirträumenunddenken,was
12
Vgl.zurÜberwindungderklassischmännlichkonnotiertenAutonomiebeispielsweise:Knecht,Ursulau.a.:
ABCdesgutenLebens,Rüsselsheim2012,oder:Welch,Sharon:GemeinschaftendesWiderstandesundder
Solidarität.EinefeministischeTheologiederBefreiung,Freiburg1988.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
12
wirwahrnehmenundausblenden,wenimmerwirumarmen,obwirnochodernichtmehr
menstruieren:wir„tun“diesmitunseremindividuellen,eigenenKörper.
DerKörperistmireinwichtigesThemaderFrauenbewegung;underistunserematerielleBasisall
unsererWahrnehmungenundErfahrungen;schliesslichsindwirFrauenauchaufgrundunseres
eigenenKörpers.13
DieAutonomieimAlteristdannbedroht,wenndereigeneKörpernichtmehrleistet,wasmansich
nochwünscht.WirsindinunserenAlltagpermanentvomKörperabhängigundjustdieswirdzu
häufigausgeblendetoderverdrängt.GeradeimAlterwirddochdereigeneKörperoftauch
ängstlicherbeobachtet.DerKörperwirdzumSynonymfürVersehrtheit,dieAngst,dassderKörper
nichtmehrverlässlichist,sondernmüdekrankfragilwird,dasserdenDienstversagt…dieseAngst
vorderkörperlichenVersehrtheitverdeutlichtdievielfältigenÄngstevoreinerAbhängigkeit,gerade
weilderKörperdieVorstellungvonUnabhängigkeitdurchkreuztundlahmlegt.14
DieAuseinandersetzungmitdereigenenVersehrtheit,mitdemeigenenkörperlichenAlterungsprozessundZerfallistunabdingbar,umsichinseinerHautweiterhinwohlzufühlen.Wirlebenin
einerZeit,diedemMythosderUnversehrtheitmitallentechnischenundmedizinischen
Möglichkeitenfrönt,ineinerZeit,inderVersehrtheitundTodausgeblendetwird.15Verpasste
Chancen,scheintmir.DennwersichhieraufGesprächeeinlässt,erfährt,wiemenschen-unfreundlich
undlebensfeindlichderMythosderUnversehrtheitist,wieeinschneidendKrankheitensind,wie
wichtigesist,eineeigeneHaltungzusich,zuseinemKörper,zuseinerLebensführungzuentwickeln.
EigeneWünschezurealisieren...Undwohlbesonderswichtig:InderAuseinandersetzungum
VersehrtheitkönntendieGenerationenwiedermiteinanderinsGesprächkommen,vielleichtweniger
überSelbstbestimmung,alsvielmehrüberGrenzenundLebenswünsche.
DiedreivorausgegangenenIngredienzienführenmichzuetwasviertem,unerwartetem:nämlichzur
Integrität.SeitichmichausführlichermitdiesemPaarUnabhängigkeit-Abhängigkeitbeschäftige,
frageichmich,warumessowenigumIntegritätgeht.Ichdenke,dasswirdaskonfliktreiche
SpannungsfeldzwischenAutonomieundAbhängigkeitnichtauflösenkönnenundesauchnicht
(mehr)wollen.UnddochstarrenwiraufdieseSelbstbestimmungwiedassprichwörtlicheHäschen
aufdieSchlagen.Warumnur,frageichmich,istdieserüberlieferteWertauchfürdieFrauennoch
13
Vgl.dazuexemplarisch:AmmichtQuinn,Regina:Körper–Religion–Sexualität.TheologischeReflexionenzur
EthikderGeschlechter,Mainz1999;und:VonBraun,Christina:Nicht-Ich.Logik,Lüge,Libido,Frankfurt1990.
14
Vgl.Shklar,Judith:DerLiberalismusderFurcht,Berlin2013,hierspeziellS.51.
15
Vgl.Schmuckli,Lisa:Hautnah.Körperbilder–Körpergeschichten.PhilosophischeZugängezurMetamorphose
desKörpers,Königstein/Taunus2001.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
13
heutesowichtig,wodochdieeigenenErfahrungenvonanderenQualitätenundWerten,von
anderenGefühlenundVerhältnissenzeugen?
WichtigerscheintmirnachalldiesenAusführungen,dasswirnachdersubjektivenIntegritätin
Abhängigkeitsverhältnissenfragen.IntegritätumschreibtjaeinsubjektivesSelbst-GefühlundSelbstVerständnis,eineVorstellungvonUnversehrtheitimWissendarum,dassmanverletztwerdenkann.
IntegritätumschreibtaucheinVerhältniszueinerWelt,dieeinendasFürchtenjedenTagvonneuem
lehrt.SoistfürmichdieentscheidendeFragewenigerjenenachderAutonomieimAlter,sondern
nachdereigenenVorstellungvonIntegrität-in-Abhängigkeitsverhältnissen.Wiegelingtesmirmit
Hilfevonanderen,inSituationenvonAbhängigkeitundAustausch,integerzubleiben?
Integrität-in-Abhängigkeitsverhältnissenumfasstmindestenszweierlei:Esgehtdarum,den
GestaltungsspielraumvonArbeits-undanderenVerhältnissen,alsodarum,Beziehungenauszuloten
undzugestalten.WennwiralsFrauenBeziehungenundVerhältnissegestaltenkönnen,bringenwir
konkreteSelbstbestimmungeinundriskierenimmerwiedervonneuemauchkonfliktive
Auseinandersetzungen.EsgehtzumandernauchumdaspermanenteBewusstwerdenvon
Prozessen,denenwirpassivodergarohnmächtigausgesetztsind,Prozessewiebeispielsweisejener
deskörperlichenAlternsoderjenepolitischenoderwirtschaftlichenProzesse,wowirinder
Minderheitsindodergarnichtmitredenkönnen.DasBewusstwerdenhilft,dieOhnmachtzu
durchschauenunddievielfältigenGefühlevonAbhängigkeitengemeinsamzuteilen–umdannzu
klären:wiebleibeich,wiebleibenwirindiesenkomplexenVerhältnisseninteger?
BestenDankfürIhreAufmerksamkeit…
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
…undmitfolgendenFragenmöchteichgerneindieDiskussionüberleiten:
•
WieerlebteichdenWegvonderSelbstlosigkeitzurSelbstbestimmung?
•
WasgefälltmiranmeinerEmanzipation?
•
Und:wasmachtSelbstbestimmungsoattraktiv?UndAbhängigkeitsoverachtenswert?
•
WasstörtmichanAbhängigkeiten?GibtesAbhängigkeiten,dieichwohltuenderlebthabe
und/odererlebe?
•
Wofühleichmichinteger?
•
Wasbraucheich,ummichineinerAbhängigkeitintegerzufühlen?
•
WiehalteichesmitderIntegrität-in-Abhängigkeiten?
•
WelcheIngredienzienhabenSiefürIhrVerständnisvonIntegrität-inAbhängigkeitsverhältnissen?
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
14
Literatur:
AmmichtQuinn,Regina:Körper–Religion–Sexualität.TheologischeReflexionenzurEthikder
Geschlechter,Mainz1999.
Conradi,Elisabeth:TakeCare.GrundlageneinerEthikderAchtsamkeit,Frankfurt2001.
Diotima(Hg.):DieWeltzurWeltbringen.Politik,GeschlechterdifferenzunddieArbeitam
Symbolischen,Königstein/Taunus1999.
Diotima(Hg.):MachtundPolitiksindnichtdasselbe.Sulzbach/Taunus2012.
Gilligan,Carol:DieandereStimme.LebenskonflikteundMoralderFrauen,München1984.
Hangartner,Li/Schmuckli,Lisa:DasAnderederPolitik,in:NeueWege5/2015,S.148-152.
Knecht,Ursulaundandere(Hg.):ABCdesgutenLebens,Rüsselsheim2012.
Muraro,Luisa:Vonsichselbstausgehenundsichnichtfindenlassen,in:Diotima(Hg):DieWeltzur
Weltbringen.Königstein/Taunus1999,S.18-38.
Muraro,Luisa:Nichtalleslässtsichlehren,Rüsselsheim2015.
Praetorius,Ina:WirtschaftistCare.Oder:DieWiederentdeckungdesSelbstverständlichen,Berlin
2015/HeinrichBöllStiftungBand16.
Praetorius,Ina(Hg.):SichinBeziehungsetzen.ZurWeltsichtderFreiheitinBezogenheit,
Königstein/Taunus2005.
Ryther,Elisabeth/Barben,Marie-Louise:Care-ArbeitunterDruck.EingutesLebenfürHochaltrige
brauchtRaum.HerausgegebenvonderGrossmütterRevolution,Bern/Basel2015
Schmuckli,Lisa:Hautnah.Körperbilder–Körpergeschichten.PhilosophischeZugängezur
Metamorphose,Königstein/Taunus2001.
Dies.:EigenwilligeAbhängigkeiten–oder:trotzdemunabhängig?,in:NeueWege12/2015,Zürich,S.
358-365.
Shklar,Judith:DerLiberalismusderFurcht,Berlin2013.
Weisshaupt,Brigitte:SelbstlosigkeitundWissen,in:Conrad,Judith/Konnertz,Ursula(Hg.):
WeiblichkeitinderModerne.AnsätzefeministischerVernunftkritik,Tübingen1986,S.21-39.
Dies.:SchattenüberderVernunft,in:Nagl-Docekal,Herta(Hg.):FeministischePhilosophie,
Wien/München1990,136-157.
Welch,Sharon:GemeinschaftendesWiderstandesundderSolidarität.EinefeministischeTheologie
derBefreiung,Freiburg1988.
VonBraun,Christina:Nicht-Ich.Logik,Lüge,Libido.Frankfurt1990.
Zamboni,Chiara:DenkeninPräsenz.Gespräche,Orte,Improvisationen.Rüsselsheim2013.
Dr.phil.LisaSchmuckli,freischaffendePhilosophin,Luzern/April2016,©
Herunterladen