NDR Info Das Forum (05.06.2017)/ Wiederholung vom (26.12.2016) Der Sufismus – Südasiens etwas anderer Islam Feature von: Sandra Petersmann & Jürgen Webermann, ARD-Hörfunkstudio Südasien Redaktion: Susanne Gommert ___________________________________________________ Kapitel 1 Lahore – Sha Jamal Schrein ATMO 01 Trommeln Ali Haydar Jürgen: Der Geruch von Haschisch liegt in der Luft. Im Schein von Lichterketten geben mehrere Trommler den Takt vor. Auf einer Art Tanzfläche in der Mitte drehen sich junge Männer um ihre eigene Achse. Wie in Trance lassen sie ihre schweißnassen, langen Haare fliegen. Die Umstehenden rufen Ali Haydar! Gemeint ist Ali, der geistige Anführer der Schiiten. ATMO 01 Ali Haydar hochziehen Jürgen: Es sind vor allem junge Menschen, die hier her gekommen sind. Der Shah-Jamal-Schrein im pakistanischen Lahore befindet sich auf einem Hügel neben einer alten Moschee. Wenn sie nicht Ali anrufen oder tanzen, rollen die Besucher Joints und rauchen auf alten Steingräbern. OT 01 Mahmud Übersetzer 1 „Die jungen Leute hier wollen in Verbindung mit Shah Jamal treten, dem der Schrein gewidmet ist. Haschisch hilft ihnen, in einen Trancezustand zu gelangen. Das ist weit verbreitet in unseren Schreinen.“ Jürgen: Mahmud ist einer derjenigen, die am Shah-Jamal-Schrein nach dem Rechten schauen. Shah Jamal war ein Sufi-Prediger aus Afghanistan, der vor 400 Jahren in Lahore gewirkt haben soll. Sein Grab verwandelt sich jeden Donnerstag in eine regelrechte Partyzone. Für die Einen ist es die Flucht aus dem Alltag, für die anderen eine meditative Suche nach neuen, spirituellen Sphären. 1 OT 02 Mahmud Übersetzer 1 „Unser Schrein ist für alle islamischen Glaubensrichtungen offen. Ahmadis, Schiiten, Sunniten, sogar für die Extremisten. Niemand soll sich hier bedroht oder diskriminiert fühlen.“ Jürgen: Aber – Kiffen, im Namen der Religion? Und das mitten im sonst sehr strengen Pakistan? Es ist Südasiens etwas anderer Islam, der solche Abende wie die im Shah-Jamal-Schrein möglich macht. Es ist der Sufismus, geprägt von Musik, Poesie, Heiligenverehrung, Meditation. ATMO 02 Musik Sandra: Vor mehr als tausend Jahren tauchten die ersten Sufi-Prediger in Südasien auf - auf ihrer Suche nach Gott, die sie auf der arabischen Halbinsel begonnen hatten. Die Prediger zogen vor allem die Armen an, Angehörige niederer Kasten, mit Geschichten von Gleichheit und Liebe. Viele bekehrten sie zum Islam. Sie halfen ihrer Religion, auf dem indischen Subkontinent Fuß zu fassen. Muslimische Eroberer wie die Mogul-Herrscher konnten später darauf aufbauen. Die große Mehrheit der heute rund 500 Millionen Muslime in Pakistan, Indien und Bangladesch folgt noch immer der Sufi-Tradition. Auch das kriegsgeplagte Afghanistan ist untrennbar mit der Geschichte des Sufismus verbunden. Das Land ist die Geburtsstätte des großen islamischen Mystikers Jalaluddin Rumi, dessen Liebesgedichte bis heute Menschen auf allen Kontinenten rühren. Kapitel 2: Das Sufi-Viertel Nizamuddin in Delhi ATMO 03 calling for Namaz Jürgen: Neu-Delhi. Die indische Hauptstadt war, bevor der Subkontinent vor fast 70 Jahren geteilt wurde, eine islamisch geprägte Metropole. Viele Denkmäler zeugen noch heute von dieser Geschichte. Nirgendwo aber ist dieses Erbe spürbarer und auch hörbarer als im Stadtteil Nizamuddin. ATMO 03 calling for Namaz aufblenden, erneut unterlegen … 2 Sandra: Es ist schon dunkel. Der Muezzin ruft zum Abendgebet. Die Menschen ziehen ihre Schuhe aus und schieben sich dicht gedrängt durch die engen, verwinkelten Gassen. Vorbei an Verkaufsständen mit Rosenblättern, leuchtend orangefarbenen Blumengirlanden und Süßigkeiten. Alle haben nur ein Ziel. Sie wollen zum Schrein des großen Sufi-Heiligen Hazrat Nizamuddin Auliya, der den Sufismus vor rund 700 Jahren aus dem Wüstenstaat Rajasthan in die heutige indische Hauptstadt Neu-Delhi brachte. Auch Sanya und ihr Freundin Priya kämpfen sich durchs Gewühl. OTON 03 Sanya (im Gespräch) Übersetzerin 1 „Wir sind vor allem wegen des Qawwali hier, wegen der ganz besonderen Sufi-Musik. Ich weiß nicht viel über den Sufismus, aber die Musik zieht dich total in ihren Bann. Darauf freue ich mich sehr. Und weil wir hier in der Grabstätte eines Sufi-Heiligen sind, habe ich auch Blumen mitgebracht, um zu beten und um meine Verehrung auszudrücken.“ OTON 04 Priya Übersetzerin 2 „Ich bin Studentin an der Universität von Delhi und ich bin hier, um mich von der Stimmung hypnotisieren zu lassen. Von Qawwali-Musik, von der ganz besonderen Stimmung hier im Schrein. Ich bin keine Muslimin, ich bin Hindu. (Aber) ich möchte, dass Allah mich segnet und seine Hand über mich hält. Ich weiß nicht viel über den Sufismus. Aber wenn du dich hier einfach fallen lässt, fühlt sich das gut an. Du spürst, wie friedlich es ist.“ ATMO 04 Sandra: Das große Gedränge schmälert die friedliche Stimmung. Ein paar übereifrige Helfer des Schreins drängen die nicht-muslimischen Besucher energisch in eine Ecke, damit die muslimischen Männer mehr Platz für das Niederknien zum Abendgebet haben. Eine alte Frau bricht in Tränen aus, ein Taschendieb hat das Gewühl genutzt, um ihr das Portmonee zu klauen. Die Welt ist nicht ausgesperrt in der heiligen Grabstätte von Hazrat Nizamuddin 3 Auliya. Javed, ein junger Friseur, versucht die Bestohlene zu trösten. Sie ist Hindu, er ist Muslim. OTON 05 Javed / clip 4+5 Übersetzer 2 / jung „Der Sufismus ist für mich der wahre Islam. Aber viele sehen das heute nicht mehr und missbrauchen ihn. Schon die heilige Schrift der Hindus und die Bibel erwähnen unseren Propheten Mohammed, obwohl er sehr viel später gelebt hat. Der Sufismus geht direkt auf unseren Propheten zurück. Niemand wird diskriminiert oder bestohlen. Im Sufismus sind alle Menschen gleich. Aber es gibt heute leider Menschen, die mit dem Sufimus nur noch Geld machen wollen.“ ATMO 05 Stimmengewirr im Schrein Sandra: Nach dem Abendgebet setzen sich immer mehr Menschen erwartungsvoll auf den weißen Marmorboden der Grabstätte. Muslime. Hindus. Christen. Auch ein paar Sikhs. Der SufiSchrein ist ein Schmelztigel der Religionen und Konfessionen. Wie das Land Indien. Wie Südasien als Ganzes. ATMO 06 – Qawwali Gesang 01 Sandra: Die Stimmen der Sänger schwellen an. Es ist Qawwali-Zeit. Der poetische, religiöse Gesang soll dabei helfen, sich Gott zu nähern. Es geht um Liebe, Verehrung und Sehnsucht. Um Gott und den Propheten Mohammed. Auch Texte des berühmtesten aller Sufi-Poeten, Rumi, gehören zum Qawwali. ATMO 07 – Qawwali Gesang 02 Jürgen: Imran Nizami und seine beiden Brüder singen mit geschlossenen Augen und wiegen sich sanft vor und zurück. Ihre Musik verbindet persische und arabische mit südasiatischen Klängen - genauso wie im Sufismus muslimische Traditionen mit hinduistischen verschmolzen sind. 4 ATMO 08 – Qawwali Gesang 03 (Ali … Ali) Jürgen: Die Stimmen der drei Nizami-Brüder lassen das Publikum verstummen. Noch halten sich der begleitende Musiker am Harmonium und der Trommler an der Tabla zurück. Imran ist der jüngste der drei Nizami-Brüder. Vater, Großvater, Urgroßvater, Ur-Ur-Großvater …. alle waren Qawwali-Sänger. Imran war nach eigenen Angaben sechs Jahre alt, als er lernte, Qawwali zu singen. Heute ist er 23 Jahre alt. OTON 06 Imran (01) Übersetzer 3 „Wenn ein Qawwali-Sänger vor einem Sufi-Meister singt, dann ist der Sufi-Meister durch seine spirituelle Weisheit in der Lage, unsere Botschaft an Gott zu senden. Die Sufi-Meister können durch unsere Musik mit Gott Kontakt aufnehmen. Es gibt eine Redewendung, die besagt, dass wir Qawwali-Sänger für die Sufis das sind, was der Imam für die Moschee ist. Wir sind das Medium, um mit Gott zu sprechen.“ ATMO 09 – Qawwali Gesang 04 Sandra: Die Geschwindigkeit der Musik zieht an. Die Besucher klatschen mit, viele wiegen sich inzwischen auch im Takt. Westliche Touristen filmen mit ihren Smartphones. Es regnet kleine 10 Rupien-Scheine auf die drei Nizamis herab. 10 Rupien sind umgerechnet etwas mehr als 10 Cent. Den großen Teil ihres Geldes verdienen die drei Brüder damit, auf Hochzeiten zu spielen. Für Imran sind Weltlichkeit und Spiritualität kein Widerspruch. OTON 07 Imran (02) Übersetzer 3 „Ich kann nicht richtig mit Worten beschreiben, wie sich das anfühlt, wenn ich Qawwali singe. Es erfrischt mich, es erreicht meine Seele. Und ich glaube, das geht nicht nur mir so, das geht allen so, die uns zuhören. Unsere Musik spendet Trost, sie sorgt für innere Erleichterung. Wenn ich hier im Schrein singe, dann will ich am liebsten gar nicht mehr aufhören. Ich mache jetzt nur eine Pause, um mit euch zu reden.“ 5 ATMO 10 Qawwali Gesang 05 Sandra: Javed, der junge Friseur, hat nach einer Stunde Qawwali-Musik leuchtende Augen. Javeds tief verschleierte Frau presst ihre Stirn gegen eine Wand des Schreins und schließt ihre Augen. Ob sie ihre Lippen bewegt, gibt ihr Gesichtsschleier nicht preis, der auch ihren Mund verdeckt. Das Innerste des Schreins betritt sie nicht. Der Zugang zum Allerheiligsten, dem Sanctum mit der Grabstätte, bleibt den Frauen in vielen Sufi-Schreinen verwehrt. ATMO 11 Qawwali Gesang 06 Sandra: Wie viele Menschen in Südasien sind auch Javed und seine Frau davon überzeugt, dass SufiHeilige und ihre helfenden Geister Wünsche erfüllen, wenn man ihre Grabstätten besucht. OTON 08 Javed (02) Übersetzer 2 „Ja, es gibt viele Wünsche und viel zu erreichen. Auch wir bitten Gott um Hilfe und wünschen uns Dinge, aber Gott allein entscheidet, und wir sind zufrieden.“ ATMO 12 talking to Syed Aziz Nizami Sandra: Aus seinem kleinen Büro heraus beobachtet Syed Aziz Nizami das bunte Treiben rund um die Grabstätte. Er ist der Hüter des Sufi-Schreins und ein direkter Nachkömmling des großen Sufi-Heiligen Hazrat Nizamuddin. Die Nummer 38 einer langen familiären Linie! Der ältere Herr hockt wohlbeleibt auf einem Sitzkissen und nascht frittierte Snacks aus einer kleinen Tüte, die aus altem Zeitungspapier zusammengeleimt ist. Von der asketischen Lebensweise der frühen Sufis ist Syed Aziz Nizami weit entfernt. Er liebt das Leben und lacht viel. Er missioniert sanft, aber beharrlich. OTON 09 Nizami (01) Übersetzer 1 „Wenn du den Frieden, die Gleichheit, die Liebe und die Harmonie umarmst, bist auch du ein Sufi. Wenn du Kampf und Terror zurücklässt, kannst du ein Sufi werden. Im Sufismus wirst du 6 deinen Frieden finden. Die Sufis sind das Bindeglied für alle Menschen. Sufis lieben die natürliche Schöpfung Gottes. Schluss mit dem Dschungel-Leben. Kommt ins Licht und liebt eure Nächsten.“ Sandra: Der Dschungel-Vergleich taucht in seinen Ausführungen immer wieder auf. In seinen Augen war es der Prophet Mohammed, der im späten 6. und frühen 7. Jahrhundert dem menschlichen Dschungel-Leben ein Ende setzen wollte. OTON 10 Nizami (02) Übersetzer 1 „Die Essenz des Sufismus ist Liebe und Frieden. Liebe und Frieden sind die Prinzipien des Propheten Mohammed. Der Sufismus entstand in der Zeit des Propheten, dem es darum ging, das Fundament der Liebe und des Friedens in der Welt zu bewahren. Als der Prophet zur Welt kam, war die Welt wie ein Dschungel. Alle kämpften. Es gab keine Ehre für Frauen. Doch der Prophet sagte, dass alle Menschen gleich sind. Er war der Botschafter des allmächtigen Gottes und sagte, dass alle in Liebe, Gleichheit und Brüderlichkeit leben sollen. Das war seine Mission. Und das ist der Kern des Sufismus.“ Sandra: Syed Aziz Nizami reist viel durch die Welt. Er ist oft in den USA unterwegs, war schon mehrfach in Deutschland. Er will das sanfte, wahre Gesicht des Islam verkörpern, den immer mehr Nicht-Muslime nur noch als Religion des Terrors wahrnehmen. OTON 12 Nizami – clip 07+11 Übersetzer 1 „Daran sind die Wahhabiten aus Saudi-Arabien Schuld. Die sind sehr orthodox. Aber der Islam lehrt nicht, andere zu töten. Der Islam sagt: wenn du auch nur einen Menschen tötest, dann tötest du die gesamte Menschheit. Und warum töten sie? Weil sie nicht dem Sufismus folgen und kämpfen. Wenn du in einer friedlichen Gesellschaft leben willst, sei ein Sufi und folge den Regeln des Sufismus.“ ATMO 08 Wiederholung – Qawwali Gesang 03 (Ali … Ali) 7 Jürgen: Der Sufismus ist offener, moderater und pluralistischer als andere Strömungen des Islam. Er schließt Andersgläubige nicht kategorisch aus. Er spricht Sunniten und Schiiten an. Doch wie in den meisten Religionsgemeinschaften sind Frauen auch hier nur das zweite Geschlecht. Für radikale Islamisten sind Sufis Ungläubige. Götzenanbeter. Geisterbeschwörer. In Indien wirkt der Sufismus bis heute als Bindeglied zwischen den Religionen, doch radikale religiöse Tendenzen nehmen auch hier zu. Im Islam. Und im Hinduismus. Kapitel 3: In Deoband ATMO 13 reciting Quran Sandra: Die Schüler tragen weiße Gewänder und weiße Kappen auf dem Kopf. Sie sitzen auf dem Boden, vor ihnen steht eine kleine Holzbank, auf der der Koran in arabischer Sprache liegt. Die Schüler lernen ihn auswendig, einige besonders begabte rezitieren die heilige Schrift des Islam auch singend. Alle wiegen dabei ihren Oberkörper vor und zurück. ATMO 13 reciting Quran aufblenden, erneut unterlegen Sandra: Die vollen Klassenzimmer der Koranschule liegen in einem quadratischen Innenhof hinter der matt-roten Moschee mit den weißen Minaretten. Derzeit besuchen mehr als 4000 Jungen und junge Männer die berühmte islamische Hochschule „Darul Uloom“ in der staubigen Kleinstadt Deoband im Norden Indiens. Sie gehört zu den weltweit führenden konservativen theologischen Zentren des Islam. Wegen ihrer Heimat in Deoband trägt die von hier ausgehende Lehre den Namen Deobandismus, ihre Anhänger heißen Deobandis. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 stammen fast alle Schüler aus Indien. Weniger als 1 Prozent der Studenten kommen aus dem Ausland. Der indische Staat erteilt kaum Visa, um in Deoband zu studieren. ATMO 14 reporter interacting with students Sandra: In einem Klassenzimmer fehlt der Lehrer. Die Augen der Schüler bleiben neugierig an der Reporterin aus Deutschland hängen. Die Jungs probieren ihr Englisch aus. Erst schüchtern, 8 dann ein bisschen forscher. Frauen bekommen die Schüler von „Darul Uloom“ nur selten zu sehen. Und wenn, dann sind sie meistens vollverschleiert. Im Umfeld der konservativen Koranschule tragen Frauen entweder eine schwarze Burqa mit Augengittern oder einen Niqab, der einen schmalen, offenen Sehschlitz lässt. Viele Frauen haben auch ihre Hände mit schwarzen Handschuhen bedeckt. ATMO 15 chatting and laughing with Mohamadullah Jürgen: Mohamadullah Qasmi war früher Schüler in Deoband. Heute leitet der 38-jährige die Abteilung für Online-Fatwa. Eine Fatwa ist eine islamische Rechtsauskunft, um religiöse und rechtliche Probleme zu klären. Pro Jahr kämen rund 10.000 Online-Anfragen aus aller Welt, erzählt Mohamadullah. Auf die Frage, was für ihn den Kern des Deobandismus ausmacht, antwortet er selbstbewusst. OTON 13 Mohamadullah / clip „cleansing of Islam“ Übersetzer 3 “Das Denken hier ist unverfälscht. Der Islam und seine Lehre waren in vielerlei Hinsicht verschmutzt. Hier in Indien wurden die Muslime zum Beispiel durch hinduistische Traditionen beeinflusst. In Deoband entstand deswegen eine puristische Bewegung, um den Islam von den unislamischen Einflüssen zu befreien.“ OTON 14 Mohamadullah / clip „Sufism and Deobandis“ Übersetzer 3 “Den Qawwali-Gesang zum Beispiel gab es zu Lebzeiten des Propheten Mohammed nicht. Das kam erst viel später auf. Wir haben uns davon befreit. Wir sind zur wahren Essenz des Sufismus zurückgekehrt. Und das ist allein die Nähe zu Gott.“ ATMO 16 Namaz call for evening prayer in Deoband Sandra: Der Muezzin ruft zum Abendgebet. Die Schüler und die männlichen Anwohner brechen auf zur Moschee. Die fünf Rufe zum Gebet bestimmen das Leben der Menschen in Deoband. Die unscheinbare Kleinstadt im Norden Indiens hat rund 100.000 Einwohner. Etwa 60 Prozent 9 sind Muslime, der Rest Hindus. Die meisten Hindus sind Zuckerrohrbauern, die meisten Muslime Landarbeiter. ATMO 17 Deoband old walled city sounds Sandra: Die Menschen von Deoband leben friedlich nebeneinander. Selbst als 2013 im nur 20 Kilometer entfernten Muzaffarnagar schwere Unruhen zwischen Hindus und Muslimen ausbrachen, bei denen mindestens 60 Menschen ihr Leben verloren, blieb es in Deoband ruhig. Die Stadt ist nicht für religiöse Konflikte bekannt. Ihre weltberühmte konservativislamische Hochschule „Darul Uloom“ liegt als Dreh- und Angelpunkt mitten im historischen Kern, der bis heute von einer alten Stadtmauer umgeben ist. Diese Mauer schirmt das Leben und Denken der Deobandis ab, ohne die Außenwelt komplett auszuschließen. Der weißbärtige Mufti Abdul Qasim Nomani ist als Vizekanzler für das Tagesgeschäft der Koranschule von Deoband verantwortlich. Der zierliche, ältere Herr empfängt auf dem roten Teppich seines Gästezimmers. OTON 15 Nomani / clip 13 Übersetzer 1 „Wir sind sehr vernünftige Menschen (lachen). Ich betone es immer wieder: Der Islam lehrt uns Frieden und Zurückhaltung. In Deoband lernt niemand zu kämpfen. Wir kämpfen nicht, wir sind moderat. Wir folgen nur dem Kern unserer Religion.“ Jürgen: Vor allem die nationalistischen, hindi-sprachigen Medien im mehrheitlich hinduistischen Indien bringen Deoband immer wieder mit Terror in Verbindung. Auch religiöse HinduFanatiker und rechtsnationalistische Politiker setzen die ultra-konservative Lehre der Deobandis mit Extremismus gleich. Aber bislang hat noch kein indischer Geheimdienst einen Beleg dafür gefunden. OTON 16 Nomani / clip 12 Übersetzer 1 „In den USA, in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland sind die meisten Bürger Christen. Richtig? Wenn einer von ihnen in der Welt Schaden anrichtet, sagt ihr dann, dass 10 das ganze Christentum Schuld an dem Verbrechen ist? Oder behauptet ihr dann, dass das Christentum den Kampf lehrt? Nein, das tut ihr nicht! Dann geht es in euren Argumenten um einen verirren Einzeltäter oder um Politik. Aber sobald es um den Bürger eines muslimischen Landes geht, ist es immer nur eine Frage der Religion.“ Jürgen: Mufti Nomani fühlt sich durch den ständigen Generalverdacht gekränkt. Er betont, dass die Koranschule in Deoband maßgeblich zum indischen Freiheitskampf gegen die britischen Kolonialherren beigetragen habe. Er erinnert daran, dass es die Deobandis waren, die 1947 gemeinsam mit Mahatma Gandhi versucht hätten, die Aufspaltung Indiens und die Staatsgründung der islamischen Republik Pakistan zu verhindern. OTON 17 Nomani / clip 15 Übersetzer 1 „Hier in Indien leben wir alle ganz überwiegend friedlich zusammen. Die Situation ist unter Kontrolle, weil wir in einer Demokratie leben. Dieses demokratische Fundament haben wir uns alle gemeinsam erarbeitet. Unser System basiert nicht auf einer Religion wie in anderen Ländern.“ ATMO13 Wiederholung reciting Quran Sandra: Die konservative, sunnitische Theologie aus Deoband strahlt in die Welt aus. Es gibt weltweit Ableger, vor allem in Afghanistan und Pakistan. Die dortigen Koranschulen, die der Lehre des puristischen Deobandismus folgen, gelten als Hochburgen der Taliban. Mullah Omar, der Gründer der afghanischen Taliban-Bewegung, war ein Deobandi. In Afghanistan und Pakistan sprengen sich Deobandis als Selbstmörder in die Luft. Ihr Ziel: Schiitische Moscheen und SufiSchreine. Auch für Mufti Abdul Qasim Nomani gibt es nur einen wahren Islam. OTON 18 Nomani / clip 7 Übersetzer 1 „Ich glaube nicht, dass es einen Kampf zwischen Deobandismus und Sufismus gibt. Hier geht es nur um politische Machtspiele. Politik und Medien sprechen über Sufis und Deobandis, 11 nicht wir. Hier in Indien leben auch Menschen, die ihr Journalisten voneinander trennt und als Sufis und Deobandis bezeichnet. Aber hier in Indien leben wir alle friedlich zusammen. Es geht also nicht um Religion, sondern nur um Macht und Politik.“ Sandra: Der Religionsgelehrte der wichtigsten islamischen Hochschule Indiens spricht nicht gerne über die Politisierung und Zersplitterung des Islam. Über Sunniten und Schiiten. Über Sufis und Deobandis. Er wittert Stolperfallen und bricht schnell zu einem neuen Termin auf. Im Herausgehen erinnert er noch daran, dass Deoband ein Rechtsgutachten gegen Selbstmordattentate und Terrorgruppen wie Al Qaida veröffentlicht habe. ATMO 18 market in Deoband Sandra: Draußen, in der schmalen Marktstraße jenseits der alten Stadtmauer, kaufen ein paar Koranschüler im Teenager-Alter, denen gerade der erste Flaum wächst, an einem Holzverschlag dicke Wollsocken für den Winter. Die Jungs sind sofort zum Gespräch bereit. Sie sagen, dass sie Mullahs werden wollen, um die Botschaft des Friedens in Indien zu verbreiten. OTON 19 voxpop student from Deoband / clip 4 Übersetzer 2 “Diejenigen, die behaupten, dass Muslime Terroristen sind, sind selber Terroristen. Niemand wird als Terrorist geboren. Andere machen aus Muslimen Terroristen, weil sie ihre Religion beleidigen. Es gibt Menschen, die ihre Religion lieben. Und wenn du etwas Schlechtes über ihre Religion sagst, kocht ihr Blut, weil du ihre Gefühle verletzt.“ OTON 20 voxpop student from Srinagar / clip 3 Übersetzer 3 “Wenn jemand Deoband liebt, dann ist er bei uns herzlich willkommen. Auch Mullah Omar darf Deoband lieben. Ob er richtig oder falsch handelt, kann ich nicht sagen. Darüber weiß ich zu wenig.“ ATMO 19 older guy interfering, stopping interview / clip 5 / unterlegen 12 Sandra: Dann mischt sich plötzlich ein älterer Herr ein, dem es nicht gefällt, dass die beiden jungen Koranschüler mit einer westlichen Journalistin sprechen. Er jagt sie weg und behauptet, nichts mit der Schule zu tun zu haben. Sein Vorwurf: wenn die beiden Jungs etwas Falsches sagten, heiße es morgen sofort wieder: Deoband sei eine Kaderschmiede des Terrors. Kapitel 4: Data Durbar Schrein in Lahore ATMO 20 Männer summen sich in Trance (La-he-la-illa) Jürgen: Der Konflikt um die richtige Auslegung des Islam in Südasien bringt die Anhänger des Sufismus zunehmend in Bedrängnis. Nirgendwo äußert sich das so extrem wie in Pakistan. ATMO 20 Jürgen: Der Data Durbar Schrein in Lahore ist der größte Schrein der Stadt. Auf weißem Marmorboden wandeln die Gläubigen barfuß zum Gebetshaus. Das Gelände gleicht einem weiten, edlen Platz, mit dem kleinen Schrein in der Mitte und einer großen Moschee mit spitz in die Höhe ragenden Minaretten dahinter. Hier gibt es sogar große unterirdische Gebetshallen, in denen es auch dann etwas kühler bleibt, wenn in Lahore die Temperaturen auf die 50 Grad zugehen. 2010 hatten sich hier, am Data Durbar, zwei Attentäter in die Luft gesprengt. Sie töteten mehr als 50 Gläubige. ATMO 20 Jürgen: Jetzt wird jeder Besucher mehrfach kontrolliert. Wer die lästigen Kontrollen hinter sich hat, betritt eine spirituelle Oase - mitten im Chaos der ostpakistanischen Millionenstadt Lahore. ATMO 20 Jürgen: Weiß gekleidete Gläubige umrunden das Grab des heiligen Data Abul Hajvery. Der Legende nach war er ein besonders erfolgreicher Prediger. Auf dem Marmorboden hocken 50 ältere, 13 bärtige Männer und wippen sich in Trance, das islamische Glaubensbekenntnis auf den Lippen. ATMO 20 Sandra: Waqas Khan kommt seit 15 Jahren hierher, jeden Donnerstag. Waqas ist 32 Jahre alt und Geschäftsmann. OT 21 Waqas Übersetzer 2 „Ich war an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht weiter wusste. Die Welt spielt verrückt. Wir haben das Internet und so viele Einflüsse. Aber das hier ist, als ob ich meinen Geist entgifte.“ Sandra: Andere glauben, dass der heilige Data sie von Krankheiten befreit hat, sie verehren ihn wie einen Guru. OT 22 Waqas Übersetzer 2 „Niemand hat uns gezwungen, dem Heiligen zu folgen. Wir sehen ihn, wir glauben an ihn. Es gibt keine Gehirnwäsche wie in den Koranschulen. Niemand sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben. Wir suchen hier Frieden. Mit Terror hat der Sufismus nichts zu tun. Wir sagen unserem Heiligen hier einfach nur Hallo.“ ATMO 21 Sandra: Waqas führt zu einer anderen Gruppe. Vor der Moschee singen Männer Loblieder auf den Propheten Mohammed. Jeder kann an das Mikrofon treten. Einer passt auf, dass alles gesittet zugeht. OT 23 Waqas 14 Übersetzer 2 „Es gibt hier keine Vorschriften oder so etwas. Jeder kann ausdrücken, was ihm gerade am Herzen liegt.“ Jürgen: Andere umringen einen älteren Herrn mit grünem Umhang, zarten Gesichtszügen, einem langen, grauen Bart und einer dicken Brille. Es ist Bishar, am Data Durbar Schrein scheint ihn jeder zu kennen. Bishar kommt aus dem Swat-Tal im Nordwesten Pakistans. Dort sind die Islamisten besonders stark. Bishar ist vor ihnen nach Lahore geflohen. Der Datar Durbar Schrein ist seine neue Heimat. OT 23 Bishar Übersetzer 1 „Der heilige Data ist für mich die Verbindung zum Propheten Mohammed. Ich bin einfach nur glücklich, wenn ich hier sitze. Ich will niemanden bekehren. Ich möchte hier solange sitzen und meditieren, bis ich sterbe. Hier kann ich einen friedlichen Tod sterben.“ Jürgen: Dann legt Bishar seinen Arm auf Waqas Schultern. Einen Moment lang verharren beide in ihren Gedanken. Ihren Besucher aus Deutschland nehmen sie nicht mehr wahr, auch nicht die vielen Menschen um sie herum. Es scheint, als fühlten sich Bishar und Waqa ihrem Heiligen gerade ganz nahe. In diesem Moment, abseits des hektischen Alltags von Lahore, wirken die beiden Männer glücklich. (Musik oder Atmo wieder hoch) 15 Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z. B. 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