Leseprobe aus: Neue Zeitschrift für Musik 6/2011 © Schott Music, Mainz 2011 happy new ears – utopie jenseits der stilsicherheit HANS ZENDER IM GESPRÄCH MIT LYDIA JESCHKE n Herr Zender, Sie haben in diesem Jahr vier Uraufführungen Ihrer Musik, vier Uraufführungen ganz unterschiedlicher Art – man hat das Gefühl, da komplettieren sich fast gleichzeitig verschiedene Kompositions-Stränge. Tatsächlich sind es vier verschiedene Werkzyklen, die sich in diesem Jahr komplettieren – obwohl man nicht weiß, ob da nicht später doch noch weitere Stücke nachkommen. Dabei liegt mir im Augenblick die jüngste Werkreihe nach einer Dichtung von Juan de la Cruz am meisten am Herzen, deren drittes Stück O Bosques für Sopran, Chor und Orchester im Juni in München uraufgeführt wurde. Diese Werkreihe stellt noch mehr als die anderen die Mikrotonalität und damit neue Erfahrungen für die Ohren wie für das denkende Bewusstsein ins Zentrum. Dieses Sich-bewusst-Bewegen in einem mikrotonalen harmonischen Raum von 72 Tönen pro Oktave ist seit über zwanzig Jahren mein bevorzugtes Experimentierfeld geworden. 10 n Hier, aber auch bei den Cantos – der Werkreihe, in die die Logos-Fragmente gehören, welche im September in Berlin als Zyklus uraufgeführt wurden – lassen Sie sich von Texten, von Literatur anregen. Ist es eine für Sie zentrale Herangehensweise, dieses Zurückgreifen auf Literatur? Für mich ist das Singen immer die Quelle der Musik gewesen. Vielleicht eine ungewöhnliche Haltung für einen Vertreter der Neuen Musik, aber für mich ist das so. Und zum Singen gehören auch Texte, sodass man allgemein von einer Weiterführung des Musik-Text-Projekts sprechen könnte, das ja eigentlich die Grundlage der europäischen Musik ist. In den Cantos, die als Reihe in den 1960er Jahren beginnen, sind es fast immer Themen aus der europäischen Tradition, jüdische, christliche, griechische Texte; an anderer Stelle kom- men die chinesische und japanische Kultur hinzu und Ezra Pound, der ja schon ähnliche Integrationsarbeit geleistet hat. eine interessante Erfahrung, allerdings habe ich mich dadurch noch nie animiert gefühlt, ein Stück zu komponieren. n Dieser Sprung hinein in eine andere Kultur: ist das etwas, was einem Musiker besonders gut gelingt? Es kann auch schiefgehen, wenn man glaubt, exotistisch etwas von anderen Kulturen übernehmen zu können – das verabscheue ich. Die Dinge sind sehr viel subtiler. Die japanische Kultur, vor allem die Zen-Kultur, ist eine reduktive Kultur, und diese Reduktion habe ich dann auch als Musiker zu üben versucht, gerade im Gegensatz zu einer typisch europäischen, auf immer größere Komplexität bedachten Haltung. n Und doch scheint es mir, dass Ihnen in Ihrer Arbeit stets nicht nur wichtig ist, was geschrieben, sondern auch, was gehört wird. Die Hans und Gertrud Zender-Stiftung «Happy New Ears», die dieser Tage die ersten «Happy New Ears»-Preise vergibt, verweist nicht nur auf Cage (und seinen gleichlautenden Essay-Titel), sondern auch darauf, dass wir «neue Ohren» brauchen, um überhaupt wahrzunehmen, was uns umgibt: an Geräuschen, aber vor allem auch an Kunstmusik. Für mich ist Cage das Signal für etwas, das Bernd Alois Zimmermann «pluralistisches Hören» genannt hat. Es verlangt eine Art von Offenheit des Hörens für das gleichzeitige Aufnehmen ganz verschiedener Arten von Musik. Eine Offenheit, die uns Komponisten dazu bringt, jedes einzelne Werk neu zu definieren – also nicht als Beispiel für einen unabhängig von der jeweiligen Komposition existierenden Stil. Als die radikalste Position eines Komponisten heute erscheint mir, dass er sich von Stück zu Stück neu definiert. Oder dass er, wie es der Dichter Fernando Pessoa gemacht hat, innerhalb eines Œuvres verschiedene Personen entwickelt, die dann verschiedene Stilhaltungen nebeneinander entstehen lassen. So ähnlich hat sich das bei mir ergeben: Es gibt den Strang der komponierten Interpretationen, es gibt die Cantos, die Hölderlin-Stücke, die Lo-Shus, die japanischen Stücke usw. Das heißt der Komponist empfindet sich selbst als eine plurale Persönlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ich. Das ist die Situation der Postmoderne in ihrer Radikalität und ihre radikale Konsequenz. Nicht etwa diese falsch verstandene Nostalgie, die dem Phänomen der Postmoderne gar nicht gerecht wird. n Verbindet Sie diese Idee mit John Cage? Cage ist für mich eine großartige Figur, ich habe ihn sehr gemocht und auch aus seinen Schriften viel gelernt. Ich kann nicht sagen, dass er als Komponist für mich von besonderer Bedeutung ist. Aber seine Ideen sind unglaublich wichtig: Er hat zum ersten Mal Dinge angesprochen, die sicherlich die Zukunft der Musik weiter bestimmen werden. Er hebt im Grunde die Grenze zwischen Kunstwerk und allgemein Klingendem auf; alles, was klingt, ist für ihn potenziell schon Musik. n Es gibt einen Radio-Essay von Uli Aumüller mit dem Titel Ist Hinhören schon Komposition? … Sehr gute Frage. n Ist für Sie Hinhören schon Komposition? Nein, aber es passiert mir manchmal, dass ich, wenn ich in einem vollbesetzen Bus fahre und alles summt um mich herum, denke: «Jetzt hörst du eine Komposition von Cage.» Dann beginnt man tatsächlich, diese Eindrücke anders zu hören. Das ist 12 Wenn Sie die französische Philosophie der letzten dreißig Jahre studieren – Foucault, Barthes, Lyotard, Henry, Nancy –, dann werden Sie da eine Vorstellung der Postmoderne finden, die in Deutschland immer noch nicht richtig begriffen worden ist. Ich denke, dass man dort viel besser verstehen kann, was «Happy New Ears» heißt: nämlich von der Ortlosigkeit des Denkens auszugehen, die eigentlich Postmoderne bedeutet. Nicht mehr verhaftet in der klassischen Avantgarde-Haltung, die noch eine letzte Bastion des alten Europas war, ein geschlossener Stil. Sondern offen ausgesetzt der Notwendigkeit, sich der vollkommenen Freiheit und dem Chaos zu stellen, die heute herrschen. Dafür muss man die Ohren immer wieder aufmachen und darf sie nicht fixieren auf die beruhigende Annehmlichkeit, die man hat, wenn man innerhalb des Systems eines festgefügten Stils denkt. Und weil Sie meine Münchner Stiftung erwähnen: Sie will nicht dazu beitragen, den inflationären Prozess von immer neuen Komponistennamen noch zu verstärken, sondern einen Komponisten viel- fältig vorstellen. Man soll sich mindestens über ein Jahr mit diesem einen Komponisten auseinandersetzen, in der Beschäftigung mit mehr als einem seiner Stücke – und das im Konzert (bei «musica viva»), in Vorträgen (z. B. in der Akademie der Künste) und in den Medien (in diesem Fall auf BRKlassik). n Die Stiftung vergibt ja Preise für Komponisten und Publizisten zur «Neuen Musik». Sie halten also trotz Pluralismus und «Chaos» daran fest, dass es so etwas gibt wie die Neue Musik mit großem N – also doch noch etwas Einigendes? Ich denke, dass diese lebenswichtige Identität der Neuen Musik, die sie davor bewahrt, eine pure Ansammlung von verschiedenen Positionen zu sein, eine Neuentdeckung gerade der Geschichte sein muss – und zwar der Geschichte als einer nicht abgeschlossenen, nicht abschließbaren Kraft, die immer noch in die Gegenwart hineinwirkt. Wir können uns nicht nur an sie erinnern, sondern wir müssen sie kritisch reflektieren und ihre aktuelle Wirkung durch einen Dialog mit ihr schöp- ferisch verändern. Das ist nicht nur Aufgabe der Interpreten, sondern auch der Komponisten. Ich gehöre noch zur Generation der sich nach dem Zweiten Weltkrieg formierenden seriellen Musik, die sich als europäische Avantgarde begriff. Der möchte ich nicht untreu werden, denn ich fühle mich (im Gegensatz zu Cage) sehr als Europäer. Aber ich habe den Glauben an die alleinige Geltung der europäischen Rationalität längst verloren und mich in einem längeren Wandlungsprozess hin zu einer radikalen postmodernen Position entwickelt, die eine Pluralität von Paradigmen nebeneinander stellt. n Sie sehen eine Avantgarde, die die Pluralität der aktuellen Musik in sich aufnimmt und gleichzeitig ihre geschichtlichen Wurzeln sichtbar macht? Die Alternative wäre, dass man nicht mehr richtig hinhört. Man konsumiert und denkt: «Was hat der sich da wieder Lustiges ausgedacht …»… … mehr erfahren Sie in Heft 6/2011