Rodewisch setzt auf

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Rodewisch setzt auf integrierte Versorgung
Im Freistaat Sachsen fällt das Konzept auf fruchtbaren Boden
Obwohl der Alkoholverbrauch in Deutschland leicht rückläufig ist, sind die jüngsten im
Jahrbuch Sucht veröffentlichten Zahlen nach wie vor besorgniserregend. Der
Verbrauch an reinem Alkohol liegt bei 10,5 Litern pro Jahr und Einwohner. Mit 125,5
Litern führt Bier vor Wein mit 19 und Schaumwein mit 4,1 Litern. Spirituosen werden im
Durchschnitt 5,8 Liter getrunken. Die Werbeausgaben sind wieder gestiegen und
beliefen sich 2001 auf eine Milliarde und 167 Millionen DM. Das BMG schätzt unter
den 18- bis 59-jährigen 3 Prozent Abhängige (1,5 Millionen und damit etwas mehr als
bei der Medikamentensucht). Bei 2,4 Millionen Bundesbürgern (5 Prozent) geht man
von missbräuchlichem Konsum aus, bei 7,8 Millionen (16 Prozent) immerhin von
riskantem Konsum. Die Kosten alkoholbezogener Krankheiten werden pro Jahr auf ca.
20 Milliarden € geschätzt.
Bei Tabak ist der Verbrauch erneut gestiegen (140 Mrd. Zigaretten insgesamt). Diese
Menge verteilt sich unter 23,5 Prozent der Bevölkerung. Man rechnet mit 111.000
tabakbedingten Todesfällen 84.300 durch Krebs, 37.000 durch Kreislauferkrankungen,
20.000 durch Atemwegserkrankungen.
Illegale Drogen, häufiger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit durch die Medien, werden
dagegen nur von 250.000 bis 300.000 Menschen in Deutschland konsumiert. Eine
Untergruppe davon bilden etwa 100.000 bis 150.000 Abhängige.
Breit gefächertes stationäres und ambulantes Angebot
Bei der Behandlung abhängig Erkrankter sind Wissenschaft und Praxis ständig auf der
Suche nach neuen Wegen. Dauerhaften Erfolg verspricht das Konzept der integrierten
Versorgung, für die der Freistaat Sachsen ein gutes Beíspiel liefert. Das, was man
anderswo dieLandesklinik nennen würde, ist hier die Sächsische Klinik für Neurologie
und Psychiatrie in Rodewisch im Vogtland. Sie stellt ein wichtiges Glied in der
Behandlungskette bei der Suchttherapie dar. Sachsen nutzt neue Möglichkeiten auf
diesem Gebiet und verbindet sie mit Erfahrungen, die hier bereits zu DDR-Zeiten im
Sinne von Behandlungsbausteinen gesammelt wurden. Dr. Constanze Pratzka,
Psychologin und Suchttherapeutin an der Klinik in Rodewisch, erinnert sich
verschiedener Ansätze kirchlicher Träger, aber auch spezialisierter Polikliniken und
Selbsthilfegruppen. Ohne diese Vorgeschichte, so schätzt sie ein, wären die neuen
Gedanken in der Suchttherapie nicht auf so fruchtbaren Boden gefallen und wären
nicht so rasch zu einem breit gefächerten gut funktionierenden System gereift.
Dr. Pratzka, ihr Kollege Jörg Domurath, Diplompsychologe und Suchttherapeut im
Reha-Bereich, sowie die Dipl.-Psych. Dagmar Mohn von der Suchtberatungs- und
Behandlungsstelle des Diakonischen Werkes Pirna e.V. stehen für
Behandlungsbausteine, die gemeinsam mit Selbsthilfegruppen ein funktionsfähiges
Gebilde zur Diagnose und Therapie von Suchtkranken sowie ihrer Begleitung in der
Abstinenz bzw. auf dem Wege dorthin darstellen.
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Dagmar Mohn, seit 1992 in der Beratungsstele tätig, kennt es nicht anders. In die
Beratungsstelle kommen Patienten bzw. Klienten, vermittelt durch Hausärzte oder
Angehörige, seltener von Arbeitgebern. „Das betrifft eigentlich nur noch Großbetriebe,
wie die Telekom, die Post und die Bahn, die noch über Sozialpläne verfügen und sich
in diesen Fragen strikt an die Arbeitsgesetzgebung halten“, berichtet sie. Ein Teil
kommt auch aus regionalen Krankenhäusern, wo die Patienten wegen anderer
Erkrankungen behandelt werden und auffällig geworden sind. Auch nach der
Entgiftung gelangen Patienten zu ihr. „Wir führen dann die Diagnostik durch und stellen
die Frage, ob der Patient wirklich abhängig ist.“ In diesem Fall wird versucht, die
Motivation für eine längere Behandlung mit dem Ziel der Abstinenz aufzubauen. Viele
haben den Wunsch, ihr Problem ambulant zu lösen. „In Pirna sind wir in der
glücklichen Lage, eine ambulante Therapie nach den Vereinbarungen für Rehabilitation
Sucht durch die Behandlungsstelle anbieten zu können. Wir haben dazu seit 1996 die
Anerkennung der BfA, so wie viele Beratungsstellen in Großstädten, aber leider noch
viel zu wenige in den Landkreisen.“ Jeder Patient bekommt zu Beginn als Angebot eine
Reihe von Einzelgesprächen und darüber hinaus die Chance, sich einer
Motivationsgruppe anzuschließen. „Die Therapie läuft sowohl im ambulanten Setting
wie auch stationär lückenlos über Gruppenangebote. Darauf wollen wir die Patienten
vorbereiten.“ Zunächst gehe es darum, zu erklären, was ist Sucht, was bedeutet
Therapie, welche Möglichkeiten gibt es? Dagmar Mohn berichtet auch von Patienten,
die zunächst keines der Angebote annehmen wollen, sondern es ganz allein versuchen
möchten. Auch das sei möglich; die Patienten erhielten dann in größeren Abständen
Gesprächsmöglichkeiten und könnten sich selbst erproben.
Wenn Patienten noch nicht entgiftet sind, sondern noch aktuell konsumieren, empfiehlt
die Beratungsstelle eine Entgiftungs- bzw. Entzugsbehandlung, die auch im
ambulanten oder stationären Setting möglich ist. Fällt die Entscheidung zugunsten des
stationären Entzugs, geht der Patient für mindestens 7 Tage in die Klinik. In Sachsen
kann dieser Behandlungsabschnitt bei Bedarf auf 21 Tage ausgedehnt werden ohne
zusätzliche Anträge.
Alkoholkranke klar in der Überzahl
85 % der Ratsuchenden haben Alkoholprobleme, 5 Prozent Essstörungen. Dagmar
Mohn beobachtet einen wachsenden Anteil von jungen Konsumenten illegalisierter
Drogen. Spielsucht erlebt sie bisher nur vereinzelt, Medikamentenabhängigkeit meist in
Verbindung mit Alkoholsucht.
Die meisten, erzählt Jörg Domurath, haben keine Arbeit mehr, was die Reintegration
besonders schwer macht. Es mehren sich Fälle von Menschen, die in
Obdachlosenheimen leben. Wenn die Bereitschaft zur stationären
Entwöhnungsbehandlung da ist, wird diese durch die Rentenversicherungsträger
finanziert . Da Suchterkrankungen zu den chronischen Erkrankungen gehören, sind
wiederholte Behandlungen möglich und notwendig. Er wünschte sich, die Entgiftungen
würden nicht auf der Inneren, sondern in der Psychiatrie stattffinden, weil dort
Voraussetzungen für Einzel- und Gruppengespräche bestehen, noch in der Phase der
Entgiftung also die Entwöhnung eingeleitet werden könnte. Der ambulante Weg, so
Jörg Domurat, setzt voraus, dass das soziale Setting steht, die Einbindung in die
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Familie und ins Berufsleben einigermaßen stabil ist. „Das ist für die Mehrheit unserer
Patienten nicht mehr gegeben.“
Die Behandlung in der Reha dauert in der Regel 16 Wochen . Das sei in der
Suchtbehandlung ein guter Erfahrungswert, in ganz Sachsen und auch über die
Freistaatgrenzen hinaus.
Noch wissen Dr. Pratzka und Jörg Domurath nicht, was langfristig aus ihren Patienten
wird. Katamnesestudien werden an der Klinik in Rodewisch bisher nicht gemacht.
Einen gewissen Überblick behalten sie durch den Kontakt untereinander bis hin zu den
Selbsthilfegruppen sowie durch alle zwei Jahre stattfindende Ehemaligentreffen an der
Klinik mit jedes Mal rund 300 Teilnehmern. In der Beratungsstelle lässt sich die
Entwicklung der Patienten im Rahmen der Nachsorge längerfristig – oft über Jahre
mitverfolgen.
Spezielle Angebote für suchtkranke Frauen
Die Diskussionen um Qualitätsmanagement und –sicherung im Gesundheitswesen
geben Anlass zu neuen Überlegungen auch in dieser Frage. Zunächst jedoch hat man
sich in Rodewisch zu einem in Sachsen bisher einmaligen Weg in der Therapie von
abhängig erkrankten Frauen entschlossen. „In anderen Suchtkliniken“, so berichtet Dr.
Pratzka, „kommen Frauen in gemischte Gruppen, wo sie infolge ihres statistisch
geringeren Anteils immer in der Minderheit sind. Das wollen wir ausschließen und
damit verhindern, dass sich das Setting, das den Lebensalltag vieler Patientinnen
ausmacht, die Abhängigkeit vom männlichen Partner, die Unterdrückung durch ihn, in
der Klinik wiederholt.“ Die Erfahrungen in Rodewisch haben gezeigt, dass dies für
Frauen ein sehr gutes Behandlungskonzept darstellt, dass auf die Spezifika weiblicher
Patienten besonders gut eingehen kann. „Eine suchtkranke Frau“, so Dr. Pratzka, „
stellt in der Gesellschaft noch mehr ein Tabu dar als ein Mann. Wenn sie sich zu einer
Therapie aufmacht, hat sie viel mehr soziale Hürden zu überwinden als der trinkende
Mann. Wenn sie dann bei uns ankommt und das weibliche Solidargefühl erfährt, erlebt,
dass sie mit ihrem Trinkverhalten nicht allein ist, dass es Mitpatientinnen gibt wie sie,
dann bedeutet das eine ungemeine Befreiung.“
In den Frauengruppen laufen nach den Erfahrungen der Kollegen in Rodewisch
thematisch ganz andere Dinge ab als in den gemischten Gruppen; die Offenheit unter
Frauen sei viel größer. Auch die Motivation, eine Lebensveränderung herbeizuführen,
zu der die Abstinenz gehört, sei häufig sehr stark. „In der Regel steht für sie viel mehr
auf dem Spiel als beim trinkenden Mann - die Familie, die Kinder, nicht zuletzt ihre
Rolle als Frau, die durch das Trinken enorm in Frage gestellt wird.“ Selbst Frauen,
denen man die Kinder bereits genommen hat, bei denen eine Vereinsamung
eingetreten ist, seien in der Lage, aus ihrer Lebensbilanz einen Motivationsschub zu
beziehen.
Frauengruppen existieren auch in der Beratungsstelle. Das heißt, auch in dieser Frage,
gibt es eine integrierte Versorgung.
Erfahrung macht realistisch. Diesen Eindruck gewinnt man im Gespräch mit den drei
sächsischen Psychologen. Der Erfolg ihrer gemeinsamen Anstrengungen ist nur bei
einem Teil der Patienten von Dauer. Den Anteil sozialer Faktoren am Scheitern stellen
sie dabei nicht in den Vordergrund, er ist aber unbestritten. 2001 ist der Anteil der noch
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im Beruf stehenden Klienten der Beratungsstelle auf 30 Prozent zurückgegangen,
ABM-Maßnahmen bereits eingeschlossen. Die Schlussfolgerung in Pirna und
Rodewisch lautet deshalb: Wir müssen die Patienten noch eher erreichen.
Versicherer gehören in die Behandlungskette
Zu Dagmar Mohn kommen viele erst nach einer langen, langen Suchtkarriere. „Viele
sind froh, wenn erstmals jemand mit ihnen offen über ihre Sucht spricht. Hausärzte,
Lehrer, Kollegen, Familie – alle erkennen das Problem, aber es wird nicht darüber
gesprochen. Sucht ist eine Tabu-Erkrankung, sie gilt immer noch als schlechtes
Charakterzeichen.“ Ihre Forderung: es muss genauso normal werden, über seine
Sucht zu reden wie über Diabetes. Davon sei nicht nur Sachsen noch weit entfernt.
Im Freistaat werden zur Zeit viele Multiplikatoren geschult. Unter anderen lernen
Justizvollzugsbeamte, wie sie das Thema bei Gefangenen ansprechen können.
Immerhin ist bei fast 80 Prozent der Gefangenen Alkohol- bzw. Drogenmißbrauch
bekannt; viele Delikte sind unter Alkohol- und Drogeneinfluss begangen worden.
Polizeibeamte werden zum Suchtkrankenhelfer in Polizeidiensten geschult. Für Post
und Telekom werden betriebliche Suchtkrankenhelfer ausgebildet. Auch an der
Landesärztekammer laufen Fortbildungen in Richtung Suchtmedizin, die leider noch
zu wenig genutzt werden. Im Kern geht es immer darum, wie man mit dem Betroffenen
offen motivierend sprechen kann. Flächendeckend sind in Sachsen Beratungslehrer
ausgebildet worden. Allerdings sind sie von der Berufswahl, über Gewalt bis hin zu
Sucht Ansprechpartner für alles. Damit ist ein Lehrer an einer Schule überfordert. Auch
die Sorge von Schulleitern, durch spezielle Suchtprogramme negative Aufmerksamkeit
zu erwecken, mag das mangelnde Interesse an langfristigen Konzepte erklären.
Dr. Pratzka wünscht sich vor allem einen kritischeren Umgang mit Alkohol in der
Öffentlichkeit. Kampagnen, wie Sachsen sie im vergangenen Jahr für unterschiedliche
Zielgruppen durchgeführt hat „Alkohol jetzt lieber nicht“ und „Alkohol, nein danke!“ hat
sie deshalb auch begrüßt. Es gelte aber nicht nur, Nein-Sagen zu lernen;
Genussfähigkeit muss entwickelt werden, es fehlen Lebensstrukturen, Orientierungen.
Das schaffe die Schule in ihrer jetzigen Form nicht.
Kurzfristig, so bestätigen alle drei Kollegen, ließe sich allein durch eine andere
Arbeitsweise der Krankenkassen ein viel rascherer Zugang zu Suchtkranken erreichen.
Dagmar Mohn erwähnt als positive Ausnahme die DAK, die Patienten mit
suchtbedingten Erkrankungen an Beratungsstellen vermittelt. Die Mitwirkungspflicht
der Patienten an ihrer Genesung rechtfertigt ein solches Vorgehen. Die meisten
Krankenkassen zögern jedoch, sich darauf zu berufen. Eine deutlich frühere
Vermittlung könnte auch über Arbeits- oder Sozialämter erfolgen. So ließe sich das
Versorgungssystem um weitere Bausteine sinnvoll ergänzen.
Christa Schaffmann
Aus: Report Psychologie 3/02 März 2002
Diesen Text finden Sie auch im Internet unter der Adresse
www.BDP-Verband.org/bdp/idp/2002-1/03.shtml
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