Fall 6 - Mediwiki - Universität zu Köln

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Ausarbeitung Fall 6
Patientenvorstellung
Anamnese: 62-jährige Patientin beklagt seit ca. 1 Jahr rezidivierend auftretende innere Unruhe im Sinne
von „unmotiviertem Herzklopfen“ und Schwitzen, begleitet von Harn- & Stuhldrang. Aufgrund der
Symptomatik traue sie sich nicht mehr aus dem Haus, obwohl sie dort in einer schwierigen Situation mit
ihrer tyrannischen Schwiegermutter lebt, die von ihr gepflegt wird. Aus Angst, der Zustand ihrer
Schwiegermutter könnte sich verschlechtern, nimmt sie auch an ihrem gewohnten sozialen Leben nicht
mehr teil. Über ihre Beziehung zum Ehemann wird nichts berichtet.
Weitestgehend verarbeitet beschreibt die Patientin ein Ereignis vor 29 Jahren, als sich der 3-jährige Sohn
ihres Bruders an einer roten Ampel von ihrer Hand losriss und überfahren wurde. Das Ereignis beschreibt
sie vor allem wegen der nachfolgenden Schuldvorwürfe als besonders schrecklich. Bewusst denkt sie nur
noch an dieses Ereignis, wenn sie z. B. durch Medien daran erinnert wird.
Befunde:
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Differentialdiagnostische Überlegungen
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
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

Colon-/Rektum-Ca. [C18.-/C19]
Hyperthyreose [E05.-]
Atherosklerotische Herzkrankheit [I25.1-]
Reizdarmsyndrom [K58.-]
Depressive Episode [F32.-]

Agoraphobie [F40.0-] mit oder ohne
o Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst) [F41.0]

Ausschluss organischer Grundlagen für Angststörungen:
o Hyperthyreose [E05.-†]
o Diabetes mellitus [E14.-†]
o Multiple Sklerose [G35.-†]
o Epilepsie [G40.-†]
o Migräne [G43.-†]
o Herz- und Kreislaufkrankheiten
o Hirntumoren

Posttraumatische Belastungsstörung [F43.1]

Somatoforme autonome Funktionsstörung mehrerer Organe & Systeme [F45.37]
o Herz- & Kreislaufsystem [F45.30] und
o unteres Verdauungssystem [F45.32] und
o Urogenitalsystem [F45.34]
Psychologische Faktoren/Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten [F54†]

2a
• körperliche Untersuchung altersentsprechend
• BB, BZ, E-Lyte, Entzündungsparameter o. p. B.
• Transaminasen o. p. B.
• Nierenwerte o. p. B.
• EKG, LZ-EKG, Ergometrie o. p. B.
• Abdomen-Sono o. p. B.
Diagnose
Somatoforme autonome Funktionsstörung mehrerer Organe & Systeme [F45.37]
Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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Begründung
Beschreibungdimensionen der somatoformen Störungen gemäß AWMF-Leitlinien
Dimension der Beschwerdezahl und –dauer: Die Patientin beschreibt seit einem Jahr bestehende,
vornehmlich kardiale Beschwerden, die auf vegetativer Stimulation beruhen, obwohl insbesondere eine
koronare Herzkrankheit als sicher ausgeschlossen gelten kann. Organisch sind nach unauffälligem EKG,
Langzeit-EKG und Belastungs-EKG die Symptome nicht erklärbar. Sie ist insgesamt polysymptomatisch
bei einem noch nicht chronifiziertem Beschwerdebild.
Dimension der Ursachenüberzeugung/Krankheitsbefürchtung: Die Patientin „fürchtet, an einer
Herzerkrankung zu leiden“, obwohl bei wiederholten Untersuchungen kein organisches Korrelat gefunden
wurde.
Dimension des emotionalen Distress: ein schon sehr lange bestehender seelischer Konflikt wird von der
Patientin nicht bewusst wahrgenommen, was typisch für neurotische Störungen ist. Häufig beschreiben
Patienten mit somatoformen Störungen belastende Lebensereignisse ohne das dazugehörige emotionale
Belastungserleben, zeigen dabei jedoch dem Beobachter ihre emotionale Belastung in Form von
Körperbeschwerden. Die gezeigte Symptomatik stellt den Kompromiss aus Triebwünschen und den ihre
Realisierung verhindernden Abwehrmechanismen dar: „Ich muss ja eh zu Hause bleiben, da ich wegen
meiner Beschwerden gar nicht raus kann.“
Dimension des Krankheitsverhaltens: Klassisch ist auch die lange und komplizierte Patienten-Karriere
sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative
Untersuchungen durchgeführt sein können.
Dimension der physiologischen Normabweichung: für das psychopathologische Konzept der
somatoformen Störungen ist insbesondere die Erregung des autonomen Nervensystems von großer
Bedeutung. Bei der Patientin werden beide Äste des vegetativen Nervensystems gleichzeitig tätig:
Herzklopfen und Schwitzen als sympathischer Anteil; Harn- & Stuhldrang als Zeichen parasympathischer
Erregung.
Bedingungen gemäß AWMF-Leitlinien erfüllt:
Es sind vegetative Symptome vorhanden, die die Patientin Organsystemen zuordnet. Dieses wird
begleitet durch innere Unruhe und Schwitzen. Harn- & Stuhldrang runden die Symptomatik einer
somatoformen autonomen Funktionsstörung ab.
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Psychodynamik der Störung
Die Patientin erlebt einen Intrarollenkonflikt, da sie einerseits die Konfrontation mit der Schwiegermutter
ablehnt, andererseits diese aber beinahe trennungsängstlich ständig versogen will. Insbesondere die
starke Aktivierung des sympathischen Anteils des autonomen Nervensystems lässt sich als Ausdruck nicht
bearbeiteter bzw. nicht bewusst als psychisch erlebter aggressiver Konflikte verstehen. Die dauerhafte
Fürsorge gegenüber der Schwiegermutter ist begründbar durch das erlebte Trauma, das die Patientin
unter –zwar nicht bewusst erlebten, aber dennoch starken– Schuldgefühlen leiden lässt. Verstärkt wird
diese Problematik noch dadurch, dass ihr nach dem Unfall ihres Neffen Vorwürfe gemacht wurden, was
sie nun auch im Falle einer Krise der Schwiegermutter befürchtet.
Gewissermaßen sorgt die somatoforme Störung der Patientin dafür, dass sie bei ihrer Schwiegermutter
bleiben kann und gleichzeitig die aggressiv erlebte Ausgesetztheit dieser gegenüber konvertiert.
Die derzeit entstehende soziale Vermeidungshaltung der Patientin kann als Warnsignal einer
beginnenden Chronifizierung gewertet werden.
Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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Weitere erforderliche Informationen
Vorerkrankungen (insbesondere psychische) und Medikamentenanamnese als Bestandteil eines jeden
Anamnesegesprächs sind natürlich nachzuholen!
Ohne Wiederholung bereits stattgefundener Untersuchungen muss zwingend noch der Ausschluss einer
Hyperthyreose erfolgen. Weitere somatische Diagnostik sollte erst zur Abklärung neuauftretender
Symptome stattfinden.
Häufig findet sich bei somatoformen Störungen eine Komorbidität mit anderen psychischen
Erkrankungen, die dann für das therapeutische Procedere entscheidend sein können. Eine sorgfältige
Abklärung auf weitere psychopathologische Symptome ist daher zwingend erforderlich. Analog sind auch
weitere körperliche Beschwerden zu erfassen.
Erforschung der trennungsängstlichen Komponente der Psychodynamik hinsichtlich ihrer Erfahrungen in
familiärer und partnerschaftlicher Bindung. „Von wem können Sie in dieser Situation Hilfe erwarten?“
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Therapeutisches Procedere
Noch währende der hausärztlichen Versorgung können psychotherapeutische Grundlagen geschaffen
werden, indem der Hausarzt in regelmäßigen Gesprächen versucht, der Patientin schrittweise das Konzept
der SAF (Häufigkeit, Folgen, bekannte Zusammenhänge, Verlauf, Behandlungsansätze) nahezubringen.
Einen besonderen Stellenwert muss der Hausarzt dem Einfühlen in die Situation der Patientin zukommen
lassen.
Schon während der Hausarzt noch letzte organische Optionen ausschließt ist die Hinzuziehung eines
psychosomatischen Konsils empfohlen! Die Patientin soll in einer Psychotherapie insbesondere lernen, mit
der Affekt-Dimension ihres Konfliktes, wie auch in ihrem Rollenumfeld zurecht zu kommen. Des Weiteren
ist eine Aufarbeitung des erlebten Traumas erforderlich, um die Patientin von ihrer vermeintlichen Schuld
zu befreien und wieder in den normalen gesellschaftlichen Alltag einzubinden, ohne dass diese ein Gefühl
der Scham wegen Vernachlässigung ihrer Schwiegermutter verspüren muss.
Nach dem EBM-Kriterien als gesichert wirksam gelten folgende Therapie-Ansätze:
 Kognitive Verhaltenstherapie für die Behandlung von Patienten mit atypischem nichtherzbedingtem Brustschmerz
 Kognitive Verhaltenstherapie
 Psychodynamische Kurzpsychotherapie
 Hypnotherapie bzw. Hypnose
 Konfliktzentrierte Gespräche mit Entspannungsübungen
 Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson
Nur wahrscheinlich wirksam nach den EBM-Kriterien sind hingegen kombinierte kognitiv-behaviorale
Verfahren (mit Elementen wie Krankheitsinformation, Entspannung bzw. Muskelrelaxation,
Streßmanagement, Selbstsicherheitstraining, Temperaturbiofeedback).
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Quellenangaben
Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme,
10. Revision, Version 2006, German Modification
Chronische Müdigkeit, Prof. Dr. med. Volker Faust, www.psychosoziale-gesundheit.net
Psychosomatik, Dr. Hans Morschitzky, www.panikattacken.at/psychosomatik/psychosomatik.htm
Vorlesungskompendium Psychiatrie, U. Beck,
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln, 2004
Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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Leitlinien Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik, Überarbeitung 2001,
http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/051-005.htm & /051-001.htm
Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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Triple-Jump Psychosomatik, Tobias Lutz NEUMANN, vorgetragen am 26. Juni 2006
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