1/15 Jos 2,1-21 Kreutz, Anke | Feministisch predigen

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Jos 2,1-21
Kreutz, Anke | Feministisch predigen
27.09.2015
17. Sonntag nach Trinitatis | Kundschafter in Jericho (Reihe III)
Lieder:
Aus HuT = Durch Hohes und Tiefes, Gesangbuch der Evangelischen
Studierendengemeinde in Deutschland, 2008, Supplement zum EG:
HuT 165 Ich rede, wenn ich schweigen sollte, statt Kyrie
HuT 373 Gott, gib uns ein Herz
HUT 380 Die Erde ist des Herrn (auch in einigen Regionalanhängen des
EG)
HuT 209 Du bist meine Zuflucht
Aus EG:
EG 324, 1, 3-4, 7 Ich singe dir mit Herz und Mund
EG 414 Lass mich, o Herr, in allen Dingen
EG 416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens
EG BY 634 Lass uns in deinem Namen, Herr
Liturgisch-Kreatives:
Kyrie-Gebet:
Gott, manches Mal bleibst Du uns fremd.
Wir wollen glauben – und zweifeln.
Wir wollen von unserem Glauben sprechen
und uns bleiben die Worte im Halse stecken.
Wir wollen Dir vertrauen
und fragen uns, ob wir naiv oder dumm sind,
wenn wir hören, was alles gegen Dich spricht.
Gott, wir haben es nicht einfach mit Dir
– und Du hast es nicht einfach mit uns.
Sieh uns an, wie wir sind.
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Erbarme Dich unserer Fragen, Zweifel und Halbwahrheiten.
Schenk uns Verstand und Weitsicht, Freiheit und Mut, ein Dennoch zu
wagen.
Lass uns Dein Wort neu hören und verstehen,
was Du uns heute sagen willst.
Kollektengebet:
Gott, schon bevor wir zu Dir kommen, bist Du da.
Bevor wir Deinen Namen nennen, hast Du uns gerufen.
Bevor wir uns auf Dich verlassen, hast Du versprochen, bei uns zu sein.
So sind wir unterwegs zu Dir, auch wenn wir uns entfernt von Dir fühlen.
Schenke uns in diesem Gottesdienst
eine Gewissheit, die uns stärkt.
ein Wort, das zu Deinem Wort für uns wird,
eine Orientierung, die uns weitergehen hilft.
Fürbittgebet:
Gott, wir bitten Dich für alle, die sich täglich aufreiben in ihren gespaltenen
Alltagen.
Gott, wir bitten Dich für die Menschen im Nahen Osten,
für die die Angst zum Alltag gehört.
Lass die Verantwortlichen Wege zu einem Frieden finden,
der diesen Namen verdient
und ein Leben unter Deiner Verheißung des Überflusses allen ermöglicht.
Gott, wir bitten Dich für die Menschen, die nicht wissen, wie es weiter
gehen soll.
Die sich verstecken und auf der Flucht sind vor anderen, die sie fürchten.
Lass sie Menschen finden, denen sie sich anvertrauen können und die ihnen
beistehen.
Gott, wir bitten Dich für die Menschen, die nach Deutschland kommen
in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und Ihre Familien.
Lass uns bereit sein, mit ihnen zu teilen und zu entdecken,
was sie uns zu sagen und zu zeigen haben.
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Gott, wir bitten Dich für die vielen Menschen unter uns,
die jeden Tag wieder neu um ihr Leben kämpfen müssen,
weil ihnen das Lebensnotwendige fehlt.
Schenke ihnen Mut und Kraft für das, was notwendig ist
und die Beharrlichkeit, sich nicht erschrecken und abwimmeln zu lassen.
Gott, wir bitten Dich für die von uns, denen es gut geht.
Bewahre sie vor Überheblichkeit und Besserwisserei.
Stärke ihr Gewissen und lass sie die Kraft, die Du ihnen schenkst, einsetzen,
damit das Leben, das Du verheißt, sichtbar wird, auch durch sie.
Für uns alle bitten wir gemeinsam mit Jesus Christus: Vater Unser
Kreative Ideen:
Stammmütter Jesu
In meiner Predigt gehe ich kurz auf die Stammmütter in Jesu Stammbaum
ein. Wer diesen Gedanken veranschaulichen möchte:
Gertrud Widmann:
Die Bilder der Bibel von Sieger Köder, Erschließende und Meditative Texte
1996, Kirchenglasfenster von St. Moriz in Rottenburg mit dem Titel
"Stamm-Mütter", S. 107 zu Mt 1 oder
http://www.schulschwestern.de/advent07/hp
Anstelle eines Psalms/eines Psalmgebets oder im Wechsel mit
Psalm 25:
(alter Wochenpsalm: Nach Dir, Gott, verlangt mich):
Gottes Verlangen
(Marie Luise Kaschnitz, nach EG BY S. 762, nach Lied 421)
Verlangen wirst Du, daß wir, die Lieblosen dieser Erde…
…Abdruck nicht möglich, bitte selbst recherchieren…
Als Kyrie:
Auf Frieden hoffen
(Viola Raheb)
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Auf Frieden hoffen
Auch wenn es lange, sehr lange,
fast ein Leben lang dauert,
bis der Schmerz, die Wunden,
die Hoffnungslosigkeit,
die Wut, die Angst sich legt in mir.
Auf Frieden hoffen,
auch wenn alle Zeichen um uns herum
eher den Krieg verheißen
und mein Inneres den Frieden
gar nicht zu spüren wagt.
Auf Frieden hoffen,
auch wenn die Fluchtgedanken
mich zu überwältigen drohen.
Auf Frieden hoffen
Und sich bewusst sein,
dass er nicht zu erzwingen ist.
Auf Frieden hoffen
In Zeiten des Unfriedens
Und dabei friedenswillig
Und bemüht blieben;
Ein harter Prüfstein
Für unsere menschliche Seele,
die des Leidens müde geworden ist.
Quelle: http://unsere.ekhn.de/gemeinde-dekanat/fundraising
Wer das Thema breiter entfalten möchte und in einem
Gemeindekreis o. Ä. vorbereiten kann, dem sei empfohlen:
Friedrich Schorlemmer, Ich möchte ein Mensch des Friedens werden
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In: http://www.arbeitsstelle-kokon.de/node/71 (Zugriff am 20.7.2015)
gekürzt auch EG BY, S.1064, nach Nr. 634
Einfache Sätze zur Praxis im Alltag (habe ich [F.S.] für meine Patenkinder
1983 formuliert):
Ich möchte so leben, dass auch andere Menschen leben können - neben mir
- fern
von mir - nach mir,
Ich suche eine Gemeinschaft, in der ich verstanden bin, das offene
Gespräch lerne,
Informationen bekomme und Stützung erfahre,
Ich suche das Gespräch mit Andersdenkenden,
Ich bedenke die Fragen, die sie mir stellen,
Ich möchte so leben, dass ich niemandem Angst mache,
Ich bitte darum, dass ich selber der Angst nicht unterliege,
Ich will mich von dem Frieden,
der höher ist als alle Vernunft, zur Vernunft des Friedens bringen lassen,
Ich suche Frieden in Mitten des Friedens, Deshalb wende ich nicht als erster
Gewalt an
und versuche, den Gegenschlag zu vermeiden,
Ich vertraue unser Leben nicht weiter dem Schutz durch Waffen an,
Darum werde ich mich nicht an Waffen ausbilden lassen,
Ich bin bereit, um des Friedens willen lieber Unrecht zu leiden als Unrecht
zu tun,
Vorwürfe, Verdächtigungen und Nachteile nehme ich auf mich,
Mein Weg wird nicht leicht sein, Ich gehe ihn aber gewiss,
Ich entdecke an mir selbst Spannungen, Konflikte, Widersprüche,
Ich bemühe mich, diese nicht auf andere zu übertragen,
Ich setze meine Fähigkeiten und Kräfte für eine Gesellschaft ein,
in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,
Ich lerne das Loslassen und werde gelassen,
Frieden stiften - friedfertig sein,
das möchte ich lernen,
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Ich denke täglich über ein Wort Jesu nach,
Darin finde ich meine „Nachtherbergen für die Wegwunden".
(Nelly Sachs)
Bibeltext aus der Bibel in gerechter Sprache:
(Josua 2, 1-21 [!, nicht 24])
1 Daraufhin schickte Josua ben-Nun still und heimlich von Schittim aus zwei
Männer als Spione los: »Geht, seht euch das Land an und Jericho!« Sie
gingen und kamen zum Haus einer ungebundenen Frau; die hieß Rahab.
Dort legten sie sich hin. 2 Dem König von Jericho wurde aber mitgeteilt:
»Pass auf: Männer sind in der Nacht von den Israelitinnen und Israeliten
hergekommen, um das Land zu durchwühlen!« 3 Da ließ der König von
Jericho Rahab bestellen: »Bring die Männer heraus, die zu dir gekommen
sind, die, die zu deinem Haus gekommen sind – um das ganze Land zu
durchwühlen, deshalb nämlich sind sie gekommen!« 4 Die Frau nahm die
beiden Männer und versteckte sie. Sie sagte: »Ja, sicher, die sind zu mir
gekommen, die Männer. Ich wusste doch nicht, von wo die sind. 5 Und als
es dunkel wurde und das Stadttor zugemacht wurde, da sind die Männer
rausgegangen. Ich weiß nicht, wohin die Männer gegangen sind. Verfolgt
sie, ihnen nach, schnell! Dann holt ihr sie ein!«
6 Rahab aber hatte die beiden auf das Dach hinaufgeführt und unter den
Flachsstängeln verborgen, die sie auf dem Dach aufgestapelt hatte.
7 Da verfolgten die Männer sie auf dem Weg zu den Jordanfurten. Das
Stadttor wurde geschlossen, sobald die Verfolger hinausgegangen waren. 8
Bevor die beiden Israeliten sich hinlegten, stieg Rahab zu ihnen auf das
Dach hinauf 9 und sagte zu den Männern:
»Ich weiß: Adonaj hat euch das Land gegeben und euer Schrecken hat uns
überfallen; alle, die dieses Land bewohnen, vergehen vor euch.
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10 Ja, wir haben es gehört: Wie Adonaj die Wasser des Schilfmeeres vor
euch ausgetrocknet hat, als ihr aus Ägypten auszogt, und was ihr mit Sihon
und Og gemacht habt, den beiden amoritischen Königen auf der anderen
Seite des Jordans: dass ihr sie nämlich der Vernichtung geweiht habt. 11 Als
wir davon hörten, zerschmolz unser Herz und in keinem Menschen kam
noch Antriebskraft auf gegen euch. Ja wirklich: Adonaj, eure Gottheit, diese
ist Gott in den Himmeln von oben her und über die Erde von unten her! 12
Jetzt aber gilt es: Schwört mir doch bei Adonaj – schließlich habe ich zu
euch gehalten; nun ist es an euch: haltet auch ihr, ja ihr, zu allen, die zum
Haus meiner Eltern gehören, und gebt mir ein verlässliches Zeichen, 13
dass ihr meinen Vater und meine Mutter, meine Brüder und Schwestern und
alle, die zu ihnen gehören, am Leben lasst und unsere Leben aus dem Tod
befreit!«
14 Die Männer versprachen ihr: »Wir stehen mit unserem Leben für euch
ein, wenn ihr nur unsere Verabredung nicht weiter erzählt! So soll es sein:
Wenn Adonaj uns das Land gibt, werden wir zu dir halten – du kannst dich
auf uns verlassen!«
15 Da ließ Rahab sie an einem Seil durch das Fenster hinab, denn ihr Haus
war ein Teil der Mauerwand, sie wohnte sozusagen in der Stadtmauer. 16
Sie riet ihnen: »Geht ins Gebirge – sonst stoßen eure Verfolger auf euch –
und haltet euch dort drei Tage lang versteckt, bis die, die euch verfolgen,
umgekehrt sind. Danach könnt ihr euren Weg gehen.«
17 Die Männer sagten zu ihr: »Nur falls Folgendes geschieht, werden wir frei
sein von deinem Schwur, den du uns hast schwören lassen: 18 Pass auf:
Wenn wir in das Land kommen, binde dieses besondere Seil, das
karmesinrote, in das Fenster, durch das du uns hinuntergelassen hast.
Deinen Vater, deine Mutter, deine Geschwister und alle, die zu deinem
Elternhaus gehören, versammle zu dir ins Haus. 19 So wird es geschehen:
Wer auch immer aus der Tür deines Hauses nach draußen geht – ihr Blut
komme über sie, wir aber, wir sind frei von unserem Schwur dir gegenüber.
Wer auch immer aber bei dir im Haus sein wird – ihr Blut komme über uns,
wenn Hand an sie gelegt wird. 20 Und auch wenn du unsere Verabredung
weitererzählst, werden wir frei sein von deinem Schwur, den du uns hast
schwören lassen.« 21 Rahab sagte: »Es soll genauso geschehen, wie ihr es
gesagt habt!« Dann schickte sie die Männer weg und sie gingen. Rahab
band das Karmesinseil in das Fenster.
(Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)
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Eigener Hintergrund und Vorüberlegungen:
Der Text springt mich sofort an: Rahab hat eine eindeutig zweideutige
Rolle. Sie leistet Fluchthilfe und ist ihrem eigenen Volk gegenüber illoyal, sie
preist den Gott Israels, den Gott der Spione – und verhandelt dann darum,
ihre eigene Familie zu retten. Gibt es eine Notwendigkeit für Verrat um des
Überlebens willen? Oder ist hier das Gastrecht das höhere Recht? Welche
Normen und Werte zählen in Gefahr? Und was sagen die palästinensischen
Christen, denen heute mit diesem Text der Anspruch Israels auf ihr Land
entgegengehalten wird?
Spannend finde ich die These Krauses, die Rahab-Erzählung richte sich als
nachdeuteronomischer Einschub pointiert gegen die gewalttätige
Darstellung der Landnahme in Josua 6 (Krause, S. 135). Für ihn stellt das
Bekenntnis der Rahab zum Gott Israels und das damit unmittelbar
verbundene Abkommen wechselseitiger Solidarität zwischen Israel und
ihrer Familie den Mittelpunkt der Erzählung dar (S. 139). Die Erzählung
plädiere also für die soziale Integration von Nicht-Israeliten in der
multiethnischen Gesellschaft des Jehud in der Perserzeit (S. 151/152). „Es
ist Rahab, die bekennt, was nach DTN 4 die Israeliten bekennen sollen! –
und aus der Geschichte Israels lernen sollen – hier aber von einer
Kananäerin“. (S. 177)
Diese Überlegungen angesichts einer gesellschaftlichen Diskussion um die
Aufnahme von und den Umgang mit Flüchtlingen regen mich an.
Auseinandersetzungen um die christlich-europäischen Werte, Differenzen
zwischen Aufnahmegesellschaft und MigrantInnen, Ängste vor den Fremden
oder umgekehrt der Fachkräftemangel angesichts des demographischen
Wandels sind oft wichtiger sind als Nächstenliebe oder die Durchsetzung
der Menschenrechte. Wer erinnert uns heute an unsere Geschichte, unsere
Werte, unseren Glauben an den Gott im Himmel und auf Erden? Was trauen
wir Menschen anderer Völker und Kulturen zu und was nicht? Auch unsere
Grundfrage ist die nach Identität und Grenzen der Gemeinschaft. Rahabs
Botschaft an uns könnte auch sein: „Wie nur wenige begreift Rahab, dass
Gottes befreiendes und zukunftsweisendes Handeln gegen die eigene
Kultur gerichtet sein kann.“ (Selzer-Breuninger, 77)
Übrigens: In der BIGS wird Rahab nicht als Hure oder Prostituierte
bezeichnet. Dieser Umstand entlastet davon, ein Seitenthema zu eröffnen.
Aber wer Lust hat, diese Frage zu verfolgen: Es gibt reichlich Material dazu!
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Predigt:
Liebe Gemeinde,
Die Geschichte, die wir grade gehört haben, ist noch nicht zu Ende.
Vielleicht sind Sie neugierig geworden: Was passiert wohl mit den
israelitischen Spionen und mit Rahab und Ihrer Familie, nachdem sie sich
getrennt haben? Manche erinnern sich vielleicht an den Fall Jerichos, aber
nicht mehr daran, dass dabei von einer Rahab die Rede war. Ich werde Sie
mit Ihrer Neugier noch einen Moment warten lassen. Denn die Geschichte,
die wir gerade gehört haben ist in einem doppelten Sinn noch nicht zu
Ende.
Diese Geschichte muss immer wieder neu fortgeschrieben werden. Denn sie
erzählt, wie Gott in den Wirren und Kämpfen unseres Lebens als Einzelne
und als Gesellschaft Platz gewinnt und wie Gott uns daran erinnert, was
Glauben heißt.
Nahe liegt das, wenn ich jetzt von Israel und den Völkern im Nahen Osten
spreche. Bis heute kämpfen Juden und Palästinenser um ihr Lebensrecht
und ihren Lebensort in einem Landstrich, in dem beide Völker mittlerweile
heimisch geworden sind – und doch keine Wege finden, dauerhaft
miteinander in Frieden zu leben. Rahab wird bis heute von
palästinensischen Christinnen und Christen kritisch gesehen: Als eine, die
ihr Volk verraten hat. In der jüdischen Auslegungstradition ist ihre Rolle
umstritten. Manchen Rabbinen gilt sie als Vorbild.1 Denn sie ist eine, die
zwar fremden Glaubens war, aber dennoch unter Lebensgefahr in Tat und
Wort ein Bekenntnis zu dem Gott Israels gewagt hat, das seinesgleichen in
der Geschichte Israels sucht.
Aber wenn wir ehrlich sind: Den meisten von uns ist der Nahe Osten heute
Morgen ähnlich weit weg wie die Eroberung Jerichos vor fast 3000 Jahren.
Wir sind mit eigenen Fragen beschäftigt – aber, die sind vielleicht gar nicht
so weit entfernt von dem Anliegen des biblischen Textes, wie wir auf den
ersten Blick meinen.
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Seit Jahrzehnten kommen Menschen in unser Land – um zu bleiben oder um
für eine begrenzte Zeit Zuflucht zu finden. Sie wollen sich ausbilden lassen
oder ihre Familie, die in der Heimat geblieben ist oder zurück gelassen
werden musste, miternähren. Unsere Gesellschaft ist längst eine
Migrationsgesellschaft, insgesamt haben rund 20% der Bevölkerung einen
Migrationshintergrund, bei den unter Fünfjährigen sind es schon 35 %.2 Und
durch die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, erhöht sich dieser
Bevölkerungsanteil schneller als erwartet. Zu uns kommen Menschen, die
ihre Kulturen, ihre Religionen, ihre Traditionen mitbringen. Das bereichert
unsere Gesellschaft und uns selbst auf der einen Seite und verunsichert uns
auf der anderen. Wir müssen neu fragen: „Wer sind wir?“ und „Was zählt
bei uns?“
Spannend sind die Erfahrungen, die wir machen, wenn wir uns auf
Begegnungen mit anderen, uns zunächst Fremden einlassen. Beispiele gibt
es genug3:
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Im vergangenen Jahr haben sich in unserer Akademie 30 Kinder und
Jugendliche in einem Talente-Camp kennen gelernt und entdeckt, was ihnen
wichtig ist und was in ihnen steckt. Sie kamen aus sogenannten
„bildungsbenachteiligten“ Familien – mit sehr unterschiedlichen
Erfahrungen und Vorstellungen. Es gab Jugendliche mit Fluchterfahrung und
Jugendliche, die nach einer Odyssee durch die Jugendhilfe noch nicht
wussten, wo sie nach dem Sommer bleiben sollten. Es gab Kinder, die
behütet wirkten, obwohl sie stark sozial benachteiligt waren und
Jugendliche, die jeden Anlass nutzten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Nun waren sie in einem Ferienprojekt, das ihnen Möglichkeiten bot, mithilfe
von Kunst und Tanz, von Exkursionen und Gesprächen sich und andere zu
entdecken. Im gemeinsamen Leben und Tun merkten sie, wie
unterschiedlich sie sind – und sie wurden neugierig nicht nur auf die
anderen, sondern auch auf ihre eigene Geschichte. Sie lernten gemeinsam
Orte und dort auch Menschen kennen, die von ihrem Glauben erzählen: In
einer Moschee begegneten ihnen fünf Muslime, in einer romanischen Kirche
alte Christen. Eine buddhistische Nonne zeigte ihnen ihr Kloster und ihr
Leben im Westerwald. Die Jugendlichen erklärten sich gegenseitig, woran
sie glauben oder zweifeln, sie überlegten, was ihr Vater, ihre Mutter dazu
denkt. Sie wurden neugierig aufeinander, stellten Fragen und erfuhren, wie
sie selbst zu dem, zu der geworden sind, die sie heute sind. Sie erfuhren
das auch von den anderen – und entdeckten, dass sie nicht nur viele
Unterschiede, sondern auch viel Verbindendes haben. Manche erstaunte,
dass das Gebot der Gastfreundschaft und der Schutz des Fremden in allen
Kulturen und religiösen Tradition einen hohen Stellenwert hat. Und am Ende
der Zeit waren sie ebenso erstaunt wie die, die mit ihnen gearbeitet haben,
wie die Eltern, die beim Abholen einen Einblick in ihre Woche bekommen,
was sie alles auf die Reihe bekommen haben. Was zählte, war das Wir, das
gemeinsame Reden und Lernen und Kreativ-sein – die Entdeckung, dass
vieles zusammen besser geht als allein und manches auch nur zusammen.
Einige wollen unbedingt weiter Kontakt haben, eine beschreibt diese Woche
als total wichtig für ihre Zukunft – und bekommt dafür Zustimmung von
anderen.
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In der Erzählung von Rahab ist es aus israelitischer Sicht eine Fremde, die
das Leben zweier Israeliten, die noch dazu als Spione beschrieben werden,
durch ihre Gewährung des unverbrüchlichen Gastrechtes wahrt. Ihr Handeln
wirkt eigenständig, klug und unkonventionell. Ihr werden prophetische
Qualitäten zugeschrieben, weil sie sich zum Gott Israels bekennt, den sie
als unbedingte Macht im Himmel und auf Erden beschreibt. Diese Macht
beansprucht ihr Land für das Volk Israel, und sie, die Fremde, erkennt
diesen Anspruch an. Dass Rahab und ihre Familie leben, ist ihrer Weisheit
zu verdanken. Nicht Heer oder Macht, nicht Krieg und Gewalt, sondern
Weitblick und Verhandlungsgeschick retten sie. Denn mit ihrem Bekenntnis
und der rettenden Gastfreundschaft gegenüber den beiden Israeliten
verknüpft Rahab ihren Anspruch, dass im Gegenzug für die Rettung der
Anderen auch ihr eigenes Leben geschont wird. Sie bindet die Männer durch
einen gegenseitigen Schwur an ihr Versprechen: Rettung und Schweigen
gegen Rettung. Und tatsächlich, sie und ihre Familie werden bei der
Zerstörung Jerichos verschont.
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Diese Erzählung wirkt wie ein Fremdkörper in der gewaltsamen Eroberung
Jerichos, in die sie eingebettet ist. Wahrscheinlich soll sie eher aus dem
Rückblick die Geschichte Israels erklären. Denn zur Geschichte Israels
gehört eben auch die Erfahrung, dass Gewalt nicht den Frieden schafft, auf
den sie hoffen. Es gehört die Erkenntnis dazu, dass von Anfang an eben
nicht nur und vor allem nicht zuerst Juden die Botschaft Gottes für ihr Volk
verstanden haben und entsprechend handelten. Wenn also gefragt wird,
was Israel eigentlich ausmacht, wer Israel eigentlich ist, gehören auch
immer die anderen, die Fremden schon mit dazu. Die ethnische Einheit,
auch wenn sie immer wieder propagiert wird, ist keine Garantie dafür, dass
Gottes Wille sich durchsetzt. Das wird besonders in den Frauengeschichten
deutlich, die auch im Neuen Testament an prominenter Stelle aufgeführt
werden. Alle vier Frauen in Jesu Stammbaum: Tamar, Ruth, Bathseba und
eben Rahab waren Fremde oder haben für Israeliten Befremdliches getan.
Aber durch ihr Vertrauen auf den Gott Israels sind sie Vorbilder geworden,
an der göttlichen Verheißung festzuhalten, Israel ein köstliches Land zum
Wohnen zu schenken. Ihr Handeln, das nicht zu erwarten war, wird zu
einem notwendigen Baustein der Heilsgeschichte. Die Erinnerung daran
spiegelt sich auch in den Erzählsträngen der biblischen Bücher. In die
machtvolle, oft auch kriegerisch begründete und geordnete Geschichte des
Volkes Israels mit Gott bricht immer wieder Unerwartetes, Unvermutetes,
Anstößiges ein – und die göttliche Macht gründet darauf die Fortpflanzung
ihrer Geschichte der Verheißung.
Auch unsere Identität als Christinnen und Christen wird dadurch geprägt,
dass die Wege Gottes mit uns oft ganz andere sind als wir erwarten würden.
Nicht nur im Bekannten und im Vertrauten; in dem, was uns richtig,
ordentlich und kirchlich erscheint, dürfen wir Gott und Gottes Botschaft
suchen. Manchmal brauchen wir viel Energie, um das Neue, das
Unvermutete, das Irritierende als Signale von Gottes Nähe, vom Wirken
Gottes in unserer Welt zu entziffern, die „Zeichen der Zeit im Licht des
Evangeliums" zu deuten. Das heißt: Zuzuhören, zu lauschen, aufmerksam
zu werden - und zwar vor allem auf die, bei denen wir das Wissen um Gott
und Gottes Weisheit erst einmal nicht vermuten.
Die Geschichte von Rahab ist noch nicht zu Ende. Sie bleibt eine
Geschichte, die erzählt, wie Gott in den Wirren und Kämpfen unseres
Lebens Platz gewinnt und wie Gott uns daran erinnert, was Glauben heißt.
Amen.
Anke Kreutz
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[email protected]
Wir danken dem Gütersloher Verlagshaus für die freundliche
Abdruckerlaubnis aus der Bibel in gerechter Sprache.
Dr. Ulrike Bail / Frank Crüsemann / Marlene Crüsemann (Hrsg.), Bibel in
gerechter Sprache
© 2006, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random
House GmbH.
Literaturangaben:
• Sabine Bieberstein, Rahab (Person). WiBiLex (erstellt Januar 2010)
https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31780/ (abgerufen am
31.3.2015)
• Joachim J. Krause, Exodus und Eisodus, Komposition und Theologie von
Josua 1-5, Brill 2014
• Ruth Selzer-Breuninger, Rahab aus Jericho, 17. Sonntag nach Trinitatis,
in Feministisch gelesen, HRG. Eva Renate Schmidt, Mieke Korenhof und
Renate Jost Band 2, Stuttgart 1989
• Kerstin Ulrich, Das Buch Josua. Tradition und Gerechtigkeit. Vom Erbteil
der Frauen.
In: Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh, 1998 S. 80- 89
• Tamar Kadari, Rahab: Midrash and Aggadah. In: Jewish Women: A
Comprehensive Historical Encyclopedia. 1 March 2009. Jewish Women's
Archive. (abgerufen am 21. 6. 2015) http://jwa.org/encyclopedia
Anmerkungen:
1. Vgl. Kadari (siehe Literaturangabe)
2. Zahlen: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus; Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF): Migrationsbericht 2010
3. Eigene regionale Projekte benennen. Das Beispiel stammt aus meiner
Arbeit. Kultur macht stark ist ein Projekt des BMBF, das
bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche fördert. Unter:
http://www.buendnisse-fuer-bildung.de gibt es mehr Infos.
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Diese Predigthilfe wurde zur Verfügung gestellt
von:
Feministisch predigen
Feministisch Predigen ist ein selbstverwaltetes und -organisiertes Projekt
von Pastorinnen, Pfarrerinnen und Diakoninnen, die ihre feministische Arbeit
mit anderen bundesweit vernetzt haben. Dabei steht die gegenseitige Hilfe
und Anregung im Mittelpunkt.
Seit mehr als 25 Jahren steht dabei das Prinzip der Solidarität im
Mittelpunkt: Für einen erarbeiteten Gottesdienstentwurf inkl.
Liedvorschlägen, liturgischen Texten und Predigten bekommen die
Autorinnen im Gegenzug eine CD-Rom mit Gottesdienstentwürfen für das
gesamte Kirchenjahr.
Alle Predigten werden von sieben im gesamten Bundesgebiet arbeitenden
Lektorinnengruppen gelesen, kommentiert und nach der erneuten
Überarbeitung durch die Autorin für die Veröffentlichung freigegeben.
Bei der Predigtvorbereitung gilt der geschlechterbewusste Blick - wie
tauchen Frauen- und Männerperspektiven in den biblischen Texten und den Predigtgedanken auf?
Feministisch-wissenschaftliche Erkenntnisse haben oft einen
Perspektivwechsel auf die Texte erarbeitet. Sie sollen in der Predigtarbeit
ihren Ausdruck finden.
Gleichzeitig bewegt Autorinnen und Lektorinnen das Bewusstsein für die
jüdischen Wurzeln unserer Theologie und der bewusste Umgang mit dem
Kontext der biblischen Überlieferung.
Weitere Informationen und aktuelle Hinweise finden sich auf:
www.feministisch-predigen.de
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