Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und

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Neues Testament
aktuell
1.
Hanna Roose
»Sünde« in Gesellschaft, Kirche
und neutestamentlicher Wissenschaft
»Sünde« in der Gesellschaft
Grüne Blätter, Sonnenschein, Vogelgezwitscher, im
Hintergrund Glockengeläut. Das Gesicht einer jungen
Frau, an der Kleidung als Nonne zu erkennen, kommt
ins Bild. Sie stöhnt erschrocken und erregt auf und fragt:
»Ist das nicht eigentlich eine Sünde?« Eine ältere Nonne
kommt ins Bild. Sie zuckt zusammen und zieht erschrocken Luft zwischen den Zähnen ein. Zwischen beiden
Nonnen sitzt eine dritte, deutlich ältere Nonne. Sie erklärt bestimmt: »Nee, schmeckt nur so.« Die beiden
anderen Nonnen atmen erleichtert auf. Jetzt erkennt
man, dass die drei mit Hingabe Pudding löffeln. Eine
männliche Stimme aus dem off erklärt: »Neu, LightPudding von Dr. Oetker. Nur 0,1 % Fett. Und unglaublich schokoladig und cremig. Schmeckt sündhaft, ist er
aber nicht. Light-Pudding. Neu von Dr. Oetker.«1
Dieser Werbespot verrät viel darüber, wie »Sünde«
in unserer Gesellschaft konnotiert ist. Da sind zunächst
Anklänge an das biblische Paradies: die grünen Blätter,
der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher. Die religiöse
Konnotation wird verstärkt durch das Glockengeläut
und dann natürlich durch die Kleidung der Frauen, die
sie als Nonnen ausweist. »Sünde« wird außerdem mit
Sex, mit sexueller Erregung, in Verbindung gebracht.
Die junge Nonne stöhnt erregt auf. Sie hat gerade etwas sehr Schönes erfahren. Doch statt zu genießen, erschrickt sie und fragt besorgt: »Ist das nicht eigentlich
Sünde?« Unter Sünde versteht sie offenbar eine Handlung, eine Tat. Worin diese Tat besteht, kann der Zuschauer nur vermuten. Wie kommt die Nonne auf die
Idee, dass genussvolle Handlungen Sünde sein könnten?
Hier schwingt das gesellschaftliche Bild eines kirchlich
geprägten Ethos mit, das Genuss – und insbesondere
sexuellen Genuss – als Sünde brandmarkt und also
verbietet. Der Sündenfall führt – so lehrt es doch die
Bibel – zur Vertreibung aus dem Paradies. Die zweite
Nonne, die ins Bild kommt, scheint diese Befürchtung
zu bestätigen. Sie zuckt zusammen und hält in dem,
was sie tut, inne. Die ältere Nonne hingegen wischt die
Bedenken fort: Was sie tun, ist keine Sünde. Jetzt wird
aber auch klar, dass es gar nicht um Sex geht, sondern
um Essen. Hier kommt eine dritte Konnotation zum
Tragen: »Sünde« wird mit dick machendem, kalorienreichem und reichhaltigem Essen assoziiert. Die Nonnen
2
begehen mit dem Essen des Puddings keine Sünde, weil
er nur 0,1 % Fett enthält.
»Sünde« gilt also einerseits als etwas Triviales, andererseits als etwas Schönes, Sinnliches, Begehrenswertes,
Verlockendes. Beide Konnotationen markieren eine
deutliche komplizenhafte Distanz zu und Kritik an einer der Kirche zugeschriebenen Sündenlehre, nach der
Sünde(n) über unser »ewiges« Heil oder Unheil entscheiden und die alles als »verboten« brandmarkt, was
Menschen – zu Recht – genießen. Der Werbespot spielt
mit den – der Lächerlichkeit preisgegebenen – Vorstellungen »der Kirche« zu »Sünde«, er vertraut darauf, dass
die große Mehrheit der Fernsehzuschauer diese implizite
Wertung teilt. Insofern präsentiert der Spot eine kritische Außensicht auf Kirche, die auf breite gesellschaftliche Zustimmung hofft. Allerdings ist diese Außensicht
so stark ironisiert und überspitzt, dass durchaus auch
Personen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, mitlachen können. Der Umschlag von sexuellen Anklängen
auf das Essen eines kalorienarmen Puddings hat etwas
Komisches.
In einem Brainstorming, den Jugendliche einer
9./10. Klasse zu dem Impuls »Sünde ist …« durchführen, benennen sie z. T. ganz ähnliche, z. T. auch andere
Items:
t Essen wegwerfen
t Filme »runterladen«
t Heimlich rauchen
t Töten
t Stehlen
t Sex vor der Ehe
t Etwas Verbotenes machen2
Das letzte Item fasst die vorangehenden zusammen: Die
Jugendlichen verstehen unter »Sünde« das, was verboten ist. Es ist aber nicht so, dass die Jugendlichen der
Meinung wären, alle von ihnen genannten Handlungen sollten tatsächlich verboten sein. Weiterführend
ist vielmehr die Frage, aus wessen Sicht die einzelnen
Handlungen ihrer Meinung nach verboten sind. Am
ehesten gehen die Jugendlichen damit konform, dass
Töten und Stehlen verboten seien. Hier sehen sie eine
Verbindung zu den 10 Geboten. Essen wegwerfen und
heimlich rauchen sind Tätigkeiten, die die Eltern (unnötigerweise) verbieten, Filme »runterzuladen« verbietet
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
Hanna Roose
»Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft
2.
»Sünde« in der Kirche
Hanna Roose
Prof. Dr. Hanna Roose, geb. 1967 in Kiel, Studium
der Ev. Theologie, der Romanistik und Musik an der
Universität und Musikhochschule des Saarlandes
sowie in Straßburg; Dissertation bei U. B. Müller
(Saarbrücken, 1997); Habilitation an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (2002);
von 1997–2000 Lehrkraft an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg und kirchliche Honorarkraft im Schuldienst; 2000–2004 Wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau; seit
2004 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Bibeldidaktik, Intertextualität, lukanisches Doppelwerk.
Der gesellschaftliche Gebrauch von »Sünde« impliziert
einen Blick von außen auf die Kirche und ihren Gebrauch von »Sünde«. Wie verhält sich diese gesellschaftliche Außensicht zu einer kirchlichen Binnensicht? Drei
kirchliche Stimmen kommen hier zu Wort: ein evangelischer Schulpastor aus Hamburg, eine Superintendentin der Hannoverschen Landeskirche und ein Pastor
einer freikirchlichen Gemeinde aus Lüneburg.
Der evangelische Schulpastor äußert sich wie folgt
zu der Frage, welche Rolle »Sünde« in seiner beruflichen
Tätigkeit spielt:
»Spielt im umgangssprachlichen Zusammenhang das
Wort eine gewisse Rolle, um Fehler und Übertretungen zu benennen, z. B. Verkehrssünder, Temposünder,
Steuersünder, Alkoholsünder, so ist diese Festlegung
innerkirchlich deutlich anders. Zwar ist Sünde, im
Sinne von Trennung von Gott, ein theologisch klarer Sachverhalt, trotzdem hat es den Eindruck, dass
in der binnenkirchlichen Kommunikation der Begriff
Sünde gemieden wird. Die Ursache liegt wohl in der
Wirkungsgeschichte. Sünde wurde lange Jahre seitens
der Kirche dermaßen moralisch aufgeladen verwendet, dass diese Verwendung durchaus verheerende
Spuren hinterlassen hat. Die die Sünde brandmar(ärgerlicherweise) das Gesetz, Sex vor der Ehe verbietet
kende Kirche ist zum Klischee verkommen und wird
(unsinnigerweise) die Kirche – ohne dass die Jugendauch heute noch, gerade von Kirchenfernen, als das
lichen bei diesem Verbot einen biblischen Bezug ausBild von Kirche wahrgenommen, mit der man schon
machen. Für diese Jugendlichen ist der Begriff »Sünde«
lange nichts zu tun haben wollte und will. Diese bialso z. T. biblisch, z. T. kirchlich verankert. Er ist mehr
gotte Moralanstalt, die andere als Sünder bezeichnet
oder weniger gleichbedeutend mit »Etwas Verbotenes
und selbst den eigenen Ansprüchen nicht genügt, ist
machen«. Die Bibel formuliert
für viele auch heute noch das existierende Bild von Kirche und jeder
nach Meinung der Jugendlichen
»Für diese Jugendlichen ist der BeVorfall, z. B. sexueller Missbrauch,
durchaus sinnvolle Verbote, die
griff ›Sünde‹ also z.T. biblisch, z. T.
der daran rührt, bestätigt dieses Bild.
Kirche hingegen nehmen sie –
kirchlich verankert. Er ist mehr oder
Innerhalb der evang. Kirche und seiähnlich wie dies im Werbespot
tens evang. Geistlicher wird der Beweniger gleichbedeutend mit ›Etwas
geschieht – als »prüde« wahr. In
griff Sünde weitgehendst gemieden.
Verbotenes machen.‹«
der Bedeutung »Etwas VerboteDie Verwechslungsgefahr des theol.
nes machen« strahlt der Begriff
Begriffs mit dem moralinsauren Zeigefinger
ist
zu
groß.
Sünde ist insofern nicht ›predigt»Sünde« für sie dann über den Bereich von Bibel und
tauglich‹. Die eigene Geschichte hemmt sehr, diesen
Kirche hinaus und kann auch »profane« Verbote meiBegriff aktuell zu verwenden. Nur auf dem evangenen. Deutlich ist auch hier die moralische Aufladung
likalen Rand wird hier unvoreingenommener agiert.
des Begriffs, ohne dass »Sünde« eindeutig positiv oder
Gleichwohl ist der Sachverhalt, den der Begriff meint,
negativ konnotiert wäre.
nicht verschwunden. Die Kirche äußert sich insofern
Sowohl im Werbespot als auch in den Äußerungen
zu bestimmten ethischen Fragen in umfassenden und
der Jugendlichen ist »Sünde« eine moralische Größe,
abgewogenen Denkschriften, ohne jedoch hier in dem
Sinne eindeutig Stellung zu beziehen, dass man klar ein
sie entspricht einer individuellen Tat, die das ethisch
Verhalten als (Tat)Sünde bezeichnet.«
Gebotene verletzt. Kirche wird dabei als eine Institution
wahrgenommen, die z. T. unsinnige, unzeitgemäße und
genussfeindliche Verbote durchsetzen will, indem sie deren Übertretung als »Sünde« (ab)qualifiziert.
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
Diese Stellungnahme setzt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von »Sünde« als »moralinsaurem Zeigefinger«
ein theologisches Verständnis im Sinne von »Trennung
3
Neues Testament aktuell
von Gott« entgegen. »Sünde« ist hier also relational gefasst, sie betrifft das Verhältnis (des Einzelnen) zu Gott.
Die ethische Dimension von »Sünde« wird im letzten
Absatz ebenfalls anerkannt: Ein bestimmtes Verhalten
kann prinzipiell als »(Tat)Sünde« bezeichnet werden.
Da der Begriff jedoch im gesellschaftlichen Kontext
von Kirche als einer »bigotten Moralanstalt« so stark
vorbelastet sei, verzichte Kirche darauf, konkrete Handlungen als »(Tat)Sünde« zu qualifizieren. Der Begriff sei
insgesamt nicht »predigttauglich«. Die Stellungnahme
berührt nicht die Frage, ob bzw. wie »Sünde« als relationaler Begriff und als »Tat« zusammenhängen. Evangelikale Kirchen kommen in der Außenperspektive in
den Blick.
Einige dieser Aspekte finden sich in Äußerungen
von Pastorinnen und Pastoren der Hannoverschen Landeskirche wieder, die eine Superintendentin zur Frage,
ob bzw. wie der Begriff »Sünde« in ihrer kirchlichen
Arbeit vorkomme, gesammelt hat:
t »Wenn ich Sünde sage, hören viele nur: Diät, Falschparken, sexuelle Ausschweifung.«
t »Es ist schwer gegen das Zerrbild, dass Sünde nur
moralische Verfehlungen meint, anzukommen.«
t »Wo in der Kirche von Sünde gesprochen wird, werden Projektionen auf kirchlichen Moralrigorismus
wach.«
Klar sei aber auch, dass das Phänomen »Sünde« einen
wichtigen Platz in der kirchlichen Arbeit einnehme:
t »Auf jeden Fall kommt Sünde in meiner Arbeit vor,
allerdings meide ich den Begriff und suche Umschreibungen.«
t »Sünde ist für mich ein unverzichtbarer theologischer Topos – der Begriff muss allerdings sehr vorsichtig verwendet werden, da er oft stark moralisch
missverstanden wird.«
Unter »Sünde« verstehen die Befragten:
t »Beziehungsstörung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott. Jeder ist betroffen davon.«
t »Erfahrung einer Macht, die zum Bösen drängt. Sie
muss beim Namen genannt und entzaubert werden.«
t »Eine kollektive Kategorie: In der globalen Welt
nimmt die Verstrickung in ungute Zusammenhänge zu.«
Die erste Äußerung hebt wiederum auf den relationalen
Charakter von »Sünde« ab, hier explizit in der doppelten Relationalität von Mensch zu Gott sowie Mensch
4
zu Mitmensch. Die zweite Äußerung versteht »Sünde«
nicht primär als (Einzel-)Tat, sondern als »Macht, die
zum Bösen drängt«. Der dritte Beitrag sieht in dem Phänomen »Sünde« keine individuelle, sondern eine kollektive, ja globale Kategorie. Zwei der zitierten Äußerungen
gehen auch bereits darauf ein, wie kirchliche Vertreter
mit dem Phänomen »Sünde« umgehen sollten: darüber
reden, die »Macht« beim Namen nennen und »entzaubern«. In einem weiteren Beitrag stellt eine Pastorin die
Rede von »Sünde« in den Kontext der Rede von »Vergebung«: »Wenn ich von Sünde rede, dann immer mit
Blick auf die Vergebung. Darauf kommt es an!«
Deutlich wurde im Gespräch mit den Pastorinnen
und Pastoren – so die Superintendentin – dass die Rede
von »Sünde« »im Duktus der Empathie […] und nicht
im Duktus von Appell oder Anklage« geschehe. Das
markiert eine entscheidende Differenz zum Bild von
Kirche, die andere anklage, dabei den eigenen Ansprüchen aber nicht gerecht werde.
Die Stellungnahme des Pastors einer freikirchlichen
Gemeinde setzt mit dem Zusammenhang von Sünde
und Vergebung ein:
»Das Thema ›Sünde‹ ist bei uns in der Gemeinde
untrennbar mit dem Thema ›Vergebung‹ verbunden.
Beide Themen gehören ganz normal zu den Glaubensund Lebensthemen, die wir miteinander bewegen – in
Lehre und Verkündigung und in der praktischen Lebensgestaltung. Sie gehören für uns deshalb so selbstverständlich dazu, weil sie zentrale Bestandteile der
›Botschaft vom Kreuz‹ sind, die für uns ›der Inbegriff
von‹ Gottes Kraft ist (1Kor 1,18).
Sünde verstehen wir in ihrem Kern als Trennung
von Gott. Menschen, die in unsere Gemeinde kommen, fragen nicht in erster Linie nach einem gnädigen
Gott, aber sie sind auf der Suche nach etwas, das bleibt,
etwas, das hält, etwas, das Bestand hat. Sie sind auf der
Suche nach echtem Leben, nach wirklichem Frieden –
nach dem, was nicht von dieser Welt ist.
Vor allem in unseren Glaubensgrundkursen und in
unseren Gottesdiensten erleben wir es immer wieder,
dass Menschen den Tod Jesu am Kreuz als Angebot
zum Leben annehmen. Sie nehmen es für sich ganz
persönlich in Anspruch, dass Jesus für ihre Sünde gestorben ist, und sie dadurch in Beziehung mit Gott
treten können. Die Bitte um Vergebung der eigenen
Sünde, im Sinne von getrennten Leben von Gott, ist
für viele ein befreiendes Erlebnis! Das bedeutet für
uns in der Gemeinde den Startschuss, dem der Lauf
folgt. Wer sein Leben Jesus anvertraut hat, hat eine
neue Identität. Dieser Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben
gebrochen ist. Er ist versöhnt mit Gott und dadurch
ein ›Kind Gottes‹, das manchmal noch sündigt. Der
Umgang mit Sünde gleicht von dem Zeitpunkt an dem
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
Hanna Roose
»Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft
Sportler im Lauf, der darauf achtet, dass er gesund
und fit bleibt. Wenn sich jemand also in Gedanken,
Wort oder Tat so verhält, dass es ihn von Gott oder
seinen Mitmenschen trennt, dann ist es ein klarer
Schritt, Gott dafür um Vergebung zu bitten. Das geschieht entweder ganz stille oder im Gebet mit einem
anderen Christen, der daraufhin die Vergebung der
Sünde zuspricht. Der Schlüsselvers, an den wir uns
dabei halten, steht in 1Joh. 1,9: ›Wenn wir aber unsre
Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er
uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.‹ […]
In unserem Unterwegssein mit Gott bleibt auch
die wiederkehrende Vergebung von Sünde keine
Selbstverständlichkeit, sondern etwas sehr Kostbares.
Indem Menschen dem liebenden Gott begegnen, bekommen sie eine Sündenerkenntnis und den starken
Wunsch nach Vergebung. Ich erlebe, wie ernst es den
Menschen ist. Es geht nicht um billige Gnade, sondern
Vergebung meiner Sünde als Chance für Veränderung
zu nehmen.«
kirchlich-theologischen Sprachgebrauch als Problem.
Sie unterscheiden zwischen dem »Phänomen Sünde«,
das für die kirchliche Arbeit von großer Bedeutung sei,
und dem Wort, das aufgrund des eingeengten, pejorativen oder ironischen außerkirchlichen Sprachgebrauchs
»verbrannt« sei. Die freikirchliche Stellungnahme vollzieht diese Trennung nicht, sondern reklamiert den
Begriff »Sünde« – verbunden mit einer Betonung des
»Wir« – für den eigenen Sprachgebrauch.
3.
»Sünde« in der neutestamentlichen
Wissenschaft
Wie verhalten sich die gesellschaftliche und die kirchliche Wahrnehmung von »Sünde« zur diesbezüglichen
Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft?
Zu dieser Frage möchte ich im Folgenden nicht etwa
einen Forschungsüberblick bieten, sondern ich zeige
Stilistisch fällt gegenüber den anderen beiden Stellung- anhand ausgewählter Schlaglichter aus der Forschung
nahmen der Gebrauch des »Wir« auf. Die Stellungnah- (umstrittene) Bedeutungsfacetten der neutestamentme bestätigt die Einschätzung des Schulpastors, nach lichen Rede von »Sünde« auf und skizziere, inwiefern
der in freikirchlichen Gemeinden »unvoreingenomme- sie an die gesellschaftlichen und kirchlichen Stimmen
ner« von Sünde die Rede sei. Das geschieht nicht im anknüpfen oder aber über sie hinausgehen bzw. ihnen
Sinne des moralischen Zeigefingers, sondern – eben- sogar widersprechen.
falls – »im Duktus der Empathie« und im Horizont der
Anders als das Alte Testament gebraucht das Neue
Vergebung. Die inhaltliche Bestimmung von Sünde als Testament für »Sünde« einen einheitlichen Begriff (gr.:
Trennung von Gott spielt auch hier eine wichtige Rolle. hamartia). Die einzelnen neutestamentlichen SchrifDer Text bezieht eine Differenten unterscheiden sich allerdings
zierung ein, die die anderen Stelhinsichtlich ihrer Gewichtung
»Insgesamt fächern die kirchlichen
lungnahmen so nicht thematisieund ihrer Interpretation dessen,
ren: die Verhältnisbestimmung Stimmen das Bedeutungsspektrum von was sie mit »Sünde« meinen. Ein
›Sünde‹ gegenüber dem gesellschaftlivon »Sünde«, bevor jemand sein
Blick in das Inhaltsverzeichnis
chen Sprachgebrauch deutlich weiter
Leben Jesus anvertraut hat, und
der »Theologie des Neuen Tesauf.
›Sünde‹
kommt
nicht
nur
als
mo»Sünde«, nachdem das geschetaments« von Udo Schnelle zeigt,
ralischer Begriff im Sinne der individass »Sünde« nur im Rahmen der
hen ist. Der »Mensch ist nicht
mehr ›Sünder‹, da die Macht der duellen Tatsünde in den Blick, sondern paulinischen Briefe3 und der joSünde nun über seinem Leben
hanneischen Schriften4 einen eiauch als relationaler Begriff sowie als
gebrochen ist«, aber er sündigt
genen Gliederungspunkt erhält.
überindividuelle Macht.«
noch manchmal. Diese VerhältIm Zusammenhang mit der Ernisbestimmung beschäftigt auch
örterung des lukanischen Dopdie neutestamentliche Wissenschaft in ihrer Auslegung pelwerks findet sich ein eigener Abschnitt zu »Sünde
und Sündenvergebung« unter dem Punkt »Anthropopaulinischer Texte.
Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Be- logie« (Lehre vom Menschen).5
deutungsspektrum von »Sünde« gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. »Sün- 3.1 Lukas
de« kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne
der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch Das alltagssprachliche Verständnis von »Sünde« als einer
als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht. individuellen Tat(sünde) weist am ehesten eine gewisse
Die landeskirchlichen Stimmen thematisieren die Dis- Nähe zum lukanischen Gebrauch auf. Das lukanische
krepanz zwischen dem gesellschaftlichen und dem Doppelwerk gebraucht den Begriff »Sünde« im Plural
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
5
Neues Testament aktuell
und bezeichnet damit »ein konkretes Fehlverhalten im
ethisch-moralischen Bereich«6. So heißt es im lukanischen »Vater-Unser«: »Und vergib uns unsere Sünden«
(Lk 11,4). Der lukanische Paulus verteidigt sich in seiner
Rede vor Festus damit, dass er gegen den römischen
Kaiser nicht »etwas gesündigt« habe – er habe also
nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen (Apg 25,78). Soweit entspricht der Gebrauch von »Sünde« dem
Alltagsverständnis, nach dem »Sünde« das Übertreten
von Verboten und konkretes ethisches Fehlverhalten
meint. Die bekannteste einschlägige Textpassage, die
aber auch schon über dieses Verständnis hinausweist,
findet sich in der Parabel vom »Verlorenen Sohn« (Lk
15,11-32): Bei seiner Rückkehr deutet der jüngere Sohn
seinen ehemaligen Lebenswandel mit den Worten: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.«
Damit ist eine doppelte Relationalität benannt: Die
Tatsünde (z. B. das Verprassen von Geld [15,13], aber
auch die Arbeit mit Schweinen, also – nach jüdischem
Verständnis – unreinen Tieren [Lk 15,15]) beschädigt
das Verhältnis zum Mitmenschen (zum Vater) und zu
Gott (»gegen den Himmel«). Nur so wird überhaupt
verständlich, wie die Parabeln vom verlorenen Schaf (Lk
15,1-7) und vom verlorenen Groschen (Lk 15,8-10) mit
der Anwendung enden können, dass Gott sich über einen einzigen Sünder, der umkehrt, mehr freue als über
99 Gerechte – obwohl weder Schaf noch Groschen »ein
konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« begehen (können!). Auf der zweiten Aussageebene
ist hier die »Trennung von Gott« im Blick, die passieren
kann (vgl. Schaf und Groschen7) und verschuldet wird
(verlorener Sohn). Vergebung impliziert entsprechend
eine Doppelbewegung: Der Sünder muss umkehren,
Gott kommt auf den Sünder zu und nimmt ihn wieder
auf.8 »Sünden« bezeichnen also ein konkretes ethischmoralisches Fehlverhalten vor der Umkehr zu Gott.
3.2. Paulus
Deutlich umstrittener ist in der neutestamentlichen
Wissenschaft die Frage, wie Paulus von »Sünde« spricht.
Einigkeit herrscht darüber, dass Paulus – insbesondere
im Römerbrief – die elaboriertesten Aussagen zu Sünde
formuliert, so dass sich die neutestamentliche Diskussion über Sünde im Neuen Testament vornehmlich an
Paulus orientiert.9 Die Diskussion greift dabei auf Kategorisierungen zurück, die weit über die gesellschaftliche
Wahrnehmung von »Sünde« hinausgehen: Inwiefern ist
für Paulus der Mensch Subjekt der Sünde (indem er
sie »tut«), inwiefern ist er ihr Objekt (indem sie ihn
beherrscht)? Inwiefern ist Sünde eine individuelle, in-
6
wiefern eine kollektive oder gar eine universelle Größe?
Welche Rolle spielt Sünde nach paulinischem Verständnis vor der Bekehrung (präkonversional), welche Rolle
nach der Bekehrung (postkonversional)?
Individuelle Tat und universelle Macht
Paulus spricht einerseits von Sünden (im Plural) im Sinne individueller Taten (z. B. Röm 5,16), andererseits von
Sünde (im Singular) im Sinne einer Macht (z. B. Röm
5,21). Einmal ist der Mensch Autor seiner Sünden, er
handelt – und ist verantwortlich für das, was er tut.
Dann ist der Mensch Opfer der Sünde, die über ihn
herrscht – ohne dass er etwas dafür könnte. Mit dieser
idealtypischen Differenzierung ist allerdings erst eine
Polarität aufgespannt, innerhalb derer die exegetische
Auslegung der paulinischen Schriften erheblich variieren kann. Günter Röhser10 stellt in seiner Studie von
1987 den Machtcharakter der Sünde bei Paulus, insbesondere im Römerbrief 5-7, in Frage. Er bezeichnet den
paulinischen Sündenbegriff nach Röm 5-7 als »personifiziertes Abstraktnomen«11. Rückblickend umreißt er
die Zielsetzung seiner Untersuchung folgendermaßen:
»Damit sollte die in der Literatur verbreitete undifferenzierte Redeweise von der Sünde als ›Macht‹ kritisiert, ein
mythologischer Vorstellungshintergrund (die Sünde als
Dämon) problematisiert[12] und festgehalten werden,
dass es einzig menschliche Sünden und Verfehlungen
selbst sind, die eine Eigendynamik entwickeln und auf
die Menschen als Täter zurückschlagen.«13
In die entgegen gesetzte Richtung geht die Studie
von Helmut Umbach von 199914: »Vielmehr ist für
Paulus der Terminus ›Hamartia‹ immer – außer in traditionellen Zitaten, wo er im Plural für menschliche
Verfehlungen eingesetzt ist – eine Größe, die nicht
menschliches Fehlverhalten und menschliche Verfehlungen bezeichnet, wie G. Röhser meint, sondern eine
Macht, der der Mensch ›in Adam‹ total unterworfen
ist (Röm 5), ja, die ihn regelrecht ›besessen‹ hat (Röm
7).«15Die Taufe in Christus bewirkt im Leben des einzelnen Menschen, dass er der Macht der Sünde entrissen (Röm 6,1-11) und fortan von einer anderen Macht
beherrscht wird: dem Geist (gr.: pneuma) Gottes.16 Das
heißt: Die Sünde ist zunächst eine universelle Größe,
alle Menschen sind ihr unterworfen (Röm 5; vgl. 8,22).
Nach ihrer Taufe sind die Menschen keine Sünder mehr.
Die Gemeinde – so Umbach – ist bei Paulus ein »sündenfreier Raum«.17
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
Hanna Roose
»Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft
Präkonversional – postkonversional
geht in seiner Auslegung paulinischer Texte an dieser
Stelle deshalb noch einen Schritt weiter und bezeichnet
die Gemeinde im Untertitel seiner Studie nicht nur als
Sünde-freien Raum, sondern als »sündenfreien Raum«.
Im Blick auf die Frage, warum Paulus seine Gemeinden
trotzdem ermahne, führt Umbach die Unterscheidung
zwischen (Tat-)Sünden und Verfehlungen ein. Die Getauften begehen keine Sünden, sondern »Verfehlungen«.
Vielleicht überzieht Umbach in seinem Untertitel die
eigene These, denn »Paulus spricht doch vom Sündigen
(wenn auch nicht von ›der‹ Sünde) in der Gemeinde«20.
Es ist zumindest fraglich, ob sich diese Belege dadurch
»wegargumentieren« lassen, dass sie der Tradition zugeschlagen werden, die Paulus aufnimmt, ohne sie jedoch
konstitutiv in seine eigene Konzeption einzubauen.
Umbach versteht Paulus so, dass »Sünde« für den Apostel eine Größe ist, die ausschließlich vor der Bekehrung
zu verorten ist. Denn für die Getauften ist die Sünde
entmachtet, sie sind ihr entrissen. »Von ›Sünde‹ im Sinn
des absolut gebrauchten Machtbegriffs ›Hamartia‹ findet sich [postkonversional] in allen relevanten Texten
nichts.«18 Damit ist eine Frage aufgeworfen, die eine weitere grundsätzliche Differenzierung nötig macht: Idealtypisch zu unterscheiden ist nicht nur zwischen Sünden als
Taten und der Sünde als Macht, sondern auch zwischen
der Sünde vor der Bekehrung und (un-)möglichen Sünden nach der Bekehrung. Untersuchungen, die auf die
Sünde vor der Bekehrung fokussieren (präkonversional),
bewegen sich im Rahmen der Soteriologie, also der Frage, wie (woraus, wovor) der Mensch durch Jesus Chris- Sünde als soziale Größe
tus gerettet werden kann. Untersuchungen, die auf die
Sünde(n) nach der Bekehrung fokussieren (postkonversi- Stephan Hagenow widmet seine Studie21 »Heilige Geonal), berühren auch den Rahmen ekklesiologischer und meinde – Sündige Christen« dem Umgang mit postethischer Fragestellungen in urchristlichen Gemeinden. konversionaler Sünde bei Paulus. Hagenow unterstellt –
Ein in dieser Hinsicht hoch umstrittener Text ist Röm anders als Umbach – bereits im Titel seiner Studie, dass
7 (s. Kontroverse in diesem Heft). Dahinter steht die – Paulus postkonversionale Sünde kennt, und er fragt in
durchaus auch heute gesellschaftlich relevante – Beob- historischer Perspektive danach, wie Paulus mit diesem
achtung, dass Christinnen und Christen nicht (immer) Phänomen umgeht. Wesentlich für Hagenows These ist
an ihrem vorbildlichen ethischen Verhalten zu erkennen die Unterscheidung zwischen der Gemeinde und dem
sind. Müsste die Rettung aus der Sünde nicht am ethi- einzelnen Gemeindemitglied. Sünde – so Hagenow – sei
schen Verhalten ablesbar sein? Widersprechen Chris- für Paulus eine soziale Größe: »Sünde ist nicht in erster
tinnen und Christen nicht ihrer
Linie die Störung der Gottesbeeigenen Überzeugung, wenn sie
ziehung des Einzelnen, sondern
»Der manchmal (außerkirchlich) erhoeinerseits an ihrer Rettung durch
eine
Störung und Bedrohung
bene Vorwurf, Christinnen und ChrisJesus Christus festhalten, dem
des
Sozialgefüges.
[…] Sünde
ten meinten, ›besser‹ zu sein als andere
befleckt und bedroht in diesem
aber andererseits kein veränMenschen, wären es aber gar nicht,
dertes »sündenfreies« Verhalten
berührt theologisch gesprochen die Frage Sinne wirklich das Ansehen der
entspricht? Der manchmal (auGruppe. Deshalb kann Sünde
nach dem Verhältnis von präkonversioßerkirchlich) erhobene Vorwurf,
auch nur durch die Gemeinde
naler und postkonversionaler Sünde.«
Christinnen und Christen meinwieder beseitigt werden.«22 Pauten, »besser« zu sein als andere
lus weiß also sehr wohl darum,
Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch dass Getaufte sündigen können, aber in der Gemeinde
gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkon- kann keine Sünde toleriert werden, sie ist »heilig«. Desversionaler und postkonversionaler Sünde.
halb muss die Gemeinde einzelne Sünder ausschließen
Denkbar wäre hier ein Modell, das die Sünde als (vgl. 1Kor 5,12 f.; 6,18). »Es kommt dem Apostel auf
universale Macht ausschließlich präkonversional, die die Wahrung der Heiligkeit der Gemeinde an, das ErSünden als individuelle Taten prä- und postkonversio- gehen des einzelnen Sünders – und sei es noch so granal verortet. Die Getauften wären dann der Macht der vierend – interessiert nur am Rande.«23 Sünde ist also
Sünde entrissen, würden aber dennoch weiter sündi- nicht begrenzt auf eine individuell zurechenbare Tat,
gen. In diese Richtung geht die freikirchliche Stellung- sondern sie wirkt zurück auf die Gemeinschaft. Aus
nahme. Freilich stellt sich dann »die Frage nach dem seelsorgerlicher Perspektive ist diese (Re-)Konstruktion
sachlichen Zusammenhang zwischen der entmachteten hochproblematisch. Sie steht im Widerspruch zu heuSünde und dem dann doch wieder (reichlich!) auftre- tigen kirchlichen Stimmen, die Sünde konstitutiv mit
tenden Fehlverhalten in den Gemeinden«19. Umbach Empathie und Vergebung verbinden.
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
7
Neues Testament aktuell
Eun-Geol Lyu24 beschäftigt sich im Unterschied dazu
mit der präkonversionalen Sünde bei Paulus und fragt
danach, »wie der Apostel den Begriff in seinen missionarischen Tätigkeiten aufgreift«.25 Der soteriologische Fokus zeigt sich in dem Titel »Sünde und Rechtfertigung«.
Lyu fragt, »welchen Anhaltspunkt das paulinische Sündenverständnis für die Erhellung der Rechtfertigungslehre gibt«26. Er kommt – in expliziter Nähe zu Martin
Luther und Rudolf Bultmann – zu dem Ergebnis, dass
Paulus das Sündersein des Menschen als anthropologische Voraussetzung begreift, ohne die die paulinische
Soteriologie nicht auskommt. »Wir brauchen die Rechtfertigung in dem Maße, in dem wir Sünder sind.«27 Damit wendet Lyu sich u. a. gegen Ed Sanders und die
»New Perspective«, die Paulus »andersherum« versteht
und meint, dass Paulus von der Rechtfertigung her auf
die Sünde der Menschen schließe.28 Lyu leitet aus seiner
Interpretation »einen Anhaltspunkt für die Mission der
dritten Welt« ab: »Von großer Relevanz ist jedoch der
Einsatz mit dem Sündersein der Zuhörer, weil die Botschaft vor allem die Sündenüberwindung fokussiert.«29
Für den christlichen Bereich konstatiert Lyu einerseits,
dass »die Sündenproblematik heute ihre Relevanz verloren [habe]«, andererseits, dass das Thema nach wie vor
dort aktuell sei, »wo Christen den Begriff ›Sünder‹ auf
andere Mitchristen anwenden, die der ethischen Richtschnur nicht entgegenkommen«30.
3.3 Johannes
Im Hinblick auf die johanneischen Schriften ist in der
neutestamentlichen Forschung umstritten, welches Gewicht31 und welchen Grad an Geschlossenheit die Rede
von »Sünde« aufweist sowie die Nähe32 oder Ferne33 zur
paulinischen Sündenkonzeption. Ich beschränke mich
hier auf einige Aspekte, die das Gesamtbild um weitere
Facetten erweitern.
Sünde als Unglaube
Hasitschka34 sieht in Joh 1,29 einen Schlüsseltext zum
Verständnis des johanneischen Sündenverständnisses.
Der Vers zu Beginn des Evangeliums zeige, dass Johannes die Rede von der Sünde soteriologisch und christologisch verortet: Vor der Rede von der Sünde in der Welt
»geht es in 1,29 vorweg um die Befreiung von Sünde.
Der ganze Nachdruck liegt darauf zu zeigen, durch wen
Sünde hinweggenommen wird«35. Hasitschka bestimmt
das Verhältnis zwischen der Sünde als »der Grundverfehlung des Kosmos gegenüber Gott« und den vielen
Einzelverfehlungen so, dass letztere in ersterer wurzeln.36
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Daraus folgt, dass Jesus Christus, indem er die Sünde
als Grundverfehlung aufhebt, auch die Folgen dieser
Grundverfehlung hinwegnimmt. Wenn es heißt, dass
Jesus Christus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt
trägt/hinwegnimmt, dann bezieht sich das also auf »das
Geschenk einer neuen, heilen Beziehung zu Gott und
die Befreiung von allen Folgen der Sünde«37. Diesen
Zusammenhang reflektiert Johannes nicht ethisch, sondern im Blick auf den Glauben. »Die Voraussetzung von
seiten des Menschen, um dieses Geschenk zu erlangen,
ist […] der Glaube an Jesus.«38 Deshalb kann Johannes
Unglaube als Sünde bezeichnen (Joh 8,24; 16,9). »Die
Juden« und »die Welt« verharren im Unglauben und
erweisen sich so als Kinder des Teufels. Sie sind unfähig,
Jesus zu erkennen und ihm zu glauben, und wollen Jesus
töten. Verantwortung für das Tun der Sünde und die
Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander.39 Die Blindenheilung (Joh 9), die neben
einer physischen auch eine tiefere Bedeutung im Sinne von Erkenntnisgewinn habe, zeige, dass Jesus »dem
Menschen heilend und helfend entgegenkommen muss,
damit die Erkenntnis seiner Person und der rettende
Glaube an ihn möglich werden«40. Der Mensch könne
sich dann frei für oder gegen Jesus Christus entscheiden.
Befreiung von Sünde durch das Wort
Alois Stimpfle fragt danach, wie der Mensch nach johanneischem Verständnis von der Sünde befreit werde.
An dieser Stelle sieht er die Eigenart der johanneischen
Konzeption. Anders als Hasitschka sieht Stimpfle nicht
in Joh 1,29, sondern in 15,3a den Schlüsseltext: »Ihr seid
schon rein durch das Wort.« Johannes verstehe Befreiung
von der Sünde als Reinigung. Hierin liege das spezifisch
johanneische Profil. Denn: »Weder das Wasser der Taufe noch das Blut des Kreuzes sind reinigungsrelevante
Größen.«41 Die Beseitigung der Sünde vollziehe sich
vielmehr für die Erwählten »durch das Offenbarerwort,
näherhin durch seine im Menschen Erkennen bewirkende Potenz«42. Dies ist insofern eine »sympathische« Auslegung, als sie ohne das Blut am Kreuz »auskommt«. Die
Frage, inwiefern das Kreuz im Johannesevangelium soteriologische Bedeutung habe, ist allerdings umstritten.43
Sünde als offenbarungstheologischer Begriff
Rainer Metzner44 fasst das johanneische Sündenverständnis dementsprechend weiter. »Sünde ist die eine,
im Widerspruch gegen Gottes Offenbarung sich manifestierende Verweigerung der Welt gegenüber dem Gesandten Gottes.«45 In der Offenbarung durch den Sohn
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
Hanna Roose
»Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft
geht es sowohl um das, was Jesus Christus sagt, als auch ernsthaft – ein Sprachgebrauch unterstellt, der Sünde als
um das, was er tut und was ihm widerfährt. Die Sünde ein moralisch verwerfliches Tun »der anderen« versteht.
»wird am Kreuz offenbar und mit ihrer Offenbarung Von diesem Verständnis distanziert sich die Gesellschaft
zugleich überwunden (1,29).«
durch Ironisierung und Trivialisierung. Damit entfernt sie sich
Diesen Gedanken entfaltet Jo»Verantwortung für das Tun der
hannes dramatisch und mit hindeutlich vom biblischen SprachSünde und die Versklavung durch die
tergründiger Ironie. Die Rollen
gebrauch, der Sünde an keiner
Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen
vertauschen sich: »Die Ankläger
Stelle als etwas Triviales versteht.
ineinander.«
[›die Juden‹, die Welt] werden zu
Insbesondere die landeskirchliVerurteilten, und der Angeklagte
chen Stimmen reflektieren und
[Jesus Christus] wird zum Richter (9,39-41; 15,22-24; problematisieren den eigenen Gebrauch von »Sünde«
16,8-11; 19,11). In diesem Rechtsstreit wird dem Sohn vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Distan(von Gott) das Recht, der ungläubigen und sündigen zierung. Dabei kommen insbesondere BedeutungsfacetWelt aber das Unrecht zugesprochen.«46
ten ins Spiel, die auf die Paulusbriefe zurückgehen. Die
neutestamentliche Wissenschaft konzentriert sich bei
der Diskussion um »Sünde« ebenfalls schwerpunktmäDie »Sünde zum Tode« (1Joh 5,16-17)
ßig auf die Paulusbriefe. Sie arbeitet – auch mit Blick auf
Der 1. Johannesbrief, bei dem die Forschung sich nicht weitere neutestamentliche Schriften – weitere Bedeueinig ist, ob er vor oder nach dem Johannesevangelium tungsfacetten von »Sünde« heraus. Von diesen Facetten
anzusetzen ist, unterscheidet zwischen vergebbaren und erscheinen insbesondere diejenigen für heutige kirchnicht vergebbaren Sünden. Bei vergebbaren Sünden liche Arbeit als problematisch, die »Sünde« mit dem
darf ein Gemeindemitglied für den Sünder um Verge- (endgültigen) Entzug des Heils in Verbindung bringen
bung bitten, bei nicht vergebbaren Sünden ist dies nicht (1Kor 5,12-13; 6,18; 1Joh 5,16-17) – dies umso mehr,
möglich. Daher führt die nicht vergebbare Sünde »zum als sie den gesellschaftlichen Eindruck verstärken könnTode«, sie führt dazu, dass Getaufte wieder aus dem ten, die Kirche würde unter Berufung auf die Bibel »anHeils- und Lebensbereich Gottes herausfallen. Diese dere« als Sünder brandmarken und ausschließen. AndeDifferenzierung – die weder im 1. Johannesbrief noch re Facetten spielen in der kirchlichen Arbeit durchaus
im Johannesevangelium genauer präzisiert wird – steht eine wesentliche Rolle – etwa die »Sünde« als Macht und
vor dem Hintergrund widersprüchlicher Aussagen. als relationaler Begriff –, weil sie das enge, moralische
1Joh 1,8 stellt fest: »Wenn wir sagen, wir haben keine Verständnis von »Sünde« im Sinne einer individuellen
Sünde, betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht Tatsünde erweitern und aufbrechen.
in uns.« Im Gegensatz dazu heißt es in 1Joh 3,9: »Jeder,
der aus Gott geboren ist, tut keine Sünde; denn sein
Same bleibt in ihm. Er kann nicht sündigen, weil er von Anmerkungen
Gott stammt.« An die Stelle widersprüchlicher Aussagen 1
http://www.youtube.com/watch?v=3tAfSTbvQfM&feat
tritt in 1Joh 5,16-17 eine graduelle Differenzierung zwiure=player_detailpage.
schen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Diese 2 H. Roose, »Sünde ist …« – Biblische Texte bei JugendliDifferenzierung steht in Spannung zu dem von kirchlichen ins Spiel bringen, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und
cher Seite formulierten Anliegen, Sünde grundsätzlich
Kirche, Stuttgart 2012, 135-149: 143.
im Horizont (möglicher) Vergebung zu thematisieren.
3
4
4.
Schluss
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6
Der Blick auf den gesellschaftlichen, den kirchlichen
und den neutestamentlich-exegetischen Sprachgebrauch
von »Sünde« hat eine steigende Anzahl von Bedeutungsfacetten deutlich gemacht. Der gesellschaftliche Sprachgebrauch arbeitet mit der kritischen Distanz zwischen
außerkirchlichen und innerkirchlichen Verwendungsweisen. Der Kirche wird dabei – mehr oder weniger
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
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U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen
2007, 261-268.
A. a. O., 684-686.
A. a. O., 465-469.
A. a. O., 466.
»Manch eine gerät unverschuldet in Not und verliert darin
den Glauben, manch einer stellt plötzlich im alltäglichen
Einerlei fest, wie verloren er ist. Die bloße Erfahrung
des Gefundenwerdens, ausgelöst durch ein Wort, eine
menschliche Begegnung, eine neue Erfahrung, kann dann
genug sein, um eine radikale Veränderung der Einstellung
zu Gott, den Mitmenschen und der Welt hervorzubringen.« A. Merz, Last und Freude des Kehrens (Lk 15,8-
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10), in: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der
Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 610–617, hier: 616.
H. Roose, Umkehr und Ausgleich bei Lukas: Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn (Lk 15.11-32) und vom armen
Mann und reichen Lazarus (Lk 16) als Schwestergeschichten, NTS 56 (2010), 1-21.
R. Kampling, Art. »Sünde«, Handbuch theologischer
Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, hg. v. A.
Berlejung und C. Frevel, Darmstadt 2006, 381-384; hier:
382.
G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde.
Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia
(WUNT 2/25) Tübingen 1987.
A. a. O., 157.
Dieses Anliegen erinnert an die Aussage einer Pastorin, die
Macht der Sünde zu »entzaubern«.
G. Röhser, Vom Gewicht der Sünde und des Redens
davon. Biblische Aspekte für eine heutige Vermittlung,
Ökumenische Rundschau 2005, 427–445; hier: 431 f.
H. Umbach: In Christus getauft – von der Sünde befreit.
Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FRLANT 181) Göttingen 1999.
A. a. O., 314.
Ebd.
So der Untertitel der Untersuchung von Umbach.
Umbach, In Christus getauft, 315.
Röhser, Gewicht der Sünde, 442.
Ebd.
Hagenow, Heilige Gemeinde – Sündige Christen. Zum
Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in
weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54) Tübingen 2011.
A. a. O., Heilige Gemeinde, 316.
A. a. O., Heilige Gemeinde, 34.
E. G. Lyu, Sünde und Rechtfertigung bei Paulus. Eine
exegetische Untersuchung zum paulinischen Sündenverständnis aus soteriologischer Sicht (WUNT 2/318) Tübingen 2011.
A. a. O., 3.
A. a. O., 23.
A. a. O., 356.
»Die Schlussfolgerung [!], dass alle unter der Sünde sind,
ist so fundiert wie das Dogma, dass alle der Rettung durch
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den Glauben an Christus bedürfen.« (E.P. Sanders, Paulus.
Eine Einführung, Stuttgart 1995, 130).
Lyu, Sünde und Rechtfertigung, 356.
Ebd.
E. Haenchen urteilt: »Es ist längst aufgefallen, dass der
Begriff der Sünde im vierten Evangelium zwar 16mal vorkommt, aber dennoch keine entscheidende Rolle spielt.«,
in: Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, aus den
nachgelassenen Manuskripten hg. v. U. Busse, Tübingen
1980, 493-494. R. Metzner hält dagegen: »Johannes hat
ein ausgeprägtes Sündenverständnis entwickelt.«, in: Das
Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT
122) Tübingen 2000, 351.
H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments.
Band 3: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 181.
A. Stimpfle, »Ihr seid schon rein durch das Wort«
(Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegungen zur Frage nach »Sünde« und »Vergebung« im
Johannesevangelium, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde
und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg
u. a. 1996, 108-122.
M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium (IthS 27), Innsbruck/Wien 1989.
A. a. O., 164.
A. a. O., 166.
Ebd.
A. a. O., 170.
A. a. O., 279.
A. a. O., 341.
Stimpfle, Ihr seid schon rein, 121.
A. a. O., 122.
Vgl. einerseits Th. Knöppler, Die theologia crucis des
Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu
im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), Neukirchen-Vluyn
1994; andererseits U.B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des
Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW
88, 1997, 24-55.
R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000.
A. a. O., 354.
A. a. O., 353.
ZNT 32 (16. Jg. 2013)
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