Neues Testament aktuell 1. Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft »Sünde« in der Gesellschaft Grüne Blätter, Sonnenschein, Vogelgezwitscher, im Hintergrund Glockengeläut. Das Gesicht einer jungen Frau, an der Kleidung als Nonne zu erkennen, kommt ins Bild. Sie stöhnt erschrocken und erregt auf und fragt: »Ist das nicht eigentlich eine Sünde?« Eine ältere Nonne kommt ins Bild. Sie zuckt zusammen und zieht erschrocken Luft zwischen den Zähnen ein. Zwischen beiden Nonnen sitzt eine dritte, deutlich ältere Nonne. Sie erklärt bestimmt: »Nee, schmeckt nur so.« Die beiden anderen Nonnen atmen erleichtert auf. Jetzt erkennt man, dass die drei mit Hingabe Pudding löffeln. Eine männliche Stimme aus dem off erklärt: »Neu, LightPudding von Dr. Oetker. Nur 0,1 % Fett. Und unglaublich schokoladig und cremig. Schmeckt sündhaft, ist er aber nicht. Light-Pudding. Neu von Dr. Oetker.«1 Dieser Werbespot verrät viel darüber, wie »Sünde« in unserer Gesellschaft konnotiert ist. Da sind zunächst Anklänge an das biblische Paradies: die grünen Blätter, der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher. Die religiöse Konnotation wird verstärkt durch das Glockengeläut und dann natürlich durch die Kleidung der Frauen, die sie als Nonnen ausweist. »Sünde« wird außerdem mit Sex, mit sexueller Erregung, in Verbindung gebracht. Die junge Nonne stöhnt erregt auf. Sie hat gerade etwas sehr Schönes erfahren. Doch statt zu genießen, erschrickt sie und fragt besorgt: »Ist das nicht eigentlich Sünde?« Unter Sünde versteht sie offenbar eine Handlung, eine Tat. Worin diese Tat besteht, kann der Zuschauer nur vermuten. Wie kommt die Nonne auf die Idee, dass genussvolle Handlungen Sünde sein könnten? Hier schwingt das gesellschaftliche Bild eines kirchlich geprägten Ethos mit, das Genuss – und insbesondere sexuellen Genuss – als Sünde brandmarkt und also verbietet. Der Sündenfall führt – so lehrt es doch die Bibel – zur Vertreibung aus dem Paradies. Die zweite Nonne, die ins Bild kommt, scheint diese Befürchtung zu bestätigen. Sie zuckt zusammen und hält in dem, was sie tut, inne. Die ältere Nonne hingegen wischt die Bedenken fort: Was sie tun, ist keine Sünde. Jetzt wird aber auch klar, dass es gar nicht um Sex geht, sondern um Essen. Hier kommt eine dritte Konnotation zum Tragen: »Sünde« wird mit dick machendem, kalorienreichem und reichhaltigem Essen assoziiert. Die Nonnen 2 begehen mit dem Essen des Puddings keine Sünde, weil er nur 0,1 % Fett enthält. »Sünde« gilt also einerseits als etwas Triviales, andererseits als etwas Schönes, Sinnliches, Begehrenswertes, Verlockendes. Beide Konnotationen markieren eine deutliche komplizenhafte Distanz zu und Kritik an einer der Kirche zugeschriebenen Sündenlehre, nach der Sünde(n) über unser »ewiges« Heil oder Unheil entscheiden und die alles als »verboten« brandmarkt, was Menschen – zu Recht – genießen. Der Werbespot spielt mit den – der Lächerlichkeit preisgegebenen – Vorstellungen »der Kirche« zu »Sünde«, er vertraut darauf, dass die große Mehrheit der Fernsehzuschauer diese implizite Wertung teilt. Insofern präsentiert der Spot eine kritische Außensicht auf Kirche, die auf breite gesellschaftliche Zustimmung hofft. Allerdings ist diese Außensicht so stark ironisiert und überspitzt, dass durchaus auch Personen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, mitlachen können. Der Umschlag von sexuellen Anklängen auf das Essen eines kalorienarmen Puddings hat etwas Komisches. In einem Brainstorming, den Jugendliche einer 9./10. Klasse zu dem Impuls »Sünde ist …« durchführen, benennen sie z. T. ganz ähnliche, z. T. auch andere Items: t Essen wegwerfen t Filme »runterladen« t Heimlich rauchen t Töten t Stehlen t Sex vor der Ehe t Etwas Verbotenes machen2 Das letzte Item fasst die vorangehenden zusammen: Die Jugendlichen verstehen unter »Sünde« das, was verboten ist. Es ist aber nicht so, dass die Jugendlichen der Meinung wären, alle von ihnen genannten Handlungen sollten tatsächlich verboten sein. Weiterführend ist vielmehr die Frage, aus wessen Sicht die einzelnen Handlungen ihrer Meinung nach verboten sind. Am ehesten gehen die Jugendlichen damit konform, dass Töten und Stehlen verboten seien. Hier sehen sie eine Verbindung zu den 10 Geboten. Essen wegwerfen und heimlich rauchen sind Tätigkeiten, die die Eltern (unnötigerweise) verbieten, Filme »runterzuladen« verbietet ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft 2. »Sünde« in der Kirche Hanna Roose Prof. Dr. Hanna Roose, geb. 1967 in Kiel, Studium der Ev. Theologie, der Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes sowie in Straßburg; Dissertation bei U. B. Müller (Saarbrücken, 1997); Habilitation an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (2002); von 1997–2000 Lehrkraft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und kirchliche Honorarkraft im Schuldienst; 2000–2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau; seit 2004 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Bibeldidaktik, Intertextualität, lukanisches Doppelwerk. Der gesellschaftliche Gebrauch von »Sünde« impliziert einen Blick von außen auf die Kirche und ihren Gebrauch von »Sünde«. Wie verhält sich diese gesellschaftliche Außensicht zu einer kirchlichen Binnensicht? Drei kirchliche Stimmen kommen hier zu Wort: ein evangelischer Schulpastor aus Hamburg, eine Superintendentin der Hannoverschen Landeskirche und ein Pastor einer freikirchlichen Gemeinde aus Lüneburg. Der evangelische Schulpastor äußert sich wie folgt zu der Frage, welche Rolle »Sünde« in seiner beruflichen Tätigkeit spielt: »Spielt im umgangssprachlichen Zusammenhang das Wort eine gewisse Rolle, um Fehler und Übertretungen zu benennen, z. B. Verkehrssünder, Temposünder, Steuersünder, Alkoholsünder, so ist diese Festlegung innerkirchlich deutlich anders. Zwar ist Sünde, im Sinne von Trennung von Gott, ein theologisch klarer Sachverhalt, trotzdem hat es den Eindruck, dass in der binnenkirchlichen Kommunikation der Begriff Sünde gemieden wird. Die Ursache liegt wohl in der Wirkungsgeschichte. Sünde wurde lange Jahre seitens der Kirche dermaßen moralisch aufgeladen verwendet, dass diese Verwendung durchaus verheerende Spuren hinterlassen hat. Die die Sünde brandmar(ärgerlicherweise) das Gesetz, Sex vor der Ehe verbietet kende Kirche ist zum Klischee verkommen und wird (unsinnigerweise) die Kirche – ohne dass die Jugendauch heute noch, gerade von Kirchenfernen, als das lichen bei diesem Verbot einen biblischen Bezug ausBild von Kirche wahrgenommen, mit der man schon machen. Für diese Jugendlichen ist der Begriff »Sünde« lange nichts zu tun haben wollte und will. Diese bialso z. T. biblisch, z. T. kirchlich verankert. Er ist mehr gotte Moralanstalt, die andere als Sünder bezeichnet oder weniger gleichbedeutend mit »Etwas Verbotenes und selbst den eigenen Ansprüchen nicht genügt, ist machen«. Die Bibel formuliert für viele auch heute noch das existierende Bild von Kirche und jeder nach Meinung der Jugendlichen »Für diese Jugendlichen ist der BeVorfall, z. B. sexueller Missbrauch, durchaus sinnvolle Verbote, die griff ›Sünde‹ also z.T. biblisch, z. T. der daran rührt, bestätigt dieses Bild. Kirche hingegen nehmen sie – kirchlich verankert. Er ist mehr oder Innerhalb der evang. Kirche und seiähnlich wie dies im Werbespot tens evang. Geistlicher wird der Beweniger gleichbedeutend mit ›Etwas geschieht – als »prüde« wahr. In griff Sünde weitgehendst gemieden. Verbotenes machen.‹« der Bedeutung »Etwas VerboteDie Verwechslungsgefahr des theol. nes machen« strahlt der Begriff Begriffs mit dem moralinsauren Zeigefinger ist zu groß. Sünde ist insofern nicht ›predigt»Sünde« für sie dann über den Bereich von Bibel und tauglich‹. Die eigene Geschichte hemmt sehr, diesen Kirche hinaus und kann auch »profane« Verbote meiBegriff aktuell zu verwenden. Nur auf dem evangenen. Deutlich ist auch hier die moralische Aufladung likalen Rand wird hier unvoreingenommener agiert. des Begriffs, ohne dass »Sünde« eindeutig positiv oder Gleichwohl ist der Sachverhalt, den der Begriff meint, negativ konnotiert wäre. nicht verschwunden. Die Kirche äußert sich insofern Sowohl im Werbespot als auch in den Äußerungen zu bestimmten ethischen Fragen in umfassenden und der Jugendlichen ist »Sünde« eine moralische Größe, abgewogenen Denkschriften, ohne jedoch hier in dem Sinne eindeutig Stellung zu beziehen, dass man klar ein sie entspricht einer individuellen Tat, die das ethisch Verhalten als (Tat)Sünde bezeichnet.« Gebotene verletzt. Kirche wird dabei als eine Institution wahrgenommen, die z. T. unsinnige, unzeitgemäße und genussfeindliche Verbote durchsetzen will, indem sie deren Übertretung als »Sünde« (ab)qualifiziert. ZNT 32 (16. Jg. 2013) Diese Stellungnahme setzt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von »Sünde« als »moralinsaurem Zeigefinger« ein theologisches Verständnis im Sinne von »Trennung 3 Neues Testament aktuell von Gott« entgegen. »Sünde« ist hier also relational gefasst, sie betrifft das Verhältnis (des Einzelnen) zu Gott. Die ethische Dimension von »Sünde« wird im letzten Absatz ebenfalls anerkannt: Ein bestimmtes Verhalten kann prinzipiell als »(Tat)Sünde« bezeichnet werden. Da der Begriff jedoch im gesellschaftlichen Kontext von Kirche als einer »bigotten Moralanstalt« so stark vorbelastet sei, verzichte Kirche darauf, konkrete Handlungen als »(Tat)Sünde« zu qualifizieren. Der Begriff sei insgesamt nicht »predigttauglich«. Die Stellungnahme berührt nicht die Frage, ob bzw. wie »Sünde« als relationaler Begriff und als »Tat« zusammenhängen. Evangelikale Kirchen kommen in der Außenperspektive in den Blick. Einige dieser Aspekte finden sich in Äußerungen von Pastorinnen und Pastoren der Hannoverschen Landeskirche wieder, die eine Superintendentin zur Frage, ob bzw. wie der Begriff »Sünde« in ihrer kirchlichen Arbeit vorkomme, gesammelt hat: t »Wenn ich Sünde sage, hören viele nur: Diät, Falschparken, sexuelle Ausschweifung.« t »Es ist schwer gegen das Zerrbild, dass Sünde nur moralische Verfehlungen meint, anzukommen.« t »Wo in der Kirche von Sünde gesprochen wird, werden Projektionen auf kirchlichen Moralrigorismus wach.« Klar sei aber auch, dass das Phänomen »Sünde« einen wichtigen Platz in der kirchlichen Arbeit einnehme: t »Auf jeden Fall kommt Sünde in meiner Arbeit vor, allerdings meide ich den Begriff und suche Umschreibungen.« t »Sünde ist für mich ein unverzichtbarer theologischer Topos – der Begriff muss allerdings sehr vorsichtig verwendet werden, da er oft stark moralisch missverstanden wird.« Unter »Sünde« verstehen die Befragten: t »Beziehungsstörung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott. Jeder ist betroffen davon.« t »Erfahrung einer Macht, die zum Bösen drängt. Sie muss beim Namen genannt und entzaubert werden.« t »Eine kollektive Kategorie: In der globalen Welt nimmt die Verstrickung in ungute Zusammenhänge zu.« Die erste Äußerung hebt wiederum auf den relationalen Charakter von »Sünde« ab, hier explizit in der doppelten Relationalität von Mensch zu Gott sowie Mensch 4 zu Mitmensch. Die zweite Äußerung versteht »Sünde« nicht primär als (Einzel-)Tat, sondern als »Macht, die zum Bösen drängt«. Der dritte Beitrag sieht in dem Phänomen »Sünde« keine individuelle, sondern eine kollektive, ja globale Kategorie. Zwei der zitierten Äußerungen gehen auch bereits darauf ein, wie kirchliche Vertreter mit dem Phänomen »Sünde« umgehen sollten: darüber reden, die »Macht« beim Namen nennen und »entzaubern«. In einem weiteren Beitrag stellt eine Pastorin die Rede von »Sünde« in den Kontext der Rede von »Vergebung«: »Wenn ich von Sünde rede, dann immer mit Blick auf die Vergebung. Darauf kommt es an!« Deutlich wurde im Gespräch mit den Pastorinnen und Pastoren – so die Superintendentin – dass die Rede von »Sünde« »im Duktus der Empathie […] und nicht im Duktus von Appell oder Anklage« geschehe. Das markiert eine entscheidende Differenz zum Bild von Kirche, die andere anklage, dabei den eigenen Ansprüchen aber nicht gerecht werde. Die Stellungnahme des Pastors einer freikirchlichen Gemeinde setzt mit dem Zusammenhang von Sünde und Vergebung ein: »Das Thema ›Sünde‹ ist bei uns in der Gemeinde untrennbar mit dem Thema ›Vergebung‹ verbunden. Beide Themen gehören ganz normal zu den Glaubensund Lebensthemen, die wir miteinander bewegen – in Lehre und Verkündigung und in der praktischen Lebensgestaltung. Sie gehören für uns deshalb so selbstverständlich dazu, weil sie zentrale Bestandteile der ›Botschaft vom Kreuz‹ sind, die für uns ›der Inbegriff von‹ Gottes Kraft ist (1Kor 1,18). Sünde verstehen wir in ihrem Kern als Trennung von Gott. Menschen, die in unsere Gemeinde kommen, fragen nicht in erster Linie nach einem gnädigen Gott, aber sie sind auf der Suche nach etwas, das bleibt, etwas, das hält, etwas, das Bestand hat. Sie sind auf der Suche nach echtem Leben, nach wirklichem Frieden – nach dem, was nicht von dieser Welt ist. Vor allem in unseren Glaubensgrundkursen und in unseren Gottesdiensten erleben wir es immer wieder, dass Menschen den Tod Jesu am Kreuz als Angebot zum Leben annehmen. Sie nehmen es für sich ganz persönlich in Anspruch, dass Jesus für ihre Sünde gestorben ist, und sie dadurch in Beziehung mit Gott treten können. Die Bitte um Vergebung der eigenen Sünde, im Sinne von getrennten Leben von Gott, ist für viele ein befreiendes Erlebnis! Das bedeutet für uns in der Gemeinde den Startschuss, dem der Lauf folgt. Wer sein Leben Jesus anvertraut hat, hat eine neue Identität. Dieser Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben gebrochen ist. Er ist versöhnt mit Gott und dadurch ein ›Kind Gottes‹, das manchmal noch sündigt. Der Umgang mit Sünde gleicht von dem Zeitpunkt an dem ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Sportler im Lauf, der darauf achtet, dass er gesund und fit bleibt. Wenn sich jemand also in Gedanken, Wort oder Tat so verhält, dass es ihn von Gott oder seinen Mitmenschen trennt, dann ist es ein klarer Schritt, Gott dafür um Vergebung zu bitten. Das geschieht entweder ganz stille oder im Gebet mit einem anderen Christen, der daraufhin die Vergebung der Sünde zuspricht. Der Schlüsselvers, an den wir uns dabei halten, steht in 1Joh. 1,9: ›Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.‹ […] In unserem Unterwegssein mit Gott bleibt auch die wiederkehrende Vergebung von Sünde keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas sehr Kostbares. Indem Menschen dem liebenden Gott begegnen, bekommen sie eine Sündenerkenntnis und den starken Wunsch nach Vergebung. Ich erlebe, wie ernst es den Menschen ist. Es geht nicht um billige Gnade, sondern Vergebung meiner Sünde als Chance für Veränderung zu nehmen.« kirchlich-theologischen Sprachgebrauch als Problem. Sie unterscheiden zwischen dem »Phänomen Sünde«, das für die kirchliche Arbeit von großer Bedeutung sei, und dem Wort, das aufgrund des eingeengten, pejorativen oder ironischen außerkirchlichen Sprachgebrauchs »verbrannt« sei. Die freikirchliche Stellungnahme vollzieht diese Trennung nicht, sondern reklamiert den Begriff »Sünde« – verbunden mit einer Betonung des »Wir« – für den eigenen Sprachgebrauch. 3. »Sünde« in der neutestamentlichen Wissenschaft Wie verhalten sich die gesellschaftliche und die kirchliche Wahrnehmung von »Sünde« zur diesbezüglichen Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft? Zu dieser Frage möchte ich im Folgenden nicht etwa einen Forschungsüberblick bieten, sondern ich zeige Stilistisch fällt gegenüber den anderen beiden Stellung- anhand ausgewählter Schlaglichter aus der Forschung nahmen der Gebrauch des »Wir« auf. Die Stellungnah- (umstrittene) Bedeutungsfacetten der neutestamentme bestätigt die Einschätzung des Schulpastors, nach lichen Rede von »Sünde« auf und skizziere, inwiefern der in freikirchlichen Gemeinden »unvoreingenomme- sie an die gesellschaftlichen und kirchlichen Stimmen ner« von Sünde die Rede sei. Das geschieht nicht im anknüpfen oder aber über sie hinausgehen bzw. ihnen Sinne des moralischen Zeigefingers, sondern – eben- sogar widersprechen. falls – »im Duktus der Empathie« und im Horizont der Anders als das Alte Testament gebraucht das Neue Vergebung. Die inhaltliche Bestimmung von Sünde als Testament für »Sünde« einen einheitlichen Begriff (gr.: Trennung von Gott spielt auch hier eine wichtige Rolle. hamartia). Die einzelnen neutestamentlichen SchrifDer Text bezieht eine Differenten unterscheiden sich allerdings zierung ein, die die anderen Stelhinsichtlich ihrer Gewichtung »Insgesamt fächern die kirchlichen lungnahmen so nicht thematisieund ihrer Interpretation dessen, ren: die Verhältnisbestimmung Stimmen das Bedeutungsspektrum von was sie mit »Sünde« meinen. Ein ›Sünde‹ gegenüber dem gesellschaftlivon »Sünde«, bevor jemand sein Blick in das Inhaltsverzeichnis chen Sprachgebrauch deutlich weiter Leben Jesus anvertraut hat, und der »Theologie des Neuen Tesauf. ›Sünde‹ kommt nicht nur als mo»Sünde«, nachdem das geschetaments« von Udo Schnelle zeigt, ralischer Begriff im Sinne der individass »Sünde« nur im Rahmen der hen ist. Der »Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der duellen Tatsünde in den Blick, sondern paulinischen Briefe3 und der joSünde nun über seinem Leben hanneischen Schriften4 einen eiauch als relationaler Begriff sowie als gebrochen ist«, aber er sündigt genen Gliederungspunkt erhält. überindividuelle Macht.« noch manchmal. Diese VerhältIm Zusammenhang mit der Ernisbestimmung beschäftigt auch örterung des lukanischen Dopdie neutestamentliche Wissenschaft in ihrer Auslegung pelwerks findet sich ein eigener Abschnitt zu »Sünde und Sündenvergebung« unter dem Punkt »Anthropopaulinischer Texte. Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Be- logie« (Lehre vom Menschen).5 deutungsspektrum von »Sünde« gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. »Sün- 3.1 Lukas de« kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch Das alltagssprachliche Verständnis von »Sünde« als einer als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht. individuellen Tat(sünde) weist am ehesten eine gewisse Die landeskirchlichen Stimmen thematisieren die Dis- Nähe zum lukanischen Gebrauch auf. Das lukanische krepanz zwischen dem gesellschaftlichen und dem Doppelwerk gebraucht den Begriff »Sünde« im Plural ZNT 32 (16. Jg. 2013) 5 Neues Testament aktuell und bezeichnet damit »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich«6. So heißt es im lukanischen »Vater-Unser«: »Und vergib uns unsere Sünden« (Lk 11,4). Der lukanische Paulus verteidigt sich in seiner Rede vor Festus damit, dass er gegen den römischen Kaiser nicht »etwas gesündigt« habe – er habe also nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen (Apg 25,78). Soweit entspricht der Gebrauch von »Sünde« dem Alltagsverständnis, nach dem »Sünde« das Übertreten von Verboten und konkretes ethisches Fehlverhalten meint. Die bekannteste einschlägige Textpassage, die aber auch schon über dieses Verständnis hinausweist, findet sich in der Parabel vom »Verlorenen Sohn« (Lk 15,11-32): Bei seiner Rückkehr deutet der jüngere Sohn seinen ehemaligen Lebenswandel mit den Worten: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.« Damit ist eine doppelte Relationalität benannt: Die Tatsünde (z. B. das Verprassen von Geld [15,13], aber auch die Arbeit mit Schweinen, also – nach jüdischem Verständnis – unreinen Tieren [Lk 15,15]) beschädigt das Verhältnis zum Mitmenschen (zum Vater) und zu Gott (»gegen den Himmel«). Nur so wird überhaupt verständlich, wie die Parabeln vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-7) und vom verlorenen Groschen (Lk 15,8-10) mit der Anwendung enden können, dass Gott sich über einen einzigen Sünder, der umkehrt, mehr freue als über 99 Gerechte – obwohl weder Schaf noch Groschen »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« begehen (können!). Auf der zweiten Aussageebene ist hier die »Trennung von Gott« im Blick, die passieren kann (vgl. Schaf und Groschen7) und verschuldet wird (verlorener Sohn). Vergebung impliziert entsprechend eine Doppelbewegung: Der Sünder muss umkehren, Gott kommt auf den Sünder zu und nimmt ihn wieder auf.8 »Sünden« bezeichnen also ein konkretes ethischmoralisches Fehlverhalten vor der Umkehr zu Gott. 3.2. Paulus Deutlich umstrittener ist in der neutestamentlichen Wissenschaft die Frage, wie Paulus von »Sünde« spricht. Einigkeit herrscht darüber, dass Paulus – insbesondere im Römerbrief – die elaboriertesten Aussagen zu Sünde formuliert, so dass sich die neutestamentliche Diskussion über Sünde im Neuen Testament vornehmlich an Paulus orientiert.9 Die Diskussion greift dabei auf Kategorisierungen zurück, die weit über die gesellschaftliche Wahrnehmung von »Sünde« hinausgehen: Inwiefern ist für Paulus der Mensch Subjekt der Sünde (indem er sie »tut«), inwiefern ist er ihr Objekt (indem sie ihn beherrscht)? Inwiefern ist Sünde eine individuelle, in- 6 wiefern eine kollektive oder gar eine universelle Größe? Welche Rolle spielt Sünde nach paulinischem Verständnis vor der Bekehrung (präkonversional), welche Rolle nach der Bekehrung (postkonversional)? Individuelle Tat und universelle Macht Paulus spricht einerseits von Sünden (im Plural) im Sinne individueller Taten (z. B. Röm 5,16), andererseits von Sünde (im Singular) im Sinne einer Macht (z. B. Röm 5,21). Einmal ist der Mensch Autor seiner Sünden, er handelt – und ist verantwortlich für das, was er tut. Dann ist der Mensch Opfer der Sünde, die über ihn herrscht – ohne dass er etwas dafür könnte. Mit dieser idealtypischen Differenzierung ist allerdings erst eine Polarität aufgespannt, innerhalb derer die exegetische Auslegung der paulinischen Schriften erheblich variieren kann. Günter Röhser10 stellt in seiner Studie von 1987 den Machtcharakter der Sünde bei Paulus, insbesondere im Römerbrief 5-7, in Frage. Er bezeichnet den paulinischen Sündenbegriff nach Röm 5-7 als »personifiziertes Abstraktnomen«11. Rückblickend umreißt er die Zielsetzung seiner Untersuchung folgendermaßen: »Damit sollte die in der Literatur verbreitete undifferenzierte Redeweise von der Sünde als ›Macht‹ kritisiert, ein mythologischer Vorstellungshintergrund (die Sünde als Dämon) problematisiert[12] und festgehalten werden, dass es einzig menschliche Sünden und Verfehlungen selbst sind, die eine Eigendynamik entwickeln und auf die Menschen als Täter zurückschlagen.«13 In die entgegen gesetzte Richtung geht die Studie von Helmut Umbach von 199914: »Vielmehr ist für Paulus der Terminus ›Hamartia‹ immer – außer in traditionellen Zitaten, wo er im Plural für menschliche Verfehlungen eingesetzt ist – eine Größe, die nicht menschliches Fehlverhalten und menschliche Verfehlungen bezeichnet, wie G. Röhser meint, sondern eine Macht, der der Mensch ›in Adam‹ total unterworfen ist (Röm 5), ja, die ihn regelrecht ›besessen‹ hat (Röm 7).«15Die Taufe in Christus bewirkt im Leben des einzelnen Menschen, dass er der Macht der Sünde entrissen (Röm 6,1-11) und fortan von einer anderen Macht beherrscht wird: dem Geist (gr.: pneuma) Gottes.16 Das heißt: Die Sünde ist zunächst eine universelle Größe, alle Menschen sind ihr unterworfen (Röm 5; vgl. 8,22). Nach ihrer Taufe sind die Menschen keine Sünder mehr. Die Gemeinde – so Umbach – ist bei Paulus ein »sündenfreier Raum«.17 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Präkonversional – postkonversional geht in seiner Auslegung paulinischer Texte an dieser Stelle deshalb noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Gemeinde im Untertitel seiner Studie nicht nur als Sünde-freien Raum, sondern als »sündenfreien Raum«. Im Blick auf die Frage, warum Paulus seine Gemeinden trotzdem ermahne, führt Umbach die Unterscheidung zwischen (Tat-)Sünden und Verfehlungen ein. Die Getauften begehen keine Sünden, sondern »Verfehlungen«. Vielleicht überzieht Umbach in seinem Untertitel die eigene These, denn »Paulus spricht doch vom Sündigen (wenn auch nicht von ›der‹ Sünde) in der Gemeinde«20. Es ist zumindest fraglich, ob sich diese Belege dadurch »wegargumentieren« lassen, dass sie der Tradition zugeschlagen werden, die Paulus aufnimmt, ohne sie jedoch konstitutiv in seine eigene Konzeption einzubauen. Umbach versteht Paulus so, dass »Sünde« für den Apostel eine Größe ist, die ausschließlich vor der Bekehrung zu verorten ist. Denn für die Getauften ist die Sünde entmachtet, sie sind ihr entrissen. »Von ›Sünde‹ im Sinn des absolut gebrauchten Machtbegriffs ›Hamartia‹ findet sich [postkonversional] in allen relevanten Texten nichts.«18 Damit ist eine Frage aufgeworfen, die eine weitere grundsätzliche Differenzierung nötig macht: Idealtypisch zu unterscheiden ist nicht nur zwischen Sünden als Taten und der Sünde als Macht, sondern auch zwischen der Sünde vor der Bekehrung und (un-)möglichen Sünden nach der Bekehrung. Untersuchungen, die auf die Sünde vor der Bekehrung fokussieren (präkonversional), bewegen sich im Rahmen der Soteriologie, also der Frage, wie (woraus, wovor) der Mensch durch Jesus Chris- Sünde als soziale Größe tus gerettet werden kann. Untersuchungen, die auf die Sünde(n) nach der Bekehrung fokussieren (postkonversi- Stephan Hagenow widmet seine Studie21 »Heilige Geonal), berühren auch den Rahmen ekklesiologischer und meinde – Sündige Christen« dem Umgang mit postethischer Fragestellungen in urchristlichen Gemeinden. konversionaler Sünde bei Paulus. Hagenow unterstellt – Ein in dieser Hinsicht hoch umstrittener Text ist Röm anders als Umbach – bereits im Titel seiner Studie, dass 7 (s. Kontroverse in diesem Heft). Dahinter steht die – Paulus postkonversionale Sünde kennt, und er fragt in durchaus auch heute gesellschaftlich relevante – Beob- historischer Perspektive danach, wie Paulus mit diesem achtung, dass Christinnen und Christen nicht (immer) Phänomen umgeht. Wesentlich für Hagenows These ist an ihrem vorbildlichen ethischen Verhalten zu erkennen die Unterscheidung zwischen der Gemeinde und dem sind. Müsste die Rettung aus der Sünde nicht am ethi- einzelnen Gemeindemitglied. Sünde – so Hagenow – sei schen Verhalten ablesbar sein? Widersprechen Chris- für Paulus eine soziale Größe: »Sünde ist nicht in erster tinnen und Christen nicht ihrer Linie die Störung der Gottesbeeigenen Überzeugung, wenn sie ziehung des Einzelnen, sondern »Der manchmal (außerkirchlich) erhoeinerseits an ihrer Rettung durch eine Störung und Bedrohung bene Vorwurf, Christinnen und ChrisJesus Christus festhalten, dem des Sozialgefüges. […] Sünde ten meinten, ›besser‹ zu sein als andere befleckt und bedroht in diesem aber andererseits kein veränMenschen, wären es aber gar nicht, dertes »sündenfreies« Verhalten berührt theologisch gesprochen die Frage Sinne wirklich das Ansehen der entspricht? Der manchmal (auGruppe. Deshalb kann Sünde nach dem Verhältnis von präkonversioßerkirchlich) erhobene Vorwurf, auch nur durch die Gemeinde naler und postkonversionaler Sünde.« Christinnen und Christen meinwieder beseitigt werden.«22 Pauten, »besser« zu sein als andere lus weiß also sehr wohl darum, Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch dass Getaufte sündigen können, aber in der Gemeinde gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkon- kann keine Sünde toleriert werden, sie ist »heilig«. Desversionaler und postkonversionaler Sünde. halb muss die Gemeinde einzelne Sünder ausschließen Denkbar wäre hier ein Modell, das die Sünde als (vgl. 1Kor 5,12 f.; 6,18). »Es kommt dem Apostel auf universale Macht ausschließlich präkonversional, die die Wahrung der Heiligkeit der Gemeinde an, das ErSünden als individuelle Taten prä- und postkonversio- gehen des einzelnen Sünders – und sei es noch so granal verortet. Die Getauften wären dann der Macht der vierend – interessiert nur am Rande.«23 Sünde ist also Sünde entrissen, würden aber dennoch weiter sündi- nicht begrenzt auf eine individuell zurechenbare Tat, gen. In diese Richtung geht die freikirchliche Stellung- sondern sie wirkt zurück auf die Gemeinschaft. Aus nahme. Freilich stellt sich dann »die Frage nach dem seelsorgerlicher Perspektive ist diese (Re-)Konstruktion sachlichen Zusammenhang zwischen der entmachteten hochproblematisch. Sie steht im Widerspruch zu heuSünde und dem dann doch wieder (reichlich!) auftre- tigen kirchlichen Stimmen, die Sünde konstitutiv mit tenden Fehlverhalten in den Gemeinden«19. Umbach Empathie und Vergebung verbinden. ZNT 32 (16. Jg. 2013) 7 Neues Testament aktuell Eun-Geol Lyu24 beschäftigt sich im Unterschied dazu mit der präkonversionalen Sünde bei Paulus und fragt danach, »wie der Apostel den Begriff in seinen missionarischen Tätigkeiten aufgreift«.25 Der soteriologische Fokus zeigt sich in dem Titel »Sünde und Rechtfertigung«. Lyu fragt, »welchen Anhaltspunkt das paulinische Sündenverständnis für die Erhellung der Rechtfertigungslehre gibt«26. Er kommt – in expliziter Nähe zu Martin Luther und Rudolf Bultmann – zu dem Ergebnis, dass Paulus das Sündersein des Menschen als anthropologische Voraussetzung begreift, ohne die die paulinische Soteriologie nicht auskommt. »Wir brauchen die Rechtfertigung in dem Maße, in dem wir Sünder sind.«27 Damit wendet Lyu sich u. a. gegen Ed Sanders und die »New Perspective«, die Paulus »andersherum« versteht und meint, dass Paulus von der Rechtfertigung her auf die Sünde der Menschen schließe.28 Lyu leitet aus seiner Interpretation »einen Anhaltspunkt für die Mission der dritten Welt« ab: »Von großer Relevanz ist jedoch der Einsatz mit dem Sündersein der Zuhörer, weil die Botschaft vor allem die Sündenüberwindung fokussiert.«29 Für den christlichen Bereich konstatiert Lyu einerseits, dass »die Sündenproblematik heute ihre Relevanz verloren [habe]«, andererseits, dass das Thema nach wie vor dort aktuell sei, »wo Christen den Begriff ›Sünder‹ auf andere Mitchristen anwenden, die der ethischen Richtschnur nicht entgegenkommen«30. 3.3 Johannes Im Hinblick auf die johanneischen Schriften ist in der neutestamentlichen Forschung umstritten, welches Gewicht31 und welchen Grad an Geschlossenheit die Rede von »Sünde« aufweist sowie die Nähe32 oder Ferne33 zur paulinischen Sündenkonzeption. Ich beschränke mich hier auf einige Aspekte, die das Gesamtbild um weitere Facetten erweitern. Sünde als Unglaube Hasitschka34 sieht in Joh 1,29 einen Schlüsseltext zum Verständnis des johanneischen Sündenverständnisses. Der Vers zu Beginn des Evangeliums zeige, dass Johannes die Rede von der Sünde soteriologisch und christologisch verortet: Vor der Rede von der Sünde in der Welt »geht es in 1,29 vorweg um die Befreiung von Sünde. Der ganze Nachdruck liegt darauf zu zeigen, durch wen Sünde hinweggenommen wird«35. Hasitschka bestimmt das Verhältnis zwischen der Sünde als »der Grundverfehlung des Kosmos gegenüber Gott« und den vielen Einzelverfehlungen so, dass letztere in ersterer wurzeln.36 8 Daraus folgt, dass Jesus Christus, indem er die Sünde als Grundverfehlung aufhebt, auch die Folgen dieser Grundverfehlung hinwegnimmt. Wenn es heißt, dass Jesus Christus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt trägt/hinwegnimmt, dann bezieht sich das also auf »das Geschenk einer neuen, heilen Beziehung zu Gott und die Befreiung von allen Folgen der Sünde«37. Diesen Zusammenhang reflektiert Johannes nicht ethisch, sondern im Blick auf den Glauben. »Die Voraussetzung von seiten des Menschen, um dieses Geschenk zu erlangen, ist […] der Glaube an Jesus.«38 Deshalb kann Johannes Unglaube als Sünde bezeichnen (Joh 8,24; 16,9). »Die Juden« und »die Welt« verharren im Unglauben und erweisen sich so als Kinder des Teufels. Sie sind unfähig, Jesus zu erkennen und ihm zu glauben, und wollen Jesus töten. Verantwortung für das Tun der Sünde und die Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander.39 Die Blindenheilung (Joh 9), die neben einer physischen auch eine tiefere Bedeutung im Sinne von Erkenntnisgewinn habe, zeige, dass Jesus »dem Menschen heilend und helfend entgegenkommen muss, damit die Erkenntnis seiner Person und der rettende Glaube an ihn möglich werden«40. Der Mensch könne sich dann frei für oder gegen Jesus Christus entscheiden. Befreiung von Sünde durch das Wort Alois Stimpfle fragt danach, wie der Mensch nach johanneischem Verständnis von der Sünde befreit werde. An dieser Stelle sieht er die Eigenart der johanneischen Konzeption. Anders als Hasitschka sieht Stimpfle nicht in Joh 1,29, sondern in 15,3a den Schlüsseltext: »Ihr seid schon rein durch das Wort.« Johannes verstehe Befreiung von der Sünde als Reinigung. Hierin liege das spezifisch johanneische Profil. Denn: »Weder das Wasser der Taufe noch das Blut des Kreuzes sind reinigungsrelevante Größen.«41 Die Beseitigung der Sünde vollziehe sich vielmehr für die Erwählten »durch das Offenbarerwort, näherhin durch seine im Menschen Erkennen bewirkende Potenz«42. Dies ist insofern eine »sympathische« Auslegung, als sie ohne das Blut am Kreuz »auskommt«. Die Frage, inwiefern das Kreuz im Johannesevangelium soteriologische Bedeutung habe, ist allerdings umstritten.43 Sünde als offenbarungstheologischer Begriff Rainer Metzner44 fasst das johanneische Sündenverständnis dementsprechend weiter. »Sünde ist die eine, im Widerspruch gegen Gottes Offenbarung sich manifestierende Verweigerung der Welt gegenüber dem Gesandten Gottes.«45 In der Offenbarung durch den Sohn ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft geht es sowohl um das, was Jesus Christus sagt, als auch ernsthaft – ein Sprachgebrauch unterstellt, der Sünde als um das, was er tut und was ihm widerfährt. Die Sünde ein moralisch verwerfliches Tun »der anderen« versteht. »wird am Kreuz offenbar und mit ihrer Offenbarung Von diesem Verständnis distanziert sich die Gesellschaft zugleich überwunden (1,29).« durch Ironisierung und Trivialisierung. Damit entfernt sie sich Diesen Gedanken entfaltet Jo»Verantwortung für das Tun der hannes dramatisch und mit hindeutlich vom biblischen SprachSünde und die Versklavung durch die tergründiger Ironie. Die Rollen gebrauch, der Sünde an keiner Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen vertauschen sich: »Die Ankläger Stelle als etwas Triviales versteht. ineinander.« [›die Juden‹, die Welt] werden zu Insbesondere die landeskirchliVerurteilten, und der Angeklagte chen Stimmen reflektieren und [Jesus Christus] wird zum Richter (9,39-41; 15,22-24; problematisieren den eigenen Gebrauch von »Sünde« 16,8-11; 19,11). In diesem Rechtsstreit wird dem Sohn vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Distan(von Gott) das Recht, der ungläubigen und sündigen zierung. Dabei kommen insbesondere BedeutungsfacetWelt aber das Unrecht zugesprochen.«46 ten ins Spiel, die auf die Paulusbriefe zurückgehen. Die neutestamentliche Wissenschaft konzentriert sich bei der Diskussion um »Sünde« ebenfalls schwerpunktmäDie »Sünde zum Tode« (1Joh 5,16-17) ßig auf die Paulusbriefe. Sie arbeitet – auch mit Blick auf Der 1. Johannesbrief, bei dem die Forschung sich nicht weitere neutestamentliche Schriften – weitere Bedeueinig ist, ob er vor oder nach dem Johannesevangelium tungsfacetten von »Sünde« heraus. Von diesen Facetten anzusetzen ist, unterscheidet zwischen vergebbaren und erscheinen insbesondere diejenigen für heutige kirchnicht vergebbaren Sünden. Bei vergebbaren Sünden liche Arbeit als problematisch, die »Sünde« mit dem darf ein Gemeindemitglied für den Sünder um Verge- (endgültigen) Entzug des Heils in Verbindung bringen bung bitten, bei nicht vergebbaren Sünden ist dies nicht (1Kor 5,12-13; 6,18; 1Joh 5,16-17) – dies umso mehr, möglich. Daher führt die nicht vergebbare Sünde »zum als sie den gesellschaftlichen Eindruck verstärken könnTode«, sie führt dazu, dass Getaufte wieder aus dem ten, die Kirche würde unter Berufung auf die Bibel »anHeils- und Lebensbereich Gottes herausfallen. Diese dere« als Sünder brandmarken und ausschließen. AndeDifferenzierung – die weder im 1. Johannesbrief noch re Facetten spielen in der kirchlichen Arbeit durchaus im Johannesevangelium genauer präzisiert wird – steht eine wesentliche Rolle – etwa die »Sünde« als Macht und vor dem Hintergrund widersprüchlicher Aussagen. als relationaler Begriff –, weil sie das enge, moralische 1Joh 1,8 stellt fest: »Wenn wir sagen, wir haben keine Verständnis von »Sünde« im Sinne einer individuellen Sünde, betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht Tatsünde erweitern und aufbrechen. in uns.« Im Gegensatz dazu heißt es in 1Joh 3,9: »Jeder, der aus Gott geboren ist, tut keine Sünde; denn sein Same bleibt in ihm. Er kann nicht sündigen, weil er von Anmerkungen Gott stammt.« An die Stelle widersprüchlicher Aussagen 1 http://www.youtube.com/watch?v=3tAfSTbvQfM&feat tritt in 1Joh 5,16-17 eine graduelle Differenzierung zwiure=player_detailpage. schen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Diese 2 H. Roose, »Sünde ist …« – Biblische Texte bei JugendliDifferenzierung steht in Spannung zu dem von kirchlichen ins Spiel bringen, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und cher Seite formulierten Anliegen, Sünde grundsätzlich Kirche, Stuttgart 2012, 135-149: 143. im Horizont (möglicher) Vergebung zu thematisieren. 3 4 4. Schluss 5 6 Der Blick auf den gesellschaftlichen, den kirchlichen und den neutestamentlich-exegetischen Sprachgebrauch von »Sünde« hat eine steigende Anzahl von Bedeutungsfacetten deutlich gemacht. Der gesellschaftliche Sprachgebrauch arbeitet mit der kritischen Distanz zwischen außerkirchlichen und innerkirchlichen Verwendungsweisen. Der Kirche wird dabei – mehr oder weniger ZNT 32 (16. Jg. 2013) 7 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 261-268. A. a. O., 684-686. A. a. O., 465-469. A. a. O., 466. »Manch eine gerät unverschuldet in Not und verliert darin den Glauben, manch einer stellt plötzlich im alltäglichen Einerlei fest, wie verloren er ist. Die bloße Erfahrung des Gefundenwerdens, ausgelöst durch ein Wort, eine menschliche Begegnung, eine neue Erfahrung, kann dann genug sein, um eine radikale Veränderung der Einstellung zu Gott, den Mitmenschen und der Welt hervorzubringen.« A. Merz, Last und Freude des Kehrens (Lk 15,8- 9 Neues Testament aktuell 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 10 10), in: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 610–617, hier: 616. H. Roose, Umkehr und Ausgleich bei Lukas: Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn (Lk 15.11-32) und vom armen Mann und reichen Lazarus (Lk 16) als Schwestergeschichten, NTS 56 (2010), 1-21. R. Kampling, Art. »Sünde«, Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, hg. v. A. Berlejung und C. Frevel, Darmstadt 2006, 381-384; hier: 382. G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia (WUNT 2/25) Tübingen 1987. A. a. O., 157. Dieses Anliegen erinnert an die Aussage einer Pastorin, die Macht der Sünde zu »entzaubern«. G. Röhser, Vom Gewicht der Sünde und des Redens davon. Biblische Aspekte für eine heutige Vermittlung, Ökumenische Rundschau 2005, 427–445; hier: 431 f. H. Umbach: In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FRLANT 181) Göttingen 1999. A. a. O., 314. Ebd. So der Untertitel der Untersuchung von Umbach. Umbach, In Christus getauft, 315. Röhser, Gewicht der Sünde, 442. Ebd. Hagenow, Heilige Gemeinde – Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54) Tübingen 2011. A. a. O., Heilige Gemeinde, 316. A. a. O., Heilige Gemeinde, 34. E. G. Lyu, Sünde und Rechtfertigung bei Paulus. Eine exegetische Untersuchung zum paulinischen Sündenverständnis aus soteriologischer Sicht (WUNT 2/318) Tübingen 2011. A. a. O., 3. A. a. O., 23. A. a. O., 356. »Die Schlussfolgerung [!], dass alle unter der Sünde sind, ist so fundiert wie das Dogma, dass alle der Rettung durch 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 den Glauben an Christus bedürfen.« (E.P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 130). Lyu, Sünde und Rechtfertigung, 356. Ebd. E. Haenchen urteilt: »Es ist längst aufgefallen, dass der Begriff der Sünde im vierten Evangelium zwar 16mal vorkommt, aber dennoch keine entscheidende Rolle spielt.«, in: Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, aus den nachgelassenen Manuskripten hg. v. U. Busse, Tübingen 1980, 493-494. R. Metzner hält dagegen: »Johannes hat ein ausgeprägtes Sündenverständnis entwickelt.«, in: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122) Tübingen 2000, 351. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 3: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 181. A. Stimpfle, »Ihr seid schon rein durch das Wort« (Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegungen zur Frage nach »Sünde« und »Vergebung« im Johannesevangelium, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg u. a. 1996, 108-122. M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium (IthS 27), Innsbruck/Wien 1989. A. a. O., 164. A. a. O., 166. Ebd. A. a. O., 170. A. a. O., 279. A. a. O., 341. Stimpfle, Ihr seid schon rein, 121. A. a. O., 122. Vgl. einerseits Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), Neukirchen-Vluyn 1994; andererseits U.B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW 88, 1997, 24-55. R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000. A. a. O., 354. A. a. O., 353. ZNT 32 (16. Jg. 2013)