Prävention sexueller Ausbeutung in Institutionen (Zusammenfassung des Referates von Susanne Eberle, Limita Zürich, anlässlich der Tagung «Grenzen und Konsequenzen» vom 16./17. Mai 1998 an der Paulusakademie Zürich) In den letzten Jahren wurde insbesondere der innerfamiliäre sexuelle Missbrauch zum öffentlichen Thema gemacht. Nun werden jedoch auch vermehrt Fälle von sexueller Ausbeutung durch Fachpersonen in (sozial-)pädagogischen und psychosozialen Institutionen aufgedeckt. Verständlicherweise werden dadurch Institutionen, die mit Kindern, Jugendlichen oder Menschen mit Behinderungen arbeiten, stark verunsichert. Es stellt sich die Frage, was Institutionen im Vorfeld tun können, damit sexuelle Übergriffe und Gewalt nach Möglichkeit vermieden werden können. Prävention, die langfristig wirken soll, verfolgt zwei Zielsetzungen: Erstens soll sie sexuelle Gewalt so weit als möglich verhindern (primäre Prävention), zweitens sollen bereits stattfindende Übergriffe und Gewalt so schnell und wirkungsvoll wie möglich gestoppt werden (sekundäre Prävention). In der klassischen Aufteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention gehört die Verarbeitung, also der Bereich der Beratung und Therapie, als dritter Teilbereich auch zu den Präventionszielen. Die tertiäre Prävention wird aber häufig auch als Bereich der Intervention bezeichnet und von der Prävention abgegrenzt. Die Tätigkeit von Limita Zürich beschränkt sich auf die primäre und sekundäre Prävention. Eine sinnvolle und wirksame Prävention sexueller Ausbeutung muss alle relevanten Ebenen, die sexuelle Gewalt mit verursachen, einbeziehen. Veränderungen müssen auf gesellschaftlicher, politischer, institutioneller und persönlicher Ebene stattfinden. Auf der gesellschaftlichen Ebene stehen alle Massnahmen, die die Gleichstellung der Geschlechter erwirken, an erster Stelle. Dies, weil sexuelle Ausbeutung ein stark geschlechtsspezifisches Problem ist, das heisst die Täter zu einem grossen Teil männlich und Mädchen häufiger als Jungen betroffen sind. Die Vormachtstellung von Männern über Frauen und Kinder bildet den gesellschaftlichen Nährboden, auf dem individuelle sexualisierte Gewalt wachsen kann. Dementsprechend sind auch auf der Präventionsebene der Kinder geschlechtsspezifische Präventionsansätze sehr wichtig. Die zweite wesentliche Veränderung, welche auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden muss, ist die bessere Rechtsposition von Kindern, ein umfassender Kinderschutz und die grössere Wertschätzung von Kindern und Menschen mit Behinderungen ganz allgemein. Institutionelle Massnahmen Eine wichtige Rolle in der Umsetzung von Prävention sexueller Ausbeutung fällt den Institutionen im pädagogischen und sozialpädagogischen Bereich zu. Das heisst, Schulen, Heime, Freizeit- und Sportverbände sind gefordert, das Problem der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen oder Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen und präventive Massnahmen auf der institutionellen Ebene zu entwickeln und umzusetzen. Die folgenden Präventionsmassnahmen sollten in Institutionen diskutiert und realisiert werden: • Leitbild Im Leitbild einer Institution kommen die Grundsätze und übergeordneten Ziele einer Institution zum Ausdruck. Durch die Aufnahme von Prävention sexueller Ausbeutung im Leitbild wird gegen innen und aussen sichtbar gemacht, dass die Institution das Problem ernst nimmt und die Bereitschaft zeigt, diese Haltung in die Strukturen und Arbeitskonzepte der Institution einfliessen zu lassen. • Ethische Richtlinien Ethische Richtlinien sollen den Kontakt und gegenseitigen Umgang miteinander festlegen und für alle Beteiligten der Institution verbindlich sein. Es wird klar benannt, dass sexuelle Übergriffe in der Institution nicht geduldet werden und bei Zuwiderhandlung entsprechende Sanktionen zur Folge haben. In den Richtlinien wird eine gemeinsame Haltung formuliert, wie der Kontakt der Mitarbeitenden der Institution mit den Kindern, Jugendlichen oder Menschen mit Behinderungen gestaltet werden soll und welche Handlungen als Grenzüberschreitungen definiert werden. Auch für die Kinder oder Menschen mit Behinderungen untereinander braucht es Richtlinien, die klare Grenzen und nicht-tolerierte Handlungen, festlegen und idealerweise mit ihnen gemeinsam entwickelt werden sollten. Ebenso hat ein respektvoller gegenseitiger Umgang auf der Ebene der MitarbeiterInnen einen wichtigen Modellcharakter für die in der Institution betreuten Personen. • Arbeitskonzepte Ein kompetenter Umgang mit dem Problem der sexuellen Ausbeutung setzt voraus, dass die Vorgehensweisen und Zuständigkeiten bei einem Verdacht oder einem aufgedeckten Fall sexueller Ausbeutung im Arbeitskonzept geregelt sind. Die kontinuierliche Umsetzung von Prävention bedingt die Erstellung eines Präventionskonzeptes, das die Ziele und Massnahmen der Institution in diesem Bereich festlegt. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Prävention sexueller Ausbeutung als Erziehungshaltung verstanden wird, die soweit möglich in den (sozial-)pädagogischen Alltag integriert werden soll. Insbesondere schulische Institutionen haben zudem die Möglichkeit konkrete Unterrichtssequenzen oder Projektveran- staltungen durchzuführen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen Präventionspunkten ermöglichen (z.B. eine Projektwoche zum Thema «Gefühlswahrnehmung»). Wichtig ist, dass der Aufbau von Prävention sorgfältig geplant wird (z.B. der zeitliche Rahmen) und das Bewusstsein vorhanden ist, dass Prävention aufdeckend wirken kann. Das heisst, LehrerInnen, SozialpädagogInnen, JugendarbeiterInnen usw. müssen darauf vorbereitet sein, dass Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen über eigene Missbrauchserfahrungen zu reden beginnen, und ihnen geeignete Hilfsangebote machen können. • Leitungsstrukturen Institutionen sollten auch auf ihre expliziten und impliziten Machtstrukturen hin reflektiert werden. Sexuelle Ausbeutung ist immer ein Missbrauch von Macht. Ausgeprägt hierarchische und autoritäre Leitungsstrukturen haben oft deutliche Auswirkungen auf das vorherrschende Klima einer Institution im Umgang mit Macht und Grenzen. Aber auch diffuse Leitungsstrukturen können das Risiko für sexuelle Gewalt erhöhen, da sie v.a. vom Funktionieren der persönlichen Beziehungen abhängig sind und die fehlende Klarheit und Transparenz in Entscheidungsabläufen die fachliche Kontrolle erschwert. Institutionen mit klaren, transparenten Leitungsstrukturen und flachen Hierarchien sind eher in der Lage, verantwortungsvoll mit Macht umzugehen, klare Grenzen zu ziehen und ein Umfeld zu schaffen, in dem sexuelle Ausbeutung verhindert bzw. frühzeitig erkannt und gestoppt werden kann. Zu einem bewussten Umgang mit den vorherrschenden Macht- und Leitungsstrukturen gehört auch die Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen innerhalb der Einrichtung und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Arbeit mit den Kindern, Jugendlichen oder Menschen mit Behinderungen. • Vernetzung In der Vernetzung spiegelt sich die Offenheit einer Institution gegen aussen. Eine realistische Einschätzung der eigenen institutionellen Möglichkeiten und Grenzen sowie die gezielte Zusammenarbeit mit externen Fachstellen und -personen sind eine wichtige Voraussetzung für einen professionellen Umgang mit dem Problem der sexuellen Ausbeutung. Insbesondere sollte die Vernetzung mit Institutionen gesucht werden, die bei konkreten Fällen oder bei Verdacht auf sexuelle Ausbeutung für die Zusammenarbeit wichtig sind. • Institutionelle Rahmenbedingungen Eine Institution muss bereit sein, Zeit und Geld für Fortbildungen, Supervision, konzeptionelle Arbeit und pädagogische Zusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Sexuelle Gewalt und damit auch deren Prävention löst erfahrungsgemäss bei den meisten Menschen starke Gefühle und Verunsicherungen aus. Um einen adäquaten und bewussten Umgang mit dem Problem und insbesondere mit betroffenen Kindern, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, sind Institutionen und Fachpersonen im (sozial-)pädagogischen Bereich gefordert, eine intensive emotionale und fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu führen. Für diese Auseinandersetzung müssen die dafür erforderlichen personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Elternarbeit Als weitere Ebene ist die Arbeit mit den Eltern oder allenfalls anderen zuständigen Erziehungspersonen sehr wichtig. Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen sollen in möglichst vielen ihrer Lebensbereiche die gleiche Grundhaltung spüren, die durch die Präventionsgrundsätze geprägt ist. Evaluationsstudien zu Präventionsprogrammen im Ausland haben ergeben, dass die Wirkung von Präventionsprogrammen mit Kindern erhöht werden kann, wenn die Kinder nicht nur in der Schule, sondern auch mit ihren Eltern über die angesprochenen Themen reden können. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Eltern in die Präventionsarbeit mit einzubeziehen. Prävention mit den Kindern und Jugendlichen Unter Prävention versteht man in einem ganzheitlichen Sinn die Stärkung der Kinder und Jugendlichen zu selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeiten. Das heisst, dass sie sich selbst mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, ihren Fähigkeiten aber auch Grenzen kennenlernen und eine Ich-Identität entwickeln können, die das Vorhandensein von Stärken und Schwächen zulässt. In diesem Sinn ist Prävention eine grundsätzliche Erziehungshaltung, die die Mädchen und Jungen in der Entwicklung ihrer eigenen Potentiale und Möglichkeiten unterstützt. Zur umfassenden Stärkung und Aufklärung über das Thema inklusive dem Erlernen von Handlungsstrategien gehört eine altersangemessene Sexualaufklärung, das Aufheben klassischer geschlechtsspezifischer Erziehungsmuster und die so genannte 7-Punkte-Prävention. Prävention ist immer sowohl Opfer- als auch Täterprävention. Dazu gehört das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Gefühlen, insbesondere mit Gefühlen der Hilflosigkeit, Unterlegenheit, Ohnmacht und Angst auf der einen Seite, aber auch von Gefühlen der Stärke und eines guten Selbstwertgefühles auf der anderen Seite. Die 7Punkte-Prävention orientiert sich an den folgenden Leitsätzen, auf die in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden soll: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Dein Körper gehört Dir Deine Gefühle sind wichtig Es gibt angenehme und unangenehme Berührungen Du hast das Recht, NEIN zu sagen Es gibt gute und schlechte Geheimnisse Sprich darüber und suche Hilfe Du bist nicht schuld Grundsätzlich orientiert sich die Prävention mit Menschen mit Behinderungen an den selben Werten und Inhalten wie die Prävention mit Kindern und Jugendlichen. Leider bestehen bis anhin jedoch kaum konkrete Präventionskonzepte und -materialien, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind. Prävention ist eine Grundhaltung, die sehr viele unserer Gewohnheiten in Frage stellt und uns mit unbequemen neuen Fragestellungen konfrontiert. Vor allem auch damit, dass wir den Schutz vor sexueller Gewalt nicht an Kinder delgieren können, sondern für Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen ein Umfeld schaffen müssen, das alle benannten Ebenen einbezieht. Die institutionelle Verankerung der Prävention zu sexueller Gewalt steckt allerdings noch in den Kinderschuhen, verglichen z.B. mit der Suchtoder Aidsprävention. Von der öffentlichen Hand wird hier noch sehr zurückhaltend investiert. Insbesondere im Schulbereich müsste Prävention breit eingeführt werden; bisher hängen einzelne Präventionsprojekte noch ausschliesslich vom Engagement und Interesse einzelner (bisher meist weiblicher) Lehrkräfte oder einzelner Schulhäuser ab. Im sozialpädagogischen Bereich sieht es ähnlich aus. Es sind einzelne Heime oder Jugendeinrichtungen, die das Thema aufgreifen. Wir hoffen, dass es in den nächsten Jahren gelingen wird, die Prävention sexueller Ausbeutung von Kindern, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen auf gesellschaftlicher Ebene, im institutionellen und im privaten Bereich breiter und besser zu verankern. © Limita Zürich Leitartikel Jahresbericht 1998