Engelhardt - Evangelische Akademie Tutzing

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Mit allen Sinnen heilen oder von der Heilkraft der Künste
Dietrich v. Engelhardt (Lübeck)
I. Situation
Die naturwissenschaftliche Medizin steht in der Gegenwart vor ihrer anthropologischen
Herausforderung, d.h. vor der Aufgabe: Anthropologie, Kosmologie und auch Metaphysik
mit der naturwissenschaftlichen Medizin in Verbindung zu bringen. Es geht allerdings nicht
um
Alternativmedizin,
Naturwissenschaft
und
sondern
um
Alternativen
Geisteswissenschaft,
in
der
verbindet
Medizin;
Natur
Medizin
und
ist
Kultur.
Hospizbewegung, Palliativstation, Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie und
Medizinische Ethik entsprechen bereits diesen Versuchen einer geisteswissenschaftlichen
Erweiterung oder Ergänzung der Medizin, die zur Zeit auch mit dem Begriff „Medical
Humanities“ bezeichnet wird, womit der Blick vor allem auch auf die Künste und ihren
Beitrag für den medizinischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit gelenkt wird.
Medizin ist selbst Kunst und nicht nur Wissenschaft, ist ein von Erfahrung und Wissen
geleitetes Handeln von Menschen mit Menschen. Die Entwicklung von der Antike über
das Mittelalter bis in die Moderne hat bei aller Verwissenschaftlichung und Technisierung
das "Urphänomen" der Medizin (Viktor v. Weizsäcker, 1927) nicht überwunden oder
überflüssig gemacht; Medizin heißt weiterhin ein Mensch in Not und ein Mensch als
Helfer, Medizin besteht prinzipiell aus zwei Entsprechungen: Krankheit und Medizin,
Patient und Arzt.
Auf verschiedenen Ebenen zeigt sich der Kunstcharakter der Medizin. Die Heilung der
Krankheit und das Hervorbringen von Gesundheit können mit einem kreativen Akt
verglichen werden. Diagnostik und Therapie besitzen künstlerische Momente, die auch in
der Kommunikation zwischen Arzt und Patient eine große Rolle spielen. Ästhetik und
Therapie stehen in besonderer Weise in der Chirurgie und speziell plastischen Chirurgie
in einem Zusammenhang. Auch medizinische Publikationen können einen literarischkünstlerischen Wert besitzen wie ebenfalls medizinische Vorträge; in der Vergangenheit
nutzte das Lehrgedicht die Verbindung von Wissenschaft und Kunst im Unterricht. Kunst
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zeigt sich in der Medizin auch in Krankheitsbezeichnungen; der Bogen spannt sich vom
Ödipus-,
Elektra-
und
Kassandrakomplex
zum
Münchhausen-,
Rapunzel-
und
Oblomovsyndrom. Kunst findet sich im übrigen in der Medizin auch an und in
medizinischen Institutionen; viel zu wenig werden in diesem Zusammenhang allerdings
die Bedürfnisse und Wünsche des kranken Menschen berücksichtigt.
Die Geschichte der Medizin durchzieht der Wechsel von Krankengeschichte und
Krankheitsgeschichte, von Subjektivität und Objektivität, von Wirkursache (causa
efficiens) und Zweckursache (causa finalis). Zu Versuchen der Vermittlung und des
Ausgleichs ist es ebenso immer wieder gekommen. Selbst das naturwissenschaftliche 19.
Jahrhundert ist weniger einseitig, als es viele Darstellungen nahe legen. Wiederholt wird
auch in diesem Zeitraum von Medizinern der Doppelcharakter der Medizin als Kunst und
Wissenschaft betont. Das berühmte Diktum des Internisten Bernhard Naunyn aus dem
Jahre 1905: "Die Medizin wird eine Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein", ist nur der
erste Teil einer Feststellung, deren zweiter und meist nicht zitierter Teil ausdrücklich an
die Bindung des Arztes an den Menschen und seine Würde erinnert: "da setzen uns
Humanität und Pietät enge Grenzen."
Aus der therapeutischen Aufgabe ergeben sich charakteristische Unterschiede der
Medizin sowohl gegenüber den Naturwissenschaften als auch gegenüber den
Geisteswissenschaften. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers erläutert und
begründet in der Allgemeinen Psychopathologie (1913) den für die Medizin und vor allem
die Psychiatrie grundsätzlich gültigen Methodendualismus von naturwissenschaftlichem
Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen, der bereits in Wilhelm Diltheys
Formel: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wird" (1894) seinen
klassischen Ausdruck gefunden hat. Erklären heißt nach Jaspers, Krankheiten auf
körperliche Ursachen zurückzuführen, Verstehen dagegen, Krankheiten aus seelischen
Voraussetzungen abzuleiten sowie auf die Subjektivität des Kranken einzugehen.
Medizinische
Therapie
kann
im
Sinne
der
„evidence
based
medicine“
auf
Wirksamkeitsnachweis ohne Zweifel nicht verzichten; dieser kann allerdings auch
unterschiedlich ausfallen, auch subjektive Aussagen lassen sich objektivieren, auch die
Beziehung zwischen Arzt und Patient kann wissenschaftlich beschrieben und analysiert
werden. Therapie meint im übrigen keineswegs nur Behandlung und Heilung, sondern
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ebenso Begleitung und Beistand. Der medizinische Wissenschaftsbegriff darf nicht nur an
Mechanik
und
Physik
orientiert
werden.
Biologie
und
noch
mehr
die
Geisteswissenschaften, die in der Medizin eine zentrale Rolle spielen, verlangen nach
einer ihnen gemäßen Wissenschaftstheorie.
Beachtung
verdient
in
dieser
Perspektive
der
Zusammenhang
zwischen
dem
Gesundheits- und Krankheitsbegriff, dem Therapieziel und der Arzt-Patienten-Beziehung,
der zwar nicht zwingend ist, der sich aber offensichtlich immer wieder nahe legt. Wird
unter Krankheit eine defekte Maschine verstanden, heißt Therapie Reparatur, erfüllt sich
die Arzt-Patienten-Beziehung im Verhältnis eines Technikers zu seiner Maschine.
Bedeutet Krankheit dagegen das Leiden eines Menschen mit Bewusstsein, Sprache und
sozialen Kontakten, müssen Ziel der Therapie und Art der Beziehung zwischen Arzt und
Patient ebenfalls ganzheitlich und personell angelegt sein.
Alle Sinne und damit die ihnen entsprechenden Künste können in der Medizin für
Diagnostik und Therapie beachtet und genutzt werden. Mit Recht kann von einer
künstlerisch oder „spirituellen Anästhesie“ gesprochen werden, die insbesondere durch
die physische Anästhesie des 19. Jahrhunderts sehr an Wert verloren hat. Als
fundamental für die Künste in ihrer therapeutischen Funktion erweist sich auch der
sozialkulturelle
Kontext.
Medizin
und
Krankenhaus
stellen
zwar
eigenständige
Wirklichkeiten dar, sind aber in hohem Maße ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn Kultur
allgemein für den Umgang der Menschen mit Geburt, Krankheit und Tod an Einfluss
verloren hat oder auch weiterhin verliert, wird auch die Heilkraft der Künste bei Patienten,
Ärzten und Pflegepersonen kaum auf Verständnis stoßen oder noch eine Rolle spielen.
II. Historie
Die Medizin in der Antike ist bestimmt von Kosmologie und Anthropologie. Zentral ist das
Viererschema der Säfte und Elemente sowie das umfassende Konzept der Diätetik, in
dem die Künste im Bereich der Affekte - neben den Bereichen von Licht und Luft,
Schlafen und Wachen, Bewegung und Ruhe, Essen und Trinken sowie Ausscheidungen ihren systematischen und über Jahrhunderte anerkannten Ort besitzt.
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Die Auffassungen über die heilsame Wirkung der Künste
sind auch in der Antike
vielfältig und kontrovers. Vielbeachtet wurde der Gedanke von Aristoteles über die
kathartische Wirkung der Tragödie. "Dadurch, dass sie Mitleid und Furcht erregt, bewirkt
sie die ihr eigentümliche Reinigung derartiger Affekte." Neben literarischen Texten soll
auch Reden und Briefen eine therapeutische Kraft zukommen können. Cicero wie Seneca
schreiben Trostbriefe und Trostschriften für die Krisen Krankheit, Alter und Tod; Horaz
vergleicht den Dichter mit dem Arzt und die Dichtung mit süßer Arznei. Seneca verfasst
eine Trostschrift für eine Frau mit dem Namen Marcia, die sich noch nach Jahren nicht mit
dem Tod ihres Sohnes abfinden konnte.
Das Mittelalter steht in der Medizin unter dem Begriff der Transzendenz oder Metaphysik.
Die Bibel ist ein Grundwerk der Bibliotherapie seit der Antike – für Gebildete wie
Analphabeten. Die Naturforscherin, Ärztin und Äbtissin Hildegard von Bingen, die ihr
ganzes Leben hindurch krank ist, findet Hilfe und Heilung aber auch durch ihr eigenes
Schreiben und Lesen („scribendo solari“). Musik wird ebenfalls aufgegriffen; erinnert wird
an David im Alten Testament, der Saul mit Harfenmusik heilt oder beruhigt: "So oft nun
der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit
seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist
wich von ihm." (1. Samuel 16, 23) Auch die Malerei wird beachtet; Bilder des gekreuzigten
Christus sind noch bis weit in die Neuzeit hinein eine Hilfe bei Operationen und im
Sterben.
Die Heilkraft der Künste wird auch in anderen Kulturen in jener Zeit aufgegriffen. Das
arabische Al-Mansur Hospital in Kairo bietet neben Medikament und Operation immer
auch die Lektüre des Korans durch Priester als Therapeutikum an. Der jüdische Mediziner
und Philosoph Maimonides lobt seinerseits in einer Schrift zur Erhaltung der Gesundheit
(Regimen sanitatis) die therapeutische und besonders diätetische Kraft der Literatur.
Die Neuzeit steht seit der Renaissance unter dem Begriff der Säkularisierung als
Verweltlichung des Paradieses mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Medizin in
Diagnostik und Therapie und allgemein auf das Verständnis von Gesundheit, Krankheit
und Sterben. Damit verbunden kommt es zu einer Reduktion der antiken Diätetik auf Diät,
wie zugleich aber auch zu einem eindrucksvollen Progress der Chirurgie und ebenso einer
zunehmenden Eliminierung der Kunsttherapie.
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Zugleich lassen sich gegenüber diesen dominierenden Tendenzen immer wieder auch
Gegenbewegungen beobachten - so die romantische und idealistische Medizin um 1800,
die Naturheilkunde und die anthropologische Medizin des 20. Jahrhunderts, zu denen
auch die Initiativen der Kunsttherapie, vor allem der Musik-, Mal- und Tanztherapie, in
Deutschland bislang allerdings weniger der Bibliotherapie, gehören. Die Bezeichnung
„Bibliotherapie“ wurde 1916 von dem Pfarrer Samuel McCord Crothers geprägt; bereits
1705 veröffentlichte der Theologe Georg Heinrich Götze eine Krancken-Bibliothec. Die
Ursprünge der „Hospital Libraries“ in den Vereinigten Staaten gehen in das 18.
Jahrhundert zurück. In Philadelphia wurde 1762 eine Krankenhausbibliothek eingerichtet.
III. Grundfragen
Eine Reihe von Grundfragen verbinden sich mit der Kunsttherapie, die im folgenden
knapp skizziert werden sollen. Eine differenzierte und komparative historische wie
allgemeine Darstellung der verschiedenen kunsttherapeutischen Richtungen steht - bei
vielen wichtigen bereits vorliegenden Einzelstudien - noch aus. Insbesondere verlangt
eine derartige Untersuchung die Synopsis von Kunst, Medizin und Psychologie.
1) Die Überprüfung der Wirkung der Kunst stellt eine zentrale Aufgabe der kommenden
Jahre dar: von den Pionierbeiträgen der Ursprungsphase muss zur Empirie des Alltags
übergegangen werden, zur Einführung in den medizinischen Alltag, zur Verbindung mit
der somatischen wie psychischen Therapie, zur Integration nicht nur in die Kuration,
sondern ebenfalls Prävention und vor allem Rehabilitation.
Es kommt für die Zukunft ebenso auf Institutionalisierung und Ausbildung an; das trifft
besonders für die Bibliotherapie zu. Gefragt sind Selbstkritik und Differenzierung,
entscheidend sind Reflexionen über das Verständnis von Therapie und Kunst.
Differenzierung heißt nicht zuletzt auch Unterscheidung der Kunstwirkung nach den
verschiedenen Bereichen der Medizin: Diagnostik, Therapie, Prävention, Rehabilitation,
Arzt-Patienten-Beziehung, Patient-Angehörigen-Beziehung, Klima des Krankenhauses,
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therapeutisches Milieu, Corporate Identity. In allen Bereichen können Künste eine Rolle
spielen und sollten in dieser Hinsicht in ihren Wirkungen auch unterschiedlich beurteilt
werden.
2) Stets müssen zunächst Rezeption und Produktion von Kunst in Gesundheit und
Krankheit oder die Psychophysiologie der Künste beachtet und studiert werden. Rezeption
und Produktion unterscheiden sich, lassen sich allerdings auch verbinden oder hängen
zusammen.
Schreiben
sollte
in
der
Bibliotherapie
stets
neben
dem
Lesen
Berücksichtigung finden - die Niederschrift des eigenen Lebenslaufes, die Schilderung
erlebter oder möglicher Krisensituationen, der Entwurf von Wunschbildern, das Verfassen
von Gedichten, Erzählungen oder dramatischen Szenen. Ebenso kann in der Musik
gespielt und gehört wie in der Malerei selbst gemalt oder Bilder betrachtet werden
(Ikonotherapie). Wird in der Produktion Individuelles entäußert, so in der Rezeption
Allgemeines verinnerlicht; die Aufnahme von Kunstwerken kann in dieser Hinsicht aktiver
oder beanspruchender sein als ihre Hervorbringung.
Die Differenz der Künste wie die Differenz der Sinne (Nahsinne/Fernsinne), abweichende
geistig-sinnliche Natur der Sinne) wirken sich ebenso wie Form und Inhalt, Raum und Zeit,
Körper und Bewegung mit vielen weiteren Unterschieden aus, die von den Zuständen der
Gesundheit und Krankheit auf jeweils spezifische Weise beeinflusst werden. Form meint
in der Literatur Reim, Vokale, Konsonanten, Rhythmus und Stil, von denen jeweils
spezifische Gefühle hervorgerufen werden, die sich dann wieder auf den Umgang mit der
Krankheit, Diagnostik oder Therapie auswirken. Konsonanz und Dissonanz, Dur und Moll,
Rhythmus, Melodie, Instrument und Stimme haben für die therapeutische Funktion der
Musik, Farbe, Zeichnung, Format, Thema für die Heilkraft der Malerei ihr Gewicht.
Der Inhalt kann real, fiktiv oder phantastisch sein, die Handlung statisch oder dynamisch
ausfallen. Der Text kann Ablenkung oder Hinlenkung, Verallgemeinerung oder
Konkretisierung bedeuten, kann als Vorbild oder Abschreckung, Zerstreuung oder
Sinnfindung wirken, kann in Verbindung mit dem eigenen Leben und der vorliegenden
Krankheit stehen oder gerade von diesen Situationen wegführen, kann auf praktische
Ziele der Krankheitsbewältigung gerichtet sein oder der geistigen Sinngebung von
Schmerz und Leid verpflichtet sein. In entsprechender Weise lassen sich auch in der
Malerei und Musik Unterschiede ausmachen und einsetzen.
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3) Auswirkungen auf die Künste haben naturgemäß die verschiedenen Krankheiten in
ihrer jeweiligen Eigenart. Entscheidend ist weniger die medizinische Ätiologie und
Pathophänomenologie als die Anthropologie der Krankheit: Krankheit als spezifische
Beziehung des kranken Menschen zu Leib, Raum, Zeit, zu sozialen Beziehungen, zum
Welt- und Selbstbild. Erhellende Beobachtungen und Deutungen in diesem Bereich
stammen im 20. Jahrhundert von den Medizinern Viktor von Weizsäcker, Karl Jaspers,
Medard Boss und Hubertus Tellenbach. Zu einer systematischen Untersuchung der
Anthropologie der spezifischen Krankheiten im Blick auf Produktion und Rezeption der
Künste in den verschiedenen Ebenen der Diagnose und Therapie ist es allerdings noch
nicht gekommen.
Künste bieten Weltgewinn und Aktivität für die im Kranksein Passiven. Künste schaffen
dem Kranken einen Freiheitsraum für seine Pläne und Wünsche, die nicht immer und
sofort an der Realität überprüft werden müssen und unter dem Druck stehen, sich
gegenüber den Reaktionen und Erwartungen der Umwelt, der Angehörigen, Freunde und
Arbeitskollegen zu bewähren. Auch Entspannung, anspruchsloses Vergnügen und
Zeitvertreib sind legitime Funktionen der Künste; sie können allerdings auch zu
Selbsttäuschung und Flucht vor der Realität führen, vor allem Literatur kann neurotische
Tendenzen verstärken und Scheinwelten entstehen lassen. Diese Gefahren müssen
gesehen und zu vermeiden oder zu verringern gesucht werden.
Bibliotherapie fand bislang wiederholt bei neurotischen Störungen, bei psychischen und
psychosomatischen Erkrankungen Anwendung. Das Buch kann aber auch bei
körperlichen Krankheiten und physischen Behinderungen herangezogen werden, kann
den Umgang des Kranken mit allen Krankheitstypen verbessern, kann seiner Einstellung
und seinem Verhalten eine sinnvolle, die Heilung fördernde Richtung geben. Krankheit
stellt, was auch immer ihr eigener Modus ist, eine psychische und soziale Erscheinung dar
und ist insofern für Einflüsse aus den Bereichen der Kultur, wozu alle Kunstarten gehören,
empfänglich.
Mit akuten und chronischen Krankheit verbinden sich jeweils spezifische Anforderungen;
abweichend sind die Folgen einer physischen, psychischen und sozialen Krise für die
Rezeption und Produktion von Kunstwerken. Immer wieder wird auf die besonderen
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Bedingungen des jeweiligen Alters zu achten sein. Eine besondere Aufgabe bietet die
Situation des Sterbens. Texte, Bilder, Musik können im Sterben die Kommunikation
verbessern oder an ihre Stelle treten.
Kinder können über literarische Schilderungen und auch eigenes Schreiben ihre Krankheit
leichter akzeptieren, ihre Ängste besser überwinden, mehr Aktivität und Phantasie zur
Bewältigung des Krankseins entfalten. Der Kontakt zu den Eltern und Ärzten kann durch
Märchen, Gedichte und Erzählungen verbessert werden. Oft sind Kinder nicht in der Lage,
direkt, wohl aber vermittelt über die Literatur etwas aufzunehmen oder von sich selbst
mitzuteilen. Literarische Darstellungen vom Sterben und Tod anderer Kindern können
sterbenden Kindern eine Hilfe sein. Vor allem die Möglichkeiten, das Kind selber
Geschichten in dieser Situation erzählen und schreiben zu lassen, erweisen sich als
sinnvoll und sollten neben dem Malen und Musizieren genutzt werden. Die
fünfzehnjährige Chris (Kübler-Ross, Kinder und Tod, 1984) dichtete sechs Monate vor
ihrem Tod über die Zeit: "In Erinnerungen, Träumen gleiten die Gedanken dieses
Moments vorbei, während du deine letzten Gedanken denkst über die Zeit." In ihrem
Abschiedsbrief tröstete sie ihre verzweifelte Mutter über den bevorstehenden Tod: "Ich
möchte Dich nicht immer weinen sehen. Ich werde im Himmel glücklich sein, das sollst Du
wissen, solange Du lebst ... Du hast die schlimmen und die guten Zeiten mit mir
durchgestanden, und das werde ich nie vergessen. Ich liebe dich sehr, Mami". Diese
Reaktionen und Verhaltensweisen werden auch Eltern und Geschwistern, Pflegepersonen
und Ärzten neue Dimensionen im Umgang mit dem kranken Kind erschließen.
4) Einfluss auf die Kunsttherapie oder allgemeiner den Umgang mit den Künsten haben
auch die verschiedenen Therapieformen: aus somatischen, psychischen, konservativen,
operativen, medikamentösen und diätetischen Verfahren ergeben sich jeweils besondere
Anforderungen an den Umgang mit den Künsten. Unterschiedliche Konsequenzen
besitzen ebenfalls die verschiedenen medizinischen Situationen und Institutionen: Praxis,
Klinik, Rehabilitationszentrum, Kurklinik, Aufnahme und Entlassung.
Die Situation vor der Operation ist auf andere Kunstwerke angewiesen als nach ihr, das
Lesen auf der Kinderstation unterscheidet sich von dem Lesen in der psychiatrischen
Abteilung. Geht es zu Beginn eines Krankenhausaufenthaltes eher um Werke, die eine
Annahme der Krankheit und der notwendigen diagnostischen und therapeutischen
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Verfahren nahe legen, werden im weiteren Verlauf des Aufenthaltes Texte wichtiger sein,
die von der eigenen körperlichen Situation ablenken und wieder an das tägliche Leben mit
seinen Aufgaben und sozialen Verpflichtungen erinnern, an die Selbstverantwortung
appellieren und den Wert der Gesundheit oder den Wert eines Lebens mit einer
chronischen Behinderung hervorheben. Kurzzeitpatienten sind auf andere Kunstwerke
und vor allem literarische Texte angewiesen als Langzeitpatienten. Ressourcenknappheit
wirkt sich negativ auf die Kunsttherapie aus.
In der Psychotherapie und Psychiatrie haben alle kunsttherapeutischen Richtungen
Aufnahme gefunden. Bibliotherapie kann in die Psychotherapie eingefügt werden, wenn
die verbale, kommunikative Auseinandersetzung ermüdet oder stockt. Lesen und
Schreiben können auch als Diagnostikum genutzt werden, insofern sie Hinweise auf die
Erkrankung, das Stadium und die beginnende Gesundung geben. In der Psychoanalyse
ist der Wert wissenschaftlicher Lektüre für den Patienten umstritten. Freud hat vor ihr
gewarnt, da mit ihr ein Abgleiten ins Intellektuelle zu befürchten sei, während es für den
Neurotiker in der Therapie doch gerade um die Auseinandersetzung mit den eigenen
Problemen gehe. Hohe Literatur wurde von C.G. Jung dagegen ausdrücklich befürwortet.
Im Unterschied zur wissenschaftlichen Literatur werde der Kranke von der Archetypik der
Kunst
von
seinen
persönlichen
Schwierigkeiten
abgelenkt,
könnten
ihm
Grundmöglichkeiten der Welt- und Selbstbegegnung eröffnet werden.
5) Ohne Zweifel hängt die Kunsttherapie auch von der Persönlichkeit und den Interessen
des Kranken ab. Herkunft und Geschlecht, Bildung, Intelligenz, Gefühle beeinflussen
wesentlich die Aufnahme der Literatur, Malerei und Musik. Die soziale Herkunft kann nicht
übergangen, sollte aber auch nicht überschätzt werden. Zur Lektüre und zum Schreiben
kann jeder Mensch erzogen und bewegt werden. Die Bibel ist ein bibliotherapeutischer
Grundtext für alle Lebensphasen und alle soziale Schichten in allen historischen Epochen
gewesen. Die produktive Seite der Musik- und Maltherapie setzt ihrerseits eine
entsprechende Bereitschaft voraus, die aber ebenfalls geweckt und gefördert werden
kann. Musik bietet besondere Möglichkeiten der Kooperation von Patient und Therapeut
im gemeinsamen Spielen. Krankheit und Krankenhaus sind Chancen der Kultur und
Kultivierung. Menschen, die im allgemeinen eher hohe Literatur aufnehmen, wenden sich
einfacheren Texten zu, Menschen, die an Musik weniger interessiert sind, werden zum
Anhören gehaltvoller Werke angeregt.
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Der Begriff Kunst sollte, das muss in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont werden,
allerdings nicht zu eng genommen oder anspruchsvoll verstanden werden; das gilt nicht
nur für die Produktion, sondern ebenfalls für die Rezeption von Kunst. Dann bezieht sich
auch Therapie nicht nur auf Behandlung im medizinischen Sinn, sondern ebenso auf
Begleitung, Unterstützung, Beratung. Das Spektrum des Angebots sollte weitgespannt
sein und vom Sachbuch oder Krimi bis zur hohen Literatur, vom Schlager bis zu Stücken
von Bach oder Beethoven, von sentimentalen Alpenschinken bis zu Landschaftsbildern
von Caspar David Friedrich oder Vincent van Gogh reichen. Literarische Texte müssen
auch keineswegs vollständig angeboten werden, sinnvoll sind ebenfalls inhaltsreiche
Auszüge, kürzere Passagen, markante Zitate oder knappe Aphorismen.
Marielene Leist berichtet in ihrem Buch Kinder begegnen dem Tod (1979): "Das Kind ist
für alle Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament zugänglich, wo von Trost und
Leid die Rede ist. Ganz besonders kindgemäß ist es aber, wenn sich Geschichten mit
Bildern verbinden." Man darf ergänzen: und ebenfalls mit Musik, mit Liedern. Das
gemeinsame Gebet, der gemeinsame Gesang, der gemeinsame Tanz eröffnen heilsame
Möglichkeiten für alle Altersstufen.
6) Es kommt in der Kunsttherapie wesentlich auf die Vermittlung des Kunstwerkes an;
auch hier gilt, dass für die Produktion der Kunst die Formen der Vermittlung weniger ein
Problem darstellen als für die Rezeption der Kunst, da bei jener der therapeutische
Kontakt ohnehin gegeben ist. Bei der Rezeption sind Kataloge und Verteilung von
Musikstücken, Bildern und Büchern nicht ausreichend. Kunstwerke können nicht wie
Medikamente verschrieben und eingenommen werden; die Logik der Kunstherapie ist
nicht die Logik der Pharmakologie.
Entscheidend ist die Begleitung, der Kontakt zwischen Kunsttherapeut und Patient, um die
Auswirkungen der Kunst überprüfen, um ausgleichen, um andere Anregungen geben zu
können. Im Gespräch müssen die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten des
kranken Menschen erkannt werden, um aus seinen Reaktionen entsprechende Einsichten
gewinnen und Folgerungen ziehen zu können: Hilfe für das Verständnis des
vorgeschlagenen
Kunstwerkes,
eventuell
Empfehlung
eines
anderen
Werkes,
Unterstützung grundsätzlich in den emotionalen Auswirkungen. Nur zu oft sind
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Erläuterungen und Rat notwendig, nicht immer wird auch allen Wünschen entsprochen
werden können. Zugleich muss die Autonomie des Kranken anerkannt werden. Wer selbst
entscheiden und in der Aufnahme des Kunstwerkes allein gelassen werden will, ist in
diesem Wunsch zu respektieren.
Das Analogieprinzip ist im übrigen nicht notwendig die Regel der Kunsttherapie; bei
Krebserkrankung muss nicht zwingend der Roman Krebsstation (russ. 1968) von
Solschenizyn empfohlen werden, vor Operationen keine Verwundetenbilder, in der
Sterbesituation nicht das Musikstück Der Tod und das Mädchen (1824) von Schubert. In
André Gides Roman Paludes (1895) konstatiert die Figur Galeas: "Man heilt den Kranken
nicht, indem man ihm seine Krankheit zeigt, sondern indem man ihm das Schauspiel der
Gesundheit vorführt. Man müßte einen normalen Menschen über jedes Spitalbett malen
und die Korridore mit farnesinischen Herkulessen vollstopfen." Zugleich können analoge
Kunstwerke auch wieder besonders angebracht sein; die literarische Beschreibung eines
Krankenhauses
mag
den
realen
Aufenthalt
erleichtern,
die
Wiedergabe
von
Behinderungen im Medium der Kunst die Annahme dieser Behinderung auch in der
Realität, spannende und lustige Darstellungen der Realität dem kranken Kind die
Rückkehr nach Hause.
Das Wissen über die prognostizierbaren Folgen der Aufnahme von Kunstwerken
bei
bestimmten Krankheiten oder speziellen Krankheitsstadien ist noch beschränkt;
Tendenzen der Wirkung sind aber bekannt und lassen sich voraussehen, Tendenzen,
dass zum Beispiel in bestimmten Stadien der Erkrankung und bei bestimmten Krankheiten
bestimmte literarische Texte oder andere Kunstwerke mit bestimmter Formalität und
Thematik besonders sinnvoll oder eher weniger angebracht sind.
7) Kunsttherapie setzt einen Kunsttherapeuten voraus. Die Frage stellt sich nach dem
Berufsbild und der Ausbildung des Kunsttherapeuten. Notwendig sind im Prinzip drei
Dimensionen:
medizinische
Kenntnisse,
Kunstwissen
und
psychotherapeutische
Fähigkeiten. Die vielfältigen Anforderungen werden sich gewiss nur zu oft nicht ohne
Einschränkungen verwirklichen lassen; Unterschiede ergeben sich auch aus den
verschiedenen Richtungen der Kunsttherapie. Das Berufsbild des Bibliotherapeuten zum
Beispiel ist nicht ohne Grund zur Zeit noch ziemlich offen. Bibliotherapie wird in
Deutschland von Bibliothekaren, Psychologen, Klinikseelsorgern, Ärzten und Schwestern
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ausgeübt; alle müssen über ihre konventionellen Grenzen hinausgehen und ihre
berufsbedingten Gefahren zu vermeiden suchen. Der Arzt muss seine literarischen
Kenntnisse erweitern und mit der eigenen Therapie verbinden, der Bibliothekar muss sich
medizinische und psychologische Kenntnisse erwerben; der Arzt muss die Beschränkung
auf naturwissenschaftliche Diagnostik und Therapie überwinden, der Bibliothekar die
Fixierung an die äußere Ordnung seiner Bibliothek.
8) Mit allen Sinnen heilen, lässt schließlich nach der Integration der Künste in der
Kunsttherapie fragen, die im Prinzip noch eine Aufgabe der Zukunft darstellt. Der gesunde
wie der kranke Mensch ist aber nicht auf eine Dimension festgelegt, er lebt mit allen
Sinnen und von allen Sinnen, ist auf Heil und Heilung bezogen, besitzt produktive und
rezeptive Möglichkeiten für alle Künste. Immer wieder haben Künstler und Schriftsteller Molière, Novalis, Goethe - sich selbst für diese Verbindung und Verbundenheit aller
Künste oder aller Sinne eingesetzt.
Goethe hat im Wilhelm Meister (1795/1821) das ebenso eindrucksvolle wie stimulierende
Beispiel einer integrierten Kunsttherapie entworfen. Flavio verlangt es in diesem Roman in
der Phase der beginnenden Genesung nach dem Schreiben von Gedichten: "Hier nun
konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen
mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt,
hervorruft und in auslösenden Schmerzen verflüchtigt." Aktivität und Passivität, Produktion
und Rezeption verbinden sich ebenfalls in diesem literarischen Beispiel: Hilarie möchte
auf die Verse Flavios mit eigenen Versen antworten; "sie saß am Flügel und versuchte die
Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihre Seele klang
nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und
Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, daß sie jenem Gedicht mit lindernder
Heiterkeit entgegnete." Das Gedicht ist Antwort und Hilfe, greift auf und führt weiter,
Medium dieser therapeutischen Metamorphose ist die Musik, die Aufsicht behält aber der
Arzt: "Der ärztliche Hausfreund übernahm die Botschaft, sie gelang, schon erwiderte der
Jüngling gemäßigt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder
einem heitern Tag, einem freien Boden zu gewinnen."
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IV. Medizin in der Kunst
Die Heilkraft der Künste lenkt den Blick auch auf die Wiedergabe medizinischer Themen
in den Künsten; Kunst und Krankheit stellen seit der Antike eine vielfältige Beziehung dar,
die auch in der Kunsttherapie zu beachten ist.
Dichterische Begabung wird von Plato mit dem Wahnsinn in eine enge Verbindung
gebracht. Dürers Darstellung der Melancholie von 1514 zielt ebenfalls auf Kreativität in
verschiedenen Bereichen. Hölderlin erklärt sich - in Übereinstimung mit antiker Auffassung
- im Herbst 1802 nach der Rückkehr aus Südfrankreich von "Apollo geschlagen." Proust
lässt in dem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (franz. 1913-27) den Arzt
Boulbon auf den inneren Zusammenhang von Krankheit und Leiden mit geistigkünstlerischer Produktivität hinweisen. "Wir genießen kunstvolle Musik, schöne Bilder,
tausend erlesene Köstlichkeiten, aber wir wissen nicht, was sie ihre Schöpfer an
Schlaflosigkeit, an Tränen, an krampfhaftem Lachen, an Nesselfieber, Asthma, Epilepsie
gekostet haben oder an Todesangst, die schlimmer als alles ist." Rilke verzichtet bewusst
auf die Hilfe der Psychoanalyse für sich selbst in der Sorge, „mit den Teufeln auch die
Engel“ zu verlieren.
Die Welt der Medizin ist ein zentraler Gegenstand in den Künsten und vor allem in der
Literatur. Der Kranke und die Krankheit, der Arzt und die Therapie, das Krankenhaus, die
Praxis und das Sanatorium, die Familie und die Gesellschaft haben in zahlreichen
Kunstwerken immer wieder Beachtung gefunden. Selbst das Thema der therapeutischen
Kraft der Künste wurde in Kunstwerken aufgegriffen.
Auch in die Musik hat Medizin als Thema Eingang gefunden, wurden Krankheit, Schmerz
und ärztliches Handeln mehrfach wiedergegeben. Johann Sebastian Bach hat allen
Affekten des Menschen einen musikalischen Ausdruck verliehen; die Goldbergvariationen
sollten Schlaflosigkeit überwinden helfen; „Ich freue mich auf meinen Tod“ ist der Titel
einer Arie in der Kantate Ich habe genug. Arzt, Apotheker und Kranke sind ein häufiger
Gegenstand von Opern, das trifft auch für die Geisteskrankheit zu; ein großes Beispiel
findet sich in Lucia di Lammermoor (1835) von Gaetano Donizetti.
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Balzac schildert Geburt, Krankheit und Tod ebenso umfassend und durchgängig in der
Comédie humaine wie Zola in seinem Rougon-Maquart-Zyklus oder Dickens in vielen
Romanen und Erzählungen. Dostojewskij lässt den Fürsten Myschkin in dem Roman Der
Idiot (1868/69) kurz vor seinen Anfällen zu höchsten Einsichten und Erlebnissen kommen,
ohne das Leiden und die destruktiven Auswirkungen dieser Krankheit zu übersehen: "Der
Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle
Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer,
harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache." Die
Erzählung Der Tod des Ivan Iljitsch von L. N. Tolstoj aus dem Jahre 1886 ist ein großes
Beispiel für die persönliche Entwicklung durch die Krankheit und Konfrontation mit dem
Sterben - hier im Erleben der tödlichen Krebserkrankung. Rilke wehrt sich gegen die
Technisierung und Anonymisierung des Sterbens: "Oh Herr gib' jedem seinen eigenen
Tod, das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not."
Thomas Mann greift ebenfalls immer wieder medizinische Themen in seinem Werk auf;
grundsätzliche Fragen der normativen Unterscheidung und des Umganges behandelt „das
große Kolloquium über Gesundheit und Krankheit“ im Zauberberg (1924). Robert Musil
verleiht der Geisteskrankheit des Sittlichkeitsverbrechers Moosbrugger im Mann ohne
Eigenschaften (1930-43) eine allgemeinmenschliche Bedeutung: "Wenn die Menschheit
als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen." Elsa Morante (La Storia,
1974) wie Janet Frame (Owls Do Cry, 1957) schildern ebenso realistisch wie symbolisch
die Epilepsie. Thomas Bernhards literarisches Werk wird durchgängig von Krankheit und
Medizin bestimmt. Der Roman Amras (1964) steht unter dem tiefen Wort von Novalis:
„Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens.“
Ebenso vielseitig fällt die Wiedergabe der Medizin in der Malerei aus. Die Krankheit in
ihrer Körperlichkeit gibt Grünewald auf dem Isenheimer Altar (1513-15) in drastischer
Realistik wieder, die sozialen Auswirkungen Böcklin auf dem Bild Die Pest (1898), die
psychisch-geistige Seite Munch auf dem Gemälde Der Schrei (1893) oder Frida Kahlo auf
dem Selbstbildnis Baum der Hoffnung (1946). Die bedrückende Situation der
psychiatrischen Institution findet sich auf Gemälden von Goya, der zugleich mit einem
Selbstbild (1820) in den Armen des Arztes Arrieta ein Ideal der Arzt-Patienten-Beziehung
entwirft. Krankheit kann auch als Sühne oder Prüfung verstanden werden; Hiob als das
bewegende Beispiel für die göttliche, aber ebenso menschliche Prüfung, wurde wiederholt
in der Malerei wie Literatur wiedergegeben, in besonderer Eindringlichkeit in Georges de
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la Tours Darstellung aus dem Jahre 1644: "Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch
fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!" (Hiob 2,9)
V. Ausblick
Die Künste spielen in der Medizin der Gegenwart eine Rolle, die sich für die
verschiedenen Künsten aber sehr unterschiedlich darstellt und auch in den verschiedenen
Ländern und Kulturen abweichende Entwicklungen genommen hat.
Kunst und Literatur können ohne Zweifel zu Diagnostik und Therapie beitragen, können
aber keine Alternative der etablierten Medizin sein; ein chirurgisch notwendiger Eingriff
kann durch das Betrachten eines Bildes nicht ersetzt werden. Auf Selbstkritik und
Differenzierung wird es vor allem ankommen; entscheidend ist immer wieder die Frage:
was heißt Therapie, was Heilung, was ein Leben mit Krankheit, was Begleitung?
Empirische Forschung muss verstärkt noch geleistet werden - in den angegebenen
verschiedenen Bereichen der Diagnostik und Therapie, der Beziehung des Patienten zu
Angehörigen
und
Ärzten
und
der
Krankenhauswelt
sowie
nach
einem
Wissenschaftsbegriff, der nicht identisch mit dem Wissenschaftsbegriff der exakten
Physik sein muss; auch subjektive Aussagen stellen objektive Wirklichkeiten dar.
Kunst geht schließlich - und das sollte auch in diesem Kontext besonders betont werden grundsätzlich über Therapie hinaus, ist mehr als Beschäftigungstherapie. Die Aufnahme
von Kunst kann auch belasten. In dieser Perspektive wurde bereits im 18. Jahrhundert vor
der Lektüre von Goethes Werther (1774, 21787) gewarnt. Stifter, dem das Schreiben an
der Mappe meines Urgroßvaters (1841/4,
41870)zu
einer "liebevollen Arznei" wird,
empfiehlt der kränklichen Schwester Luise des Dichters Eichendorff den Roman Der
Nachsommer (1857), während sie selbst eher aus Stifters Erzählband Studien (1744-50)
"wieder frischen Lebensmuth" meint gewinnen zu können.
Von Kafka stammt das
beachtenswerte Wort vom Buch als der "Axt für das gefrorene Meer in uns." Kunstwerk
und Medizin sind bei mancher Nähe und Übereinstimmung grundsätzlich unterschieden:
"Tyche und Techne stehen hier in einer besonderen antagonistischen Spannung", heißt
es in Apologie der Heilkunst (1965) des Philosophen Gadamer.
16
Die therapeutische Kraft von Kunst und Literatur wird auch von Schriftstellern selbst in
ihren Werken thematisiert. Die hinlenkende und bildende Funktion der Literatur erfährt der
todkranke Apotheker Malone (=I am alone?) in Carson McCullers Roman Uhr ohne Zeiger
(engl. 1961). Der an Einsamkeit leidende und verzweifelte Malone greift das Angebot der
Krankenhausbibliothek auf und leiht sich Kierkegaards Schrift Krankheit zum Tode (1849)
aus. Malone ist nicht sehr gebildet, der Name Kierkegaard sagt ihm nichts. Die gelesenen
Sätze werden von ihm aber in ihrer unmittelbaren Bedeutung begriffen, sie schenken ihm
existentielle Einsichten und psychische Kraft. Vor allem berührt ihn zutiefst die Bemerkung
Kierkegaards, daß die größte Gefahr im Verlust des Ichs liege, weil dieser sich still und
unbemerkt vollziehe, während jeder andere Verlust, etwa der eines Autos oder einer
beruflichen Position, einem sofort auffalle. Malone ist für diese Einsicht aber erst im
Kranksein bereit: "Wenn Malone nicht eine unheilbare Krankheit gehabt hätte, wären
diese Worte einfach Worte geblieben, ja er hätte die Hand überhaupt nicht nach dem
Buch ausgestreckt."
Schreiben als Heilung oder Dokument der Freiheit ist die Perspektive zahlreicher
Selbsterfahrungsberichte der Gegenwart; bereits Proust und Rilke haben das Schreiben
als Selbstbehandlung verstanden.
Auch Caroline Muhr hat das
in ihrer Depression
(Depressionen. Tagebuch einer Krankheit, 1978) so empfunden, wenn sie sagt: "In dieser
Stunde spinne ich den dünnen Faden, der mich mit einer Wirklichkeit verbindet, die ich
noch selbst bestimme, indem ich Worte aussuche, zusammenfüge, Buchstaben setze, so
wie ich es will und nicht wie meine Krankheit es will oder wie die Schwestern es wollen
oder wie Dr. Hartmann es will."
Kultur hat Heilkraft, Medizin ist Wissenschaft und Kunst. "Mit allen Sinnen heilen oder von
der Heilkraft der Künste" ist eine Herausforderung an die Kultur wie an die Medizin, deren
Beantwortung allen Menschen in ihrem Umgang mit Geburt, Krankheit, Gesundheit und
Sterben Hilfe und Anregung bieten kann. Alle Künste erinnern mit ihren Darstellungen und
Deutungen an die ganzheitliche Natur des menschlichen Lebens, relativieren gängige
oder einseitige Bewertungen von Gesundheit und Krankheit wie entsprechend begrenzte
Rollenbilder von Arzt und Patient. Die Bewältigung von Krankheit und Behinderung kann
eindrucksvoller sein als ein Leben in ungebrochener Gesundheit; Ärzte können erkranken,
Patienten können diagnostische und therapeutische Aufgaben übernehmen. Eine
anthropologische Differenz oder Asymmetrie von Patient und Arzt ist allerdings
17
unaufhebbar; diese Asymmetrie ist zugleich zeitlich auf den Prozeß der Therapie begrenzt
und stellt kein Werturteil dar.
Repräsentative
Geltung
hat
die
Definition
der
Gesundheit
durch
die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 1947 als "Zustand vollständigen
körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von
Krankheit und Schwäche" gefunden. Dass Gesundheit und Krankheit auf soziale und
geistige
Bereiche
ausgedehnt
werden,
spricht
für
diese
Definition
ein;
ihr
anthropologischer Mangel liegt in der strikten Entgegensetzung von Gesundheit und
Krankheit und der übertriebenen Hochschätzung der Gesundheit. Gesundheit muss nicht
nur positiv sein, Gesundheit kann auch als Fähigkeit bezeichnet werden, Behinderungen
und Schädigungen ertragen und in das Leben integrieren zu können.
Wirklichkeit, Kunst und Wissenschaft unterscheiden sich und hängen zugleich auf
besondere Weise zusammen. Medizin ist nicht nur Wissenschaft, sondern ebenfalls
Kunst, Medizin sollte als Heilkultur begriffen und als solche auch verwirklicht werden.
„Medical Humanities“ ist ein Ausdruck der Gegenwart für diese Verbindung der
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, in der Krankheit stets als physische,
psychische, soziale und geistige Erscheinung verstanden und der Arzt nicht nur als
Techniker oder Wissenschaftler gilt, sondern von ihm auch eine personale Beziehung
erwartet wird.
"Die Kunst ist lang, das Leben ist kurz"; diese hippokratische Einsicht trifft auch heute
noch zu. Abschied steht im Zentrum des Lebens wie im Tun des Arztes und
Psychotherapeuten. Die Wiedergabe des Abschiedes ist in der Figur des Orpheus ein
Mythos der Antike, den Gluck in seiner bekannten Oper von 1762 aufgegriffen hat.
Orpheus entreißt Eurydike durch seinen Gesang dem Tode und verliert sie zugleich durch
seine Liebe zu ihr. Die Zeitlosigkeit der Kunst hält diesen Abschied aber für immer
lebendig. In diesem Sinn hat Josef Conrad in seinem Roman Der Nigger von der
Narzissus (1897) über die Kunst gesagt, sie verbinde alle Menschen: "die Toten mit den
Lebenden und die Lebenden mit den noch Ungeborenen." Kunst steht für die
unbezweifelbare, erhellende wie trostreiche Transzendenz in der Immanenz.
18
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9
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19
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Tellenbach,
Hubertus:
Melancholie.
Problemgeschichte,
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