1 Mit allen Sinnen heilen oder von der Heilkraft der Künste Dietrich v. Engelhardt (Lübeck) I. Situation Die naturwissenschaftliche Medizin steht in der Gegenwart vor ihrer anthropologischen Herausforderung, d.h. vor der Aufgabe: Anthropologie, Kosmologie und auch Metaphysik mit der naturwissenschaftlichen Medizin in Verbindung zu bringen. Es geht allerdings nicht um Alternativmedizin, Naturwissenschaft und sondern um Alternativen Geisteswissenschaft, in der verbindet Medizin; Natur Medizin und ist Kultur. Hospizbewegung, Palliativstation, Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie und Medizinische Ethik entsprechen bereits diesen Versuchen einer geisteswissenschaftlichen Erweiterung oder Ergänzung der Medizin, die zur Zeit auch mit dem Begriff „Medical Humanities“ bezeichnet wird, womit der Blick vor allem auch auf die Künste und ihren Beitrag für den medizinischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit gelenkt wird. Medizin ist selbst Kunst und nicht nur Wissenschaft, ist ein von Erfahrung und Wissen geleitetes Handeln von Menschen mit Menschen. Die Entwicklung von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne hat bei aller Verwissenschaftlichung und Technisierung das "Urphänomen" der Medizin (Viktor v. Weizsäcker, 1927) nicht überwunden oder überflüssig gemacht; Medizin heißt weiterhin ein Mensch in Not und ein Mensch als Helfer, Medizin besteht prinzipiell aus zwei Entsprechungen: Krankheit und Medizin, Patient und Arzt. Auf verschiedenen Ebenen zeigt sich der Kunstcharakter der Medizin. Die Heilung der Krankheit und das Hervorbringen von Gesundheit können mit einem kreativen Akt verglichen werden. Diagnostik und Therapie besitzen künstlerische Momente, die auch in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient eine große Rolle spielen. Ästhetik und Therapie stehen in besonderer Weise in der Chirurgie und speziell plastischen Chirurgie in einem Zusammenhang. Auch medizinische Publikationen können einen literarischkünstlerischen Wert besitzen wie ebenfalls medizinische Vorträge; in der Vergangenheit nutzte das Lehrgedicht die Verbindung von Wissenschaft und Kunst im Unterricht. Kunst 2 zeigt sich in der Medizin auch in Krankheitsbezeichnungen; der Bogen spannt sich vom Ödipus-, Elektra- und Kassandrakomplex zum Münchhausen-, Rapunzel- und Oblomovsyndrom. Kunst findet sich im übrigen in der Medizin auch an und in medizinischen Institutionen; viel zu wenig werden in diesem Zusammenhang allerdings die Bedürfnisse und Wünsche des kranken Menschen berücksichtigt. Die Geschichte der Medizin durchzieht der Wechsel von Krankengeschichte und Krankheitsgeschichte, von Subjektivität und Objektivität, von Wirkursache (causa efficiens) und Zweckursache (causa finalis). Zu Versuchen der Vermittlung und des Ausgleichs ist es ebenso immer wieder gekommen. Selbst das naturwissenschaftliche 19. Jahrhundert ist weniger einseitig, als es viele Darstellungen nahe legen. Wiederholt wird auch in diesem Zeitraum von Medizinern der Doppelcharakter der Medizin als Kunst und Wissenschaft betont. Das berühmte Diktum des Internisten Bernhard Naunyn aus dem Jahre 1905: "Die Medizin wird eine Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein", ist nur der erste Teil einer Feststellung, deren zweiter und meist nicht zitierter Teil ausdrücklich an die Bindung des Arztes an den Menschen und seine Würde erinnert: "da setzen uns Humanität und Pietät enge Grenzen." Aus der therapeutischen Aufgabe ergeben sich charakteristische Unterschiede der Medizin sowohl gegenüber den Naturwissenschaften als auch gegenüber den Geisteswissenschaften. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers erläutert und begründet in der Allgemeinen Psychopathologie (1913) den für die Medizin und vor allem die Psychiatrie grundsätzlich gültigen Methodendualismus von naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen, der bereits in Wilhelm Diltheys Formel: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wird" (1894) seinen klassischen Ausdruck gefunden hat. Erklären heißt nach Jaspers, Krankheiten auf körperliche Ursachen zurückzuführen, Verstehen dagegen, Krankheiten aus seelischen Voraussetzungen abzuleiten sowie auf die Subjektivität des Kranken einzugehen. Medizinische Therapie kann im Sinne der „evidence based medicine“ auf Wirksamkeitsnachweis ohne Zweifel nicht verzichten; dieser kann allerdings auch unterschiedlich ausfallen, auch subjektive Aussagen lassen sich objektivieren, auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient kann wissenschaftlich beschrieben und analysiert werden. Therapie meint im übrigen keineswegs nur Behandlung und Heilung, sondern 3 ebenso Begleitung und Beistand. Der medizinische Wissenschaftsbegriff darf nicht nur an Mechanik und Physik orientiert werden. Biologie und noch mehr die Geisteswissenschaften, die in der Medizin eine zentrale Rolle spielen, verlangen nach einer ihnen gemäßen Wissenschaftstheorie. Beachtung verdient in dieser Perspektive der Zusammenhang zwischen dem Gesundheits- und Krankheitsbegriff, dem Therapieziel und der Arzt-Patienten-Beziehung, der zwar nicht zwingend ist, der sich aber offensichtlich immer wieder nahe legt. Wird unter Krankheit eine defekte Maschine verstanden, heißt Therapie Reparatur, erfüllt sich die Arzt-Patienten-Beziehung im Verhältnis eines Technikers zu seiner Maschine. Bedeutet Krankheit dagegen das Leiden eines Menschen mit Bewusstsein, Sprache und sozialen Kontakten, müssen Ziel der Therapie und Art der Beziehung zwischen Arzt und Patient ebenfalls ganzheitlich und personell angelegt sein. Alle Sinne und damit die ihnen entsprechenden Künste können in der Medizin für Diagnostik und Therapie beachtet und genutzt werden. Mit Recht kann von einer künstlerisch oder „spirituellen Anästhesie“ gesprochen werden, die insbesondere durch die physische Anästhesie des 19. Jahrhunderts sehr an Wert verloren hat. Als fundamental für die Künste in ihrer therapeutischen Funktion erweist sich auch der sozialkulturelle Kontext. Medizin und Krankenhaus stellen zwar eigenständige Wirklichkeiten dar, sind aber in hohem Maße ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn Kultur allgemein für den Umgang der Menschen mit Geburt, Krankheit und Tod an Einfluss verloren hat oder auch weiterhin verliert, wird auch die Heilkraft der Künste bei Patienten, Ärzten und Pflegepersonen kaum auf Verständnis stoßen oder noch eine Rolle spielen. II. Historie Die Medizin in der Antike ist bestimmt von Kosmologie und Anthropologie. Zentral ist das Viererschema der Säfte und Elemente sowie das umfassende Konzept der Diätetik, in dem die Künste im Bereich der Affekte - neben den Bereichen von Licht und Luft, Schlafen und Wachen, Bewegung und Ruhe, Essen und Trinken sowie Ausscheidungen ihren systematischen und über Jahrhunderte anerkannten Ort besitzt. 4 Die Auffassungen über die heilsame Wirkung der Künste sind auch in der Antike vielfältig und kontrovers. Vielbeachtet wurde der Gedanke von Aristoteles über die kathartische Wirkung der Tragödie. "Dadurch, dass sie Mitleid und Furcht erregt, bewirkt sie die ihr eigentümliche Reinigung derartiger Affekte." Neben literarischen Texten soll auch Reden und Briefen eine therapeutische Kraft zukommen können. Cicero wie Seneca schreiben Trostbriefe und Trostschriften für die Krisen Krankheit, Alter und Tod; Horaz vergleicht den Dichter mit dem Arzt und die Dichtung mit süßer Arznei. Seneca verfasst eine Trostschrift für eine Frau mit dem Namen Marcia, die sich noch nach Jahren nicht mit dem Tod ihres Sohnes abfinden konnte. Das Mittelalter steht in der Medizin unter dem Begriff der Transzendenz oder Metaphysik. Die Bibel ist ein Grundwerk der Bibliotherapie seit der Antike – für Gebildete wie Analphabeten. Die Naturforscherin, Ärztin und Äbtissin Hildegard von Bingen, die ihr ganzes Leben hindurch krank ist, findet Hilfe und Heilung aber auch durch ihr eigenes Schreiben und Lesen („scribendo solari“). Musik wird ebenfalls aufgegriffen; erinnert wird an David im Alten Testament, der Saul mit Harfenmusik heilt oder beruhigt: "So oft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm." (1. Samuel 16, 23) Auch die Malerei wird beachtet; Bilder des gekreuzigten Christus sind noch bis weit in die Neuzeit hinein eine Hilfe bei Operationen und im Sterben. Die Heilkraft der Künste wird auch in anderen Kulturen in jener Zeit aufgegriffen. Das arabische Al-Mansur Hospital in Kairo bietet neben Medikament und Operation immer auch die Lektüre des Korans durch Priester als Therapeutikum an. Der jüdische Mediziner und Philosoph Maimonides lobt seinerseits in einer Schrift zur Erhaltung der Gesundheit (Regimen sanitatis) die therapeutische und besonders diätetische Kraft der Literatur. Die Neuzeit steht seit der Renaissance unter dem Begriff der Säkularisierung als Verweltlichung des Paradieses mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Medizin in Diagnostik und Therapie und allgemein auf das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Sterben. Damit verbunden kommt es zu einer Reduktion der antiken Diätetik auf Diät, wie zugleich aber auch zu einem eindrucksvollen Progress der Chirurgie und ebenso einer zunehmenden Eliminierung der Kunsttherapie. 5 Zugleich lassen sich gegenüber diesen dominierenden Tendenzen immer wieder auch Gegenbewegungen beobachten - so die romantische und idealistische Medizin um 1800, die Naturheilkunde und die anthropologische Medizin des 20. Jahrhunderts, zu denen auch die Initiativen der Kunsttherapie, vor allem der Musik-, Mal- und Tanztherapie, in Deutschland bislang allerdings weniger der Bibliotherapie, gehören. Die Bezeichnung „Bibliotherapie“ wurde 1916 von dem Pfarrer Samuel McCord Crothers geprägt; bereits 1705 veröffentlichte der Theologe Georg Heinrich Götze eine Krancken-Bibliothec. Die Ursprünge der „Hospital Libraries“ in den Vereinigten Staaten gehen in das 18. Jahrhundert zurück. In Philadelphia wurde 1762 eine Krankenhausbibliothek eingerichtet. III. Grundfragen Eine Reihe von Grundfragen verbinden sich mit der Kunsttherapie, die im folgenden knapp skizziert werden sollen. Eine differenzierte und komparative historische wie allgemeine Darstellung der verschiedenen kunsttherapeutischen Richtungen steht - bei vielen wichtigen bereits vorliegenden Einzelstudien - noch aus. Insbesondere verlangt eine derartige Untersuchung die Synopsis von Kunst, Medizin und Psychologie. 1) Die Überprüfung der Wirkung der Kunst stellt eine zentrale Aufgabe der kommenden Jahre dar: von den Pionierbeiträgen der Ursprungsphase muss zur Empirie des Alltags übergegangen werden, zur Einführung in den medizinischen Alltag, zur Verbindung mit der somatischen wie psychischen Therapie, zur Integration nicht nur in die Kuration, sondern ebenfalls Prävention und vor allem Rehabilitation. Es kommt für die Zukunft ebenso auf Institutionalisierung und Ausbildung an; das trifft besonders für die Bibliotherapie zu. Gefragt sind Selbstkritik und Differenzierung, entscheidend sind Reflexionen über das Verständnis von Therapie und Kunst. Differenzierung heißt nicht zuletzt auch Unterscheidung der Kunstwirkung nach den verschiedenen Bereichen der Medizin: Diagnostik, Therapie, Prävention, Rehabilitation, Arzt-Patienten-Beziehung, Patient-Angehörigen-Beziehung, Klima des Krankenhauses, 6 therapeutisches Milieu, Corporate Identity. In allen Bereichen können Künste eine Rolle spielen und sollten in dieser Hinsicht in ihren Wirkungen auch unterschiedlich beurteilt werden. 2) Stets müssen zunächst Rezeption und Produktion von Kunst in Gesundheit und Krankheit oder die Psychophysiologie der Künste beachtet und studiert werden. Rezeption und Produktion unterscheiden sich, lassen sich allerdings auch verbinden oder hängen zusammen. Schreiben sollte in der Bibliotherapie stets neben dem Lesen Berücksichtigung finden - die Niederschrift des eigenen Lebenslaufes, die Schilderung erlebter oder möglicher Krisensituationen, der Entwurf von Wunschbildern, das Verfassen von Gedichten, Erzählungen oder dramatischen Szenen. Ebenso kann in der Musik gespielt und gehört wie in der Malerei selbst gemalt oder Bilder betrachtet werden (Ikonotherapie). Wird in der Produktion Individuelles entäußert, so in der Rezeption Allgemeines verinnerlicht; die Aufnahme von Kunstwerken kann in dieser Hinsicht aktiver oder beanspruchender sein als ihre Hervorbringung. Die Differenz der Künste wie die Differenz der Sinne (Nahsinne/Fernsinne), abweichende geistig-sinnliche Natur der Sinne) wirken sich ebenso wie Form und Inhalt, Raum und Zeit, Körper und Bewegung mit vielen weiteren Unterschieden aus, die von den Zuständen der Gesundheit und Krankheit auf jeweils spezifische Weise beeinflusst werden. Form meint in der Literatur Reim, Vokale, Konsonanten, Rhythmus und Stil, von denen jeweils spezifische Gefühle hervorgerufen werden, die sich dann wieder auf den Umgang mit der Krankheit, Diagnostik oder Therapie auswirken. Konsonanz und Dissonanz, Dur und Moll, Rhythmus, Melodie, Instrument und Stimme haben für die therapeutische Funktion der Musik, Farbe, Zeichnung, Format, Thema für die Heilkraft der Malerei ihr Gewicht. Der Inhalt kann real, fiktiv oder phantastisch sein, die Handlung statisch oder dynamisch ausfallen. Der Text kann Ablenkung oder Hinlenkung, Verallgemeinerung oder Konkretisierung bedeuten, kann als Vorbild oder Abschreckung, Zerstreuung oder Sinnfindung wirken, kann in Verbindung mit dem eigenen Leben und der vorliegenden Krankheit stehen oder gerade von diesen Situationen wegführen, kann auf praktische Ziele der Krankheitsbewältigung gerichtet sein oder der geistigen Sinngebung von Schmerz und Leid verpflichtet sein. In entsprechender Weise lassen sich auch in der Malerei und Musik Unterschiede ausmachen und einsetzen. 7 3) Auswirkungen auf die Künste haben naturgemäß die verschiedenen Krankheiten in ihrer jeweiligen Eigenart. Entscheidend ist weniger die medizinische Ätiologie und Pathophänomenologie als die Anthropologie der Krankheit: Krankheit als spezifische Beziehung des kranken Menschen zu Leib, Raum, Zeit, zu sozialen Beziehungen, zum Welt- und Selbstbild. Erhellende Beobachtungen und Deutungen in diesem Bereich stammen im 20. Jahrhundert von den Medizinern Viktor von Weizsäcker, Karl Jaspers, Medard Boss und Hubertus Tellenbach. Zu einer systematischen Untersuchung der Anthropologie der spezifischen Krankheiten im Blick auf Produktion und Rezeption der Künste in den verschiedenen Ebenen der Diagnose und Therapie ist es allerdings noch nicht gekommen. Künste bieten Weltgewinn und Aktivität für die im Kranksein Passiven. Künste schaffen dem Kranken einen Freiheitsraum für seine Pläne und Wünsche, die nicht immer und sofort an der Realität überprüft werden müssen und unter dem Druck stehen, sich gegenüber den Reaktionen und Erwartungen der Umwelt, der Angehörigen, Freunde und Arbeitskollegen zu bewähren. Auch Entspannung, anspruchsloses Vergnügen und Zeitvertreib sind legitime Funktionen der Künste; sie können allerdings auch zu Selbsttäuschung und Flucht vor der Realität führen, vor allem Literatur kann neurotische Tendenzen verstärken und Scheinwelten entstehen lassen. Diese Gefahren müssen gesehen und zu vermeiden oder zu verringern gesucht werden. Bibliotherapie fand bislang wiederholt bei neurotischen Störungen, bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen Anwendung. Das Buch kann aber auch bei körperlichen Krankheiten und physischen Behinderungen herangezogen werden, kann den Umgang des Kranken mit allen Krankheitstypen verbessern, kann seiner Einstellung und seinem Verhalten eine sinnvolle, die Heilung fördernde Richtung geben. Krankheit stellt, was auch immer ihr eigener Modus ist, eine psychische und soziale Erscheinung dar und ist insofern für Einflüsse aus den Bereichen der Kultur, wozu alle Kunstarten gehören, empfänglich. Mit akuten und chronischen Krankheit verbinden sich jeweils spezifische Anforderungen; abweichend sind die Folgen einer physischen, psychischen und sozialen Krise für die Rezeption und Produktion von Kunstwerken. Immer wieder wird auf die besonderen 8 Bedingungen des jeweiligen Alters zu achten sein. Eine besondere Aufgabe bietet die Situation des Sterbens. Texte, Bilder, Musik können im Sterben die Kommunikation verbessern oder an ihre Stelle treten. Kinder können über literarische Schilderungen und auch eigenes Schreiben ihre Krankheit leichter akzeptieren, ihre Ängste besser überwinden, mehr Aktivität und Phantasie zur Bewältigung des Krankseins entfalten. Der Kontakt zu den Eltern und Ärzten kann durch Märchen, Gedichte und Erzählungen verbessert werden. Oft sind Kinder nicht in der Lage, direkt, wohl aber vermittelt über die Literatur etwas aufzunehmen oder von sich selbst mitzuteilen. Literarische Darstellungen vom Sterben und Tod anderer Kindern können sterbenden Kindern eine Hilfe sein. Vor allem die Möglichkeiten, das Kind selber Geschichten in dieser Situation erzählen und schreiben zu lassen, erweisen sich als sinnvoll und sollten neben dem Malen und Musizieren genutzt werden. Die fünfzehnjährige Chris (Kübler-Ross, Kinder und Tod, 1984) dichtete sechs Monate vor ihrem Tod über die Zeit: "In Erinnerungen, Träumen gleiten die Gedanken dieses Moments vorbei, während du deine letzten Gedanken denkst über die Zeit." In ihrem Abschiedsbrief tröstete sie ihre verzweifelte Mutter über den bevorstehenden Tod: "Ich möchte Dich nicht immer weinen sehen. Ich werde im Himmel glücklich sein, das sollst Du wissen, solange Du lebst ... Du hast die schlimmen und die guten Zeiten mit mir durchgestanden, und das werde ich nie vergessen. Ich liebe dich sehr, Mami". Diese Reaktionen und Verhaltensweisen werden auch Eltern und Geschwistern, Pflegepersonen und Ärzten neue Dimensionen im Umgang mit dem kranken Kind erschließen. 4) Einfluss auf die Kunsttherapie oder allgemeiner den Umgang mit den Künsten haben auch die verschiedenen Therapieformen: aus somatischen, psychischen, konservativen, operativen, medikamentösen und diätetischen Verfahren ergeben sich jeweils besondere Anforderungen an den Umgang mit den Künsten. Unterschiedliche Konsequenzen besitzen ebenfalls die verschiedenen medizinischen Situationen und Institutionen: Praxis, Klinik, Rehabilitationszentrum, Kurklinik, Aufnahme und Entlassung. Die Situation vor der Operation ist auf andere Kunstwerke angewiesen als nach ihr, das Lesen auf der Kinderstation unterscheidet sich von dem Lesen in der psychiatrischen Abteilung. Geht es zu Beginn eines Krankenhausaufenthaltes eher um Werke, die eine Annahme der Krankheit und der notwendigen diagnostischen und therapeutischen 9 Verfahren nahe legen, werden im weiteren Verlauf des Aufenthaltes Texte wichtiger sein, die von der eigenen körperlichen Situation ablenken und wieder an das tägliche Leben mit seinen Aufgaben und sozialen Verpflichtungen erinnern, an die Selbstverantwortung appellieren und den Wert der Gesundheit oder den Wert eines Lebens mit einer chronischen Behinderung hervorheben. Kurzzeitpatienten sind auf andere Kunstwerke und vor allem literarische Texte angewiesen als Langzeitpatienten. Ressourcenknappheit wirkt sich negativ auf die Kunsttherapie aus. In der Psychotherapie und Psychiatrie haben alle kunsttherapeutischen Richtungen Aufnahme gefunden. Bibliotherapie kann in die Psychotherapie eingefügt werden, wenn die verbale, kommunikative Auseinandersetzung ermüdet oder stockt. Lesen und Schreiben können auch als Diagnostikum genutzt werden, insofern sie Hinweise auf die Erkrankung, das Stadium und die beginnende Gesundung geben. In der Psychoanalyse ist der Wert wissenschaftlicher Lektüre für den Patienten umstritten. Freud hat vor ihr gewarnt, da mit ihr ein Abgleiten ins Intellektuelle zu befürchten sei, während es für den Neurotiker in der Therapie doch gerade um die Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen gehe. Hohe Literatur wurde von C.G. Jung dagegen ausdrücklich befürwortet. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Literatur werde der Kranke von der Archetypik der Kunst von seinen persönlichen Schwierigkeiten abgelenkt, könnten ihm Grundmöglichkeiten der Welt- und Selbstbegegnung eröffnet werden. 5) Ohne Zweifel hängt die Kunsttherapie auch von der Persönlichkeit und den Interessen des Kranken ab. Herkunft und Geschlecht, Bildung, Intelligenz, Gefühle beeinflussen wesentlich die Aufnahme der Literatur, Malerei und Musik. Die soziale Herkunft kann nicht übergangen, sollte aber auch nicht überschätzt werden. Zur Lektüre und zum Schreiben kann jeder Mensch erzogen und bewegt werden. Die Bibel ist ein bibliotherapeutischer Grundtext für alle Lebensphasen und alle soziale Schichten in allen historischen Epochen gewesen. Die produktive Seite der Musik- und Maltherapie setzt ihrerseits eine entsprechende Bereitschaft voraus, die aber ebenfalls geweckt und gefördert werden kann. Musik bietet besondere Möglichkeiten der Kooperation von Patient und Therapeut im gemeinsamen Spielen. Krankheit und Krankenhaus sind Chancen der Kultur und Kultivierung. Menschen, die im allgemeinen eher hohe Literatur aufnehmen, wenden sich einfacheren Texten zu, Menschen, die an Musik weniger interessiert sind, werden zum Anhören gehaltvoller Werke angeregt. 10 Der Begriff Kunst sollte, das muss in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont werden, allerdings nicht zu eng genommen oder anspruchsvoll verstanden werden; das gilt nicht nur für die Produktion, sondern ebenfalls für die Rezeption von Kunst. Dann bezieht sich auch Therapie nicht nur auf Behandlung im medizinischen Sinn, sondern ebenso auf Begleitung, Unterstützung, Beratung. Das Spektrum des Angebots sollte weitgespannt sein und vom Sachbuch oder Krimi bis zur hohen Literatur, vom Schlager bis zu Stücken von Bach oder Beethoven, von sentimentalen Alpenschinken bis zu Landschaftsbildern von Caspar David Friedrich oder Vincent van Gogh reichen. Literarische Texte müssen auch keineswegs vollständig angeboten werden, sinnvoll sind ebenfalls inhaltsreiche Auszüge, kürzere Passagen, markante Zitate oder knappe Aphorismen. Marielene Leist berichtet in ihrem Buch Kinder begegnen dem Tod (1979): "Das Kind ist für alle Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament zugänglich, wo von Trost und Leid die Rede ist. Ganz besonders kindgemäß ist es aber, wenn sich Geschichten mit Bildern verbinden." Man darf ergänzen: und ebenfalls mit Musik, mit Liedern. Das gemeinsame Gebet, der gemeinsame Gesang, der gemeinsame Tanz eröffnen heilsame Möglichkeiten für alle Altersstufen. 6) Es kommt in der Kunsttherapie wesentlich auf die Vermittlung des Kunstwerkes an; auch hier gilt, dass für die Produktion der Kunst die Formen der Vermittlung weniger ein Problem darstellen als für die Rezeption der Kunst, da bei jener der therapeutische Kontakt ohnehin gegeben ist. Bei der Rezeption sind Kataloge und Verteilung von Musikstücken, Bildern und Büchern nicht ausreichend. Kunstwerke können nicht wie Medikamente verschrieben und eingenommen werden; die Logik der Kunstherapie ist nicht die Logik der Pharmakologie. Entscheidend ist die Begleitung, der Kontakt zwischen Kunsttherapeut und Patient, um die Auswirkungen der Kunst überprüfen, um ausgleichen, um andere Anregungen geben zu können. Im Gespräch müssen die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten des kranken Menschen erkannt werden, um aus seinen Reaktionen entsprechende Einsichten gewinnen und Folgerungen ziehen zu können: Hilfe für das Verständnis des vorgeschlagenen Kunstwerkes, eventuell Empfehlung eines anderen Werkes, Unterstützung grundsätzlich in den emotionalen Auswirkungen. Nur zu oft sind 11 Erläuterungen und Rat notwendig, nicht immer wird auch allen Wünschen entsprochen werden können. Zugleich muss die Autonomie des Kranken anerkannt werden. Wer selbst entscheiden und in der Aufnahme des Kunstwerkes allein gelassen werden will, ist in diesem Wunsch zu respektieren. Das Analogieprinzip ist im übrigen nicht notwendig die Regel der Kunsttherapie; bei Krebserkrankung muss nicht zwingend der Roman Krebsstation (russ. 1968) von Solschenizyn empfohlen werden, vor Operationen keine Verwundetenbilder, in der Sterbesituation nicht das Musikstück Der Tod und das Mädchen (1824) von Schubert. In André Gides Roman Paludes (1895) konstatiert die Figur Galeas: "Man heilt den Kranken nicht, indem man ihm seine Krankheit zeigt, sondern indem man ihm das Schauspiel der Gesundheit vorführt. Man müßte einen normalen Menschen über jedes Spitalbett malen und die Korridore mit farnesinischen Herkulessen vollstopfen." Zugleich können analoge Kunstwerke auch wieder besonders angebracht sein; die literarische Beschreibung eines Krankenhauses mag den realen Aufenthalt erleichtern, die Wiedergabe von Behinderungen im Medium der Kunst die Annahme dieser Behinderung auch in der Realität, spannende und lustige Darstellungen der Realität dem kranken Kind die Rückkehr nach Hause. Das Wissen über die prognostizierbaren Folgen der Aufnahme von Kunstwerken bei bestimmten Krankheiten oder speziellen Krankheitsstadien ist noch beschränkt; Tendenzen der Wirkung sind aber bekannt und lassen sich voraussehen, Tendenzen, dass zum Beispiel in bestimmten Stadien der Erkrankung und bei bestimmten Krankheiten bestimmte literarische Texte oder andere Kunstwerke mit bestimmter Formalität und Thematik besonders sinnvoll oder eher weniger angebracht sind. 7) Kunsttherapie setzt einen Kunsttherapeuten voraus. Die Frage stellt sich nach dem Berufsbild und der Ausbildung des Kunsttherapeuten. Notwendig sind im Prinzip drei Dimensionen: medizinische Kenntnisse, Kunstwissen und psychotherapeutische Fähigkeiten. Die vielfältigen Anforderungen werden sich gewiss nur zu oft nicht ohne Einschränkungen verwirklichen lassen; Unterschiede ergeben sich auch aus den verschiedenen Richtungen der Kunsttherapie. Das Berufsbild des Bibliotherapeuten zum Beispiel ist nicht ohne Grund zur Zeit noch ziemlich offen. Bibliotherapie wird in Deutschland von Bibliothekaren, Psychologen, Klinikseelsorgern, Ärzten und Schwestern 12 ausgeübt; alle müssen über ihre konventionellen Grenzen hinausgehen und ihre berufsbedingten Gefahren zu vermeiden suchen. Der Arzt muss seine literarischen Kenntnisse erweitern und mit der eigenen Therapie verbinden, der Bibliothekar muss sich medizinische und psychologische Kenntnisse erwerben; der Arzt muss die Beschränkung auf naturwissenschaftliche Diagnostik und Therapie überwinden, der Bibliothekar die Fixierung an die äußere Ordnung seiner Bibliothek. 8) Mit allen Sinnen heilen, lässt schließlich nach der Integration der Künste in der Kunsttherapie fragen, die im Prinzip noch eine Aufgabe der Zukunft darstellt. Der gesunde wie der kranke Mensch ist aber nicht auf eine Dimension festgelegt, er lebt mit allen Sinnen und von allen Sinnen, ist auf Heil und Heilung bezogen, besitzt produktive und rezeptive Möglichkeiten für alle Künste. Immer wieder haben Künstler und Schriftsteller Molière, Novalis, Goethe - sich selbst für diese Verbindung und Verbundenheit aller Künste oder aller Sinne eingesetzt. Goethe hat im Wilhelm Meister (1795/1821) das ebenso eindrucksvolle wie stimulierende Beispiel einer integrierten Kunsttherapie entworfen. Flavio verlangt es in diesem Roman in der Phase der beginnenden Genesung nach dem Schreiben von Gedichten: "Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auslösenden Schmerzen verflüchtigt." Aktivität und Passivität, Produktion und Rezeption verbinden sich ebenfalls in diesem literarischen Beispiel: Hilarie möchte auf die Verse Flavios mit eigenen Versen antworten; "sie saß am Flügel und versuchte die Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihre Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, daß sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete." Das Gedicht ist Antwort und Hilfe, greift auf und führt weiter, Medium dieser therapeutischen Metamorphose ist die Musik, die Aufsicht behält aber der Arzt: "Der ärztliche Hausfreund übernahm die Botschaft, sie gelang, schon erwiderte der Jüngling gemäßigt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder einem heitern Tag, einem freien Boden zu gewinnen." 13 IV. Medizin in der Kunst Die Heilkraft der Künste lenkt den Blick auch auf die Wiedergabe medizinischer Themen in den Künsten; Kunst und Krankheit stellen seit der Antike eine vielfältige Beziehung dar, die auch in der Kunsttherapie zu beachten ist. Dichterische Begabung wird von Plato mit dem Wahnsinn in eine enge Verbindung gebracht. Dürers Darstellung der Melancholie von 1514 zielt ebenfalls auf Kreativität in verschiedenen Bereichen. Hölderlin erklärt sich - in Übereinstimung mit antiker Auffassung - im Herbst 1802 nach der Rückkehr aus Südfrankreich von "Apollo geschlagen." Proust lässt in dem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (franz. 1913-27) den Arzt Boulbon auf den inneren Zusammenhang von Krankheit und Leiden mit geistigkünstlerischer Produktivität hinweisen. "Wir genießen kunstvolle Musik, schöne Bilder, tausend erlesene Köstlichkeiten, aber wir wissen nicht, was sie ihre Schöpfer an Schlaflosigkeit, an Tränen, an krampfhaftem Lachen, an Nesselfieber, Asthma, Epilepsie gekostet haben oder an Todesangst, die schlimmer als alles ist." Rilke verzichtet bewusst auf die Hilfe der Psychoanalyse für sich selbst in der Sorge, „mit den Teufeln auch die Engel“ zu verlieren. Die Welt der Medizin ist ein zentraler Gegenstand in den Künsten und vor allem in der Literatur. Der Kranke und die Krankheit, der Arzt und die Therapie, das Krankenhaus, die Praxis und das Sanatorium, die Familie und die Gesellschaft haben in zahlreichen Kunstwerken immer wieder Beachtung gefunden. Selbst das Thema der therapeutischen Kraft der Künste wurde in Kunstwerken aufgegriffen. Auch in die Musik hat Medizin als Thema Eingang gefunden, wurden Krankheit, Schmerz und ärztliches Handeln mehrfach wiedergegeben. Johann Sebastian Bach hat allen Affekten des Menschen einen musikalischen Ausdruck verliehen; die Goldbergvariationen sollten Schlaflosigkeit überwinden helfen; „Ich freue mich auf meinen Tod“ ist der Titel einer Arie in der Kantate Ich habe genug. Arzt, Apotheker und Kranke sind ein häufiger Gegenstand von Opern, das trifft auch für die Geisteskrankheit zu; ein großes Beispiel findet sich in Lucia di Lammermoor (1835) von Gaetano Donizetti. 14 Balzac schildert Geburt, Krankheit und Tod ebenso umfassend und durchgängig in der Comédie humaine wie Zola in seinem Rougon-Maquart-Zyklus oder Dickens in vielen Romanen und Erzählungen. Dostojewskij lässt den Fürsten Myschkin in dem Roman Der Idiot (1868/69) kurz vor seinen Anfällen zu höchsten Einsichten und Erlebnissen kommen, ohne das Leiden und die destruktiven Auswirkungen dieser Krankheit zu übersehen: "Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache." Die Erzählung Der Tod des Ivan Iljitsch von L. N. Tolstoj aus dem Jahre 1886 ist ein großes Beispiel für die persönliche Entwicklung durch die Krankheit und Konfrontation mit dem Sterben - hier im Erleben der tödlichen Krebserkrankung. Rilke wehrt sich gegen die Technisierung und Anonymisierung des Sterbens: "Oh Herr gib' jedem seinen eigenen Tod, das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not." Thomas Mann greift ebenfalls immer wieder medizinische Themen in seinem Werk auf; grundsätzliche Fragen der normativen Unterscheidung und des Umganges behandelt „das große Kolloquium über Gesundheit und Krankheit“ im Zauberberg (1924). Robert Musil verleiht der Geisteskrankheit des Sittlichkeitsverbrechers Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften (1930-43) eine allgemeinmenschliche Bedeutung: "Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen." Elsa Morante (La Storia, 1974) wie Janet Frame (Owls Do Cry, 1957) schildern ebenso realistisch wie symbolisch die Epilepsie. Thomas Bernhards literarisches Werk wird durchgängig von Krankheit und Medizin bestimmt. Der Roman Amras (1964) steht unter dem tiefen Wort von Novalis: „Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens.“ Ebenso vielseitig fällt die Wiedergabe der Medizin in der Malerei aus. Die Krankheit in ihrer Körperlichkeit gibt Grünewald auf dem Isenheimer Altar (1513-15) in drastischer Realistik wieder, die sozialen Auswirkungen Böcklin auf dem Bild Die Pest (1898), die psychisch-geistige Seite Munch auf dem Gemälde Der Schrei (1893) oder Frida Kahlo auf dem Selbstbildnis Baum der Hoffnung (1946). Die bedrückende Situation der psychiatrischen Institution findet sich auf Gemälden von Goya, der zugleich mit einem Selbstbild (1820) in den Armen des Arztes Arrieta ein Ideal der Arzt-Patienten-Beziehung entwirft. Krankheit kann auch als Sühne oder Prüfung verstanden werden; Hiob als das bewegende Beispiel für die göttliche, aber ebenso menschliche Prüfung, wurde wiederholt in der Malerei wie Literatur wiedergegeben, in besonderer Eindringlichkeit in Georges de 15 la Tours Darstellung aus dem Jahre 1644: "Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!" (Hiob 2,9) V. Ausblick Die Künste spielen in der Medizin der Gegenwart eine Rolle, die sich für die verschiedenen Künsten aber sehr unterschiedlich darstellt und auch in den verschiedenen Ländern und Kulturen abweichende Entwicklungen genommen hat. Kunst und Literatur können ohne Zweifel zu Diagnostik und Therapie beitragen, können aber keine Alternative der etablierten Medizin sein; ein chirurgisch notwendiger Eingriff kann durch das Betrachten eines Bildes nicht ersetzt werden. Auf Selbstkritik und Differenzierung wird es vor allem ankommen; entscheidend ist immer wieder die Frage: was heißt Therapie, was Heilung, was ein Leben mit Krankheit, was Begleitung? Empirische Forschung muss verstärkt noch geleistet werden - in den angegebenen verschiedenen Bereichen der Diagnostik und Therapie, der Beziehung des Patienten zu Angehörigen und Ärzten und der Krankenhauswelt sowie nach einem Wissenschaftsbegriff, der nicht identisch mit dem Wissenschaftsbegriff der exakten Physik sein muss; auch subjektive Aussagen stellen objektive Wirklichkeiten dar. Kunst geht schließlich - und das sollte auch in diesem Kontext besonders betont werden grundsätzlich über Therapie hinaus, ist mehr als Beschäftigungstherapie. Die Aufnahme von Kunst kann auch belasten. In dieser Perspektive wurde bereits im 18. Jahrhundert vor der Lektüre von Goethes Werther (1774, 21787) gewarnt. Stifter, dem das Schreiben an der Mappe meines Urgroßvaters (1841/4, 41870)zu einer "liebevollen Arznei" wird, empfiehlt der kränklichen Schwester Luise des Dichters Eichendorff den Roman Der Nachsommer (1857), während sie selbst eher aus Stifters Erzählband Studien (1744-50) "wieder frischen Lebensmuth" meint gewinnen zu können. Von Kafka stammt das beachtenswerte Wort vom Buch als der "Axt für das gefrorene Meer in uns." Kunstwerk und Medizin sind bei mancher Nähe und Übereinstimmung grundsätzlich unterschieden: "Tyche und Techne stehen hier in einer besonderen antagonistischen Spannung", heißt es in Apologie der Heilkunst (1965) des Philosophen Gadamer. 16 Die therapeutische Kraft von Kunst und Literatur wird auch von Schriftstellern selbst in ihren Werken thematisiert. Die hinlenkende und bildende Funktion der Literatur erfährt der todkranke Apotheker Malone (=I am alone?) in Carson McCullers Roman Uhr ohne Zeiger (engl. 1961). Der an Einsamkeit leidende und verzweifelte Malone greift das Angebot der Krankenhausbibliothek auf und leiht sich Kierkegaards Schrift Krankheit zum Tode (1849) aus. Malone ist nicht sehr gebildet, der Name Kierkegaard sagt ihm nichts. Die gelesenen Sätze werden von ihm aber in ihrer unmittelbaren Bedeutung begriffen, sie schenken ihm existentielle Einsichten und psychische Kraft. Vor allem berührt ihn zutiefst die Bemerkung Kierkegaards, daß die größte Gefahr im Verlust des Ichs liege, weil dieser sich still und unbemerkt vollziehe, während jeder andere Verlust, etwa der eines Autos oder einer beruflichen Position, einem sofort auffalle. Malone ist für diese Einsicht aber erst im Kranksein bereit: "Wenn Malone nicht eine unheilbare Krankheit gehabt hätte, wären diese Worte einfach Worte geblieben, ja er hätte die Hand überhaupt nicht nach dem Buch ausgestreckt." Schreiben als Heilung oder Dokument der Freiheit ist die Perspektive zahlreicher Selbsterfahrungsberichte der Gegenwart; bereits Proust und Rilke haben das Schreiben als Selbstbehandlung verstanden. Auch Caroline Muhr hat das in ihrer Depression (Depressionen. Tagebuch einer Krankheit, 1978) so empfunden, wenn sie sagt: "In dieser Stunde spinne ich den dünnen Faden, der mich mit einer Wirklichkeit verbindet, die ich noch selbst bestimme, indem ich Worte aussuche, zusammenfüge, Buchstaben setze, so wie ich es will und nicht wie meine Krankheit es will oder wie die Schwestern es wollen oder wie Dr. Hartmann es will." Kultur hat Heilkraft, Medizin ist Wissenschaft und Kunst. "Mit allen Sinnen heilen oder von der Heilkraft der Künste" ist eine Herausforderung an die Kultur wie an die Medizin, deren Beantwortung allen Menschen in ihrem Umgang mit Geburt, Krankheit, Gesundheit und Sterben Hilfe und Anregung bieten kann. Alle Künste erinnern mit ihren Darstellungen und Deutungen an die ganzheitliche Natur des menschlichen Lebens, relativieren gängige oder einseitige Bewertungen von Gesundheit und Krankheit wie entsprechend begrenzte Rollenbilder von Arzt und Patient. Die Bewältigung von Krankheit und Behinderung kann eindrucksvoller sein als ein Leben in ungebrochener Gesundheit; Ärzte können erkranken, Patienten können diagnostische und therapeutische Aufgaben übernehmen. Eine anthropologische Differenz oder Asymmetrie von Patient und Arzt ist allerdings 17 unaufhebbar; diese Asymmetrie ist zugleich zeitlich auf den Prozeß der Therapie begrenzt und stellt kein Werturteil dar. Repräsentative Geltung hat die Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 1947 als "Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Schwäche" gefunden. Dass Gesundheit und Krankheit auf soziale und geistige Bereiche ausgedehnt werden, spricht für diese Definition ein; ihr anthropologischer Mangel liegt in der strikten Entgegensetzung von Gesundheit und Krankheit und der übertriebenen Hochschätzung der Gesundheit. Gesundheit muss nicht nur positiv sein, Gesundheit kann auch als Fähigkeit bezeichnet werden, Behinderungen und Schädigungen ertragen und in das Leben integrieren zu können. Wirklichkeit, Kunst und Wissenschaft unterscheiden sich und hängen zugleich auf besondere Weise zusammen. Medizin ist nicht nur Wissenschaft, sondern ebenfalls Kunst, Medizin sollte als Heilkultur begriffen und als solche auch verwirklicht werden. „Medical Humanities“ ist ein Ausdruck der Gegenwart für diese Verbindung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, in der Krankheit stets als physische, psychische, soziale und geistige Erscheinung verstanden und der Arzt nicht nur als Techniker oder Wissenschaftler gilt, sondern von ihm auch eine personale Beziehung erwartet wird. "Die Kunst ist lang, das Leben ist kurz"; diese hippokratische Einsicht trifft auch heute noch zu. Abschied steht im Zentrum des Lebens wie im Tun des Arztes und Psychotherapeuten. Die Wiedergabe des Abschiedes ist in der Figur des Orpheus ein Mythos der Antike, den Gluck in seiner bekannten Oper von 1762 aufgegriffen hat. Orpheus entreißt Eurydike durch seinen Gesang dem Tode und verliert sie zugleich durch seine Liebe zu ihr. Die Zeitlosigkeit der Kunst hält diesen Abschied aber für immer lebendig. In diesem Sinn hat Josef Conrad in seinem Roman Der Nigger von der Narzissus (1897) über die Kunst gesagt, sie verbinde alle Menschen: "die Toten mit den Lebenden und die Lebenden mit den noch Ungeborenen." Kunst steht für die unbezweifelbare, erhellende wie trostreiche Transzendenz in der Immanenz. 18 Literatur Boss, Medard: Grundriß der Medizin, Bern 1975. Dilthey, Wilhelm: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften, Bd.5, Göttingen 81994, S.139-240. Downie, Robin S., Hg.: The healing arts, Oxford 1994. Engelhardt, Dietrich v.: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, München 1999. Gadamer, Hans-Georg: Apologie der Heilkunst, 1965, in: Gesammelte Werke, Bd.4, Tübingen, 1987, S.267-275. 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