Beitrag lesen - Musik der Zeit

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1.
Einspielung
Die
Flaschenpost
endlich
öffnen
von Sabine Sanio
//
In seiner Philosophie der neuen Musik beschreibt Theodor W.
Adorno die Musik von Arnold Schönberg als Flaschenpost, die
ungehört und ohne Echo verhallt. Dem völligen Vergessen überantwortet, bleibt ihr nur die Hoffnung auf ein zukünftiges Publikum, von dem jedoch niemand sagen kann, wann und wo es sich
finden wird. Dieses Bild von der Flaschenpost könnte man auch auf
die aktuelle Situation der neuen Musik übertragen. Allerdings ist
von der Heroik des Widerstands gegenüber totalitären gesellschaftlichen Tendenzen, die in Adornos Charakterisierung mitschwingt,
kaum noch etwas zu spüren. Doch die Ursachen dieser Isolation
liegen zunächst einfach nur in den Bedingungen, die zeitgenössische Positionen auch früher schon vorfanden. Schließlich war
es schon immer schwer, sich gegen die Traditionspflege zu behaupten. Eine Situation, die sich in bildender Kunst und Literatur
ganz ähnlich darstellt.
Veränderungen – Neues Selbstverständnis
der Künste
Die zunehmende Fiktionalisierung der Wirklichkeit hat im 20. Jahrhundert einen grundlegenden
Wandel im Selbstverständnis der Künste bewirkt:
War alles Fiktive früher den Künsten vorbehalten, so
sind sie als handlungsdienliche Fiktionen bei der Erstellung von Zukunftsszenarien für die Gesellschaft
wie für das Individuum inzwischen längst unverzichtbarer Bestandteil des Alltags. Die Künste nehmen den
Ausweg in die Wirklichkeit; Dokumentation, Recherche und Erkenntnis gehören heute zu ihren wichtigsten Zielsetzungen und Strategien. Die ästhetische
Autonomie, die zunächst vor allem die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Künste zu besiegeln schien,
erweist sich hingegen als wichtige Basis, um einen
Raum zu eröffnen, in dem Faktizität und Potenzialität, Nützliches und Nutzloses in ihrem Verhältnis
zueinander reflektiert werden können. Bildende
Kunst wie Musik verstehen sich dabei als Instanzen
zur Entwicklung von Konzepten, die, indem sie diese
Verhältnisse unterlaufen und wenigstens zeitweilig
außer Kraft setzen, zum Nachdenken darüber anregen wollen.
Resultat der ästhetischen Ausdifferenzierung in
Musik wie bildender Kunst, die sich in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt in Reaktion
auf die technische Entwicklung, auf neue visuelle wie
akustische Reproduktionstechniken sowie auf die
Auditives und Visuelles bereits ineinander verschaltenden Neuen Medien vollzieht, ist eine Vielzahl neuer künstlerischer Strömungen: In der bildenden Kunst
gehören dazu etwa Videokunst, Performance, Minimal und Concept Art oder auch Landart, in der Musik sind es Live-Elektronik, musikalische Grafik, Improvisation, Klangkunst und Computermusik. Weil
Happening und Fluxus eine Prozessualisierung der
bildenden Kunst bewirkte, die künstliche Klanggenerierung in der Musik dagegen den Klängen größeren
Objektcharakter verlieh, kommt es seit den 1960er
Jahren zu einer Annäherung zwischen den Arbeitsund Erscheinungsformen in Musik und bildender
Kunst. In dieser Zeit verlassen beide auch den »white
cube«, also Galerieraum und Konzertsaal. Heute bespielt man unterschiedliche, alltägliche Orte fast selbstverständlich visuell, skulptural oder musikalisch. Wie
die Grenzen zwischen den Künsten wurden auch die
zwischen Kunst und Alltag infolgedessen zunehmend
unschärfer.
Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und
mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut
der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an
einem dritten fröhlichen Reich des Spiels und des
Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller
Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was
Zwang heißt, sowohl im physischen als auch im
moralischen entbindet. (Friedrich Schiller)
Barrikaden – Von den Schwierigkeiten
der neuen Musik
Zu diesen grundlegenden Entwicklungen des
20. Jahrhunderts, die alle Künste erfassen, kommen
andere, die sich auf einzelne Künste beschränken. So
ist die zeitgenössische Kunstmusik weit mehr als bildende Kunst oder Literatur der Konkurrenz durch
populäre musikalische Erscheinungsformen ausgesetzt. Zudem sind die Spielarten der Popmusik so
breit angelegt, dass sich längst auch experimentelle
und avantgardistische Positionen ausgebildet haben,
die sich häufig mit ähnlichen Strömungen in Literatur
und bildender Kunst verbünden. Die Vielfalt der ästhetischen Erscheinungsweisen erscheint als unmittelbare Entsprechung zur Vielfalt und Komplexität
des modernen Lebens, doch sie erschwert Nichteingeweihten die Orientierung erheblich. Wenn heute
jedoch die Kunstmusik für Nichteingeweihte weitaus
unzugänglicher ist als alles, was in der bildenden
Kunst diskutiert wird, dann ist dafür nicht einfach
eine Etappe der Instrumentalmusik verantwortlich zu
machen, in der eingängige melodische Zusammenhänge konsequent vermieden wurden. Entscheidender sind vielmehr die Kenntnisse und Fähigkeiten, die
erforderlich sind, damit musikalische Erfahrung, sei
es im Musizieren oder im Hören, eine bestimmte Intensität erreichen kann.
Als »Sprache des Herzens« stand die Musik lange
geradezu programmatisch für die Idee des Expressiven. Diese Idee fand sich auch noch in der Artikulation unglücklichen Bewusstseins in der Moderne, ja,
sie ist auch noch spürbar in Helmut Lachenmanns
Arbeit an einer musique concrète instrumentale, die
die vergessene und verdrängte Geschichte der Musik,
die hässlichen und nutzlosen Klänge und Geräusche
sowie die missbräuchliche Verwendung der Musikinstrumente offenzulegen versucht. In der Art und Weise, wie der einzelne Klang als Individuum behandelt
und respektiert wird, werden auch politische Implikationen fassbar, ohne dass deshalb voreilig Bündnispartner in Protestbewegungen gesucht werden, die
sich ihrerseits doch allzu oft nicht der Würde des Einzelnen, sondern dem lustvoll erlebten Gemeinschaftsgefühl – etwa im gesellschaftlichen Protest –
verschreiben.
Während Gemälde von Pablo Picasso längst inzwischen in der Populärkultur imitiert werden, gelten
Kompositionen des fast gleichaltrigen Arnold Schönberg als schwierig und nur für Spezialisten interessant.
Auch wenn Komponisten wie Schönberg oder Varèse
heute ihren Platz im Konzertprogramm gefunden haben, in die Populärkultur finden sie keinen Zugang,
ja, auch aktuelle Positionen der bildenden Kunst suchen statt nach Parallelen zur neuen Musik heute ihre
musikalischen Bezüge in der Popmusik. Neue Musik
gilt als etwas für Intellektuelle, sie scheint keinen Genuss zu kennen und geradezu verbarrikadiert zu sein
– Nichteingeweihten ist der Zugang zu einem tieferen
Verständnis versperrt. Doch anders als in der bildenden Kunst, die immer wieder den Anschluss an aktuelle philosophische Debatten findet, ist in der Musik
spätestens nach Adorno die direkte Auseinandersetzung mit philosophischen oder politischen Positionen
weitgehend abgebrochen.
1. Einspielung
Bildung – Neue Musik erfahren, erkennen
und hören lernen
Trotz der Aporien, vor die sich zeitgenössische
Kunstmusik heute gestellt sieht, geht es nicht darum
eine andere neue Musik zu fordern. Wichtig wäre
vielmehr endlich eine adäquate musikalische Bildung,
die die Musik der Gegenwart als Herausforderung,
Motivation und Ansporn begreift. Grundlegende Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang der direkte Kontakt mit der so genannten neuen, aktuellen,
zeitgenössischen Musik in ihren verschiedensten
Spielarten, als Instrumentalmusik, Klanginstallation,
Live-Elektronik und vielem anderen mehr. Ziel solcher verbesserter musikalischer Bildungsangebote
sollte nicht das abstrakte Wissen über die Musik des
20. Jahrhunderts sein, sondern konkrete und nachdrückliche musikalische Aktionen und Erfahrungen.
Wer einmal an den Arbeits-, Diskussions- und Denkprozessen eines Ensembles oder eines Komponisten
teilnehmen konnte, kann wirkliches Interesse entwickeln, wenn er erneut mit ähnlichen musikalischen
Aktionen in Kontakt kommt – einmal entfachte Neugier hilft entscheidend, Hürden und Hemmschwellen
zu überwinden.
Auf Seiten der Komponisten und Ensembles, der
Konzertveranstalter, Festivals, Kuratoren und Intendanten muss sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für die didaktischen Implikationen, für die Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten solcher Musikveranstaltungen einstellen; sie alle können dazu beitragen, die Erscheinungsweise zeitgenössischer Musik weiterzuentwickeln, sie
können neue Aufführungskonzepte erfinden, Kooperationen und Bündnisse suchen.
Das Netzwerk Neue Musik macht es sich zur
Aufgabe, solche Prozesse in Kooperation mit geeigneten Institutionen wie Einzelpersonen anzustoßen
oder voranzutreiben. Neben der Debatte über die erforderliche Qualität der Konzepte und ihrer Realisationen stehen im Mittelpunkt vor allem die Versuche,
andere, neue, unvoreingenommene Publikumsschichten anzusprechen und mit bestehenden Zirkeln zeitgenössischer Musik in engeren Kontakt zu bringen – die
Flaschenpost also endlich zu öffnen!
Netzwerk
Neue Musik
www.netzwerkneuemusik.de
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