Hörning, Karl H. Kultur und soziale Praxis. Wege zu einer „realistischen“ Kulturanalyse (aus: Kultur-Medien-Macht: Cultural Studies und Medienanalyse 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Hepp, Andreas; Winter, Rainer, Westdeutscher Verlag, 1999) Abstract Der Text beschäftigt sich mit der Wichtigkeit alltäglichen Handelns für eine sinnhafte und vollständige Kulturanalyse. Diese hat sich nach Meinung des Autors in den letzten Jahren zu sehr mit Sinn, Deutung und Symbolik beschäftigt. In sechs Punkten beschreibt Hörning die Kulturanalysen seiner Vorgänger, macht dabei auf das Fehlen der „Realien“ des Lebens aufmerksam, geht auf die „stumme“ Macht ein und schlägt schließlich die Brücke zur geänderten „sozialen Praxis“ aufgrund der neuen Kommunikationstechnologien, die das Verhältnis von Raum und Zeit entkoppeln. Schlagwörter Kulturanalyse, Soziale Praxis, soziales Handeln, Habitus, Moderne Macht, Teletechnologien, Praxistheorie, Moderne Medien, Kommunikation Name: Alexander Lechner Matrikelnummer: a0347850 Studienkennzahl: 317 696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, , WS 2004/2005 Zusammenfassung: „Kultur“ bezeichnet in den Sozialwissenschaften einerseits eine gemeinsame Nutzung von Symbolen und Deutungsmustern, andererseits auch sinnhafte Praktiken. Häufig wird, laut Autor, in der Kulturanalyse die Sinn- und Symbolkomponente von Kultur überbetont, was auf Kosten der kulturellen und sozialen Handlungsformen geschieht. Somit wird Kulturanalyse einseitig, wie die von ihr bekämpften (rationalistischen, objektivistischen) Ansätze. Wenn wir nämlich die Dimension des sozialen Handelns vernachlässigen, lebt der Mensch nur mehr in einem von ihm geschaffenen symbolischen Universum. So findet sich dieses Problem auch in einer Kulturtheorie der späten Achtziger, in der „Semiotischen Anthropologie“ von Clifford Geertz. Auch er definiert „Kultur“ lediglich als ein „Gewebe“ von Deutungen und Bedeutungen gesellschaftlicher Ausdrucksformen. „Soziales Handeln ist damit prinzipiell vorstrukturiert und kulturell geprägt“1, kritisiert der Autor (Hörning), denn „um zu verstehen, warum Menschen tun, was sie tun, reicht es nicht aus, die vorherrschenden kulturellen Konstrukte einer Gesellschaft zu erkennen, sondern genauso wichtig ist es, die Wege und Weisen zu analysieren, wie diese Konstrukte in die sozialen Praktiken der Menschen Eingang finden.“2 Geertz statische Kulturanalyse räumt den Widersrüchen und Zweideutigkeiten von Kultur keinen Platz ein. Symbolische Formen von kulturellen Phänomenen gewinnen nämlich erst durch ihre soziale Einbettung Relevanz fürs Leben. Daraus ergibt sich ein doppelseitiges Verhältnis: Einmal liegt die Macht der Kultur darin, den Deutungsspielraum einzuschränken, zum anderen trägt die soziale Praxis dazu bei, neue Handlungsstrategien zu entwickeln. „Soziale Praxis“ beschreibt das Ingangsetzen und die Ausübung sozialer Handlungsweisen. Praktiken sind Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten (Repertoire), jedoch „müssen Praktiken auch produktiv gedacht werden“3, sie sind immer auch Neuerschließung. Während in Handlungstheorien Routinehandlen als unreflektiertes Alltagshandln dargestellt wird, gewinnt in Praxistheorien der Mensch erst durch die routinierten Handlungen ein Verständnis von der Welt, er muss sich also an ihr beteiligen. „Wir sprechen über Motvie, weil wir handeln, wir handeln nicht, weil wir Motive haben.“4 Die Sachwelt darf von der Kulturanalyse nicht ignoriert werden, schließlich gewinnen materiell-technische Objekte erst in vielfältigen Prozessen der Aneignung ihre funktionale 1 Hörning, S. 32 Hörning, S. 32 3 Hörning, S. 34 4 Hörning, S. 34 2 wie kulturelle Bedeutung. Zudem beeinflussen sie unsere Erfahrungsweisen und tragen zu neuen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten bei. Die materielle Welt mischt in der sozialen und kulturellen Wirklichkeitskonstruktion mit, so dadurch Zeit und Raum geschaffen werden. Habituelle und reflexive Elemente prägen unser Leben. „Habitus“ definiert Bourdieu als nicht reflexiv gelernte, sondern durch Routine verinnerlichte Gewohnheit. Weiters stellt das soziale Feld, bzw. das Habitat, die soziale Umwelt dar. Habitus und Habitat bringen bei Bourdieu zwei Zustandsformen der Geschichte hervor: die objektivierte Geschichte (Dinge, Technologien, Gesetze etc.; Habitat) und die verinnerlichte Geschichte (strukturiert und organisiert das Denken, Wahrnehmen und Handeln; Habitus). Der Autor (Hörning) ist gänzlich anderer Meinung und will für eine Kulturanalyse die Interaktionsformen beider Geschichten in der Gegenwart untersuchen. Habitus und Habitat harmonisieren demnach nicht das soziale Leben, sondern bringen problematische Konsequenzen mit sich, die uns die Welt „unbehaust“ erscheinen lassen. Mit der Problemreflexion setzt dann auch die bewusste Suche nach Auswegen ein. In der Kulturtheorie finden sich auch Argumentationspunkte, die das Defizit in der Machttheorie beseitigen können. Schon bei Foucault war in den 70ern die Rede von der „stummen“ modernen Macht. Diese hat zwei Merkmale: sie ist eher produktiv als repressiv und sie ist fein verästelt, überall in sozialen Praktiken wirksam. Moderne Macht hat nicht Unterdrückung zum Ziel, „sondern Zweck ist, die Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder durch unentwegte Disziplinierung zu routinisieren und normalisieren. Für Foucault sind dies neue Techiken sozialer Macht, die darauf abzielen, traditionelle Probleme der Macht nicht durch Verbot, Zwang und Verhinderung zu lösen, sondern durch Ordnungs- und Klassifikationsverfahren, die normend, normierend, normalisierend wirken.“5 Widerstand tritt laut Foucault immer nur in Kombination mit Macht auf. Um gegen die Macht anzukommen, betont er aber die Möglichkeit der Veränderung durch Techniken und Formen, in denen wir unsere Verhältnisse untereinander organisieren. Nicht alle Praktiken sind aber Machtpraktiken. Es ist klar zwischen Macht- und sozialen Praktiken zu unterscheiden. Soziale Praktiken tragen auch zu Produktion und Reproduktion von Strukturen und Systemen bei. Der Umbruch kommunikativer Verhältnisse geschieht unter Einfluss der 5 Hörning, S. 40 Teletechnologien, die Kommunikation und Interaktion trennen. Der Computer beispielsweise ermöglicht es, Tragweite und Wirkung der Kommunikation erheblich zu erhöhen. Gemeinsame Codes, Regeln, Wissens- und Sinnbezüge werden meist als Voraussetzung dafür gesehen, um ein „Verstehen“ unter solchen räumlich und/oder zeitlich entkoppelten Kommunikationsverhältnissen zu ermöglichen, d.h. eine Art soziale und kulturelle Nutzungsprogramme sind von Nöten. In einer kleinen sozialen Formation, Community, ist das kein großes Problem. Um so mehr sich jedoch die Medien verbreiten, veralltäglichen, desto schwieriger wird es, die Mitteilung direkt zu decodieren. Medienwissenschaftler fordern Regeln, neue Konventionen und Verhaltenscodes, die die angemessenen Entsprechungen zwischen Mitteilendem und Adressaten herstellen sollen. Neuen Raum- und Zeitstrukturen und der damit verbundenen „Entbettung“ kommt laut Anthony Giddens (1995) eine zentrale Bedeutung zu, es verwebt sich das Lokale, Überschaubare mit dem Abstrakten, Globalen. Mit den modernen Medien stehen uns neue Möglichkeiten zur Verfügung, Beziehungen zu Personen und Sachen herzustellen, neue Verbindungen werden aufgemacht. Damit entstehen auch neue Spannungsfelder von Distanz und Nähe, von alten vertrauten Praktiken, die durch öffentliche Regeln und Verfahrensweisen ersetzt werden. „So schreibt sich jede Technik neu ein, fordert heraus, irritiert die Gewohnheiten, stimuliert, aber konventionalisiert auch und führt zu neuen Festschreibungen und Disziplinierungen.“6 Zwei Folgerungen lassen sich daraus ziehen: das Materielle ist Teil der sozialen Wirklichkeit. Die Formung der Sozialwelt wurde von der Objektwelt mitgetragen, was naive Kulturansätze übersehen haben. Und zum Zweiten sind Kultur und soziale Praxis miteinander verknüpft, denn in unseren sozialen Praktiken kommt – oft unbewusst viel von uns und unserer Welt zum Ausdruck, genauso wie wir unsere Vorstellungen von der Welt oft implizit in unser Alltagshandeln einbauen. 6 Hörning, S. 42 Diskussion: Der Aufsatz Karl H. Hörnings ist in sechs Teile gegliedert und beschreibt neben der – oft erwähnten und überbetonten – symbolischen Forschung in der der Kulturanalyse die Wichtigkeit der Berücksichtigung der sozialen Praxis, des sozialen Handelns, der „Realien“ des Lebens. Für Kommunikationswissenschaftler besonders interessant wird es in den letzten beiden Teilen „5. Soziale Praktiken und der Umbruch kommunikativer Verhältnisse“ und „6. Folgerungen“. Hier geht der Autor auf die Veränderung in Strukturen und Systemen ein, die durch neue Kommuniktionstechnologien entstanden sind. Soziale Praktiken sind demzufolge keine Handlungsweisen, die nur die engste Umgebung betreffen, sondern die sich auf übergeordnete Systeme sehrwohl auswirken. Der Autor bleibt in seinen Ausführungen sehr sachlich, bedient sich einer soziologischwissenschaftlichen Methode zur Untersuchung dieser Fragestellung. Hörning stützt sich sehrwohl auf Dagewesenes, zitiert und kritisiert etwa die bis in die 80er Jahre vorherrschende Kulturtheorie Clifford Geertz’ der „Semiotischen Anthropologie“, die zu sehr „Kultur“ zu deuten versucht, nicht aber nach ihrem Entstehungsprozess fragt. Meiner Meinung nach ist das ein wesentlicher Punkt, den der Autor aufgreift. Nämlich sich nicht nur die Frage nach dem „Wie?“ zu stellen, sondern eben auch die geschichtlichen Prozesse in Bezug auf das Entstandene zu untersuchen. Das Thema Geschichte greift der Autor in Zusammenhang mit Habitus und Habitat erneut auf, wo er Bourdieus Unterteilung in „objektivierte“ und „verinnerlichte Geschichte“ beschreibt. Hier widerspricht er der Geschichtsauffassung Bourdieus und plädiert vielmehr dafür, „die vielfältigen, konfliktreichen Interaktionsformen beider Geschichten in der Gegenwart zu untersuchen“7. Ein sehr interessanter Teil des Artikels ist der vierte Abschnitt „Soziale Praktiken und die `Maschen der Macht`“. Hörning beschreibt die moderne, „stumme“, aber produktive Macht und stützt sich dabei auf die Erkenntnisse Foucaults aus den 70er Jahren. Der Autor macht deutlich, wie viel Macht in der routinisierten Handlung steckt, welche Gefahr darin lauert, Dinge unbewusst und aus habituellen Gründen zu machen. „Produktiv“ ist die Macht deshalb, weil ein Reflektieren einsetzt, allerdings erst dann, wenn die gewohnte Handlung nicht mehr ausgeführt werden kann. Ich interpretiere in diesem Zusammenhang, dass eine nicht unrelevante „Macht“ auch in den sich häufenden niveaulosen Fernsehprogrammen steckt. „Macht“ in dem Sinn, dass der 7 Hörning, S. 37 Rezipient durch einen derartigen „Schrott-Konsum“ vom Denken abgelenkt wird, was durchaus auch von den Machthabern erwünscht sein kann. Um Kommunikation geht es schlussendlich im fünften Kapitel. Auch dieses hat einen gewichtigen Aktualitäts- und Realitätsbezug. Die modernen Kommuniktionsmittel verändern – drastischer denn je – die soziale Umwelt, das Verhalten eines jeden Einzelnen. Ob wir nun vom Handy sprechen oder dem Internet, von neuen Datenträgern mit Speicherkapazitäten von ungeahnten Dimensionen oder vom – wiederentdeckten – Schriftverkehr in elektronischer Form (Email, Chat, SMS) – Wir werden einen Umbruch im sozialen Miteinander nicht leugnen können. Dass mit dieser Neu-Strukturierung die Sachwelt immer mehr auch in die Kulturanalyse Einzug hält, liegt auf der Hand. „So schreibt sich jede Technik neu ein, fordert heraus, irritiert die Gewohnheiten, stimuliert, aber konventionalisiert auch und führt zu neuen Festschreibungen und Disziplinierungen“, schreibt Hörning. Das bedeutet einen großen Arbeitsaufwand für Medienpädagogen und –wissenschaftler, die sich mit den Auswirkungen der „Neuen Medien“ und dem Umgang mit ihnen auseinandersetzen müssen. Eine Kulturanalyse, die sich also nur mit Sinn und Deutung von Symbolen beschäftigt, erscheint nach Lesen des Artikels gänzlich realitätsfern. Die „soziale Wirklichkeit“ sollte unbedingt in einer solchen Analyse berücksichtigt werden. Bibliografie: Hörning, Karl H.: Kultur und soziale Praxis. Wege zu einer „realistischen“ Kulturanalyse. In: Kultur-Medien-Macht: Cultural Studies und Medienanalyse 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, hrsg. v. Hepp, Andreas; Winter, Rainer. Westdeutscher Verlag, 1999