Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 5 2. Die Definition von Migrant 8 2.1 Einfluss der Zuwanderungspolitik auf die Integration von Migranten in Deutschland und Europa 10 2.1.1 Entwicklung von Migration in Europa 13 2.1.2 Auswirkung der Globalisierung auf die Rolle der Migranten 2.1.3 Die normative Dimension von Migration 16 18 2.2 Warum neue Methoden zur Integration von Migranten benötigt werden 23 3. Entstehung des EU-geförderten Projektes IMES (Integration of Migrants in the European Society) als partizipatives Integrationsprojekt von Migranten 3.1 Struktur des Projektes IMES 26 27 3.1.1 Möglichkeiten der Entwicklung neuer partizipativer Integrationsmethoden für Migranten bei IMES 29 3.1.2 Inszenierung kultureller Vielfalt 33 3.2 Die Methoden der nationalen Advisory Boards von IMES 36 3.3 Soziale und politische Partizipation von Migranten 42 4. Bedingungen der Integration von Migranten mit Bezug auf theoretische Integrationsmodelle 48 4.1 Die Integrationsproblematik der Migranten im Kausalmodell von Hartmut Esser 50 4.1.1 Grundannahmen des Kausalmodells 53 4.1.2 Bedingungen der Eingliederung 56 2 4.2 Das Sechs-Phasen-Modell der kulturellen Integration von Ulrich Tolksdorf 57 4.2.1 Phase des Kulturschocks 57 4.2.2 Phase des Kulturkontaktes 58 4.2.3 Phase des Kulturkonfliktes 60 4.2.4 Phase der Anpassung an die sozialen Verhältnisse bei gleichzeitiger Bewahrung der eigenen kulturellen Identität 61 4.2.5 Phase der Akkulturation 61 4.2.6 Phase der punktuellen Bewahrung – Volkskultur in der postmodernen Gesellschaft 4.3 Das Republikanische Integrationsmodell 62 63 5. Nutzung der „Neuen Medien“ für einen partizipativen Integrationsprozess von Migranten 5.1 Das Bild der Migranten in den „Neuen Medien“ 66 67 5.2 Möglichkeiten deutscher und muttersprachlicher Medien für die partizipative Integration von Migranten 73 5.2.1 Können Bürgermedien eine neue Methode für die partizipative Integration von Migranten sein? 77 5.2.2 Integrationleistungen der in Deutschland produzierten Websites für Migranten 81 6. Verbesserung der Integration von Migranten durch „soziokulturelle Kompetenzen“ 84 6.1 Unterschiedliche kulturelle Kapitalien der Akteure in einer multikulturellen Gesellschaft 85 6.2 Das Konzept der Schlüsselbegriffe 88 6.2.1 Der „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“ 92 3 6.2.2 Der Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden 98 7. Möglichkeiten partizipativer Integration durch „Politikmanagement“ 104 7.1 Grenzen der politischen Möglichkeiten von Migranten 105 7.2 „Politikmanagement“ durch Vereinigungen 110 8. Beurteilung der ersten Projektphase 113 8.1 Beurteilung durch den deutschen Koordinator Georg May 114 8.2 Beurteilung durch die zweite deutsche Partnerin Gabi Janecki 116 8.3 Befragung des IMES-Mitglieds Frank Auracher 117 8.4 Befragung der Praktikantin Julia Gebke 121 8.5 Auswertung 122 9. Die Arbeit des spanischen Advisory Boards von IMES 124 10. Die Arbeit des italienischen Advisory Boards von IMES 126 11. Aktivitäten der zweiten und dritten Phase des Projektes IMES 131 12. Fazit 134 13. Abkürzungsverzeichnis 137 14. Literaturverzeichnis 138 4 1. Einleitung Bis vor kurzem herrschte in Politik und Wirtschaft noch die Auffassung, die Migranten seien entweder innerhalb von zwei, spätestens drei Generationen in das deutsche Gesellschafts- und Bildungssystem assimiliert oder in ihre Heimat zurückgekehrt. Doch entgegen dieser Erwartungen blieben die meisten Einwanderer in Deutschland und trugen sowohl kulturell als auch demografisch zur Veränderung dieser Gesellschaft bei. Dies wollte man allerdings lange nicht wahrhaben. Seit einigen Jahren haben nun auch die deutschen Politiker die Bundesrepublik als ein Einwanderungsland anerkannt und da die Realität zeigt, dass viele Migranten dauerhaft im Aufnahmeland bleiben, wird die Notwendigkeit von besseren Integrationsmaßnahmen immer deutlicher. Die Bemühungen der Vergangenheit waren hier oft unzureichend, weil sie kaum auf deren Bedürfnisse ausgerichtet waren und so die Zielgruppe zum Teil nicht erreichten. Um das zu ändern, müssen Integrationsmaßnahmen geschaffen werden, an deren Entstehung Migranten selbst beteiligt sind. Dies ist die zentrale Aufgabe des EUProjektes IMES (Integration of Migrants in the European Society), das seit Ende 2002 bis 2005 in Hannover, Barcelona und Palermo durchgeführt wird. Gegenstand der Magisterarbeit ist die Untersuchung der Arbeit dieses Projektes zur Erschaffung neuer Methoden der partizipativen Integration von Migranten. Da der Hauptsitz des Projektes in Hannover ist und die meisten Aktivitäten in Deutschland stattfinden, wird auch der Schwerpunkt dieser Arbeit auf die Integration von Migranten in Deutschland gelegt. Das Projekt will partizipative Integrationsmethoden von Migranten durch die drei Bereiche „Neue Medien“, „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ entwickeln. Da der Themenschwerpunkt von IMES in Deutschland im Bereich „Neue Medien“ liegt, wird das Thema auch in dieser Arbeit besonders berücksichtigt. 5 Erkenntnisleitendes Interesse ist hierbei die Leistung des Projektes als Netzwerk von Menschen, die im Migrationsbereich tätig oder selbst Migranten sind. Außerdem werden die Möglichkeiten und Schwierigkeiten angeführt, welche dieses EU-Projekt zur Erschaffung neuer Methoden aufzeigt. Die zentrale Fragestellung der Arbeit lautet: Wie werden bei IMES neue Methoden zur partizipativen Integration von Migranten entwickelt und lässt sich nach dem ersten Jahr schon ein Erfolg des Projektes erkennen? Hierbei soll zunächst der Begriff Migrant definiert werden, da er in der Fachliteratur in sehr unterschiedlicher Weise verwendet wird. Danach wird die Zuwanderungspolitik von Deutschland und der Europäischen Union aufgegriffen, welche die derzeitige Situation von Migranten in europäischen Ländern verdeutlicht. Auch die Entwicklung der Migration in den drei Ländern Deutschland, Italien und Spanien, in welchen das Projekt IMES durchgeführt wird, trägt zum Verständnis der Lage der Migranten bei, was die Voraussetzung für eine gelungene Integration ist. Des Weiteren wird der Einfluss der Globalisierung auf die Migration erörtert, was zu der Frage nach der Rolle der Gerechtigkeit gegenüber den Migranten bei der Gestaltung der Zuwanderungspolitik führt. Aus diesen Grundinformationen lässt sich dann der Schluss ziehen, warum neue Methoden für die Integration von Migranten nötig sind. Der folgende Abschnitt der Magisterarbeit beschreibt, wie es zu der Entstehung des Projektes IMES kam. Um den Verlauf und die Ziele des Projektes zu verstehen, muss die Projektstruktur beschrieben werden, um dann die Projektmöglichkeiten zur Verbesserung der Integration von Migranten darzustellen. Ein wichtiger Aspekt der partizipativen Integration von Migranten ist deren Recht auf die Ausübung ihrer eigenen Kultur. IMES will vor allem durch den Bereich „Neue Medien“ der Aufnahmegesellschaft die Kultur der Zuwanderer näher bringen. Hierbei ist die Inszenierung kultureller Vielfalt ein wichtiges Thema. Diese kann nur zur Integration beitragen, wenn sie partizipativ von den Migranten gestaltet wird. Die Tätigkeiten des ersten Projektjahres zeigen, wie dies anhand der Methoden der nationalen Advisory Boards bei IMES umgesetzt wird. Des Weiteren wird die 6 bisherige Praxis der sozialen und politischen Partizipation von Migranten beschrieben. Anhand von Integrationstheorien wird untersucht, ob die Integrationsziele von IMES durch deren praktische Umsetzung und Methoden erreicht werden können. Das Kausalmodell von Hartmut Esser und das Sechs-Phasen-Modell von Ulrich Tolksdorf werden erläutert und auf das Projekt bezogen. Dadurch verdeutlicht sich, welche Projektmethoden, -themen und -pläne Erfolg versprechend sind und in welchen Bereichen Verbesserungen und Ergänzungen nötig sind. Anschließend folgt die Beschreibung der Grundsätze des in Frankreich praktizierten „Republikanischen Integrationsmodells“, das eine Anregung für die Integrationspraxis in europäischen Ländern sein kann. Als nächstes werden die drei Schwerpunktthemen von IMES: „Neue Medien“, „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ thematisiert. Die Nutzung der „Neuen Medien“ soll den Migranten helfen ihren Integrationsprozess partizipativ zu gestalten. IMES konzentriert sich hierbei auf die Bereiche Fernsehen, Radio und Internet. So sollen Migranten Sendungen für den Offenen Kanal Hannover und für ein Bürgerradio in Hildesheim herstellen. Zusätzlich wird das Internet zur Verbreitung und Erlangung von Informationen genutzt, wie auch die Website des Projektes zeigt. Um die Medien für die Migranten zu nutzen, muss zunächst untersucht werden, welches Bild von Migranten bisher dort verbreitet wird. Des Weiteren wird dargestellt, welche unterschiedlichen Möglichkeiten deutschsprachige und muttersprachliche Medien den Migranten bieten. Woraufhin erörtert wird, ob Bürgermedien wie der Offene Kanal oder Bürgerradio wirklich ein Ansatz für die partizipative Integration sein können. Schließlich werden noch die Möglichkeiten des Internets dargestellt, die mit oftmals zweisprachigen Homepages eine wichtige Informationsquelle für Migranten sind. Die „soziokulturellen Kompetenzen“ werden in Kapitel sechs behandelt. Diese ermöglichen eine bessere Verständigung zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft und beugen Missverständnissen vor. Zunächst werden die unterschiedlichen kulturellen Kapitalien der Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft definiert, da sie Verständigungsschwierigkeiten verursachen können. Um 7 diesen entgegen zu wirken, ist es wichtig, dass nicht nur die Migranten, sondern auch die Aufnahmegesellschaft die soziokulturellen Kompetenzen beherrschen. Als Grundlage für die Entwicklung von Seminarbausteinen bei IMES zur Vermittlung von „soziokulturellen Kompetenzen“ dient das vom spanischen Advisory Board entworfene Konzept der Schlüsselbegriffe. Das Verstehen und Beherrschen dieser Schlüsselbegriffe fördert die Verständigung in Einwanderungsgesellschaften. Weiterhin werden der „Trainingsleitfaden für Interkulturelle Managementkompetenz“ und der Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden vorgestellt, welche die Grundlage für die Gestaltung von interkulturellen Seminaren sind. Im Bereich Politikmanagement will IMES theoretisch und praktisch arbeiten, um sinnvolle Maßnahmen für die tägliche Arbeit der Teilnehmer in diesem Bereich zu entwickeln. Organisationen und NGOs (Non Government Organisations) nehmen sich oft nicht die Zeit, um über ihre institutionellen und organisatorischen Schwächen und deren Außenwirkung nachzudenken. Die Möglichkeiten des Politikmanagements bieten Chancen, Veränderungen zu erarbeiten und die Außenwirkung zu optimieren. Auch die Grenzen der politischen Möglichkeiten von Migranten, ebenso wie die Partizipationsmöglichkeiten, die sich dagegen für sie in Vereinigungen bieten, werden dargelegt. Schließlich werden durch die Befragung von drei Mitgliedern und einer Praktikantin des deutschen Advisory Boards von IMES deren bisherige Einschätzungen des Projektverlaufs sowie Verbesserungsmöglichkeiten erörtert. Nach deren Auswertung wird der Projektverlauf in Spanien und Italien kurz dargestellt. Schließlich werden die Projektpläne für das zweite und dritte Projektjahr und die damit zusammenhängenden Ziele beschrieben. Im Fazit sollen dann der Erfolg des Projektes beurteilt und mögliche Verbesserungsvorschläge gegeben werden. 2. Die Definition von Migrant 8 Da der Begriff Migrant in der Fachliteratur in sehr unterschiedlicher Weise benutzt wird, muss dieser genau definiert werden. Hierfür muss zunächst einmal der Begriff Migration geklärt werden. „Migration“ oder „Wanderung“ ist sicher die komplexeste und am schwierigsten zu erfassende demografische Variable. Unter „Migration“ oder „Wanderung“ wird im Allgemeinen die auf Dauer angelegte beziehungsweise dauerhaft werdende räumliche Veränderung des Lebensmittelpunktes einer oder mehrerer Personen verstanden. Wanderungen erfolgen in der Regel immer dann, wenn eine Gesellschaft die Erwartungen ihrer Mitglieder nicht erfüllen kann.1 Dabei lassen sich drei Bereiche abgrenzen, bei denen die Frustration der ansässigen Bevölkerung Wanderungsentscheidungen auslösen kann: - Die bloße physische Existenz der Menschen ist nicht mehr gesichert (so etwa bei Migranten aus Kriegs- und Krisengebieten, aber auch aus Regionen mit einem hohen Maß an Umweltzerstörung). - Die institutionelle Struktur der Gesellschaft kann die materiellen, besonders die wirtschaftlichen Wünsche und Erwartungen nicht erfüllen (so bei den Wirtschaftsmigranten aus schwach entwickelten Gebieten, historisch etwa bei den europäischen Auswanderern nach Übersee, heute zum Beispiel bei Migranten aus Osteuropa). - Lebensvorstellungen können unter dem herrschenden politisch-ideologischen System nicht verwirklicht werden (dies ist etwa bei der Migration wegen religiöser Diskriminierung oder politischer Verfolgung, aber auch bereits bei mangelnder Identifikation mit den Werten einer Gesellschaft vorstellbar).2 Gründe für Wanderungsentscheidungen können dabei durchaus gleichzeitig in mehreren der genannten Bereiche liegen. Da Wanderungsentscheidungen immer auf zwei Gesellschaften Bezug nehmen, die der Abwanderungs- und die der Zuwanderungsregion, führte dies zur Entwicklung eines „Push-Pull“-Erklärungsmodells der Wanderungsentscheidungen. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Zusammenwirken von negativen, abstoßenden Faktoren einer Region bzw. Vgl.: Kröhnert, Steffen: Migration – Eine Einführung, Berlin 2003. In: http://www.berlininstitut.org/pdfs/Kroehnert_Migration-Einfuehrung.pdf, S. 1. (Stand: 11.4. 2004). 2 Vgl.: ebd. 1 9 Gesellschaft (Push-Faktoren) im Zusammenwirken mit positiven, anziehenden Faktoren (Pull-Faktoren) einer anderen, Migrationen auslösen und ihr eine Richtung geben.3 Migrationstypisierungen werden oft kontrovers diskutiert. Dies liegt zum Teil in der komplexen Natur des Gegenstandes „Migration“, die kaum distinkte Typenbildungen zulässt. Teilweise sind mit der Begriffsbildung jedoch auch politische Intentionen verbunden. Es gibt also freiwillige (Arbeitsmigranten, Familiennachzug, Remigration von Staatsangehörigen) und unfreiwillige Migranten (Wirtschafts-, Gewalt-, Armuts- und Umweltflüchtlinge), die begrenzt oder dauerhaft in die Bundesrepublik Deutschland und andere europäische Länder einwandern. In der Migrationsarbeit stellt man häufig fest, dass auch Kinder von Migranten, insbesondere Träger der Herkunftsstaatsangehörigkeit der Eltern, sich selbst noch als Migranten sehen, auch wenn sie in Deutschland geboren sind. Da auch diese zur Zielgruppe von IMES gehören, werden auch sie in dieser Arbeit als Migranten bezeichnet. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Migranten hauptsächlich ausländische Arbeitnehmer und deren Familien aus dem Mittelmeerraum, Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber und Aussiedler aus Osteuropa. Der Ausländeranteil an der Bevölkerung der Bundesrepublik liegt bei etwa sieben Prozent, wobei die Anteile in den Ballungsgebieten deutlich höher und folglich in ländlichen Gegenden niedriger sind. So wie in allen anderen Einwanderungsländern dieser Welt gibt es auch in der Bundesrepublik in einigen Stadtteilen ethnische Gemeinden von bestimmten Einwanderungsgruppen.4 2.1 Einfluss der Zuwanderungspolitik auf die Integration von Migranten in Deutschland und Europa 3 Vgl.: ebd., S. 2. Vgl.: Esser, Hartmut: Soziologie: Allgemeine Grundlagen, Frankfurt am Main/ New York 1996, S. 261. 4 10 Um neue Methoden für eine partizipative Integration von Migranten zu entwickeln, muss man sich deren momentane Situation in den Einwanderungsländern verdeutlichen. Die Integrationsmöglichkeiten von Migranten werden maßgeblich von der Zuwanderungspolitik beeinflusst. In Ländern, in denen viele illegale Einwanderer leben, sind deren Integrationsmöglichkeiten eingeschränkter als die der Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung oder sogar Staatsangehörigkeit im Aufnahmeland. Seit dem Regierungsantritt der Koalition aus SPD und Grünen 1998 hat sich die Migrationspolitik und deren öffentliche Diskussion in Deutschland positiv gewandelt. Nun geht es statt um die Eindämmung um die Steuerung von Zuwanderung. Die Realität der Einwanderung wurde anerkannt und das Staatsangehörigkeitsrecht zum 1. Januar 2000 endlich reformiert. Die Diskussion, welche im Februar 2000 um das Thema Green Card entbrannte, zeigt welcher Reformstau sich aber noch immer hinter diesem Thema verbirgt. Die Probleme des Zuwanderungsbedarfs und der Integration der Migranten erfordern nun eine ausführliche Diskussion. Doch zu einer Einwanderungspolitik gehört auch eine Integrationspolitik, welche die Eingliederung durch Hilfestellungen erleichtert und so zum Abbau von Fremdenangst beiträgt. Denn Ausländerfeindlichkeit ist ein Zeichen für unzureichende Integrationspolitik. Da der Schritt vom Zuwanderungsland zum Einwanderungsland voraussetzt, dass Migranten gleichberechtigte Bürger werden können, war die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts längst überfällig. Doch Integrationspolitik darf vor allem Mentalitätsprobleme nicht ausblenden, denn Migration löst sowohl bei Majorität als auch bei Minorität Identitäts- und Identifikationsprobleme aus. Dazu ist eine Solidarität zwischen der Gruppe der Einwandernden und der Gruppe der Aufnahmegesellschaft, die zum Teil ohnehin schon aus Einwanderern besteht, nötig. Die Konzepte für eine nationale Migrations- und Integrationspolitik müssen zudem europaverträglich sein, da es auf dem Weg in eine europäische Gemeinschaft keine nationalen Alleingänge mehr geben kann. Migration reicht in Europa von gezielter Anwerbung attraktiver Arbeitskräfte aus dem Ausland bis zur Anerkennung oder Abweisung von Asylbewerbern mit der Motivation vom wirtschaftlichen Eigeninteresse bis zum humanitären Akt. Daraus 11 ergibt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Menschen mit ihrer eigenen Kultur, ihren eigenen Erwartungen und ihrem eigenen Lebensstil in die EU-Länder integriert werden können. Die Tatsache, dass fast zwanzig Prozent der Menschen in Europa aus Ländern außerhalb der EU kommen, wirft die Frage auf, ob deren Integration zuallererst Anpassung heißt und wer sich wem anpassen muss. Müssen Migranten die Sprache des Landes lernen, in das sie einwandern? Dürfen sie ihre Familien mitnehmen oder nachholen? Wie viele Ausländer kann die Gesellschaft überhaupt eingliedern? Tatsache ist, dass Europa mit seinen fallenden Geburtenraten und der demografisch alternden Bevölkerung auf eine geregelte und aktiv gestaltete Einwanderung angewiesen ist. Inzwischen hat sich die Einsicht, dass Europa Migration benötigt durchgesetzt. Heute muss man schon eher vor zu großen Erwartungen an deren heilsame Wirkung warnen, da auch Einwanderer älter werden und sich deren Geburtenraten schnell der Aufnahmegesellschaft anpassen. Dies kann als gelungene Integration betrachtet werden, doch sie bildet noch immer ein großes Problem in einem latent rassistischen Europa, in welchem andere Hautfarben noch immer am liebsten nur bei einer Reise in das jeweilige Herkunftsland gesehen werden.5 Seit den achtziger Jahren wurde das Thema Einwanderung in Europa Teil parteipolitischer Auseinandersetzungen und von außerparlamentarischen Protestbewegungen dramatisiert. Dies war Zeichen für eine politische Ratlosigkeit gegenüber den unerwarteten sozialen Folgen von Migrationsprozessen und der Nutzung dessen durch nationalkonservative Parteien und rassistische Strömungen. So entstand die Auffassung, dass die Beschränkung von Zu-wanderung die Voraussetzung für die Integration von Migranten sei. Durch die innereuropäische Freizügigkeit am Arbeitsmarkt in der EU verlagerte sich diese Beschränkung auf die Außengrenzen Europas. Seit den siebziger Jahren ist Migration schon ein Thema in der damals noch Europäischen Kooperation. Grundlage hierfür sind die Römischen Verträge von 5 Vgl.: Bade, Klaus J.: Seid nicht zu euphorisch. Auch wachsende Zuwanderung wird die deutsche Gesellschaft nicht von ihrem Reformzwang befreien – 15 Thesen. In: http://www.zeit.de/2001/19/Politik/200119_forderungen.html (Stand: 11.4. 2004). 12 1957, welche die Wurzel der europäischen Integration bilden. Der darin enthaltene Vertrag der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beinhaltete die Absicht zur Gestaltung einer liberalisierten Binnengemeinschaft bezogen auf Erwerbstätige. Mitte der siebziger Jahre wurde der Vertrag dann auf alle EU-Bürger ausgedehnt. Nachdem durch das Schengener Abkommen ein gemeinsamer Binnenmarkt mit Abbau der Binnengrenzen beschlossen wurde, hatte die Zuwanderungspolitik aller Mitgliedstaaten unmittelbar Folgen für die EU, da die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen seitdem entfallen sind.6 Das Schengener Abkommen ist ein zwischenstaatliches Abkommen vom 15. Juni 1985. Erneuert wurde es im Jahr 1990, als sich andere EU-Staaten den fünf Gründerstaaten anschlossen. Haben Angehörige von Drittstaaten ein Aufenthaltsrecht in einem der Schengen-Staaten, gelten die Bestimmungen auch für sie, was bedeutet, dass sie nur ein Visum von einem dieser Staaten brauchen. Dadurch wurde auch erstmals die Asylpolitik auf europäischer Ebene behandelt. Aufgrund der unterschiedlichen nationalen Asylverfahren forderte der Europäische Gipfel 1990 in Rom eine Harmonisierung der Asylpolitik. Doch der Vertrag von Maastricht beließ die Asylpolitik in den Mitgliedstaaten, womit sie Gegenstand zwischenstaatlicher Kooperation blieb. In Amsterdam wurde 1997 jedoch beschlossen, dass bis 2004 eine gemeinsame Regelung des Asylrechts für die EU erarbeitet werden soll. Diese soll den vollständigen Abbau interner Grenzkontrollen, gemeinsame Standards für die Kontrolle der Außengrenzen und Regeln für den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen umfassen.7 Es wird sich in diesem Jahr zeigen, ob diese Pläne, welche für die Umsetzung europaweiter, partizipativer Integrationsmethoden von Vorteil wären, verwirklicht werden. 2.1.1 Die Entwicklung von Migration in Europa 6 Vgl.: Verdi: Entwicklung der Migrationspolitik. In: http.www.verdi.de/0x0ac80f2b_0x000363fe;internal&action=verdi_inter-druckversion.html 11.4. 2004). 7 Vgl.: Verdi (wie Anm. 5). (Stand: 13 Voraussetzung für die Integration von Migranten ist, dass die Mehrheitsgesellschaft sich in deren Situation hineinversetzen kann, um sie zu verstehen. Dazu muss man wissen, wie sich die Migration zu der derzeitigen Situation der Zuwanderer entwickelt hat. Migration ist kein neues Phänomen, sondern gibt es schon solange wie die Menschheit. Sie ist ein Sozialisationsprozess, der aus komplexen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen hervorgeht. Schon im achtzehnten Jahrhundert bewegten sich in Europa die Migranten über große Distanzen. Es handelte sich hierbei um Erwerbsmigration, bestehend aus Handwerkern, saisonalen Arbeitswanderern oder Wanderhändlern. Das neunzehnte Jahrhundert war bestimmt durch proletarische Massenwanderungen, geprägt vom krisenhaften Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft in Europa und durch die Anziehungskraft der „Neuen Welt“. Der Übergang vom neunzehnten in das zwanzigste Jahrhundert war der Übergang vom agrarischen über das industrielle zum Dienstleistungszeitalter. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu starken Zwangs- und Fluchtwanderungen mit viel überseeischer Auswanderung aus Europa. Erst ab den siebziger Jahren gab es Zuwanderungsgewinne nach Europa. Größer noch waren aber die transnationalen großen Arbeitskräftewanderungen innerhalb Europas. Die größten Wanderungsbewegungen der Weltgeschichte, die im zwanzigsten Jahrhundert besonders aus der Dritten Welt kamen, betrafen Europa dagegen nur zu fünf Prozent. Die Migration in die EU-Staaten stieg bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf das Dreifache und kam hauptsächlich aus anderen Ländern Mittel-, West- und Nordeuropas. Seit 1970 hat Deutschland die höchsten Ausländerzahlen der EU-Staaten, was auch damit zusammenhängt, dass in Frankreich und Großbritannien die meisten Migranten durch Einbürgerung aus den Ausländerstatistiken dauerhaft verschwanden. In Deutschland geben die Migranten ihren Ausländerstatus meist noch an die zweite Generation weiter.8 8 Vgl.: Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 12. 14 Nach Angaben des Berichtes der unabhängigen Kommission „Zuwanderung“9 lebten Ende des Jahres 2000 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland, darunter 5,8 Millionen ausländische Ein- und Zuwanderer sowie 1,5 Millionen in Deutschland geborene Ausländer. Darüber hinaus befinden sich in Deutschland schätzungsweise 3,2 Millionen Menschen, die als Aussiedler oder Spätaussiedler zugewandert sind, und rund eine Million Menschen, die im Inland eingebürgert wurden.10 Bis in die achtziger Jahre war die Arbeitswanderung in Europa in nördliche Zuwanderungs- und südliche Abwanderungsregionen gespalten. Seit Ende der siebziger Jahre verstärkte sich in Nordeuropa die Zuwanderung der Asylsuchenden, welche bis Ende der achtziger Jahre jedoch immer noch geringer war als der Familiennachzug, der sich an die Arbeitswanderungen anschloss. Im Süden Europas kam es seit Mitte der achtziger Jahre dann zu interkontinentalen Süd-Nord-Bewegungen. In Länder wie Italien und Spanien, aus denen vorher die Menschen nach Nordeuropa emigrierten, wanderten nun Menschen aus anderen Kontinenten wie Südamerika und Afrika ein. In allen EU-Ländern wurden im Laufe der verstärkten Zuwanderung die Beschränkungsgesetze für die Aufnahme von Migranten verschärft, womit die Zahl der illegalen Migranten deutlich stieg. In Italien kamen die ersten Zuwanderer als Arbeitsmigranten Ende der sechziger Jahre. Jugoslawen arbeiteten in der Industrie im Norden Italiens, Marokkaner und Tunesier im Süden in der Landwirtschaft. In den siebziger Jahren arbeiteten Frauen von den Kapverdischen Inseln, den Philippinen und aus Äthiopien in italienischen Haushalten. In den achtziger und neunziger Jahren gab es überdies Zuwanderung aus Afrika südlich der Sahara (Senegal, Ghana, Nigeria), dem indischen Subkontinent und China. Eine große Zahl von Flüchtlingen kam in den neunziger Jahren aus dem krisengeschüttelten Balkan. Ende 2000 hatten in Italien 1,4 Mio. Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis. Die größten Gruppen waren 9 Vgl.: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Bericht der unabhängigen Kommission Zuwanderung: Zuwanderung gestalten – Integration fördern, Berlin 2001, S. 14. 10 Vgl.: ebd. 15 Marokkaner (160 000), Albaner (142 000), Rumänen (69 000), US-Amerikaner (47 000), Tunesier (45 000) und Jugoslawen (40 000).11 Spanien zieht seit den achtziger Jahren nicht nur Migranten an, die dort arbeiten wollen, sondern auch viele sonnenhungrige Menschen aus nördlichen Ländern wie Deutschland oder Großbritannien, die ihr weiteres Leben im Süden verbringen wollen. Von den rund 900 000 Ausländern in Spanien Ende 2000 sind 74 000 Briten, 60 000 Deutsche und 42 000 Franzosen. Die Arbeitsmigranten finden ihr Auskommen vor allem im Hotel-, Einzelhandel- oder Baugewerbe, aber auch in der Landwirtschaft oder als Haushaltshilfen. Sie kommen zunächst aus Portugal (Ende 2000: 42 000 Menschen) und Marokko (200 000), in den 80ern zusätzlich aus China (29 000) und den Philippinen (13 000). Außerdem besteht eine Verbindung zu Südamerikanischen Ländern wie Ecuador (31 000), Peru (28 000), der Dominikanischen Republik (26 000) oder Kolumbien (25 000). Aufgrund der lockeren Einwanderungskontrollen bis in die neunziger Jahre gibt es wie in den übrigen Mittelmeerländern viele illegale Migranten. In zwei Legalisierungsaktionen 1985 und 1991 bekamen insgesamt über 100 000 Menschen einen legalen Aufenthaltsstatus.12 Jedes Land in Europa hat seine spezielle Migrationsgeschichte, die sich in das europäische Muster einfügt. Wie in allen Regionen dieser Welt gehört die Wanderung von Menschen über Grenzen zur Normalität. In einem europäischen Austausch über die unterschiedlichen Erfahrungen in der Integrationsarbeit mit Migranten können neue Lösungen und Methoden für eine in ganz Europa anwendbare partizipative Integration von Zuwanderern entwickelt werden. 2.1.2 Auswirkung der Globalisierung auf die Rolle der Migranten Staaten berufen sich ebenso wie Minderheiten und nationale Minderheiten auf ihren traditionellen geschichtlichen Hintergrund. Ein Widerspruch besteht darin, Vgl.: König, Jürgen: Migration in Europa – Ein Überblick, Berlin 2003. In: http://www.asylforschung.de/info_europa.htm (Stand: 11.4. 2004). 12 Vgl.: König (wie Anm. 11). 11 16 dass zwar moderne Entwicklungen integriert werden, es aber andererseits eine große Sorge um den Erhalt der Kultur gibt, welche mit der Pflege von Brauchtum, kulturellen Eigenheiten und Tradition einhergeht. Weil die Auswirkungen der Globalisierung im politischen und gesellschaftlichen Leben abgelehnt werden, wird Fortschrittliches durch den Versuch der Trennung von Moderne und Tradition in den Hintergrund gedrängt. Doch die Globalisierung hat sich nicht nur auf den gesamten Wirtschaftsbereich ausgewirkt, sondern formt auch die Politik und das soziale Leben neu.13 Laut Dieter Claessens14 hat sich das Rollensystem der traditionellen Gesellschaft gegenüber der industriellen Gesellschaft erheblich gewandelt, da die hohe Enttäuschungsfestigkeit und die geringe Variabilität der Rolle der traditionellen Gesellschaft nicht mehr bestehen. Das Rollensystem der traditionellen Gesellschaft ist geprägt durch die hierarchisch geordneten Schichten im fest verankerten Herrschaftssystem. In der industriellen Gesellschaft können die Aufgaben nur noch mit Hilfe von Bürokratie und Entscheidungsdelegation bewältigt werden. Die Umverteilung der gesellschaftlichen Macht hat hierbei eine Emanzipation aus der Rollenunterwerfung zur Folge. Da das Rituelle der traditionellen Gesellschaft uneffektiv und zu zeitaufwendig ist, verändert sich die Rolle vom Prestigeanteil zum funktionalen Teil in der industriellen Gesellschaft. Diese Funktionalisierung der Rolle ermöglicht eine Rollendistanz, die in der traditionellen Gesellschaft unmöglich wäre. Mit der Thematisierung des Rollenbegriffs wird Rollendistanz möglich und konstitutiv. Da die Rolle nun öffentlich diskutiert werden kann, ist eine Reflexion über den gesellschaftlichen Charakter des eigenen Lebensweges möglich.15 Migranten, die von einem traditionellen Gesellschaftssystem in ein industrielles wechseln, unterliegen auch diesem Wechsel des Rollenverständnisses und somit dem Wechsel von der festgelegten Rolle zur Rollendistanz. Dieser Wechsel erschwert es den Migranten, ihre neue Rolle in der Gesellschaft zu finden, zudem 13 Vgl.: Schnebel, Karin B.: Selbstbestimmung in multikulturellen Gesellschaften. Dargestellt an den Beispielen Frankreich, Deutschland und Spanien, Wiesbaden 2003, S. 58. 14 In: Gronemeyer; Reimer: Integration durch Partizipation. Veränderungen des Alltags der Produktion und der Reproduktion durch Beteiligung, Bochum 1972, S. 22. 15 Vgl.: Gronemeyer (wie Anm. 14), S. 22f. 17 verlangsamt es natürlich auch das Einnehmen einer aktiven Rolle im Integrationsprozess selber. Außerdem führen Globalisierungstendenzen zu immer weiteren Vernetzungen internationaler Organisationen. So setzt sich zum Beispiel die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zwar für Minderheiten ein, dies jedoch aus nationalstaatlichem Interesse. Da internationale Organisationen von staatlichen Regierungen gebildet werden, können sie von denselben in ihren eigenen Interessen gestärkt werden. Doch im Bereich der Kultur, der Sprache und der Traditionen werden Kooperationen und Interdependenzen immer stärker. Minderheiten fördern dies, da ihr wesentliches Ziel ist, sich gegen Tendenzen zu wehren, bei denen sie in ihrer Entfaltung eingeschränkt werden. Wenn Minderheiten sich als fremdbestimmt betrachten, verstärkt sich der vertikale Konflikt zwischen Minderheit und Nationalstaat. Gleichzeitig wird die horizontale Konfliktlinie innerhalb der Minderheit, wie die Stadt-Land-Differenz, schwächer.16 Die Globalisierung hat in modernen Gesellschaften zu einem enormen Bildungsschub geführt, in den ärmeren Ländern aber genau das Gegenteil bewirkt. Daher wurden die, welche aus diesen Ländern auswanderten, von Anfang an in unterste Arbeiten eingebunden. Sie wurden ausschließlich in das Arbeitsleben integriert und lebten sonst weiterhin in den Lebensformen ihrer Heimatländer, da sie dorthin wieder zurückkehren wollten und sollten. Heute kämpfen diese Migranten mit Diskriminierung, obwohl sie einmal dringend benötigt wurden. Dies ist auch bedingt durch immer größer werdende Einwandererströme, zu denen die Globalisierung beigetragen hat.17 Um im Globalisierungszeitalter deren Folgen gerechter zu gestalten, muss auch Migration und die Integration von Migranten gerechter gestaltet werden. 2.1.3 Die normative Dimension von Migration 16 17 Vgl.: Schnebel (wie Anm. 13), S. 60. Vgl.: Schnebel (wie Anm. 13), S. 61. 18 Da es von vielen Seiten Forderungen nach einer sozial gerechten Gestaltung von Zuwanderung gibt, hat sich Gerechtigkeit zu einem relevanten Kriterium der europäischen Zuwanderungspolitik entwickelt. Verfechter von offenen Zuwanderungsregelungen weisen auf die internationalen Missstände hin und betonen die Wanderungsfreiheit des Einzelnen, während deren Gegner auf dem Recht von Staaten und Staatsbürgern, den Zugang zu ihrem Territorium und ihrer Gesellschaft autonom gestalten zu dürfen, beharren. Erstere gehen von den Gerechtigkeitspflichten gegenüber allen Menschen aus, Letztere kennen diese Pflichten nur gegenüber ihren Staatsbürgern. Das wirft die Frage auf, ob das grenzüberschreitende Thema Migration überhaupt als Gerechtigkeitsthema gelten kann.18 Das Konzept sozialer Gerechtigkeit beruht auf dem Prinzip potentieller Verteilungskonflikte mit dem Ziel einer einvernehmlichen Lösung zum Wohle aller Beteiligten. Die beiden grundlegenden Voraussetzungen von Gerechtigkeit sind laut David Hume19 Mangel an Altruismus und gemäßigte Knappheit. John Rawls20 beschreibt die Anwendungsverhältnisse von Gerechtigkeit als ein Zusammenspiel objektiver und subjektiver Gegebenheiten in einer Verteilungssituation. Objektive Umstände machen menschliche Zusammenarbeit möglich und notwendig, weitere Einflüsse sind die Knappheit der Ressourcen, unterschiedliche Weltanschauungen und die Endlichkeit menschlicher Kenntnisse. Vor allem aber die unterschiedlichen Lebenspläne und Vorstellungen der Menschen von ihrem Wohl führen zu unterschiedlichen und teilweise konkurrierenden Wünschen über die Verwendung der knappen Ressourcen. Auch Migration resultiert aus Knappheit, aus Situationen großer sozialer und ökonomischer Ungleichheit und beinhaltet dadurch ein Verteilungsproblem. Den Menschen in EU-Ländern geht es überwiegend gut, da sie in sozial und rechtlich gesichertem Wohlstand leben, weshalb Menschen aus ärmeren Ländern daran partizipieren wollen. Da die Bürger der Aufnahmegesellschaft aber um ihre angestammten Güter fürchten, ruft dies Widerstände 18 Vgl.: Märker, Alfredo: Europäisierung der Zuwanderungspolitik: Eine Chance für einen gerechteren Umgang mit Flüchtlingen und Migranten? In: Märker, Alfredo/ Schlothfeldt, Stephan (Hrsg.): Was schulden wir Flüchtlingen und Migranten?, Wiesbaden 2002, S. 244. 19 In: Märker (wie Anm. 18). 20 In: Märker ebd. 19 hervor. Ausgangsbedingungen von Gerechtigkeit scheinen also global gegeben, weshalb Staatsgrenzen nicht gleichzeitig Gerechtigkeitsgrenzen sind.21 Laut Rawls werden Gerechtigkeitskriterien und ein gemeinsamer Verhaltenskodex nur deshalb von Allen als verbindlich betrachtet, weil deren Ziel die Förderung des allseitigen Vorteils ist. Somit wäre Zuwanderung nicht gesellschaftsübergreifend, da es nicht um die Verteilung des Ertrags gesellschaftlicher Zusammenarbeit geht und demnach nicht um Fragen sozialer Gerechtigkeit, sondern höchstens um moralische Verpflichtungen. Es geht aber in der globalen Perspektive noch gar nicht um Kooperationsgewinne, sondern um die erheblich schlechteren Lebenschancen der Bewohner ökonomisch-sozial benachteiligter Länder. Es geht also zunächst um die Chance, an einer Kooperation überhaupt teilzunehmen. Bei dieser Diskussion können Gerechtigkeitsdebatten durchaus eine Rolle spielen, da gerade der Geburtsort keine moralisch irrelevante Kontingenz ist. Auch wenn Kooperation zwingende Voraussetzung von Gerechtigkeit ist, führt sie nicht unmittelbar zur Ausklammerung globaler Fragen. Die internationale Kooperationsgemeinschaft ist weniger im Bewusstsein der Menschen verankert als die nationalstaatliche, sie muss aber im Zeitalter der Globalisierung zunehmend ernster genommen werden.22 Von realpolitischer Seite gibt es Einwände gegen die globale Verteilungsgerechtigkeit. Sie kritisiert vor allem die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit normativer Forderungen. Gerade internationale Beziehungen sind machtpolitisch organisiert, Forderungen nach globaler Verteilungsgerechtigkeit sind schwer umzusetzen und erzeugen viele ungelöste Probleme. Doch realpolitische Argumente übersehen, dass Gerechtigkeitserwägungen auch im Interesse der Aufnahmestaaten liegen. Potentielle Zuwanderer verfügen sowieso kaum über die Machtmittel, ihre Interessen durchzusetzen, sie sind ökonomisch schwächer, militärisch unterlegen und versuchen auch nicht gruppenweise ihre Einreise zu erzwingen. Da alle Machtmittel ohnehin bei den Europäern liegen, ist die Gefahr eines alle Beteiligten schädigenden Verteilungskampfes für die EU-Bürger gar nicht 21 22 Vgl.: Märker (wie Anm. 18), S. 245. Vgl.: Märker (wie Anm. 18), S. 246. 20 gegeben. Die Gerechtigkeitserwägungen und deren realpolitische Attraktivität bestehen vor allem in der vorzeitigen Schlichtung des Verteilungskonfliktes, der in der EU angesichts der großen Anzahl potentieller Zuwanderer faktisch besteht. Außerdem stellen die Kostenfaktoren der Abschottung gegen unerwünschte Zuwanderer eine Schädigung der Aufnahmebevölkerung dar, die vermieden werden sollte. Zuwanderungsprobleme sind also nicht nur Macht- oder Barmherzigkeitsfragen, sondern durchaus Gerechtigkeitsfragen, doch die Bedingungen globaler Gerechtigkeit unterscheiden sich von denen innerhalb politischer Gemeinschaften. Sie sind weniger an die klassische Gerechtigkeitstheorie, sondern, laut Onora O`Neill23, an die Pluralität der Handelnden, das Bewohnen derselben Welt und die gegenseitige Verletzbarkeit gebunden. Das Wissen um die Existenz potentieller Zuwanderer und deren Lebenslage sowie um die Zusammenhänge zwischen menschlichen Handlungen reichen hier aus, denn die Europäer wissen sehr genau, dass die Nichtaufnahme potentieller Zuwanderer deren Lebenschancen massiv beeinflusst. Wer erkennt, dass seine Handlungen oder Nichthandlungen andere beeinflussen, sollte im Sinne der gegenseitigen Verletzbarkeit davon ausgehen, dass auch er von Handlungen anderer getroffen werden kann. Die wechselseitige Bedrohung bei Zuwanderungsprozessen kann zwar in Frage gestellt werden, doch da eine Verletzbarkeit der Aufnahmegesellschaft nicht ausgeschlossen werden kann und sich teilweise schon äußert, beinhaltet der Umgang mit Flüchtlingen und Migranten Gerechtigkeitsfragen, an deren Be-antwortung die Aufnahmegesellschaft ein Interesse haben muss.24 Politische Schwierigkeiten entstehen vor allem dadurch, dass einige Formen der Migration gesellschaftlich weniger erwünscht sind als andere. Es wird unterschieden zwischen Migranten, deren Aufnahme nützlich ist und Migranten, deren Anwesenheit nicht erwünscht ist oder den EU-Staaten sogar schaden könnte. In öffentlichen Debatten wird die Kategorisierung der Zuwanderung entlang des Eigeninteresses vorgenommen und widerspricht teilweise den offiziellen 23 24 In: Märker ebd., S. 247. Vgl.: Märker (wie Anm. 18), S. 247f. 21 Aufnahmekategorien. So sind einerseits zuwandernde Computerspezialisten erwünscht, aber andererseits „Tarifdumping“ betreibende Bauarbeiter nicht. Auch wird zwischen ernsthaft politisch Verfolgten und Scheinasylanten unterschieden. So kann man in der Europäischen Union eine zunehmende Abschottung vor so genannten Wohlstandsmigranten bei gleichzeitiger Aufnahme für die Gemeinschaft erwünschter Migranten feststellen, worin sich ein Grundproblem der Gerechtigkeit zeigt.25 Unkontrovers ist dagegen die Notwendigkeit der Aufnahme von politischen Flüchtlingen, da selbst Befürworter des Rechts politischer Gemeinschaften auf autonome Gestaltung der Zuwanderungspolitik diese normative Verpflichtung grundsätzlich anerkennen. Politisch oder religiös Verfolgten gegenüber besteht eine Pflicht zur Aufnahme, weil sie sonst in ihrem Land getötet, verfolgt oder brutal unterdrückt werden. Trotzdem kann deren moralischer Anspruch keinen Vorrang gegenüber anderen potentiellen Migranten haben. So sind in verzweifelter Armut lebende Menschen nicht besser gestellt als politisch Verfolgte, was für die Notwendigkeit eines eigenständigen Asyl- und Flüchtlingsrechtes spricht. In der gegenwärtigen europapolitischen Praxis muss die Erfüllung von normativen Schutzpflichten allerdings zwangsläufig scheitern, solange politische Verfolgung als alleiniger legitimer Aufnahmegrund gilt, obwohl es andere existentielle Migrationsursachen gibt. Davon Betroffene werden genötigt, andere Möglichkeiten der regulären Einwanderung unter Vortäuschung falscher Tatsachen zu nutzen. Inzwischen ist der Umgang mit wirtschaftlicher Zuwanderung in der EU jedoch nicht mehr ausschließlich durch Abschottung geprägt, denn es findet eine schrittweise Ausrichtung der Zuwanderungspolitik an den nationalen Interessen der EU-Mitglieder statt. Die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist dabei durchaus erwünscht, um kurzfristige Bedarfslücken im europäischen Arbeitsmarkt und langfristige demografische Strukturlücken der Aufnahmebevölkerung zu decken. Das Kernproblem sozialer Gerechtigkeit ist hier, dass sich die Europäische Union gegen die unerwünschte Migration verschließt, aber durch die gleichzeitige Öffnung für Migration im Eigeninteresse die Intellektuellen aus den 25 Vgl. ebd., S. 248. 22 Entwicklungsländern abwandern („brain drain“), was absolut nicht zur Fluchtursachenbekämpfung beiträgt. Doch gegenwärtig scheint nur eine Politik der geregelten Zuwanderung unter ausdrücklicher Berücksichtigung dieser Interessen in der Europäischen Union durchsetzbar.26 Aber die Berücksichtigung innereuropäischer Aufnahmeinteressen entbindet allerdings keineswegs von normativen Verpflichtungen gegenüber potentiellen Zuwanderern. Eine akute Bedarfsdeckung von Flüchtlingen ist nur dann legitim, wenn sie von einer ernst zu nehmenden Entwicklungspolitik begleitet ist und Wohlstandsmigranten nicht komplett ausschließt. Die weitere Harmonisierung der europäischen Zuwanderungspolitik muss alle Facetten von Zuwanderungsprozessen gemeinsam berücksichtigen: Flüchtlingsaufnahme, Bedarfszuwanderung, Wohlstandsmigration und Fluchtursachenbekämpfung. Doch die Rückkehr zum reinen Gastarbeitermodell, welche die GreenCard-Diskussion anregt, und die Tatsache dass die EU es noch immer nicht schafft, die von den Vereinten Nationen festgelegten 0,7% ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe auszugeben, obwohl sie sich gegen Wohlstandsmigranten und Flüchtlinge abschottet, lässt nicht gerade auf eine gerechtere Migrationspolitik hoffen. In Europa wurde bisher am meisten für die Bekämpfung von Fluchtwanderung und am wenigsten für die Bekämpfung der Fluchtursachen getan. Hierüber gibt es eine öffentliche Debatte und vielfältige praktische Vorschläge aus Politik und Wissenschaft. Doch der Vorschlag von EUJustizkommissar Antonio Vitorino, der die Richtlinien der europäischen Zuwanderung ganz neu formuliert und für mehr Zuwanderung, erleichterten Familiennachzug, die Abschaffung der Drittstaatenregelung für Asylbewerber und für die Aufnahme von Armuts- und Elendsflüchtlingen plädiert, wird voraussichtlich kaum die Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten finden, schon gar nicht die der Bundesregierung. Da der Bedarf an Zuwanderung jedoch aus demografischen und ökonomischen Gründen in Zukunft weiter ansteigen wird, erhöhen sich die Chancen auf eine gerechtere Zuwanderungspolitik. Die Deckung des Zu- 26 Vgl.: Märker (wie Anm. 18), S. 250. 23 wanderungsbedarfs kann nur legitim sein, wenn Gerechtigkeitspflichten nachgekommen wird.27 Zu diesen Gerechtigkeitspflichten gehört es auch, dafür zu sorgen, dass die Migranten ohne Unterscheidung von erwünschten und unerwünschten Zuwanderern in die Majoritätsgesellschaft integriert werden. Ihre Integration beugt Ablehnung vor und schafft so die Befürwortung von gerechterer Zuwanderungspolitik in der Bevölkerung, die bei der in Deutschland und Europa herrschenden Migration nötig ist. 2.2 Warum neue Methoden zur Integration von Migranten benötigt werden Da Menschen schon immer wanderten, sind auch die meisten Gesellschaften multikultureller Art. Durch den Austausch von Gewohnheiten und Kenntnissen zwischen den unterschiedlichen Kulturen bildeten und veränderten sich Zivilisationen. Gerade seit den letzten fünfzig Jahren leben in den europäischen Staaten durch verstärkte Wanderungsbewegungen immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. Doch die Völker pflegen verstärkt ihre kulturellen Eigenheiten, da die Minderheit im Vergleich zur Mehrheit meist eingeschränktere gesellschaftliche Möglichkeiten hat. Viele Minderheiten wurden und werden diskriminiert, was auch bis hin zu gewalttätigen Übergriffen in der Gegenwart führt. Einwanderungsminderheiten leiden unter Fremdenfeindlichkeit, die dadurch entsteht, dass der Andersartige als bedrohlich empfunden wird.28 Die Aufnahme und Integration von Migranten stößt oft auf Ablehnung, da Zuwanderung vermittelt, dass die gesellschaftlichen Umstände nicht bleiben werden, wie sie waren. Auch wenn verschiedene Kulturen sich mischen, kann Fremdheit nicht aufgehoben werden. Fremde werden geradezu gebraucht, um eigenen Gewohnheiten oder Bräuchen Kontur zu geben. Diese Abgrenzungsprozesse können jedoch bis zur Ablehnung fremder Kulturen oder Fremden- 27 21 Vgl.: Märker (wie Anm. 18), S. 254f. Vgl.: Schnebel (wie Anm. 16), S. 63. 24 feindlichkeit führen. Es stellt sich aber die Frage, wie Abgrenzungen zu Ausgrenzungsprozessen werden, wodurch die Heterogenität in demokratischen Gesellschaften zum Problem wird bzw. werden kann. Der Wunsch nach Sonderbehandlung entsteht bei Minderheiten erst durch Aus- und Abgrenzungsprozesse. Die türkische Minderheit in Deutschland oder die algerische in Frankreich sind Beispiele für ausgegrenzt gebliebene Kulturen, die deshalb verstärkt auf ihre kulturellen Eigenheiten zurückgreifen. Dadurch kann Ethnizität entstehen und damit der Anspruch auf Sonderrechte.29 Der Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ könnte den Eindruck erwecken, dass dies etwas Neues wäre oder es die realistische Alternative einer monokulturellen Gesellschaft gäbe. Es gab schon in früheren Zeiten Minderheiten, die sich jedoch kaum gegen Diskriminierung wehren konnten. Heute versuchen sie, sich für die Anerkennung ihrer Kultur einzusetzen und wollen aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften geachtet werden, da auch Nichtanerkennung eine Form der Unterdrückung ist. Deshalb schließen Migranten sich häufig zu Gruppen zusammen, um bestimmte Rechte zu erhalten.30 Der Migrant unterliegt in den EU-Ländern zwar unterschiedlichen rechtlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, jedoch bestehen in den Entwicklungen zum Einwanderungsland und im Umgang mit den Fremden Parallelen zwischen den Ländern. Die Voraussetzungen, die Bürgerrechte in einem der Länder zu erlangen, haben sich immer wieder verändert und damit vielen Migranten die Möglichkeit gegeben, sich zu integrieren, während andere, die schon lange Zeit in dem Land leben, keinen der Mehrheit gleichberechtigten Status erlangen können. Es gibt heute in Europa zwei institutionalisierte Prinzipien im rechtlichen Umgang mit Migranten: einerseits die Rechte innerhalb eines Staates und andererseits die Menschenrechte. Die EU-Staaten versuchen Migration innerhalb ihrer Grenzen nach nationalen, ethischen und sprachlichen Kriterien zu regeln, doch gleichzeitig sollen die universalistischen Rechte grenzüberschreitend gelten. An diesem Widerspruch wird die Notwendigkeit eines neuen Modells, 29 30 Vgl. ebd., S. 64. Ebd., S. 65. 25 welches die universalistischen Merkmale mit einbezieht, deutlich. Mit der Angleichung der rechtlichen Situation zwischen den verschiedenen Staaten und der Erleichterung von Einbürgerung müssen Integrationskonzepte eingeführt werden, die Perspektiven für das Problem der Fremdenfeindlichkeit bieten.31 Migration ist ein komplexer Bereich, in dem reine Migrationspolitik eher erfolglos ist. Wer nur die finanzielle Seite betrachtet und die Integration vergisst, tut der Gesellschaft damit langfristig keinen Gefallen. Migrations- und Integrationspolitik gehören untrennbar zusammen. Integration muss nicht nur in der Zukunft intelligenter gestaltet, sondern die Mängel und Fehler der Vergangenheit müssen ebenso aufgearbeitet werden. Bei der bisherigen Integrationspolitik wurden vor allem die Migranten selber zu wenig mit einbezogen. Schließlich wissen sie am besten, wo die Defizite liegen und können mit ihrem Wissen zur Entwicklung effektiverer Integrationsmethoden und Integrationsmöglichkeiten beitragen. Vor allem die Vorstellung, dass ausschließlich der Migrant sich der Mehrheit anpassen muss, sollte abgelegt werden. Die Anpassung darf Mentalitätsprobleme nicht ausblenden und sollte auf Gegenseitigkeit beruhen, die beide Seiten verändert. Im Idealfall kommt es im Einwanderungsland zu ethnokulturellen Identitäten mit individuellen Herkunftsadressen. Diese Migration wird aber nicht ungeleitet erreicht und ist mit viel interkultureller Arbeit verbunden. Voraussetzung hierfür ist auf dem Weg zur Europäischen Union vor allem eine europäische Migrationspolitik, die in allen Mitgliedsländern einheitlich ist. 3. Entstehung des EU-geförderten Projektes IMES (Integration of Migrants in the European Society) als partizipatives Integrationsprojekt von Migranten IMES ist ein EU-gefördertes Projekt, das neue Methoden zur partizipativen Integration von Migranten entwickelt und seinen Hauptsitz in der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. in Hannover hat. Die Projektwerkstatt wurde 1993 31 Vgl.: Schnebel (wie Anm. 16), S. 67. 26 als gemeinnütziger Verein gegründet. Ihre Aktivitäten liegen hauptsächlich im Bildungsbereich zu den Themen interkulturelle und antirassistische Arbeit, Migration, Entwicklungsarbeit, Umweltinformationen und -projekte, Projekte im Bereich der Agenda21 und „Neue Medien“. Die Projektwerkstatt ging aus dem schon 1982 gegründeten Verein Liberación (Befreiung) hervor. Dieser hatte einen Dritte-Welt-Handel, machte Bildungsarbeit und organisierte Jugendbegegnungen in europäischen Ländern. Die Bildungsarbeit und die Jugendbegegnungen führte die Projektwerkstatt nach dem Konkurs von Liberación weiter. Das EU-Projekt „Jugend für Europa” förderte dieses Kennenlernen der Jugendlichen, das zum Zusammenwachsen Europas beitragen sollte. Es kam zu jährlichen binationalen Treffen mit Partnergruppen in Italien und Spanien, die unter dem Thema der Migrantenrückkehr in das eigene Land standen. Die EU beschloss Ende der neunziger Jahre allerdings, mehr multinationale als binationale Treffen zu fördern. So kam es 1999 zur ersten trinationalen Begegnung der Projektwerkstatt mit Partnergruppen der beiden anderen Länder. Da die Organisation vor diesem Treffen sehr aufwendig war, entstand aufgrund der großen Organisationskenntnisse der Wunsch, daraus mehr als nur vierzehn Tage Jugendbegegnung im Jahr zu schaffen. Da man das Thema Migration intensiver bearbeiten wollte, kam es zu der Idee für das Projekt IMES. In fünf Treffen mit den italienischen und spanischen Partnergruppen wurde das Projekt ausgearbeitet und bei Sokrates eingereicht. Sokrates ist ein Bildungsprogramm der EU, welches auf Artikel 149 und 150 des EG-Vertrags basiert. Laut Artikel 149 trägt die Gemeinschaft „zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten fördert”32, durch Maßnahmen wie Förderung der Mobilität, Informationsaustausch und Erlernen der EU-Sprachen. Außerdem enthält der Vertrag die Verpflichtung, das lebenslange Lernen für Unionsbürger zu fördern. Dieser Weiterbildungsform soll eine europäische Dimension verliehen werden. 32 Sokrates: Rechtsgrundlagen. In: http://europa.eu.int/comm/education/socrates/legal_de.html (Stand: 11.4. 2004). 27 Bis zum 1. November 2001 musste der Vorantrag bestehend aus Konzept und Begründung bei der zuständigen Kommission eingereicht werden. Im Februar 2002 kam dann die Erlaubnis bis April 2002 den Hauptantrag zu stellen. Diese wird ungefähr zwanzig Prozent der Antragsteller erteilt. Da sich nach Genehmigung des Projektes zwei italienische Partnergruppen überfordert fühlten und IMES verließen, mussten zwei neue italienische Partner gefunden werden, deren Projektteilnahme wiederum von der EU genehmigt werden musste. Daher kam es insgesamt zu einer Projektverzögerung. 3.1 Struktur des Projektes IMES Die erste Vorsitzende der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V., Susanne Rieger, ist die Gesamtkoordinatorin des Projektes IMES. Dazu kommen drei nationale Koordinatoren. Diese sind aus Deutschland Georg May von Tapas, aus Spanien Anna Sebastian von SOS Racisme Catalunya und aus Italien Barbara Giardello von Cooperazione Internazionale Sud Sud (CISS). In allen drei Ländern gibt es noch einen zweiten Partner, der das Projekt nach jedem Jahr mit einer Evaluation beurteilt. In Deutschland hat das Gabi Janecki vom Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen (VNB) übernommen. In jedem Land hat das nationale Advisory Board zehn bis zwanzig Mitglieder, welche in sozialen Organisationen tätig sind. Die Mitglieder treffen sich ungefähr einmal im Monat in ihrem jeweiligen Land zu Sitzungen, in denen Wissen vermittelt wird, Erfahrungen ausgetauscht und schließlich Seminarbausteine entwickelt werden. 33 Im deutschen Advisory Board sind zwanzig Mitglieder von zwanzig verschiedenen Organisationen, von denen sind 19 in Hannover und Lehrte und eine in Hildesheim ansässig. Der deutsche Leiter Georg May und seine Organisation Tapas – Verein für Kultur, Völkerverständigung und Umweltschutz e.V. sind verantwortlich für den 33 Vgl.: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Gesamtbeschreibung des Projektes. In: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Zwischenbericht der Projekte zur länderübergreifenden Zusammenarbeit. Sokrates Programm. Finanzielle Vereinbarungen Nr.: 100912 – CP – 1 – 2002 – 1 – GRUNDTVIG – G1, Hannover 2003, S. 1. 28 inhaltlichen Schwerpunkt „Neue Medien“. Tapas wurde 1996 als gemeinnütziger Verein gegründet, der umwelt- und entwicklungspolitische, soziale und interkulturelle Aktivitäten unterstützt und durchführt. Der Verein ist besonders spezialisiert auf die Nutzung von „Neuen Medien“ und Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT), da er Videoseminare für Jugendliche anbietet und Fernsehmagazine mit interkulturellen Gruppen über Jugend-, Europa- und Umweltthemen produziert. Des Weiteren produziert Tapas Webseiten mit Inhalten über Flüchtlinge in Europa oder die Agenda21-Mediabörse und organisiert Trainingsprogramme für Mitarbeiter und Praktikanten anderer NGOs, die das Internet für ihre Arbeit verwenden wollen.34 Ebenfalls seit 1996 gibt es den Offenen Kanal Hannover, für den Tapas einmal im Monat ein TV-Magazin mit Hilfe von Vertretern verschiedener Kulturvereine über das soziokulturelle und kommunalpolitische Leben produziert. Mit Informationsveranstaltungen, Lesungen, Theater oder Konzerten möchte der Verein möglichst vielen Menschen die Vielfältigkeit der Kulturen nahe bringen. Unter den anderen 20 Mitgliedern des Advisory Boards sind Organisationen wie die Caritas, die Katholische Jugendsozialarbeit, ein Kulturbüro, die Türkenselbsthilfeinitiative, der Freundeskreis für Spätaussiedler oder der afrikanische Verein Freundeskreis Tambacounda.35 Das spanische Advisory Board hat elf Mitglieder aus elf verschiedenen Organisationen und dessen Leiterin Anna Sebastian und ihre Organisation SOS Racisme Catalunya sind für den inhaltlichen Schwerpunkt „Soziokulturelle Kompetenzen“ verantwortlich. Das italienische Advisory Board besteht aus achtzehn Mitgliedern von siebzehn verschiedenen Organisationen und dessen Leiterin Barbara Giardello von CISS ist zuständig für den inhaltlichen Schwerpunkt „Politikmanagement“. Die drei Länderkoordinatoren und die Gesamtkoordinatorin treffen sich ungefähr einmal im Monat in einem der drei Länder zu Partnerschaftssitzungen, um Absprachen und Änderungen zu treffen. Gleich zu Vgl.: May, Georg: Tapas – Verein für Kultur, Völkerverständigung und Umweltschutz e.V. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=30&mode=thread&o rder=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 35 Vgl. ebd. 34 29 Beginn des Projektes mussten diese Treffen dazu genutzt werden, zwei neue italienische Partner zu finden, da die ursprünglichen italienischen Partner im November 2002 endgültig ihre Mitarbeit am Projekt abgesagt hatten. Nachdem diese Krise bewältigt worden war, wurden die Partnerschaftssitzungen dazu genutzt, die bisherigen Diskussionen auf den nationalen Ebenen zusammenzutragen und die nächsten Abschnitte vorzubereiten, die Arbeitsaufteilung abzusprechen und das weitere gemeinsame Vorgehen zu planen.36 3.1.1 Möglichkeiten der Entwicklung neuer partizipativer Integrationsmethoden für Migranten bei IMES Da in Zukunft mehr als zwanzig Prozent der Bevölkerung in Europa aus Ländern außerhalb der EU kommen werden, muss es in Europa einen verstärkten Integrationsprozess geben, der die soziale Koexistenz und demokratische Partizipation sichert. In einen sinnvollen Integrationsprozess werden die alten und neuen Akteursgruppen gleichermaßen einbezogen, so dass auch Migranten aktive Beteiligungsmöglichkeiten haben. Das Ziel von IMES ist es, Migranten mit Hilfe von neuen Methoden zu integrieren und ihnen durch „soziokulturelle Kompetenzen“ und Kenntnisse in den „Neuen Medien“ und im „Politikmanagement“ Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Basierend auf der Erwachsenenbildung werden die Projektteilnehmer als aktive Partner betrachtet, die das Projekt inhaltlich beeinflussen und nach ihren Bedürfnissen ausrichten. Die Teilnehmer sind zur Hälfte selbst Migranten und zur anderen Hälfte Experten und Spezialisten, welche mit der Zielgruppe Migranten vertraut sind und im Migrationsbereich arbeiten. Sie sind Teil eines nationalen und internationalen Netzwerkes, in dem sie neue Kontakte herstellen, bestehende Kontakte ausbauen und durch den Ideenaustausch ihre tägliche Arbeit verbessern können. Es sollen gemeinsame europäische Methoden und Standards entwickelt werden, die zwischen den Teilnehmern in den drei Ländern per Internet 36 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 33), S. 1f. 30 ausgetauscht werden, um letztendlich den Migranten im Integrationsprozess zu nützen. In Italien, Spanien und Deutschland finden nationale Advisory Boards, also Beratungsrunden mit Experten und Multiplikatoren aus dem Arbeitsbereich der Migration, statt. Gemeinsam mit den Länderkoordinatoren werden hier Seminarbausteine für die drei Bereiche „soziokulturelle Kompetenz“, „Neue Medien“ und „Politikmanagement“ erarbeitet. Die Beratungsrunden jedes Landes bestehen ungefähr aus zehn bis zwanzig Personen unterschiedlicher Organisationen.37 Das Projekt hat eine Dauer von drei Jahren und ist in drei Schritte unterteilt. Im ersten Jahr stellen die nationalen Advisory Boards die Informationslücken und Bedürfnisse in den drei Themenbereichen zusammen, um Seminarbausteine zu deren Verbesserung zu erarbeiten. Die Ideen werden auf der nationalen und internationalen Ebene ausgetauscht, wobei Referenten zusätzliches Wissen in die Beratungsrunden einbringen. Im zweiten Jahr testen die Multiplikatoren die Seminarbausteine, um sie anschließend zu überarbeiten und zu verbessern. Die endgültigen Seminarbausteine werden dann im dritten Jahr auf breiterer Basis durchgeführt. Das bedeutet, dass mit Migranten an der Verbesserung ihres Wissens gearbeitet wird und Datenbanken mit notwendigen Informationen und Internetseiten erstellt werden, um die Informationen zu verbreiten.38 Eine der Hauptaufgaben von IMES ist es, zu ermitteln, welche Kenntnisse und Methoden notwendig sind, um von Migranten akzeptiert zu werden, so dass sie stärker in die Aufnahmegesellschaft integriert werden können. Zwar gibt es bereits viele Integrationsangebote für sie, doch oft erreichen diese die Migranten gar nicht, was an verschiedenen Faktoren, wie zum Beispiel mangelnden Sprachkenntnissen oder Unkenntnis im Umgang mit den „Neuen Medien“ liegen kann. Bei IMES sollen Projekte gemeinsam mit verschiedenen Kulturen entwickelt werden, um Migranten erfolgreich zu integrieren. Diese Kenntnisse können in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Die erste Gruppe sind individuelle Fähigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit Gruppen, die zu einer 37 Vgl.: Rieger, Susanne: Neue Bildungsangebote und -methoden für die Integration von MigrantInnen in die Europäische Gesellschaft. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=6&mode=thread&or der=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 38 Vgl. ebd. 31 gut funktionierenden Organisation im interkulturellen Kontext führen. Menschen, die damit täglich arbeiten, haben darin bereits ihre eigenen Strategien und Herangehensweisen entwickelt. Daher soll in den Beratungsrunden über diese Punkte ein gegenseitiger Austausch stattfinden, um sie gemeinsam zu analysieren. Dabei ist es besonders wichtig herauszufinden, was für Schwierigkeiten beim Einsatz dieser Methoden mit Migranten entstehen und wie die Techniken angepasst werden müssen, um effektiver mit Migranten arbeiten zu können.39 Die zweite Gruppe sind „soziokulturelle Kompetenzen“, welche dazu führen, dass in die Projekte die Bedürfnisse der Migranten eingebaut werden können. Hierfür müssen bestimmte Interventionsstrategien und ein neuer Umgang miteinander entwickelt werden. Sie sollen zum Kontakt mit Personen und Migranten führen, die bislang in keiner Organisation Mitglied sind. Dabei muss beachtet werden, was nicht passieren darf und welche kulturellen und sozialen Aspekte, bezogen auf das Individuum und die Gruppe, berücksichtigt werden müssen, wenn man mit den Menschen arbeitet. Des Weiteren stellt sich die Frage, was das Projekt anbieten kann, das diese Menschen interessieren könnte. Wichtig ist vor allem, wie aus diesem Projekt für alle Teilnehmer „unser” Projekt wird, da hier alle Menschen gleichberechtigt beteiligt werden sollen. Es sind Mechanismen nötig, mit denen man Veränderungen im Umfeld wahrnehmen kann, um sie zu analysieren und wissentlich in die Aktivitäten einzubauen. In diesen beiden Bereichen sollen Methoden entwickelt werden, die zu einer aktiven Beteiligung der Migranten an der Integration in die europäische Gesellschaft führen.40 Im Rahmen der Entwicklung neuer Bildungsmethoden zur Verbesserung der Fähigkeiten von Migranten und NGOs sollen auch Methoden für den aktiveren Umgang mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erarbeitet werden. Das Projekt IMES selbst nutzt die „Neuen Medien“ als Kommunikationsmittel, um über das Internet mit den Partnern in den anderen Ländern und Organisationen Informationen auszutauschen, zum Beispiel durch Newsletter und Videokonferenzen. Da diese Medien immer mehr im Alltag der Bevölkerung 39 40 Vgl.: Rieger (wie Anm. 37). Vgl. ebd. 32 vorkommen, sind sie auch für die Integration von Migranten in die europäische Gesellschaft wichtig. Dies wird auch dadurch deutlich, dass im Projekt Arbeitsergebnisse im Internet veröffentlicht werden. Die erarbeiteten europäischen Methoden zur selbständigen Integration von Migranten sollen in einem internationalen Netzwerk verbreitet werden, damit viele andere Menschen und Organisationen erreicht werden können.41 Wenn man sich gegenüber neuen Technologien wie Handys, E-Mail und Internet verschließt, ist man zum Teil schon gesellschaftlich ausgeschlossen. Die Nutzung dieser Technologien kann die Integration erleichtern. Die Teilnehmer sollen in Seminaren herausfinden, welche „Neuen Medien“ sie brauchen und werden dementsprechend geschult. Die Themen und Methoden entstehen im Austausch mit den Partnerorganisationen, um neue gemeinsame Verständigungswege im zusammenwachsenden interkulturellen Europa zu finden. Somit werden die „Neuen Medien“ eine wichtige Basis des gesamten Projektes sein. Migranten sollen sich diese aneignen und nach ihren eigenen Bedürfnissen nutzen. Besonders für Migranten ist das Internet ein wichtiges Mittel zur Kontaktaufnahme und Pflege mit Landsleuten über weite Entfernungen. Um Migranten diese Möglichkeit zu öffnen, muss herausgefunden werden, welche Barrieren in der Hard- und Software abgebaut werden müssen und was für sie im Bereich der Neuen Medien wirklich sinnvoll ist. Es sollen ICT-Werkzeuge (Informations- and Communicationstechnologies) sowohl für die Zielgruppe der Migranten und deren NGOs als auch für das Projekt IMES gefunden werden. Das meist verbreitete Medium ist das Fernsehen, von dem Migranten aber über Satellit zu einem großen Teil einheimische Sender sehen. Das führt zu geringem Wissen über das Aufnahmeland, mangelnden Sprachkenntnissen und einem Verharren in der Herkunftskultur. Ursache hierfür ist auch, dass alle europäischen Fernsehsender kaum auf die Einwanderer eingehen und keine multikulturellen Programmangebote haben, welche die Informationsbedürfnisse der Migranten decken. IMES wird überprüfen, was die Ursachen hierfür sind und wie dies verbessert werden könnte. Vgl.: May, Georg: Bedeutung und Nutzen von „Neuen Medien“ im Projekt IMES. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=3&mode=thread&or der=0&thold=0 (Stand: 11.3. 2004). 41 33 Ein weiterer Weg mit dem Massenmedium Fernsehen anders umzugehen ist die Videopädagogik. Über Video könnten Migranten ihre Meinungen, Wünsche und Kultur ausdrücken und durch Bürgermedien oder über das Internet an die Öffentlichkeit bringen. So würden sie ihre Kultur der Aufnahmegesellschaft näher bringen. 3.1.2 Inszenierung kultureller Vielfalt Von der Globalisierung wurde erwartet, dass diese auch eine global einheitliche Kultur zur Folge haben würde. Doch statt einer solchen Vereinheitlichung bleibt kulturelle Vielfalt weiterhin ein empirisch zu beobachtendes Phänomen. Weltweit existieren unterschiedliche multikulturelle Gesellschaften, die nur mit Akzeptanz und Toleranz gegenüber fremden Kulturen funktionieren können. Multikulturalistische Konzepte und die politischen Maßnahmen, welche aufgrund zunehmender Migration entwickelt wurden, gehen von drei Annahmen aus: dass Einwanderer vor allem als Menschen verschiedener nationaler, ethnischer, regionaler oder religiöser Herkunft zu betrachten sind, dass ihnen ein Recht auf möglichst große kulturelle Eigenständigkeit zugestanden werden sollte und dass die von ihnen mitgebrachte kulturelle Vielfalt eine positive Bereicherung für die Aufnahmegesellschaft sein kann.42 Das wirft die Frage auf, was unter dem Begriff „kulturelle Vielfalt“ zu verstehen ist. Laut „Meyers Grosses Taschenlexikon“ ist „Kultur [lat. „Bebauung“, „Pflege“ (des Körpers und Geistes), „Ausbildung“] die 1) Gesamtheit der typ. Lebensformen größerer Gruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, bes. der Werteinstellungen. K. gilt im weitesten Sinn als Inbegriff für all das, was der Mensch geschaffen hat, im Unterschied zum Naturgegebenen. (…) I.e.S. bezeichnet K. alle Bereiche der menschl. Bildung im Umkreis von Erkenntnis, Wissensvermittlung, eth. und ästhet. Bedürfnissen.“43 Beim Aufeinandertreffen von verschiedenen Kulturen in multikulturellen Weltstädten stellt sich jedoch die Frage nach verbindenden gemeinsamen 42 Vgl.: Welz, Gisela: Inszenierung kultureller Vielfalt. Frankfurt am Main und New York City, Berlin 1996, S. 107. 43 Meyers Lexikonredaktion (Hrsg.): Meyers Grosses Taschenlexikon in 25 Bänden – Band 12, Bibliographisches Institut – Taschenbuchverlag, Mannheim 1999, S. 276. 34 Wertvorstellungen. Hier wird im Zuge der Globalisierung die Verknüpfung des Kulturbegriffs mit Begriffen wie Herkunft, Gruppe und ethnische Identität immer bedeutsamer. Die Anerkennung von Verschiedenheit, unterschiedsloser Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung ist ein schwieriger Balanceakt in einer multikulturellen Gesellschaft, in der viele verschiedene ethnische Gruppen mit ihrer jeweils einzigartigen Kultur mosaikartig zum Gesamtbild beitragen. Demgegenüber gibt es Überlegungen zum Kulturbegriff, die davon ausgehen, dass ethnische Identität durch das Festhalten an kulturellen Traditionen gewährleistet ist, dass ethnische Minderheiten sich durch Zusammenhalt, stabile Gruppenidentität und kulturelle Einheitlichkeit auszeichnen und dass die zu schützende traditionale Kultur eindeutig bestimmbar ist.44 Doch die Vorstellung, Ethnizität sei nur authentisch, wenn sie aus einer geschlossenen Sozialität und einer homogenen Kultur resultiert, ist mittlerweile überholt. Dagegen setzt sich der Gedanke, dass Ethnizität sich nicht generell aus Nationalität, Herkunft oder äußerlichen Merkmalen ergibt, sondern prozessual unabgeschlossene Identitäten sowohl innerhalb von Gruppen als auch in den wechselseitigen Abgrenzungen und Definitionsversuchen zwischen Gruppen entstehen, immer mehr durch.45 Problematisch ist vor allem die Koppelung der eigenen Identität an die Kultur der Herkunft, wobei diese wiederum an die Ethnie gekoppelt ist. Ethnologische Begriffsbestimmungen verknüpften bis heute Kollektiv und Kultur im Begriff der ethnischen Gruppen und postulierten dabei das Zusammenfallen einer geschlossenen Population und einer von allen Gruppenmitgliedern getragenen Kultur. Die eigene Identität wird also aufgrund zahlreicher Migrationsbewegungen in Frage gestellt: Soll eine vergangene Kultur, die gar nicht mehr die eigene ist, gelebt bzw. inszeniert werden? Migranten, die ihre historisch gewachsene Identität nicht aufgeben wollen, müssen sich sowohl mit der Übernahme neuer Aspekte in die eigene Kultur und damit identitätsverändernder Integration, als auch mit der identitätsbewahrenden Frage nach der Abgrenzung von der Aufnahmegesellschaft 44 45 Vgl.: Welz (wie Anm. 42), S. 112. Vgl. ebd., S. 200. 35 und anderen Minoritäten auseinandersetzen. Ethnische Gruppen gründen sich demnach nicht ausschließlich auf überlieferten Traditionen, sondern auch auf ständig neu auszuhandelnden Positionen der Selbst- und Fremddefinition.46 Die eigene Kultur sollte fremde Einflüsse allerdings nicht unreflektiert assimilieren, da bei der Übernahme einzelner Aspekte einer fremden Kultur die Frage nach der eigenen und nach der fremden Identität gestellt werden muss. Wirkliches interkulturelles Lernen findet nicht allein durch die bloße Übernahme subjektiv angenehmer Teilaspekte der fremden Kultur statt, sondern setzt das gegenseitige Wissen und die gegenseitige Infragestellung der eigenen Werte und der eigenen Position voraus. Das heißt auch, dass Machtgefälle und deren Legitimität thematisiert werden müssen, was vor allem auf Seiten der Machthabenden nicht immer auf Zustimmung trifft, da sie ihre Privilegien und ihren Einfluss bewahren möchten. Diese Schwierigkeiten treten auch in der politischen Organisation von Inszenierungen kultureller Vielfalt auf. Kulturpolitische Institutionen wie Festivals, Straßenfeste oder Konzerte sollen die kulturelle Vielfalt unterschiedlicher Migrantengruppen erhalten und gleichzeitig die Angehörigen der Majorität dazu auffordern, deren kulturelle Differenz positiv wahrzunehmen. Unter einer Kommunikationssituation bei der Inszenierung kultureller Vielfalt, zum Beispiel zwischen dem Publikum und Musikern einer fremden Kultur, wird kulturelle Praxis als „Cultural Brokerage“ verstanden. Nicht die Angehörigen einer kulturellen Gruppe organisieren und arrangieren eine solche Veranstaltung, sondern die hinter den Kulissen tätigen „Cultural Brokers“. Ihnen kommt bei der Inszenierung kultureller Vielfalt eine Schlüsselrolle zu und sie sind entscheidend dafür mitverantwortlich, inwieweit die dargebotene Form die praktizierte Kultur der vorgestellten Migrantengruppe reflektiert.47 „Cultural Broker“ arbeiten stets im Hintergrund und für das Publikum unsichtbar. Doch da sie die Präsentation der fremden Kultur in hohem Maße mitprägen, kann durch ihre Arbeit ein verfälschter Eindruck der betroffenen Migrantengruppe entstehen. Um dies zu verhindern, ist der partizipative Initiierungsgedanke von 46 47 Vgl.: Welz (wie Anm. 42), S. 113f. Vgl. ebd., S. 26. 36 großer Bedeutung. Je mehr die Migranten an ihrer Darstellung nach außen hin selbst beteiligt werden, desto unverfälschter kann ihre Kultur von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden. Im Folgenden wird dargestellt, welche Mittel das nationale Advisory Board von IMES im ersten Projektjahr verwendet hat, um neue Methoden für die partizipative Darstellung und Integration von Migranten zu entwickeln. 3.2 Die Methoden der nationalen Advisory Boards von IMES Phase eins des Projektes IMES von Oktober 2002 bis Dezember 2003 war die Definition der Kriterien, die Bildung der nationalen Advisory Boards und die Bedarfsermittlung. Die Basis dieser Arbeit ist ein partizipativer Ansatz. Jeder ist ein Experte auf seinem Gebiet. Dies führt zu einer gegenseitigen ausgeprägten Akzeptanz der einzelnen Personen, was bei der Arbeit mit unterschiedlichen Kulturen sehr wichtig ist. Die Teilnehmer der Advisory Boards sind maßgeblich an der Gestaltung der Inhalte beteiligt, was zu einem individuellen Umgang mit den Themen in den jeweiligen Ländern führt. In allen drei Ländern wurde zunächst mit inhaltlichen Vorträgen mit moderierter Diskussion und Unterarbeitsgruppen gearbeitet. Des Weiteren wurde das Internet dazu benutzt, sich auch über die Grenzen hinaus auszutauschen. Von Oktober 2002 bis September 2003 wurde die Website www.imes.info in Layout und Technik von Tapas sowie allen nationalen Koordinatoren und der Gesamtkoordinatorin erstellt. Am 12. November 2002 startete das spanische Advisory Board mit einer Einführung in das Projekt IMES mit Erläuterungen, Ideen, Wünschen und den Inhalts- und Zeitplanungen. Im Gegensatz zur Planungsphase wurde aus inhaltlichen und organisatorischen Gründen nicht in allen Ländern mit dem gleichen Thema begonnen, sondern jeweils mit dem eigenen Themenschwerpunkt. Dies führte zu einem ausführlichen Austausch der Themen am Ende des ersten Jahres. Deutschland ist verantwortlich für den Schwerpunkt „Neue Medien“, Spanien für „soziokulturelle Kompetenzen“ und Italien für „Politik- 37 management“. Die Advisory Boards bestehen aus Experten, welche im multikulturellen Bereich tätig sind und zu ungefähr 50% selber Migranten sind. Außerdem wurden jeweils die zweiten Partner in den Ländern als Evaluationspartner mit einbezogen. Die Gesamtkoordination ist zuständig für den projektinternen Austausch, die externe Kommunikation und die Gesamtevaluation. Es kam zu einem regelmäßigen Austausch der nationalen Koordinatoren untereinander, sowohl auf eigenen Koordinatorensitzungen als auch durch gegenseitige Fachreferate bei den Advisory Boards in den Partnerländern. Die regelmäßigen Treffen der Koordinatoren haben die Rolle des Lenkungskreises übernommen, der alltägliche Austausch wird in Form von regelmäßigen Internetchats organisiert.48 Im Dezember 2002 fand das zweite Treffen des spanischen Advisory Boards statt. Es referierte Kompetenzen“. der Experte Danach Alvaro wurde Ramirez dieses Thema zum Thema inhaltlich „soziokulturelle vertieft und ein arbeitsfähiges Advisory Board stabilisiert. Das deutsche Advisory Board startete mit der Einführung in das Projekt. Bei der Besetzung aller nationalen Advisory Boards legte man großen Wert auf die ausgewogene Beteiligung beider Geschlechter. Alle drei Advisory Boards sind mit fast der gleichen Anzahl von Männern und Frauen besetzt, was zu einer Diskussion der Themen aus unterschiedlicher Genderperspektive führt. Personen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen sind nicht ausdrücklich als Schwerpunkt und Zielgruppe benannt. Es wurden jedoch alle Treffen in allen drei Ländern in barrierefreien Räumen abgehalten, was die Teilnahme für alle Interessierten ermöglichte. Das Projekt ist aktiv im Bereich Antirassismus angesiedelt. Ziel ist es, Migranten mit ihren Ideen und Vorstellungen ernst zu nehmen und ihre wirklichen Bedürfnisse zu evaluieren. In allen Advisory Boards sind Migranten beteiligt. Im zweiten Jahr stellen sie die Hauptzielgruppe bei der Durchführung der Seminare dar.49 48 Vgl.: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Zwischenbericht der Projekte zur länderübergreifenden Zusammenarbeit. Sokrates Programm. Finanzielle Vereinbarungen Nr.: 100912 – CP – 1 – 2002 – 1 – GRUNDTVIG – G1, Hannover 2003, S. 6. 49 Vgl. ebd. 38 Bei dem dritten Treffen des spanischen Advisory Boards im Januar 2003 wurde das Thema „soziokulturelle Kompetenz“ weiter vertieft, wobei der Experte Alvaro Ramirez erneut referierte. Außerdem traf sich die spanische Koordinatorin Anna Sebastian mit dem Sekretär für Immigrationsfragen der Generalitat Catalunya zur Präsentation des Projektes, um es öffentlich bekannt zu machen. Auch das zweite Treffen des deutschen Advisory Boards fand statt. Inhaltlich wurden die Internetmöglichkeiten für die Projektarbeit mit Migranten aufgezeigt und es wurde die Website von IMES präsentiert, die anschließend diskutiert wurde.50 Das Thema soziokulturelle Kompetenzen wurde bei dem vierten und fünften Treffen des spanischen Advisory Boards im Februar 2003 weiter vertieft und die Website von IMES vorgestellt. Beim dritten Treffen des deutschen Advisory Boards wurden die Videopädagogik und ihre Möglichkeit für die Projektarbeit mit Migranten thematisiert und die pädagogischen Aspekte des Aktivtrainings der Videotechnik erläutert.51 Bei dem vierten Treffen des deutschen Advisory Boards im März 2003 lautete das Thema „Integrations- und Antidiskriminierungspolitik in Einwanderungsgesellschaften – Zwischen Ideal und Wirklichkeit der Demokratie“. Der Referent Professor Doktor Axel Schulte stellte seine Untersuchung zu diesem Thema vor und ordnete das Projekt IMES in den Theorierahmen ein. Außerdem fand das sechste Treffen des spanischen Advisory Boards zum Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ statt.52 Im April 2003 startete das italienische Advisory Board mit der Einführung in das Projekt. Entgegen der Planungsphase wurde IMES in Italien verspätet begonnen. Gleich zu Beginn des Projektes kam es, wie schon erwähnt, durch den Partnerwechsel in Italien zu einer zeitlichen Verzögerung und damit auch zu einer Verzögerung der geplanten Arbeitsphasen. Es wurden glücklicherweise schnell zwei neue italienische Partner gefunden, welche die offenen Rollen adäquat besetzen konnten. Die ursprüngliche Zielsetzung wurde beibehalten. Konkrete Outputs wie Seminarmaterialien waren und sind erst für das zweite und dritte Jahr 50 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48), S. 7. Vgl. ebd. 52 Ebd., S. 7f. 51 39 geplant. Nun wurden die Keywords zu diesem Thema erarbeitet. Das zweite Treffen des italienischen Advisory Boards beschäftigte sich mit einer Weiterführung der Diskussion um Inhalt und Ausrichtung von IMES. Außerdem fanden das siebte und achte Treffen des spanischen Advisory Boards zum Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ statt. Der zuständige Redakteur des Offenen Kanal Hamburg, Andreas Troché, hielt beim fünften Treffen des deutschen Advisory Boards einen Vortrag zum Thema „Bürgermedien und Migration“. Vorbereitende Texte zu den Advisory Board-Treffen waren jeweils recherchiert worden und die Genehmigung zur Veröffentlichung auf der Website von IMES wurde erbeten oder erworben. Alle bislang genutzten relevanten Texte sind hier eingestellt und Links zu im Internet vorhandenen zusätzlichen Texten gelegt worden.53 Die Ausdifferenzierung der konkreten Zielgruppe des italienischen Advisory Boards wurde bei dessen drittem Treffen im Mai 2003 erarbeitet. An dem Treffen nahmen sudanesische Flüchtlinge teil, deren unterschiedliche Ansprüche und Ideen innerhalb der Migrantengruppen geklärt wurden. Bei dem vierten Treffen des italienischen Advisory Boards wurden Methoden zur Themenfindung eingeführt. Es wurde eine Themensammlung über Politikmanagement vorgestellt und es bildeten sich Netzwerke zwischen den beteiligten Organisationen. IMES veranstaltete auch eine öffentliche Lesung in Hannover mit Professor Karl-Heinz Meier-Braun, dem Ausländerbeauftragten und Leiter der Redaktion Interkultur des SWR und Autor des Buches „Einwanderungsland Deutschland“. Bei dieser Lesung wurde das Projekt IMES in Deutschland öffentlich bekannt gemacht. Professor Meier-Braun hielt zusätzlich beim sechsten Treffen des deutschen Advisory Boards einen Vortrag zum Thema „Migranten im Medienghetto?“. Es wurde eine Unterarbeitsgruppe zum Thema „Migranten und Medien“ eingerichtet. Diese beschäftigt sich mit einer Medienbeobachtung in Bezug auf Migranten und der Erstellung eines regelmäßigen Videomagazins, bei dem aus den anderen Projektländern Beiträge integriert werden. Auch das neunte Treffen des spanischen Advisory Boards fand zum Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ statt.54 53 54 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48), S. 8. Vgl. ebd., S. 8f. 40 Im Juni 2003 war das fünfte Treffen des italienischen Advisory Boards, bei dem mit der Methode „Netzwerk Analyse“ gearbeitet wurde. Das Thema Gesundheit wurde als Schwerpunkt des Themenbereichs „Politikmanagement“ gewählt. Die spanische Koordinatorin Anna Sebastian hielt beim siebten Treffen des deutschen Advisory Boards einen Vortrag zum Thema Empowerment, in dem sie auch aus ihren Erfahrungen der IMES-Arbeit in Spanien berichtete. Hier wurden der europäische Aspekt und die europäische Diskussion eingebracht. Eine der größten Schwierigkeiten des Projektes bestand bisher in den sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen innerhalb Europas, im unterschiedlichen Umgang mit Zeit und vor allem im Umgang mit den unterschiedlichen Migrationsrealitäten. In Deutschland leben zum Beispiel seit langer Zeit Migranten, welche auch ein aktives Interesse an Integration haben, da sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden. In Spanien und Italien gibt es viele Migranten, die sich nur auf der Durchreise befinden und oftmals zunächst noch ausschließlich mit der Deckung ihrer eigenen Grundbedürfnisse beschäftigt sind.55 Das erste Evaluierungsgespräch mit den zweiten Partnern fand im Juli 2003 in Italien statt. Es wurden verschiedene Evaluationsebenen und -methoden im Projekt etabliert. In jedem Land gibt es Evaluationen quantitativer und qualitativer Art mit den Mitgliedern der nationalen Advisory Boards. Auf der Ebene der Koordinatoren wurden Dreimonatsberichte eingeführt, sowie wöchentliche Chats mit vorgegebenen Fragen zum Austausch untereinander und zur Überprüfung der gemeinsam abgestimmten Vorhaben. Die jeweils zweiten Partner in den Ländern wurden gebeten anhand eines Jahresberichtes ebenfalls das Projekt von außen zu bewerten. Weiterhin fand die Präsentation des Projektes IMES und ein Erfahrungsaustausch am „Runden Tisch für Migration“ der Provinz Palermo statt. Hierbei wurden strategische Leitlinien für die Präsentation der Migrationsarbeit in der Region Sizilien erarbeitet. So wurde das Projekt in den städtischen und regionalen Zusammenhang und dessen öffentliches Auftreten eingebunden. In Spanien fand das zehnte Treffen des dortigen Advisory Boards zum Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ mit einer abschließenden Diskussion der Keywords statt. Im August 55 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48), S. 9f. 41 2003 hielt Katja Eichler vom Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit des Landes Bremen beim achten Treffen des deutschen Advisory Boards einen Vortrag über interkulturelles Management. Die interkulturellen Managementbausteine wurden in die Arbeit von IMES integriert. Sie enthalten wichtige Materialien zur Entwicklung von Seminaren.56 Der deutsche Koordinator Georg May hielt beim elften Treffen des spanischen Advisory Boards im September 2003 einen Vortrag zum Thema „Neue Medien“ und stellte die bisherigen Ergebnisse von IMES in Deutschland vor. Die beiden Mitglieder des deutschen Advisory Boards José Torrejon von der Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Jugend und Dimitra Atiselli von der LAG JAW (Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit) hielten bei dessen neuntem Treffen einen Vortrag über die Konzepte der Migrationsarbeit mit jungen Migranten. Es kam zu einem Austausch über Migrations- und Integrationskonzepte und neue Bildungsansätze. Außerdem arbeitete das italienische Advisory Board weiter am Thema Gesundheit. Es kam zu ersten Überlegungen für eine Studie über die augenblickliche Situation der Gesundheitseinrichtungen für Migranten und für eine erste öffentliche Veranstaltung.57 Im Oktober 2003 fand das erste Evaluierungsgespräch über die bisherigen Ergebnisse mit dem zweiten Partner in Spanien statt. Das Projekt IMES wurde außerdem beim Generaltreffen des Bereichs „Soziales zur Erarbeitung von sozialen Interventionen“, im Rahmen eines von der Regierung neu verhandelten Gesetzes, in Palermo präsentiert. So wurde IMES in den regionalen und nationalen Diskussionszusammenhang integriert. Am siebten Treffen des italienischen Advisory Boards nahmen die Koordinatoren aller drei Länder teil, um sich über die europäische Gesamtperspektive auszutauschen. Außerdem referierte ein Mitarbeiter des Ärzteteams eines Krankenhauses in Palermo und die Kriterien für eine Gesundheitsstudie wurden festgelegt. Im November 2003 referierte Doktor Francis Jarman von der Universität Hildesheim zum Thema „Interkulturelle Herausforderungen der Globalisierung“. Im Dezember 2003 wurde beim zwölften Treffen 56 57 Vgl. ebd., S. 10. Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48), S. 10. 42 des spanischen Advisory Boards das Thema „Politikmanagement“ eingebracht und es wurden drei neue Teilnehmerorganisationen aufgenommen.58 Damit endete die erste Phase des Projektes. Produkte und Ergebnisse dieser Phase sind die Website mit monatlich 3000 Nutzern, eine Videokamerakurzbeschreibung für Migranten in drei Sprachen, die in Spanien erarbeiteten Keywords zu „soziokultureller Kompetenz“ und die Basistexte zu den drei Hauptthemen von IMES. In der zweiten Phase des Projektes werden nun direkte Seminare mit den Zielgruppen durchgeführt, um die Inhalte und Ansätze zu überprüfen. Der Ablauf der Advisory Board-Sitzungen und auch der geplanten Seminare ist, den unterschiedlichen Kulturen entsprechend, sehr verschieden. Alle verfolgen aber einen Aufbau: inhaltlicher Input, Vermittlung von Wissen, Zeit zum Erfahrungsaustausch und ein besonderes Augenmerk auf den eigenen Erfahrungsanteil, da das erworbene Wissen im Alltag umgesetzt werden soll. In Deutschland werden zunächst Videoseminare bei Mitgliedsorganisationen wie dem Freundeskreis Tambacounda oder dem VNB angeboten, um Seminarbausteine zum Thema „Neue Medien“ zu erstellen. Doch entgegen der ursprünglichen Planung finden in den drei Ländern parallel zu allen drei Themenbereichen Seminare statt und nicht in jedem Land zu jeweils nur einem der drei Themen. In der dritten und letzten Phase soll aufsuchende Seminararbeit an den Plätzen, an denen sich Migranten treffen, geleistet werden. Den Migranten sollen in den jeweiligen Ländern Kompetenzen vermittelt werden, um die demokratischen Werkzeuge sinnvoll zu nutzen und sich so aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen, was ein positives Selbstwertgefühl fördern kann. 3.3 Soziale und politische Partizipation von Migranten Auf Seiten der Bürger herrscht seit einigen Jahren ein Schwinden des politischen Interesses, die so genannte Politikverdrossenheit, während auf Seiten des politischen Systems die Demokratie nicht ausreichend umgesetzt wird. So ist 58 Vgl. ebd., S. 11. 43 Politik immer mehr zu einer Sache der Berufspolitiker geworden und politische Angelegenheiten werden auf der Ebene des Rechts entschieden. Außerdem haben etwa sieben Prozent der Bevölkerung, nämlich die ausländischen Mitbürger, keine politischen Mitwirkungsrechte. Um demokratischen Ansprüchen zu genügen, müsste eine Vielfalt von Innovationen auf eine Erneuerung der politischen Kultur hinauslaufen. Möglichst vielen Bürgern müsste eine unmittelbare Mitwirkung in politischen Institutionen ermöglicht werden, was zum Beispiel durch die Einführung plebiszitärer Entscheidungen, die Beschränkung der Wiederwählbarkeit in bestimmten Positionen und die Absicherung des Wiedereinstiegs ins berufliche Leben, auch für Politiker, die nicht dem öffentlichen Dienst angehören, realisierbar wäre. Auch ein gestaffeltes Wahlrecht, das vor allem Migranten eine Mitsprache in den Angelegenheiten einräumt, die sie betreffen, sollte eingeführt werden. Noch weiter geht die Überlegung, das Wahlrecht von der Staatsangehörigkeit abzukoppeln.59 Doch solche Partizipationsgedanken beschränken sich keineswegs auf das politische System. Die Demokratie beruht im Wesentlichen auf der Idee der Gleichheit. Politische Gleichheit bleibt aber eine Illusion, wenn Bürger auf gesellschaftlicher Ebene nicht die gleichen Möglichkeiten haben. Chancengleichheit ist sogar im Grundgesetz verankert, wo gefordert wird, dass niemandem aus seinem Geschlecht, seiner Religionszugehörigkeit oder seiner ethnischen Zugehörigkeit Nachteile erwachsen sollen. Darüber hinaus sollte Chancengleichheit gegenüber faktischer Ungleichheit und Diskriminierung bewusst hergestellt werden. Doch bei ohnehin schon seltenen öffentlichen Diskussionen über Migranten geht es meist nur um die Frage von Rechten, obwohl ein breit angelegtes Programm gegen Rassismus, Diskriminierung und Desinteresse am Fremden durchaus nötig wäre. Statt weiterhin davon auszugehen, dass es bei der Integration von Migranten um deren Assimilierung an die deutsche Gesellschaft ginge, wäre eine Veränderung der Einstellung gegenüber den Migranten wünschenswert. Schon vom Kindergarten an müsste ein Verhalten, das der 59 Vgl.: Akashe-Böhme, Farideh: In geteilten Welten. Fremdheitserfahrungen zwischen Migration und Partizipation, Frankfurt am Main 2000, S. 167. 44 multikulturellen Gesellschaft gerecht wird, eingeübt werden. Andere Feste und Zeremonien müssten respektiert werden, es sollte selbstverständlich sein, dass man mit jemandem umgehen kann, der nicht die eigene Sprache spricht. Hier wären nonverbale Kompetenzen ebenso erfordert wie Erziehungspraktiken, die bewusst dem Rassismus entgegensteuern.60 Die vorhandene soziale und politische Partizipation von Migranten in Deutschland ist sehr vielseitig. Neben der Gründung rein ethnischer Vereinigungen existiert auch die Beteiligung in deutschen Vereinen. Dabei gibt es ebenso politisch ausgerichtete Partizipationsformen wie kulturelle, religiöse und sportliche Vereinigungen und Gruppierungen, die sich stark am Herkunftsland orientieren und die Lage der Zuwanderer zu ihrem Anliegen gemacht haben. Mitglieder von herkunftsorientierten Vereinigungen wollen sich in einem sozialen Umfeld bewegen, das ihre Merkmale, Eigenschaften, Fähigkeiten und Kenntnisse, die sie als Angehörige einer ethnischen Gruppe auszeichnen, positiv bewertet und so zu sozialer Anerkennung führt. Eine Vereinigung, die sich auf diese Art mit Identitätsund Identifikationsangeboten an die Migranten richtet, wird wenig Schwierigkeiten haben, Mitglieder zu gewinnen. Dagegen scheint das Ausländerwahlrecht von weniger essentiellem Interesse für ihre Mitglieder zu sein, zumal auch diejenigen davon profitieren können, die sich nicht an seiner Durchsetzung beteiligen. 61 Ein weiterer Aspekt, der bei der Frage der Partizipation beachtet werden muss, geht über die individuelle Ebene hinaus und beschäftigt sich mit den Organisationen der Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Eine 1999 vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführte Befragung von knapp 1000 Migrantenselbstorganisationen ergab eine große Bandbreite und Multifunktionalität der gesellschaftlichen Aktivitäten, die von konkretem politischen Engagement bis hin zur ausschließlichen Pflege von Kultur und Geselligkeit reicht. Bei den unter60 Vgl. ebd., S. 167f. Vgl.: Kasdanastassi, Evangelia: Politische und soziale Partizipation sowie Partizipationsressourcen im Integrationsprozess, Auswirkungen des Kommunalwahlrechts auf das politische Interesse und die Partizipationsbereitschaft. In: Assimenios, Stamatis/ Shajanian, Yvette (Hrsg.): Politische Beteiligung in der Migration: Die Herausforderung. Einbürgerung, Politische Rechte, Interessenvertretung. Eine Dokumentation des Projektes Förderung der sozialen und politischen Partizipation von MigrantInnen in Deutschland, Bonn 2001, S. 45f. 61 45 suchten Organisationen wurde entgegen den Erwartungen kaum eine Unterteilung in Herkunftslandorientierung und Aufnahmelandorientierung festgestellt, da die meisten versuchen, eine Verbindung zwischen beiden herzustellen. Während 67% beide Ziele verfolgen, gaben nur 5% der Zusammenschlüsse eine Orientierung auf das Herkunftsland und 28% eine Orientierung auf die deutsche Gesellschaft an.62 Migrantenorganisationen sind meistens ethnisch-homogen strukturiert. Bei der Befragung in Nordrhein-Westfalen hatten nur 11% eine herkunftsheterogene Mitgliedschaft, was jedoch nicht bedeutet, dass die anderen Vereine sich bewusst von der deutschen Gesellschaft abgrenzen wollen. Die Mehrheit der Migrantenorganisationen möchte generationsübergreifend die eigene kulturelle Identität wahren, wofür eine herkunftshomogene Struktur besser geeignet ist. Derartige Organisationen weisen jedoch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen einen zunehmend integrativen Charakter auf. Ethnische Eigenorganisationen bieten Migranten einen Einstieg in die Aufnahmegesellschaft. Dafür, dass sie ein Weg in eine herkunftsorientierte Ghettogesellschaft sein können, gibt es hingegen kaum Anhaltspunkte.63 Migranten verfügen zwar über Verbände und Lobby-Organisationen, doch diese werden nicht angehört, wenn über politische Fragen entschieden wird. Verhandlungen zur Zuwanderungspolitik finden weitgehend unter Ausschluss von Zuwanderungsorganisationen statt. So fand am 13. April 1999 im Innenausschuss des Deutschen Bundestags eine Anhörung von Sachverständigen zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes statt, bei der sich als einziger Repräsentant aus dem Kreis der Migrantenorganisationen Memet Tanriverdi von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland e.V. den Fragen der Abgeordneten des Deutschen Bundestags stellen konnte. Geladen waren des Weiteren Repräsentanten der katholischen und evangelischen Kirche, Bundesvereinigungen der kommunalen Spitzenverbände und Professoren rechtswissenschaftlicher Fakultäten. Vor allem im Vergleich zu den Gewohnheiten in anderen Vgl.: Santel, Bernhard: Außen vor? – Zur politischen Partizipation von Zuwanderern in Deutschland. In: Krüger-Potratz, Marianne/ Reich, Hans H./ Santel, Bernhard (Hrsg.): Integration und Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft, Osnabrück 2002, S. 20. 63 Vgl.: Santel (wie Anm. 62), S. 20f. 62 46 Politikfeldern erscheint diese Situation als eine besondere. Sachverständigenanhörungen zur Agrar- und Gesundheitspolitik wären unvorstellbar ohne die Sprecher des Bauernverbandes oder der ärztlichen Standesorganisationen. Zu Recht würde diesen sonst vorgeworfen, ohne die Betroffenen zu debattieren, nicht repräsentativ zusammengesetzt zu sein und fahrlässig mit dem vorhandenen Sachverstand der organisierten Interessen umzugehen.64 Die Ursachen für die Nichtberücksichtigungen von Migrantenorganisationen bei der Vorbereitung einwanderungspolitischer Entscheidungen liegen teilweise im institutionellen Gefüge der Bundesrepublik. Große etablierte Interessenorganisationen wie zum Beispiel Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Standesorganisationen sind eingebunden in politische Entscheidungsprozesse. Der Staat verhandelt nicht nur regelmäßig mit ihnen, sondern delegiert auch politische Entscheidungsprozesse an sie. Angesichts dieser fest gefügten Strukturen haben es neuere Interessen und die sie vertretenden Organisationen schwer, gleichberechtigt eingebunden zu werden. Das gilt für Migrantenverbände genauso wie für Umweltschutz-, Patienten- oder Verbraucherschutzorganisationen. Ein weiterer Grund für die Nichtberücksichtigung von Migrantenorganisationen ist, die komplizierte Frage nach den legitimen Vertretern der Zuwanderer. Unter ihnen hat sich noch keine anerkannte kollektive Interessenrepräsentanz gebildet, da sich eine Vielzahl von Vereinen, Verbänden und Dachverbänden um diesen Anspruch streitet. Das politische System verhandelt jedoch erst gleichberechtigt mit Organisationen, wenn es sicher ist, nicht mit Vertretern von Splittergruppen oder radikalen Organisationen zu tun zu haben.65 Ein auf Bundesebene tätiger, demokratischer Zusammenschluss von Migrantendachverbänden ist die Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV). Die Migrantendachverbände der BAGIV setzen sich aus den örtlichen Selbstorganisationen verschiedener ethnischer Migrantengemeinden zusammen und vertreten ihre sozialen, politischen und kulturellen Interessen in der Bundesrepublik Deutschland. Die kontinuierliche Arbeit der BAGIV seit siebzehn Jahren 64 65 Vgl. ebd., S. 22. Vgl.: Santel (wie Anm. 62), S. 23. 47 verdeutlicht das Interesse der Migrantenselbstorganisationen an einer multinationalen Vertretung und die politische Aktivität von Migranten. Sie wollen nicht mehr nur unmündige Zielgruppe von Betreuungsmaßnahmen sein, sondern sich aktiv für die Demokratisierung der Gesellschaft und gegen Diskriminierung einsetzen. Die BAGIV fordert das gleichberechtigte Zusammenleben der verschiedenen Minderheiten mit der deutschen Gesellschaft und die politische, soziale und kulturelle Partizipation der in Deutschland lebenden Migranten.66 Selbstorganisationen und ethnische Vereine spielen eine bedeutende Rolle bei der Artikulation migrantenspezifischer Interessen und Forderungen, da sie durch ihre unmittelbare Nähe zu den Migranten über kulturelle Hintergrundinformationen verfügen und ihre Bedürfnisse kennen. Des Weiteren üben sie nicht nur Kritik an den gesellschaftlichen Funktionen und ihren Defiziten, sondern entwerfen auch konstruktive Gegenkonzepte für Ziele und Formen der politischen Beteiligung von Zuwanderern. Ihre Möglichkeiten des Zugangs zu den Migranten und Jugendlichen ausländischer Herkunft nutzte die BAGIV für die Durchführung des Projektes „Förderung der sozialen und politischen Partizipation von MigrantInnen in Deutschland“. Das Projekt zielte darauf ab, die jugendlichen Migranten mit Hilfe von Multiplikatoren zu motivieren, sich an allen Partizipationsfeldern von der Teilnahme an Wahlen bis hin zu den Entscheidungsprozessen von Politik und Gesellschaft zu beteiligen. Außerdem sollten die Parteien und andere gesellschaftliche Institutionen für die Partizipation von Migranten sensibilisiert werden. 67 Die Motivation zur politischen Partizipation, die Förderung des politischen Meinungsbildungsprozesses und die politische Bildung der Migranten sind notwendige Voraussetzungen, um am politischen Leben einer demokratischen Gesellschaft teilzunehmen. Die Einbeziehung der Selbstorganisationen der Migranten bei der Entwicklung von integrationsspezifischen Maßnahmen ist für die Integrationspolitik von großer Bedeutung. Die Stärkung der Kooperation mit 66 Vgl.: Simsek, Circis Musa: Die Rolle der Selbstorganisationen bei der aktiven Integrationspolitik. In: Assimenios, Stamatis/ Shajanian, Yvette (Hrsg.): Politische Beteiligung in der Migration: Die Herausforderung. Einbürgerung, Politische Rechte, Interessenvertretung. Eine Dokumentation des Projektes Förderung der sozialen und politischen Partizipation von MigrantInnen in Deutschland, Bonn 2001, S. 10. 67 Vgl.: Simsek (wie Anm. 66), S. 11f. 48 Migrantenorganisationen ermöglicht den Zugang zu allen Migrantengruppen und trägt damit zum Abbau der Segregation bei. Vor allem die erworbenen Kenntnisse und langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Integrationsarbeit dieser Organisationen sind eine wichtige Hilfe auf dem Weg zu einer zielgruppen- und zukunftsorientierten Integrationspolitik.68 Um in dem Projekt auch von den Kenntnissen und Erfahrungen der Migrantenselbstorganisationen zu profitieren, sollte IMES noch mehr Kontakt zu diesen suchen. Es gibt im deutschen Advisory Board bereits drei Mitglieder von einer türkischen, einer italienischen und einer afrikanischen Selbstorganisation, eine größere Anzahl könnte jedoch zur besseren Verwirklichung des partizipativen Ansatzes bei IMES beitragen. Das Projekt der BAGIV ist ein gutes Beispiel, wie Migranten motiviert und durch Aufklärung über ihre Möglichkeiten und Rechte zu mehr Partizipation bewegt werden können. Dies sollte IMES auch bei der Entwicklung der Seminarbausteine anvisieren. Hier besteht aber vor allem die Gefahr, dass die Migranten unmündige Lernende bleiben. IMES sollte die Migranten dahin führen, mit ihnen Kompetenzen für eigene partizipative Aktivitäten und vielleicht sogar für die Gründung einer legitimen Migrantenorganisation, die auf bundesdeutscher politischer Ebene akzeptiert wird, zu erarbeiten. 4. Bedingungen der Integration von Migranten mit Bezug auf theoretische Integrationsmodelle Die Integration von Migranten wird besonders im Zuge der Globalisierung auch für das Verständnis gesamtgesellschaftlicher Probleme immer bedeutsamer. Unterschichtung, ethnische Pluralisierung und Segmentierung sind gesamtgesellschaftliche Folgen von Migration, die auch die politisch-praktische Planung und die konzipierte soziologische Theorie nicht mehr ignorieren können. Doch die 68 Vgl. ebd., S.12f. 49 soziologische Behandlung der Integration von Migranten wird, wie so oft im Bereiche der angewandten Sozialwissenschaften, politisch-normativ diskutiert.69 „Das Problem wird als Strategie zur Verfolgung partikularer (zumeist ökonomischer) Interessen beurteilt. Es wird zum Anlass genommen, allgemeine soziologische Doktrinen zu belegen. Und auch: die Eingliederung wird zum Explanandum einer theoretisch-empirischen Untersuchung gewählt.“ 70 Die Integration von Migranten wurde erst dann zu einem sozialwissenschaftlichen Thema, als sie ein soziales Problem darstellte und schnelle Lösungen benötigt wurden. Erst nach enormen Zuzugszahlen, der Einsicht, dass die meisten Migranten dauerhaft in Deutschland bleiben und damit verbundenen sozialen Problemen, erwachte die öffentliche, politische und sozialwissenschaftliche Diskussion.71 Allgemein kann Integration als Verbindung von Einzelpersonen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit in Anerkennung und Akzeptanz von kulturellen Verschiedenheiten bezeichnet werden. Es handelt sich um einen Prozess, der sich oft über mehrere Generationen vollzieht und eine Abnahme der Unterschiede in den Lebensumständen von Einheimischen und Zugewanderten zur Folge hat. Es werden vier Dimensionen der Integration unterschieden: - Die strukturelle Integration ist ein Prozess, in dem Zuwanderer einen Mitgliederstatus in der Aufnahmegesellschaft erwerben und Zugang zu gesellschaftlichen Positionen und einen Status auf der Basis gleichberechtigter Chancen erreichen. - Die kulturelle Integration oder Akkulturation schließt kognitiv-kulturelle Lernund Internalisierungsprozesse, die notwendig für die Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sind, bei der zugewanderten wie bei der einheimischen Bevölkerung ein. - Die soziale Integration ist die Teilnahme und Akzeptanz bei sozialen Aktivitäten und bei Vereinsmitgliedschaften der Aufnahmegesellschaft. 69Vgl.: Esser, Hartmut: Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 11. 70 Esser (wie Anm. 69). 71 Vgl. ebd. 50 - Die identifikative Integration ist die subjektive Seite der Integration in Prozessen neuer persönlicher Zugehörigkeitsdefinitionen.72 In der Migrationsforschung gibt es idealtypische Phasenmodelle der Integration von Zugewanderten, bei denen zunächst der Erwerb von sprachlichen Fähigkeiten und von Kenntnissen der sozialen Regeln des Zuwanderungslandes im Mittelpunkt stehen. Danach verändern sich zusätzlich die Werte, Normen und Einstellungen der Zugewanderten, was bis zur weitgehenden Übernahme der Kultur der Mehrheitsgesellschaft, bei wechselseitiger aber oft ungleicher Beeinflussung, gehen kann. Integration ist die Teilhabe von Einzelpersonen oder ethnischen Gruppen auf allen gesellschaftlichen Ebenen wie Kultur, Schule, Ausbildung, Zugang zu allen Berufen, Ämtern und Mandaten. Diese Ebene der Integration wird meistens erst nach der Verwurzelung mehrerer Generationen im Aufnahmeland erreicht.73 Die Integration von Migranten wird im Folgenden an dem Kausalmodell von Hartmut Esser und dem Sechs-Phasen-Modell von Ulrich Tolksdorf erörtert und in Bezug auf das Projekt IMES untersucht. Im Anschluss wird das in Frankreich praktizierte “Republikanische Integrationsmodell“ vorgestellt. 4.1 Die Integrationsproblematik der Migranten im Kausalmodell von Hartmut Esser In seinem Kausalmodell bezieht Hartmut Esser den Prozess bis zur Integration von Migranten auf drei Grundaspekte: den Prozess der Angleichung an einen Standard (Akkulturation), den Zustand der Ähnlichkeit zu einem Standard nach erfolgter Angleichung (Assimilation) und den Zustand des Gleichgewichts der Person und der diese betreffenden Relation (Integration). Der Begriff Akkulturation meint den Lernvorgang bei Personen, durch den sie Verhaltensweisen und Orientierungen übernehmen, die mit bestimmten kulturellen Standards von Teilen des Aufnahmesystems übereinstimmen. Es handelt sich nicht um eine bestimmte, unumkehrbare und ununterbrochene Richtung der Lernvorgänge, sondern um einen Spezialfall allgemeiner Prozesse des Lernens und der Übernahme von Neuerungen. 72 Vgl.: Beger, Kai-Uwe: Migration und Integration. Eine Einführung in das Wanderungsgeschehen und die Integration der Zugewanderten in Deutschland, Opladen 2000, S. 10f. 73 Vgl. ebd., S. 11. 51 Akkulturation ist weder ein automatisch einsetzender noch ein in der Richtung und in den Folgen festliegender Vorgang.74 Migranten haben eine Bindung an ihre Herkunftskultur und dementsprechend eine anders erlebte Sozialisation. Hinzu kommen Vorstellungen vom Aufnahmeland, die ihnen im Herkunftsland vermittelt wurden. Diese stellen sich nach kurzem Aufenthalt meist als ungültig heraus, was zur Folge haben kann, dass aus einer entstandenen Ablehnung der Aufnahmekultur eine Segregation resultiert. Um den Prozess der Akkulturation überhaupt beginnen zu können, müssen bei den Migranten die mitgebrachten Vorstellungen, Werte und Normen revidiert werden. Hier sollten die Integrationsseminare von IMES ansetzen. Die Bedeutung der Werte und Normen sowie Sprachkenntnisse müssen vermittelt werden, aber es darf nicht nur deren Übernahme im Vordergrund stehen. Zwar müssen Verständnis und Akzeptanz für die Aufnahmegesellschaft entstehen, dennoch darf die Bewahrung eigener kultureller Elemente dabei nicht vernachlässigt werden. Der partizipative Ansatz von IMES dient einerseits dazu, das Vertrauen der Migranten zu gewinnen, andererseits dazu, ihnen zu helfen, ihre eigenen kulturellen Elemente in die Aufnahmegesellschaft einzubringen. Der Zustand der Ähnlichkeit kann erst nach erfolgter Angleichung einsetzen. Die Akkulturation ist also Voraussetzung für die Assimilation. Es werden vier Assimilationstypen unterschieden: die kognitive, strukturelle, soziale und identifikative Assimilation. Sie beziehen sich auf absolute und relationale Eigenschaften (Fertigkeiten) wie Interaktionen. Wenn kognitive Assimilation, also bestimmte Fertigkeiten und Verhaltensmuster, und identifikative Assimilation, also die Übernahme kultureller Wertemuster, verfügbar sind, handelt es sich um eine personelle Assimilation. Die strukturelle Assimilation meint die Chancen der Migranten zur Erlangung einer bestimmten Stellung zum Beispiel im beruflichen Bereich oder in ihrer Wohnsituation. Die soziale Assimilation beschreibt Kontakte zu Einheimischen und die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben, wie die Mitgliedschaft in Vereinen oder der Besuch von Veranstaltungen. Die kognitive Assimilation ist die Voraussetzung für die soziale und die strukturelle Assimilation. Die identi74 Vgl.: Esser (wie Anm. 69), S. 20f. 52 fikative Assimilation kann hingegen erst nach dem Erreichen der anderen Assimilationen einsetzen.75 Integration ist ein Zustand des Gleichgewichts von personalen bzw. relationalen Systemen. Diese Balance umfasst die unterschiedlichen Dimensionen: individuelles Gleichgewicht, also die gleichgewichtige Verflechtung einer Person in relationale Bezüge und das Gleichgewicht eines Makrosystems als spannungsarmes, funktionales Verhältnis der Subeinheiten zueinander. In soziologischen Theorien wird die Assimilation von Migranten oft nicht von der Integration in das Aufnahmeland unterschieden.76 Von den vier Assimilationstypen bei Esser ist nur die identifikative Assimilation die völlige Angleichung des Wanderers an die Kultur des Aufnahmelandes bei gleichzeitigem Aufgeben der Merkmale der Herkunftskultur. Die strukturelle, kognitive und soziale Assimilation können auch im Kontext der Integration diskutiert werden. Die Ähnlichkeit mit dem Standard bei der Assimilation muss nicht die vollkommene Aufgabe der bisherigen Lebensgewohnheiten, Werte und Normen bedeuten. Der Zustand der Ähnlichkeit mit dem Standard schließt auch nicht aus, dass sich die Person gleichzeitig, wie bei der Integration, in einem Zustand des Gleichgewichts mit den betreffenden Relationen befinden kann. Die Assimilation und die Integration sind somit bei Esser, bis auf die identifikative Assimilation, die sich vom Integrationsbegriff deutlich absetzt, nicht scharf zu trennen. Bei dem Projekt IMES sollte die identifikative Assimilation nicht verfolgt werden, da das Ziel einer partizipativen Integration nicht die vollkommene Aufgabe der eigenen Kultur ist. Diesbezüglich ist Essers Modell auch in Frage gestellt worden, da die Identifikation mit dem Aufnahmeland nicht zwingend zur Erreichung individueller Ziele beiträgt. Vielmehr soll der Migrant als Bereicherung der Aufnahmegesellschaft gesehen werden, da er dazu beiträgt, kulturelle Vielfalt in einer multikulturellen Gesellschaft für alle zugänglich zu machen. Dagegen sollten aber verstärkt die anderen Assimilationsaspekte verfolgt werden. Sprachkenntnisse, Alltagskompetenz und die Möglichkeit, gleichberechtigt an Wirtschaft und 75 76 Vgl.: Esser (wie Anm. 69), S. 22f. Vgl. ebd., S. 23. 53 Gesellschaft partizipieren zu können, sind wichtige Voraussetzungen für die Integration von Migranten. In den beiden IMES Schwerpunkten „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ können die letzten Punkte in den Seminaren kompetent erarbeitet werden. Doch das Thema Sprachkenntnisse, das besonders in dem dritten Schwerpunktbereich des Projektes „Neue Medien“ wichtig ist, wurde im bisherigen Verlauf des Projektes komplett ausgeklammert. Um durch eigene Sendungen in den Medien nicht nur Mitgliedern der eigenen Kultur etwas vermitteln zu können, ist es wichtig auch die Sprache des Aufnahmelandes zu beherrschen. Abgesehen davon ist dies für die selbstständige Alltagsbewältigung im Aufnahmeland für Migranten ohnehin unerlässlich. Neben der Kenntnis der Werte und Normen ist der Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes die Basis für eine gelungene soziale und berufliche Integration. Ein solch wichtiges Thema sollte auch in einem partizipativen Integrationsprojekt nicht ignoriert werden. 4.1.1 Grundannahmen des Kausalmodells Hartmut Esser geht in seinem Modell der Eingliederung von Wanderern davon aus, dass ein Individuum aus einer Vielzahl von Handlungsalternativen regelmäßig assimilative Handlungsweisen auswählt, um bestimmte, hoch bewertete Ziele zu erreichen. Mit assimilativen Handlungsweisen ist die Übernahme von Verhaltensweisen und Orientierungen des Migranten gemeint, die bestimmten Standards der Aufnahmegesellschaft ähneln und die helfen, bestimmte Ziele zu erreichen. Assimilation stellt sich ein, wenn der Migrant annimmt, dass assimilative Handlungen Erfolg versprechend zur Erreichung von Zielen sind und gleichzeitig keine negativen Konsequenzen erwartet werden. Assimilation ist der Zustand der 54 Ähnlichkeit des Migranten in Handlungsweisen, Orientierungen und interaktiven Verflechtungen mit dem Aufnahmeland. Der Begriff wird auf zwei Dimensionen bezogen: absolute Eigenschaften (Fertigkeiten, Werte, Bräuche und Gewohnheiten) und relationale Eigenschaften (Interaktion, Status, Rollenausübung). Die relationalen Eigenschaften werden unterteilt in die soziale Dimension der Angleichung (interethnische Kontakte) und die strukturelle Dimension der Angleichung (Eindringen in die Statusstruktur der Aufnahmegesellschaft).77 Die Struktur der Aufnahmegesellschaft ist bei Hartmut Esser eine externe Variable. Die prinzipielle Offenheit dieses Systems ist die strukturelle Voraussetzung für die Integration von Migranten, die Analyseebene ist jedoch das handelnde und lernende Individuum, das mit Individuen oder Gruppen des Aufnahmesystems interagiert. Die externe Struktur der Aufnahmegesellschaft kann sich integrationsfördernd oder integrationshemmend auswirken. Essers Integrationsmodell bezieht also nicht nur die individuellen Ressourcen des Migranten, sondern auch sein Interaktionsfeld mit ein. In seinem Grundmodell der Assimilation von Wanderern unterscheidet Esser zwischen Eigenschaften der Person des Wanderers und Eigenschaften der Umwelt des Wanderers.78 Personenbezogene Eigenschaften sind: - Motivation: Anreizwert einer assimilativen Handlung in Bezug auf eine Zielsituation; - Kognition: Subjektive Erwartungen über die Verbindung zwischen verschiedenen Situationen und Handlungen assimilativer Art; - Attributierung: Reichweite der subjektiv kontrollierbaren Handlungsbereiche (nimmt gleichlaufend zur Assimilation zu); - Widerstand: Folgen und Kosten der Wahl von assimilativen Handlungen. Umgebungsbezogene Variablen sind: Vgl.: Seifert, Wolfgang: Geschlossene Grenzen – offene Gesellschaften? Migrations- und Integrationsprozesse in westlichen Industrienationen, Frankfurt am Main 2000, S. 52f. 78 Vgl. ebd., S. 53. 77 55 - Opportunität: Handlungsbedingungen, die Assimilation begünstigen; - Barrieren: Bedingungen, die der Assimilation entgegenstehen, wie rechtliche Beschränkungen, Vorurteile, soziale Distanz, Askriptionen und Diskriminierungen; - Alternativen: Verfügbare Handlungsalternativen nicht-assimilativer Art.79 Bezüglich der personenbezogenen Umgebung gilt: Je stärker die Motive für die Zielsituation des Migranten und seine Erwartungen, dass jenes Ziel über assimilative Handlungen erreicht werden kann, sind, und je geringer der Widerstand für assimilative Handlungen ist, desto eher führt der Migrant derartige Handlungen aus. Bezogen auf die Umgebung gilt: Je mehr assimilative Handlungsoptionen dem Migranten im Aufnahmeland offen stehen und je weniger Handlungsalternativen nicht-assimilativer Art verfügbar sind, desto eher führt der Migrant nicht-assimilative Handlungen aus.80 Esser betrachtet die Aneignung von Qualifikation, die Aufnahme von Interaktionen, Einstellungen und Orientierungen als Handlungen oder Folgen von Handlungen. Diese Handlungen sind verbunden mit der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen, wobei sich der Handelnde für die Alternative entscheidet, welche ihm angesichts seiner Interessen, Möglichkeiten, Beschränkungen und der zu erwartenden Konsequenzen als günstigste erscheint. Diese Wahl folgt nicht unbedingt rationalen Kriterien, findet jedoch vor dem Hintergrund knapper Ressourcen (Zeit, materielle Mittel, psychischer Aufwand, Handlungsmöglichkeiten allgemeiner Art) statt. Die Handlungsalternativen erfordern einen unterschiedlichen Ressourcenaufwand. Mit steigender Größe der einer Person zur Verfügung stehenden Ressourcen steigt auch die Zahl der wählbaren Handlungsalternativen.81 Essers Aussage, dass Wanderer bei starker Motivation, die zur Erreichung einer Zielsituation führt und bei geringem Widerstand wahrscheinlicher assimilative Handlungen ausführt als nicht-assimilative, wurde empirisch in Frage gestellt. Die 79 Vgl.: Esser (wie Anm. 69), S. 210ff. Vgl. ebd., S. 211. 81 Vgl.: Seifert (wie Anm. 77), S. 54. 80 56 Erreichung individueller Ziele muss nicht zwingend über Assimilationsvorgänge geschehen und die Identifikation mit dem Aufnahmeland nicht zwingend der Erreichung individueller Ziele dienen.82 Des Weiteren ist Essers Behandlung des Aufnahmesystems als externe Variable zu kritisieren, da er Integration als Interaktion zwischen Individuen und Institutionen ignoriert. Er betrachtet Integration als eine allein vom Migranten zu erbringende Leistung und nicht als Aufgabe des Aufnahmelandes.83 Diese Betrachtungsweise ist in der europäischen Einwanderungsgesellschaft nicht haltbar. Eine funktionierende Gesellschaft muss den Migranten Ressourcen bieten, durch die sie sich in die Aufnahmegesellschaft integrieren können. Speziell in dem IMES-Schwerpunktbereich „Politikmanagement“ soll mit Migranten in Seminaren Wissen erarbeitet werden, wie das politische System des Aufnahmelandes genutzt werden kann, um die Ressourcen für ihre Integration zu vergrößern. Allerdings müssen Wege gefunden werden, Migranten positiv zu motivieren, an dem Projekt teilzunehmen, um schließlich assimilative Handlungen ausführen zu können. 4.1.2 Bedingungen der Eingliederung Das Eintreten der Integration wird von unterschiedlichen Bedingungen beeinflusst. Laut Esser kann die Eingliederung von Migranten nur unter zwei logisch voneinander unabhängigen Variablengruppen eintreten: die Person des Wanderers und die Umwelt des Wanderers. Aus den personenbezogenen Variablen, der Motivation, der Kognition, der Attributierung und dem Widerstand erfolgt eine notwendige Bedingung zur Eingliederung. Der Migrant strebt also von der 82 83 Vgl. ebd. Ebd., S. 55. 57 Motivlage und den Kenntnissen her die Eingliederung an und verfügt dabei über entsprechende Fertigkeiten. Bezogen auf die Eigenschaften der Umwelt des Migranten ist die Eingliederung bedingt durch Opportunität und Barrieren im Aufnahmesystem, die sich aus Erwartungen, Nachfragen, Zuschreibungen und Ausschlüssen der Mitglieder des Aufnahmelandes ergeben. Die Eingliederung ist weiterhin bedingt durch die nähere Umgebung des Migranten, wie Personen der Aufnahmegesellschaft, Personen des Herkunftsgebietes, Mitmigranten oder die ethnische Gemeinde im Aufnahmesystem, die als Widerstand oder nichtassimilative Handlungsalternativen fungieren. Die Eingliederung erfolgt bei entsprechender Bereitschaft zur Aufnahme assimilativer Handlungen und sofern die Umgebung des Migranten eine Eingliederung materiell und sozial ermöglicht und keine ausschließlichen Handlungsbarrieren bestehen, zudem sollte der Migrant keine zu starken Bindungen an eine nicht-assimilative Bezugsumgebung haben oder es sollten keine nicht-assimilativen Handlungsalternativen existieren.84 Eingliederung von Migranten kann laut Esser also nur eintreten, wenn die Zugewanderten diese Eingliederung anstreben und in dem Aufnahmesystem genügend Opportunitäten offen stehen. Das Projekt IMES ist eine solche Opportunität für Migranten, doch es existieren gleichzeitig Barrieren im Aufnahmesystem und alternative Handlungsopportunitäten nicht-assimilativer Art. Neben Diskriminierung und Stigmatisierung von Migranten durch die Majorität gibt es in jeder Großstadt Europas eine starke Konzentration von Migranten in bestimmten Stadtteilen, durch die ethnische Netzwerke entstanden sind, in denen Migranten viel Spielraum für Separation haben. Es werden also besondere Methoden benötigt, um die segregierten Migranten für das Projekt zu akquirieren. Dass die Hälfte der Mitarbeiter der Advisory Boards bei IMES Migranten sind, kann helfen, die Seminare so zu entwickeln, dass sie auf Migranten zugeschnitten sind und somit eine große assimilative Handlungsalternative bieten können. Des Weiteren kann die hohe Zahl der Migranten bei IMES das Vertrauen anderer Migranten wecken. Doch vor allem müssen Methoden zur Akquirierung abgeschotteter Migranten entwickelt werden, da die besten Seminare nutzlos sind, 84 Vgl.: Esser (wie Anm. 69), S. 179. 58 wenn damit niemand erreicht wird. Auch hierbei können die Migranten im Advisory Board eine große Hilfe sein. 4.2 Das Sechs-Phasen-Modell der kulturellen Integration von Ulrich Tolksdorf Die Integration von Migranten ist ein langfristiger phasenspezifischer Prozess, in dem der Einwanderer verschiedene Stationen der Eingliederung durchläuft. Das Sechs-Phasen-Modell von Ulrich Tolksdorf beschäftigt sich zwar primär mit der Eingliederung von Vertriebenen, bezieht aber auch die Gruppen der Gegenwart wie Spätaussiedler, Asylanten, Gastarbeiter und andere Migranten mit ein. Die Phasen der Integration sind zeitlich nicht genau voneinander abzugrenzen. Laut Tolksdorf handelt es sich um ein idealtypisches Modell der Integrationsprozesse. Jede Phase ist hier als ein notwendiges Stadium in dem Prozess zu betrachten. 4.2.1 Phase des Kulturschocks Die erste Phase wird bei Tolksdorf als Kulturschock bezeichnet, welcher sich nach der Ankunft im Aufnahmeland als Fremdheit, Isoliertheit und Desorientierung äußert. Nicht nur bei den Migranten, sondern auch auf der Seite der Einheimischen setzt diese Phase ein. Es kommt kaum zu sozialen Kontakten und die Bedürfnisse werden auf ein existenzielles Mindestmaß reduziert. Die kulturellen Unterschiede verursachen bei den Migranten eine große Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Auch wenn Migranten in eine Aufnahmegesellschaft des gleichen Nationalverbandes kommen und dadurch Sprachbarrieren entfallen, sind die Fremdheitserfahrungen nicht geringer. Die kulturellen regionalen Unterschiede zwischen dem Aufnahmesystem und den Migranten in materieller Kultur, Mentalität, religiösen 59 Denk- und Verhaltensmustern, Wohnkultur, Arbeitsrhythmus, Kleidung, Ernährung und Alltagsleben werden anfangs immer in hohem Maß als fremd empfunden.85 In dieser ersten Phase fehlen bei Tolksdorf die bei der Ankunft im Aufnahmeland oft empfundene Freude und der Optimismus, die bei vielen Migranten vorhanden sind, bevor Fremdheitserfahrungen, Isoliertheit und Desorientierung auftreten. Zudem beschreibt Tolksdorf lediglich den Zustand der Migranten, ohne die Lieferung von Erklärungsansätzen dieser Vorgänge und ohne die Nennung der Voraussetzungen zur Integration. Schon in dieser Phase des Kulturschocks sollten Integrationsprojekte ansetzen, um den Migranten die Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft von Anfang an zu erleichtern. Dadurch, dass IMES auch Seminare in Wohnheimen veranstaltet, erreicht das Projekt Migranten in der Phase des Kulturschocks und kann so die gelungene Integration dieser Migranten in einem frühen Stadium unterstützen und fördern. 4.2.2 Phase des Kulturkontaktes Die zweite Integrationsphase bezeichnet Tolksdorf als Phase des Kulturkontaktes, in der es zu den ersten Kontakten mit den Einheimischen kommt. Die Art der kulturellen Kontakte ist abhängig vom Wohnort, also davon, ob sie in der Großstadt oder in ländlichen Gebieten stattfinden. Tolksdorf meint, dass es Stadtbewohnern leichter fällt, Migranten zu akzeptieren, da sie mehr Erfahrungen mit Fremden haben und dadurch toleranter mit ihnen umgehen können. 86 Doch man kann auch zum gegenteiligen Schluss kommen, da in der Großstadt Anonymität und Konkurrenzkampf herrschen und Bewohner von ländlichen Gegenden der bodenständigen Mentalität vieler Migranten näher sein könnten. In dieser Phase kommt es aber noch nicht zu einer breiten kulturellen Integration. 85 Vgl.: Tolksdorf, Ulrich: Phasen der kulturellen Integration bei Flüchtlingen und Aussiedlern. In: Bade, Klaus J.: Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler, Westfälischer Heimatbund, Münster 1990, S. 110. 86 Vgl. ebd., S. 114. 60 Tolksdorf spricht nicht von der Art und Anzahl der Kontakte, die einen großen Einfluss auf die darauf folgenden Kontakte haben. Negative Erfahrungen mit der Majorität behindern aber grundsätzlich die weitere Kontaktaufnahme, während positive Erlebnisse zu mehr Offenheit und weiteren Kontakten führen. Des Weiteren ignoriert Tolksdorf, dass die hohe Konzentration von Migranten in bestimmten Stadtteilen zu einer Ghettobildung führen kann. Diese ethnischen Netzwerke reduzieren die Kontakte mit der Aufnahmegesellschaft auf das Notwendigste. Ein guter Ansatz für mehr Kontakte zwischen Einheimischen und Migranten ist die Nutzung der „Neuen Medien“ bei IMES. Durch die Gestaltung von eigenen Fernsehbeiträgen können Migranten ihre eigene Kultur der Aufnahmegesellschaft näher bringen. Wichtig ist hierbei aber, dass Migranten nicht allein unter sich Beiträge ausschließlich für andere Migranten machen. Migranten und Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sollten gemeinsam Beiträge erstellen und sich so näher kommen. Für die Beiträge muss eine Sprachlösung gefunden werden, die es möglich macht, dass Migranten und Majorität keine Verständnisprobleme haben. So könnte zum Beispiel im Zweikanalton oder mit Untertiteln gearbeitet werden. In dieser Phase wird von Tolksdorf zusätzlich der Familienzusammenhalt betont, da im familiären Miteinander eine ausgeprägte Orientierung an der gewohnten Lebensweise fortgeführt wird, in welcher die eigenen kulturellen Werte betont werden. Orientierungs- und Perspektivlosigkeit in der Aufnahmegesellschaft tragen zu einer ausgeprägten Familienbindung der Migranten bei. Vor allem bei Problemen und Misserfolgen bietet die Familie in der ersten Zeit nach der Einreise einen Rückzugsort. Die Gefahr für die Integration ist hier, dass es zu einer Marginalisierung der Migranten kommen könnte. 4.2.3 Phase des Kulturkonfliktes 61 Die dritte Phase ist die des Kulturkonfliktes. Durch die Wahrnehmung der kulturellen Unterschiede und die fehlenden „soziokulturellen Kenntnisse“ werden die Konflikte offen ausgetragen. Es kommt häufig dazu, dass Ansässige mit Stigmatisierungen und Spott reagieren, während die Migranten versuchen, ihre eigene Kultur der etablierten Kultur entgegenzustellen. Dabei kommt es sogar zur Wiederbelebung alter Bräuche und Traditionen, welche in den Herkunftsländern nicht mehr gepflegt wurden. Auf diesem Wege soll die Besonderheit der eigenen Kultur nach außen unterstrichen werden. Der Kulturkonflikt besteht also aus der Auseinandersetzung mit der Kultur des Aufnahmesystems und der Rückbesinnung auf die eigene Kultur.87 Tolksdorf geht davon aus, dass diese Prozesse der Beibehaltung kultureller Eigenarten und der familiären Erziehung zu eigenen Kulturformen parallel zur Angleichung an die Kultur der Aufnahmegesellschaft ablaufen. Zu kritisieren ist hier aber, dass der Kulturkonflikt zeitlich nicht erst nach der Kontaktaufnahme mit der Aufnahmegesellschaft entsteht, sondern bei den Migranten bereits von Beginn an vorhanden ist und die Begegnungen mit Einheimischen den Konflikt noch vergrößern können. Schon die Feststellung, dass die Aufnahmegesellschaft nicht den im Herkunftsland vermittelten Vorstellungen entspricht, löst den Kulturschock aus. Im Zusammenhang mit der steigenden Migration in Europa sind auch die Vorurteile und Stigmatisierungen gegenüber Zuwanderern in den Gesellschaften gestiegen. Diesem Kulturkonflikt bei den Migranten und den Einheimischen wirken „soziokulturelle Kenntnisse“ entgegen. Die Vermittlung dieser Kenntnisse ist eines der drei Hauptthemen bei IMES. Diese sollten jedoch nicht nur Migranten vermittelt werden, auch die Mitglieder der Majorität benötigen „soziokulturelle Kenntnisse“, um Vorurteile abzubauen und mit Migranten ungezwungenen Kontakt pflegen zu können. Deshalb sollten die Seminare über „soziokulturelle Kenntnisse“ nicht nur auf Migranten ausgerichtet sein. Es muss ein Weg gefunden werden, um das Interesse der Aufnahmegesellschaft hierfür zu wecken, da viele Menschen die 87 Vgl.: Kunschner, Friedhelm: Zwischen zwei politischen Kulturen: Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland, Leipzig 2000, S. 82. 62 multikulturelle Gesellschaft noch ignorieren und von derartigen Weiterbildungen nicht erreicht werden. 4.2.4 Phase der Anpassung an die sozialen Verhältnisse bei gleichzeitiger Bewahrung der eigenen kulturellen Identität Trotz des Kulturkonfliktes sind die Migranten gezwungen, sich den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Aufnahmegesellschaft anzupassen. Diese Anpassungsforderungen der neuen Gesellschaft führen in der vierten Phase von Tolksdorfs Modell zur Bildung sekundärer Minderheiten. Während der sekundären Minderheitenbildung wird weiterhin die eigene kulturelle Identität bewahrt und es kommt zu einem überregionalen Zusammenschluss der Migranten einer bestimmten ethnischen Gruppe. Es handelt sich dabei um eine Wahrung der Erinnerungen und Traditionen aus der Heimat und um politische Interessenvertretungen. Hier kann es vor allem zu Konflikten zwischen älteren Migranten und Migranten der zweiten und dritten Generation kommen, da die älteren Migranten den in Deutschland geborenen Nachkommen den Verlust von eigenkulturellen Werten vorwerfen.88 Die Vereinigungen von Migranten spielen in den Aufnahmegesellschaften sowie der Politik der Bundesrepublik keine bedeutende Rolle. Die Vermittlung von Kenntnissen im Bereich „Politikmanagement“ bei IMES soll den Migranten helfen, sich selbst mit den zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln eine größere politische Lobby zu verschaffen, um eine gleichberechtigte Stellung im Aufnahmeland zu erreichen. 4.2.5 Phase der Akkulturation 88 Vgl.: Tolksdorf (wie Anm. 85), S. 120. 63 Die fünfte Phase in Tolksdorfs Integrationsmodell ist die Phase der Akkulturation. Darunter versteht er die Verschmelzung der Elemente der Eigenkultur mit der Fremdkultur, so dass der Umwelt angepasste Verhaltensweisen entstehen. In dieser Phase bezieht sich Tolksdorf nur auf den Akkulturationsprozess der Vertriebenen bis in die siebziger Jahre. Es gibt also trotz Anspruchs eines idealtypischen Modells der Integrationsprozesse keine Anhaltspunkte für die Akkulturation der heutigen Migranten. Die Akkulturation ist ein über einen längeren Zeitraum stattfindender Prozess. Er beginnt für Migranten mit dem Erlernen der deutschen Sprache und vollzieht sich dann stufenweise mit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dieser Prozess wird von den Kontakten zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft und Anpassung der eigenen Verhaltensweise an das Aufnahmesystem beeinflusst. Akkulturation ist also keine eigenständige Phase, sondern ein Prozess, der auch während der ersten vier Phasen des Integrationsmodells stattfindet. Auch hier helfen „soziokulturelle Kenntnisse“ den Migranten genauso wie den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. 4.2.6 Phase der punktuellen Bewahrung – Volkskultur in der postmodernen Gesellschaft Die sechste Phase bezeichnet Tolksdorf als „Punktuelle Bewahrung – Volkskultur in der postmodernen Gesellschaft“. In der postmodernen Gesellschaft dominiert eine kulturelle Vielfalt, die durch den anhaltenden Zuzug von Migrantengruppen die Kulturlandschaft noch vielfältiger und multikultureller macht, was zur Unübersichtlichkeit in der Kulturvielfalt führt. Gleichzeitig ist die Suche nach den eigenen kulturellen und historischen Wurzeln zur Mode geworden, was die Wahrung der eigenen Identität ohne die emotionale Verbundenheit mit der restlichen Gesellschaft ermöglicht. Tolksdorf geht davon aus, dass Migranten auf eine Basis treffen, die den Konflikt auf Seiten der Einheimischen nicht mehr möglich macht.89 89 Vgl.: Tolksdorf (wie Anm. 85), S. 122. 64 Die fremdenfeindlichen Ereignisse der neunziger Jahre zeigen jedoch, dass die kulturelle Unübersichtlichkeit im Gegensatz zu Tolksdorfs Behauptungen eher zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit der Aufnahmegesellschaft als zu selbstverständlicher Akzeptanz fremder Kulturen führt. In seinem Phasenmodell erklärt Tolksdorf die Bedingungen für die Eingliederung von Zuwanderergruppen nur begrenzt und seine Behauptungen entsprechen zum Teil nicht den heutigen Integrationsprozessen. Ursache dafür könnte eine Veränderung der Integrationsbedingungen in der Aufnahmegesellschaft und bei den Migranten seit der letzten Veröffentlichung seiner Theorie sein. Vor allem die beiden Themenbereiche „Neue Medien“ und „soziokulturelle Kompetenzen“ des Projektes IMES können dazu beitragen, die Toleranz in der Aufnahmegesellschaft gegenüber Migranten aus anderen Kulturen zu verbessern. Wenn Migranten in Fernsehbeiträgen die Einheimischen über ihre Kultur informieren, führt das zu mehr Verständnis und so zu Toleranz. Die „soziokulturellen Kompetenzen“ werden auf beiden Seiten benötigt, um die Verständigung zwischen Aufnahmegesellschaft und Migranten zu verbessern. Sie würden dazu beitragen, Missverständnisse zu vermeiden und offener gegenüber dem jeweils Anderen zu werden. 4.3 Das Republikanische Integrationsmodell Das in Frankreich praktizierte Integrationsmodell wird als „Republikanische Integration“ bezeichnet, dessen wichtigstes Merkmal die grundlegende Unterteilung des Integrationsprozesses in eine öffentliche und eine private Sphäre ist. Bezogen auf die öffentliche Sphäre wird von den Migranten eine eindeutige Anpassungsleistung an die grundlegenden, politisch-rechtlichen Normen des Aufnahmelandes erwartet, womit vor allem der Respekt vor der öffentlichen Grundordnung, die Beherrschung der Sprache sowie eine kulturelle Angleichung, die für das gleichberechtigte Zusammenleben von Einheimischen und Migranten notwendig ist, gemeint ist. Genauso eindeutig wird den Migranten in ihrer 65 Privatsphäre die Bewahrung ihrer ethnisch-kulturellen Partikularitäten zugestanden, wenn diese nicht im Konflikt mit staatsbürgerlichen Normen stehen. Die Angehörigen der Aufnahmegesellschaft schulden den Migranten in diesem Modell Toleranz und Respekt für ihre privat eventuell unterschiedliche Lebensweise.90 Moderne Nationalstaaten sind jedoch auch ohne erhebliche Zuwanderung keine kulturell homogenen Gebilde mehr, sondern durch regionale, religiöse und schichtspezifische Unterschiede in sich selbst kulturell heterogen. Innerhalb von Nationalstaaten gibt es also verschiedene soziokulturelle Milieus und unterschiedliche Zivilisationsstile. Auch in der Europäischen Union gibt es keine Nation, die nur aus einem Volk, einer Kultur oder Ethnizität besteht und nicht kulturell hybrid ist. Um zu betonen, dass kulturelle Einheitlichkeit dem empirischen Gehalt moderner Gesellschaften nicht entspricht, sondern dass heutige Gesellschaften durch die Vielfalt möglicher Identitäten gekennzeichnet sind, wird in den Sozialwissenschaften statt von Kultur häufig von Transkultur gesprochen. Dieser Sachverhalt sollte nicht nur in der Debatte um die Integration von Migranten beachtet werden, denn die Forderung nach Achtung von Unterschieden im privaten Leben ist die grundlegende Basis für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und regionaler Herkunft.91 Traditionell wird die Integration in die französische Gesellschaft als individueller Prozess betrachtet. Die Nation besteht demnach nicht aus verschiedenen Gruppen sondern aus Individuen, was bedeutet, dass Gleichheit als die Gleichheit von Individuen verstanden wird. Diese haben der idealtypischen Vorstellung nach jeweils für sich die Möglichkeit, sich als Staatsbürger in die Gesellschaft einzubringen. Eine Gleichberechtigung von Gruppen ist nicht vorgesehen, denn zwischen Staat und Individuum sollen sich keine intermediären Instanzen ansiedeln, welche die Interessen von Gruppen vertreten. Migrantengruppen, welche partikulare Interessen formulieren und vertreten, werden als diesen Prinzipien der „französischen Universalität“ entgegenstehend begriffen. Ethnische 90 91 Vgl.: Beger (wie Anm. 72), S. 91f. Vgl. ebd., S. 92f. 66 oder religiöse Merkmale verbleiben im privaten Raum und dürfen keinesfalls Grundlage für politisches Verhalten sein.92 Kulturelle oder andere kollektive Gruppenmerkmale sind für den Staat nicht existent, da sie weder Anlass zur Diskriminierung noch Grund für eine besondere Förderung sein sollen. Integration ist nach diesem Verständnis ein Prozess, der im Übergang von fundamentaler Andersartigkeit zu absoluter Identität besteht. Eine wichtige Assimilationsinstanz in Frankreich ist das öffentliche Schulsystem, das die Kinder der regionalen Minderheiten und Einwanderer erfolgreich in die französische Gesellschaft integriert. Die Schule wird als Ort wahrgenommen, der die Vermittlung der französischen Sprache und Werte leistet und damit den Grundstein für die erfolgreiche Integration legt. Hier ist das wichtigste Prinzip die säkulare Erziehung, welche Religionsgemeinschaften verbietet, irgendeinen Einfluss auf den Unterricht der öffentlichen Schulen zu nehmen.93 Im Rahmen einer „Republikanischen Integration“ bei der Migranten in ihrem Privatleben ausdrücklich eine kulturelle Eigenständigkeit zugestanden wird und keine völlige bis ins Private reichende Assimilierung verlangt wird, können aber auch Konflikte entstehen. Diese treten vor allem bei der genauen Definition von „privat“ und „öffentlich“ auf. Diskussionen über das Kopftuch, die es auch in Deutschland gibt, können sich schnell zum Gegenstand erbitterter politischer Auseinandersetzungen entwickeln, welche Migranten und Majorität gleichermaßen in Mitleidenschaft ziehen. In solchen Fällen kommt es auf die beiderseitige Kompromissbereitschaft an, die das Ausarbeiten eines Konsenses, der Zugeständnisse an beide Seiten macht, ermöglicht. Dieses Modell funktioniert also nur, wenn die Migranten nicht von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt werden und sie andererseits bereit sind, bestimmte Anpassungsleistungen an einen politisch formulierten Grundkonsens zu erbringen. Hier ist es die Aufgabe der Politik, Tendenzen gegen den gemeinsamen Grundkonsens zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft zu verhindern. Hauptsächlich muss gegen rassistisches Verhalten von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und segregative, fundamenta92 Vgl.: Wehrhöfer, Birgit: Der französische Migrationsdiskurs als Beitrag zur ethnischen Grenzziehung Europas, Braunschweig 1997, S. 10. 93 Vgl.: Wehrhöfer (wie Anm. 92), S. 11. 67 listische und undemokratische Handlungsweisen der Migranten vorgegangen werden.94 Das Zugeständnis an Migranten, ihre eigene Kultur im Privatleben zu praktizieren, als Gegenleistung für die bedingungslose Anerkennung des Aufnahmestaates ist ein vorbildliches Konzept. Die gesellschaftlich festgelegte Toleranz gegenüber den Migrantenkulturen schafft Vertrauen bei den Einwanderern und das Bekenntnis zum Aufnahmeland seitens der Migranten sorgt für deren Akzeptanz bei den Einheimischen. Ließe sich dies problemlos realisieren, wären politische Migrantenvereinigungen, die als Lobby für die Durchsetzung von mehr Rechten für Zuwanderer dienen, tatsächlich überflüssig. Doch die Trennung von privatem und öffentlichem Leben ist gerade in kulturellen Fragen nicht einfach zu ziehen. Von einer solchen staatlichen Integrationslösung sind die meisten europäischen Länder und nicht zuletzt Deutschland noch weit entfernt. Gerade deshalb ist die Entwicklung neuer Integrationsmethoden, wie sie bei IMES in den Bereichen „Neue Medien“, „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ angestrebt werden, auch wichtig in Bezug auf Veränderungen der staatlichen Inte-grationsfragen. 5. Nutzung der „Neuen Medien“ für einen partizipativen Integrationsprozess von Migranten Im deutschsprachigen Medienbereich wird das Thema Migranten recht konjunkturell behandelt, wobei es meistens negativ besetzt oder auf Betroffenheit ausgelegt ist. Zudem wird über relevante Fragen der Migration und Integration noch verkürzt und somit oft entstellend berichtet. Die derzeitige Debatte um die Zukunft der Zuwanderung hat aber auch in den Medien zur Versachlichung beigetragen. Zum anderen gibt es, vor allem beim Hörfunk, Sender, welche die Informationen über und für Migranten in Fremdsprachen ausstrahlen. Doch während es im Fernsehen kaum ein Angebot für Migranten gibt, sind die Angebote im Radio gut gemeinte und gut gemachte, doch die Zielgruppe nicht erreichende 94 Vgl.: Beger (wie Anm. 72), S. 95f. 68 Programme. Deshalb sind interkulturelle Inhalte schlecht für die Quote, was dazu führt, dass Fremdheit und kulturelle Vielfalt als Bedrohung und nicht als Bereicherung gesehen werden. IMES möchte die Integration von Migranten durch die Nutzung der „Neuen Medien“ verbessern. Dies soll partizipativ geschehen, denn Migranten wissen selbst am besten, welche Themen für sie interessant und wichtig sind. Dadurch wird zum einen die Zielgruppe erreicht und zum anderen können Migranten sich in den Medien selbst darstellen und das so, wie sie wirklich sind. Natürlich soll auch der übrigen deutschen Bevölkerung ein differenzierteres Bild der Migranten, als in den Medien üblich, gezeigt werden. Dies soll durch die Herstellung von Beiträgen für den Offenen Kanal, durch die Nutzung des Bürgerradios und des Internets geschehen. Um das Bild der Migranten in den Medien zu verändern, muss aber zunächst einmal deutlich werden, wie dies in der Medienlandschaft derzeit behaftet ist. 5.1 Das Bild der Migranten in den „Neuen Medien“ Da die Tatsache kultureller Vielfalt in unserer Gesellschaft unbestreitbar ist, bleibt die entscheidende Frage, wie in den Medien damit umgegangen wird. Wie werden Selbst- und Fremdbilder in Rundfunk und Fernsehen suggeriert? Welches Bild zeichnen die Medien von der gesamten Gesellschaft? Im deutschen Rundfunk wird die Gesellschaft als ethnisch-kulturell differenziert und desintegriert dargestellt. Medien sind auf Sprache, die ein hohes Maß an ethnischer Abgrenzung hervorrufen kann, angewiesen, da sie mit ihr agieren. Doch auf die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wird in den Medien kaum eingegangen. Sendungen sind mit steigender Tendenz einsprachig. Sogar Interviews in einer anderen Sprache werden synchronisiert und Produktionen in Fremdsprachen sind die Ausnahme, womit der Rundfunk der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht wird. Zwar gibt es den Mehrkanalton, der aber häufig nur für englischsprachige Filme im Original genutzt wird. Ausnahme ist Premiere, wo seit 69 Sommer 2000 im Mehrkanalton neunzig Prozent der Fußballspiele auch in den jeweiligen Landessprachen übertragen werden. Da es sich um Pay-TV handelt, lässt sich vermuten, dass sich dies wirtschaftlich rentiert.95 Die Internationalisierung des Medienangebots entspricht nicht der kulturellen Gesellschaftssituation, da die Entwicklungen neuer Alltagskulturen auf der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem ausgeblendet werden. Ausdruck dieses Kulturmixes ist zum Beispiel der Sprachmix unter zweisprachigen Jugendlichen. Unter ihnen entwickeln sich eigene Stile, Wortschätze und grammatische Regeln, die im Rap öffentlich werden. Jugendliche Migranten haben ein Selbstverständnis als Grenzgänger entwickelt und wollen nicht auf eine Kultur, auf ihr Herkunftsland oder in diesem auf Deutschland festgelegt werden. Diese Wirklichkeit kommt in den Rundfunkmedien aber nicht vor. Obwohl hier viele ausländische Sender empfangen werden, gibt es noch keine große gegenseitige Wahrnehmung. Die Printmedien scheinen da schon fortgeschrittener zu sein. Der Tagesspiegel (Berlin) bringt jeden Montag eine Presseschau der türkischen Tageszeitungen in deutscher Sprache, die taz erscheint einmal in der Woche in türkischer Sprache und das Lifestyle Magazin ETAP macht deutlich, dass junge Leute mit türkischem Hintergrund in deutscher Sprache über ihr Leben in Deutschland lesen wollen.96 Die Sendeanstalten werden ihrem Anspruch auf Repräsentanz der kulturellen Vielfalt in den Medien nicht gerecht, denn die Migranten kommen hier weit weniger vor, als ihrer Anzahl in der Bevölkerung entspricht. Nach der Reform der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) Ausländerprogramme 1999 gibt es einstündige Abendsendungen in ausländischen Sprachen und ergänzende Regionalprogramme. Innerhalb des deutschen Sektors kommen Migranten sowohl bei den öffentlichrechtlichen als auch den Privatsendern so gut wie gar nicht vor. Hauptsächlich gibt es diese Unterrepräsentanz im „Normalen“. Wenn auf der Straße Leute zu banalen Themen, politischen Ereignissen und ähnlichem befragt werden, ist unter den 93 Vgl.: Neumann, Ursula: Kulturelle Selbst- und Fremdbilder in den elektronischen Medien. In: Ausländerbeauftragte der Freien Hansestadt Hamburg und der Hamburgischen Anstalt für neue Medien (HAM) (Hrsg.): Medien, Migration, Integration. Elektronische Massenmedien und die Grenzen kultureller Identität, Berlin 2001, S. 28. 94 Vgl. ebd., S. 29. 70 Befragten fast nie eine Türkin mit Kopftuch oder ein Muslim mit Turban. Die Probleme der Migranten werden außerdem nicht als Probleme der potentiellen Zuschauer gewertet. So entsteht der Teufelskreis, dass Migranten nicht Fern sehen, weil sie thematisch nicht vorkommen und daraus resultierend nicht zum Zielpublikum zählen. Noch dazu berichten und diskutieren fast ausschließlich Deutsche über Migranten. Wer weiß denn schon, wie zum Beispiel Türken über das neue Staatsangehörigkeitsrecht denken?97 Es bestehen weiterhin gefährliche Bilder von Ausländern, die jeder Journalist eigentlich als Stereotype ablehnen müsste. Vor allem das des kriminellen Ausländers wird durch die Wiedergabe entsprechender Polizeimeldungen forciert. Dabei legt der Pressekodex des Deutschen Presserats in seiner Richtlinie 12.1 fest, dass religiöse, ethnische oder sonstige Minderheitenzugehörigkeiten des Täters nur erwähnt werden sollen, wenn ein begründeter Sachbezug für das Verständnis des Ereignisses besteht.98 Auch das Stereotyp der türkischen Frau wird den Vorurteilen entsprechend bedient. Hierbei ziehen vor allem die Gegensätze einer Kopftuch tragenden Mutter neben ihrer westlich gekleideten Tochter oder einer Teenagerin mit Kopftuch und Plateausohlen die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich. Auch das Feindbild des dämonischen Islam wird in den Medien weiterhin stilisiert, obwohl in Europa zur Zeit fünfzehn Millionen Muslime leben. Hier wäre dringend eine differenzierte Berichterstattung nicht nur über sondern mit den Muslimen nötig. Bei der Berichterstattung über Migranten überwiegen die Fremdbilder gegenüber den Selbstbildern erheblich, während die Perspektive des Migranten auf den Deutschen so gut wie nicht vorhanden ist. Selbst in Artikeln, in denen es um Ausländer geht, reden Deutsche über sie. Vor allem über persönliche Schicksale, Hintergründe von Einreise und Einwanderung der Migranten gibt es kaum Medieninteresse.99 Die Asyldebatte Anfang der neunziger Jahre in den Medien und die Art und Weise der Darstellung von Migrationsprozessen und -problemen hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in den Köpfen der Gesellschaft das Bild eines von Ausländern 97 Vgl.: Neumann (wie Anm. 95), S. 30. In: Neumann (wie Anm.95), S. 30. 99 Vgl. ebd., S. 31f. 98 71 bedrohten Deutschlands entstehen konnte. Von den Printmedien wurde eine Bedrohungssituation geradezu konstruiert. Beim Bearbeiten von als problematisch erkannten Entwicklungen sollte ein Journalist vorhandene Unsicherheiten und Ängste zwar ernst nehmen, aber nicht verstärken oder sogar instrumentalisieren. Genau dies ist aber passiert, da sie die Angst vor Fremden und Unbekanntem – personifiziert in Migranten – in geradezu verantwortungsloser Weise bestärkt und in eine feindliche Haltung gelenkt haben.100 Tatsache ist, dass 1991 nach Deutschland 260 000 Flüchtlinge kamen, während nach Pakistan 3,6 Millionen kamen. Darüber hinaus verließen 545 000 Ausländer Deutschland. In einem Monat kommen 32 000 Asylbewerber nach Deutschland, während ein Entwicklungsland wie Malawi 89 000 im gleichen Zeitraum verkraften muss. Politiker instrumentalisieren dieses Thema trotz gegenteiliger Zahlen, um im Wahlkampf zu punkten, doch Zeitungen und Rundfunk sollten sich nicht die jeweilige Sicht der Parteien und ihrer Vertreter zu eigen machen, sondern die unterschiedlichen Sichtweisen kritisch reflektieren und mit differenzierter Wahrnehmung durchbrechen. Nicht legitim ist, wenn sie stattdessen eine Realität darstellen, in welcher sie die von den einzelnen Politikern gezeichneten Bilder noch verstärken. Wie differenziert Journalisten das Thema Migration behandeln, lässt sich daran erkennen, welche Rolle die Flüchtlinge in ihren Berichten spielen – Opfer, Täter, hilfsbedürftig, bedroht oder bedrohend? Sind es Alltagsdarstellungen oder dramatische, sensationelle Ausnahmesituationen? Werden sie als Träger einer fremden, bereichernden Kultur oder als Konsumenten des Wohlstandes dargestellt?101 Das Bild der Asylantenströme wurde in den Printmedien Anfang der neunziger Jahre stark ausgebaut. Während man von der Bild-Zeitung Worte wie „Flüchtlingsfront“ erwartet und sich die Süddeutsche mit der „Angst auf dem Boot“ noch vorsichtig ausdrückte, war es für den Spiegel selbstverständlich, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt und zu viele Asylbewerber hier Zuflucht suchen. Die 100 Vgl.: Rosenthal, Claudius: Zur medialen Konstruktion von Bedrohung. Die Rolle der Medien im Migrationsdiskurs. In: Holtz-Bacha, Christina/ Nieland, Jörg-Uwe/ Schatz, Heribert (Hrsg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk, Wiesbaden 2000, S. 196. 101 Vgl. ebd., S. 198f. 72 Bild-Schlagzeile „Das Boot ist voll!“ wurde eine neue, ungemein populäre Metapher im Einwanderungsdiskurs.102 „Die dieses Bild vom vollen Boot wohl am nachhaltigsten prägende Visualisierung fand sich erneut auf einer Titelseite des Spiegel, und zwar ebenfalls in der Ausgabe vom 9. September 1991 – keine zehn Tage vor den berüchtigten Ausschreitungen in Hoyerswerda am 17. September 1991.“103 In den Medien wurde schnell erkannt, dass nicht nur das Boot sondern auch die Wohnungen und der Arbeitsmarkt voll sind, wohingegen die öffentlichen und privaten Kassen leer sind. Nichts lag einigen Zeitungen da näher als die Überfüllung auf der einen und die Leere auf der anderen Seite in Zusammenhang zu bringen und den Ausländern mit ihren Bemühungen um Arbeit und den Flüchtlingsströmen die Schuld zu geben. So wurden Vorurteile aufgebaut, welche die Wahrnehmungsweise und damit politische Meinung so beeinflussten, dass Ängste und Unsicherheiten bestärkt und Auseinandersetzungen emotionalisiert statt rationalisiert wurden. Zwar gab es auch nüchterne und sachliche Darstellungen in der Presse und die mediale Konstruktion der Bedrohung ist nur ein Teil des Presse-Diskurses, aber ein wichtiger Teil, der einem bei der Migrantendiskussion immer wieder begegnet.104 Nach rassistischen Anschlägen in Deutschland hat diese Art der Berichterstattung den Medien Kritik und Schuldzuweisungen eingebracht. In den Printmedien wird seitdem eher versucht, rassistische Effekte zu vermeiden. Doch das ist noch weit entfernt von einer ausgewogenen Berichterstattung über Migranten als selbstverständlichen Teil des Alltagslebens. Bei Meldungen über Kriminalität etwa wird häufig die Herkunft der Täter in Verbindung mit dem negativen Ereignis herausgestellt, was ethnozentristische Sichtweisen und Argumentationen forciert. Für Journalisten ist die Berichterstattung über Straftaten von Migranten daher ein Dilemma, da Kriminalität immer mit Abweichungen von Normen und daher mit negativen Wertungen verbunden ist.105 102 Vgl. ebd. 203f. Rosenthal (wie Anm. 100), S. 204. 104 Vgl. ebd., S. 204f. 105 Vgl.: Jäger, Siegfried: Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden. Medien und Straftaten. In: Holtz-Bacha, Christina/ Nieland, Jörg-Uwe/ Schatz, Heribert (Hrsg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk, Wiesbaden 2000, S. 207f. 103 73 Die Medien prägen die Vorstellungen über Ethnizität, womit Prozesse der Selbstzuschreibung, meist aber Fremdzuschreibung verbunden mit entsprechenden Erwartungen an das Verhalten der betroffenen Gruppe, gemeint sind. Diese Bilder werden von den Medien mitgezeichnet oder gar erst erfunden. Oft überzeichnen sie, um etwas zu verdeutlichen oder zu karikieren, dadurch wird selbst dann, wenn die Medien das Gegenteil erreichen wollen, ein implizierter Rassismus wirksam. Die Medien sollten gegen das Stereotyp, dass Rassismus etwas mit dem Vorhandensein von Einwanderung zu tun habe, vorgehen, weshalb sie nicht mit Argumenten auf Ausländerfeindlichkeit reagieren sollten, die auf rassistischen Ideologien beruhen (Einwanderungszahlen, Nützlichkeitserwägungen, Ursachenanalysen). Die Frage ist, ob Migranten im großen Spektrum der Medienangebote die Möglichkeit haben, an der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern der verschiedenen Gruppen einer multikulturellen Gesellschaft mitzuwirken. Voraussetzung hierfür sind politische Teilhabe und Strukturen, welche auch Minderheiten den Zugang zu Medien eröffnen. Dies ist nur möglich, wenn die Organisationsstrukturen überprüft, Leitlinien vereinbart und Durchführungs-maßnahmen entwickelt werden, was bisher in den Rundfunkanstalten noch nicht passierte. Die Medien sollten die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Gesellschaft als Normalitätskonzept sehen, was scheinbar einer eigenen Aufmerksamkeit und einer erklärten Zielvereinbarung bedarf. Es gibt aber auch Kritiker, wie den Medienjournalisten Volker Lilienthal106, welcher der Meinung ist, das deutsche Fernsehprogramm sei eine permanente Sympathiewerbung für fremde Kulturen und in Deutschland lebende Migranten. Fast täglich würden Sendungen laufen, in denen den Deutschen vorgehalten werde, wie wenig herzlich sie mit ihren ausländischen Mitbürgern umgehen würden. Die Macher dieser Sendungen würden in der Rolle des gerechten Volkspädagogen nicht bemerken, dass Beiträge fehlen würden, welche die Widersprüche und Konflikte des interkulturellen Zusammenlebens aufzeigen.107 Auch diese Kritikpunkte müssten auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden, doch solange sich die 106 107 In: Jäger (wie Anm. 105), S. 208. Vgl. ebd. 74 Bundesrepublik nicht auf die Tatsachen eines Einwanderungslandes einstellt, wird das Thema in den Medien in keinem Fall den entsprechenden Stellenwert erhalten. Natürlich wären die Medien allein damit überfordert, ein friedvolles, interkulturelles Zusammenleben in der Zukunft zu gestalten, aber sie könnten viel mehr dazu beitragen als bisher. Eine vernünftige Einwanderungspolitik können sie jedoch nicht ersetzen. 5.2 Möglichkeiten deutscher und muttersprachlicher Medien für die partizipative Integration von Migranten In den Medien werden Ausländer in Deutschland oft als anonyme Masse gesehen und es wird ein undifferenziertes Bild von ihnen gezeichnet. Vor allem die Weiterentwicklung, die in der zweiten und weiteren Generation stattgefunden hat, wird nicht berücksichtigt. Türken und besonders die „Frau mit dem Kopftuch“ werden realitätsverzerrend als Symbol für die Mehrzahl der Migranten dargestellt. Positive oder nur normale Bilder aus der Alltagswirklichkeit im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugewanderten fehlen ebenso wie grundsätzliche Informationen und Hintergrundberichte. So wird bei Umfragen die Zahl der Ausländer in Deutschland weit überschätzt, meist wird sogar eine doppelt so hohe Zahl angegeben wie tatsächlich zutreffend wäre, und das auch von Personen, die keine Vorbehalte gegen Ausländer haben. Diese Überschätzung könnte zumindest teilweise von der dramatisierten Darstellung des Ausländerthemas in den Medien resultieren. Gegen dieses Zerrbild könnten Migranten vorgehen, welche die Möglichkeit bekommen, selbst in den Medien aktiv zu werden und über sich zu berichten, indem sie Hintergründe ihrer Kultur und ihres Lebens in Deutschland aufzeigen. Ausländische Medien und Medienangebote für Migranten in Deutschland sind ein spannungsreiches Feld. Unter dem veralteten Begriff „Gastarbeiterpresse“ werden zurzeit über 50 regelmäßig erscheinende ausländische Zeitungen und Zeitschriften geführt. Schon 1951 verlegte die italienische Wochenzeitung „Corriere d´Italia“ 75 ihren Sitz nach Frankfurt und auch Türken, Griechen, Spanier und frühere Jugoslawen versuchten im Lauf der Zeit, eigene Tageszeitungen für ihre Landsleute in Deutschland anzubieten. Zahl und Auflage dieser Publikationen schwanken ständig. Im Moment sind die türkischen Zeitungen, die sich mit sieben Titeln etabliert haben, mit 200 000 Exemplaren am Auflagen stärksten. Gerade diesen wird aber in den letzten Jahren vorgeworfen, sie würden ein negatives Bild von Deutschland vermitteln und so mit ihrer arroganten und selbstgerechten Berichterstattung der Integration der in Deutschland lebenden Türken schaden, wie der Medienwissenschaftler Prof. Siegfried Quandt108 kritisiert. Vertreter türkischer Medien weisen dies entschieden zurück und betonen im Gegenzug die Fehler in der Berichterstattung deutscher Medien. Solche gegenseitigen Schuldzuweisungen verhindern oft den notwendigen Dialog zwischen der deutschen und der Migranten-Seite. Tatsache ist, dass seit Bestehen des deutschen Presserates zum ersten Mal eine fremdsprachige Publikation beanstandet wurde, weil die türkische Zeitung „Hürriyet“ den Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, als „PKKler Oberbürgermeister“ bezeichnet hat, was als falsche Behauptung und Ehrverletzung im Sinne des Pressecodex erkannt wurde.109 Untersuchungen zeigen, dass sich bei Türken ein Trend zu deutschen Publikationen abzeichnet. Bei ihnen ist mit achtzehn Prozent die deutsche Tageszeitung am Wohnort die meistgelesene Zeitung, gefolgt von „Hürriyet“ mit vierzehn Prozent. Der Anteil der Migranten, die auch deutsche Zeitungen und Zeitschriften lesen, steigt insgesamt. Schon 1985 wurde in einer Befragung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung festgestellt, dass deutsche Zeitungen von ihnen etwa genauso häufig gelesen werden wie Zeitungen in der Muttersprache. Auch die deutschen Radio- und Fernsehprogramme haben für Migranten nahezu die gleiche Bedeutung wie für Deutsche. Ebenso werden die seit 1964 bestehenden Ausländerprogramme der ARD für Italiener, Türken, Griechen, Spanier und ehemalige Jugoslawen weiterhin stark gehört. Sie stellen eine In: Meier-Braun, Karl-Heinz: Migration in den Medien – 10 Thesen und Fragen, Hildesheim 2003b. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=34&mode=threat&or der=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 109 Vgl.: ebd. 108 76 Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland sowie eine Brückenfunktion zum Herkunftsland dar. In den letzten Jahren entstand aber auch eine starke Nutzung von fremdsprachigen Funk- und Fernsehprogrammen über Satellit und Kabel. So haben fast 86% der türkischen Haushalte die Möglichkeit, Sendungen in ihrer Muttersprache auf diesem Weg zu empfangen.110 Über dieses Angebot an Sendungen weiß die deutsche Seite so gut wie gar nichts. Bei den ausländischen Tageszeitungen könnte zum Beispiel ein regelmäßig erscheinender Übersetzungsdienst zu einem besseren Verständnis beitragen. Außerdem sollten die ausländischen Medien selbst ihr Konzept, welches meistens auf Berichte aus dem Herkunftsland ausgerichtet ist, überdenken. Dieses sollte besser zu einer Orientierungshilfe zum Leben in Deutschland ausgebaut werden. Ebenso wie sich die türkische Presse in Deutschland mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, sie würde ein verzerrtes Deutschlandbild vermitteln, müssen deutsche Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Migranten stärker als Zielgruppe in ihre Konzepte einbeziehen. Um ihrem Auftrag zu folgen, können die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten es sich nicht leisten, ausländische Minderheiten von ihrem Medienangebot abzukoppeln. Für die deutschen Regionalzeitschriften liegt eine Leserschaft brach, die als Anzeigenund Abonnentenkunden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. Ein regelmäßiger Informations- und Journalistenaustausch zwischen deutschen und ausländischen Redakteuren könnte die Berichterstattung auf beiden Seiten verbessern. Deutsche und muttersprachliche Redaktionen haben sich jedoch insgesamt noch nicht ausreichend darauf eingestellt, dass die meisten Migranten für immer hier bleiben werden. Deren Integration, besonders die der zweiten und dritten Generation, kann nur gelingen, wenn sie sich als Teil der Gesellschaft auch in den Medien wieder finden. Als positives Beispiel ist der SWR (Südwestdeutscher Rundfunk) hervorzuheben, welcher als erster und bisher einziger Sender die Stelle eines Ausländerbeauftragten eingerichtet hat. Dies ist der Versuch, durch gezielte Einflussnahme an wichtigen Stellen des Senders ständig auf das vielfältige Thema Ausländer 110 Ebd. 77 aufmerksam zu machen. Die Ausländerredaktion sendet jeden Freitag, Samstag und Sonntag eine Stunde die Reihe „SDR (Süddeutscher Rundfunk) international“ – ein regionales Zusatzangebot. Freitags gibt es außerdem eine multikulturelle Magazinsendung in deutscher Sprache, samstags werden aktuelle Charts aus Kroatien, der Türkei, Italien und Griechenland präsentiert und sonntags wird eine Sendung mit aktuellem Schwerpunktthema im digitalen Radio sogar in mehreren Sprachversionen ausgestrahlt. Des Weiteren werden im Sender interne Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen angeboten, der Ausländerbeauftragte arbeitet eng mit der Verwaltung zusammen, so wie er sich auch um Praktikanten und Auszubildende aus Zuwandererfamilien, deren Zahl sich entscheidend erhöht hat, kümmert. Die SWR-Ausländerredaktion wird auch weiterhin Internetseiten in acht Sprachen, Aktionen wie den Schreibwettbewerb „40 Jahre Gastarbeit“ und das „Radioforum Ausländer bei uns“ anbieten. Außerdem hat der Sender mit Unterstützung der EU in Brüssel das digitale Radio für Zuwanderer entwickelt. Seit dem 1. Mai 2003 werden regelmäßig drei neue Sendungen für Migranten und Einheimische auch über Mittelwelle ausgestrahlt. Der Sender Freies Berlin strahlt seit knapp vier Jahren das Programm „SFB 4 Multikulti“ aus, das im Großraum Berlin in sechzehn Sprachen angeboten wird und in dieser Form europaweit einmalig ist.111 Wünschenswert wäre darüber hinaus die Verbesserung der frequenz-technischen Versorgung mit ARD-Ausländerprogrammen. Eine flächendeckende Versorgung über Mittelwelle und die Nutzung weiterer UKW-Frequenzen zu den Sendezeiten von SWR International könnten diese Situation verbessern. Im Alltag entscheidet sich, ob das Miteinander zwischen Mehrheit und Minderheiten gelingen oder misslingen wird. Und zu diesem Alltag gehört auch die Möglichkeit der medialen Partizipation. Dazu gehört, dass sich die ausländische Bevölkerung in den Medien wieder findet, sich dort aber auch artikulieren kann. 111 Vgl.: Meier-Braun, Karl-Heinz: Migranten in Deutschland: Gefangen im Medienghetto?, Hildesheim 2003a. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=11&mode=thread&o rder=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 78 Doch ausländische Journalisten selbst und somit natürlich auch Migranten sind in den deutschen Medien immer noch Mangelware. Auch 40 Jahre nach Ankunft der ersten Gastarbeiter gibt es kaum Migranten unter den Journalisten, vor allem nicht in den Printmedien. Jedoch wäre es nötig, dass sie das redaktionelle Arbeiten bereichern, Sachverstand einbringen, die Berichterstattung erleichtern und ein neues Publikum an die Medien binden. Besonders die öffentlich-rechtlichen Anstalten sollten versuchen, das Thema „Ausländer“ insgesamt stärker in der Ausund Fortbildung zu verankern. Das „Radioforum Ausländer bei uns“, das der SDR seit zehn Jahren anbietet, ist ein gutes Vorbild. Es ist heute die größte Fortbildungsveranstaltung dieser Art in Deutschland, bei der gezielt das Thema „Ausländer und Medien“ behandelt wird. Dieses „Radioforum“ wurde nie als geschlossene Veranstaltung der ARD ausgerichtet. Dadurch, dass es immer offen war für Vertreter aus der Migrantenarbeit, entstanden Netzwerke, Anregungen und kritische Diskussionen, die zu zahlreichen positiven Entwicklungen beitrugen. Aber Nichtdeutsche sind in den Medien immer noch in einer Weise unterrepräsentiert, dass viel über sie geschrieben und gesendet wird, sie selbst aber wenig zu Wort kommen.112 Diese Netzwerkbildung des Radioforums ist Vorbild für die gesamte Integrationsarbeit von IMES und soll auch bei der Nutzung der neuen Medien umgesetzt werden. Zum einen wird durch das Internet ein Netzwerk, in dem Informationen ausgetauscht und Kontakte aufgebaut werden, erschaffen. Zum anderen soll durch die Nutzung der Bürgermedien ein differenzierteres Bild der Migranten, in Zusammenarbeit von Deutschen und Migranten, dargestellt werden. Diese Sendungen sollen die Situation der Migranten in der Gesellschaft sowohl Deutschen als auch Migranten näher bringen. Informationen über Migranten erleichtern es der Majorität, die Minorität in die Gesellschaft zu integrieren. Migranten schaffen sich ein Kommunikationsforum, in dem sie Probleme thematisieren, Alltagshilfen geben können und sich auch zwischen den verschiedenen Kulturen, nicht nur in ihrer eigenen, austauschen können. 112 Vgl.: Meier-Braun (wie Anm. 111). 79 5.2.1 Können Bürgermedien eine neue Methode für die partizipative Integration von Migranten sein? Am 23.4.2003 berichtete der zuständige Redakteur Andreas Troché beim Treffen des deutschen IMES Advisory Boards über seine Erfahrungen beim Offenen Kanal Hamburg. Bevor man über die Möglichkeiten für Migranten in einem Bürgermedium diskutiert, muss man die Bedingungen kennen, unter denen man sich dort artikulieren kann. So unterliegt der Offene Kanal Hamburg dem Hamburger Mediengesetz, in welchem 1988 die Einrichtung eines Offenen Kanals beschlossen wurde. Er ist keinesfalls eine öffentliche Institution wie etwa eine Stadtbibliothek. Folgende Ziele des Offenen Kanals Hamburg definieren ihn als Bürgermedium: - er wird als Ergänzung bzw. Bestandteil einer pluralistischen Medienlandschaft in Hamburg gesehen - der Offene Kanal hat keinen Programmauftrag wie andere öffentliche Sender, sondern stellt vor allem ein Angebot zur Nutzung dar - quotenunabhängige Finanzierung aus einem Anteil an den Hamburger Rundfunkgebühren, keine Werbung oder Sponsoring - Produktions- und Sendekapazitäten für Radio und Fernsehen werden für Hamburger Bürger zur Verfügung gestellt - der Offene Kanal richtet sich an Minderheiten, denn sein Angebot soll vor allem denjenigen gelten, die in den Medien nur unterdurchschnittlich zu Wort kommen - bei der Vergabe von Produktions- und Sendekapazitäten gilt das Prinzip des Anstehens: Wer zuerst kommt, bekommt zuerst. - lokale Verbreitung in Hamburg - im Offenen Kanal machen Bürger, also Laien das Programm, das sich nicht an professionellen Maßstäben orientieren muss 80 - Nutzer gestalten und verantworten ihre Beiträge selbst, Redakteure des Offenen Kanals informieren, beraten, unterstützen, geben also Hilfe zur Selbsthilfe - Beiträge müssen einen hohen Eigenanteil aufweisen, denn ein Offener Kanal ist keine „Abspielstation“ - keine Zensur, aber Garantenpflicht des Offenen Kanals als Sender und Verbreiter für die Einhaltung der Programm- und Rechtsgrundsätze113 Die Entwicklungen in Hamburg zeigen, dass die Existenz eines Offenen Kanals abhängig von politischen Entwicklungen ist. Da der Offene Kanal keine öffentliche Einrichtung darstellt und seine Erfolge schwer gemessen werden können, ist er leicht angreifbar. Daher sind das Verständnis und die Akzeptanz gegenüber dessen Aufgaben und Aktivitäten in der Bevölkerung aber vor allem bei politischen Funktionsträgern enorm wichtig. Als Bürgersender ohne inhaltliche Kontrolle zieht der Offene Kanal jedoch ein gewisses Misstrauen auf sich. Typisch ist Besorgnis darüber, dass der Offene Kanal von Radikalen missbraucht werden könnte, die inhaltliche und technische Qualität der Beiträge schlecht oder die Unverständlichkeit von fremdsprachigen Sendungen problematisch sein könnten. Doch die Praxis zeigt, dass es für diese Vermutungen keine Belege gibt. Trotzdem strebt der Hamburger Senat zur Steigerung der Programmqualität die drastische Veränderung an, dass in Zukunft die Verantwortung der Beiträge nicht mehr beim Nutzer sondern beim künftigen Träger liegt. Dadurch würde es dann eine inhaltliche und qualitative Vorbewertung der Beiträge geben, womit ein Kernelement des Bürgermediums Offener Kanal zerstört wäre. Bis jetzt bietet der Offene Kanal Migranten die Möglichkeit, eigene Sendungen zu produzieren und zu senden, muttersprachliche Sendungen dürfen seit Oktober 2001 nur noch mit Übersetzung, Untertitel oder im Zweikanalton gesendet werden. Tatsächlich sind ausländische Nutzer im Offenen Kanal sehr aktiv, doch das Nutzungsprofil entspricht nicht den demografischen Strukturen in Hamburg. So gibt 113 Vgl.: Troché, Andreas: Können Bürgermedien ein Ansatz für die Aktivierung von Migrantinnen sein?, Hannover 2003. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=40&mode=threat&or der=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 81 es entgegen der Bevölkerungsverteilung kaum türkische Sendungen, jedoch zum Großteil afghanische/persische Sendungen. Das Fernsehen wird vorrangig von Älteren für Ältere genutzt, was bedeutet, dass die Zielgruppe die eigene Gruppe ist und somit keine interkulturellen Ziele verfolgt werden. Es handelt sich überwiegend um Unterhaltungssendungen, deren Motivation darin liegt, die eigene Kultur zu bewahren, weshalb sie in der Muttersprache sein sollen. Diese Sendungen haben einen großen Bekanntheitsgrad und Feedback in der eigenen Community, weshalb die Nutzerschaft kein Potential für die Weiterentwicklung zu interkulturellen Sendungen darstellt. Schon Auflagen zur Verständlichkeit werden als diskriminierend empfunden.114 Um den eigenen Sender weiterzuentwickeln, möchte der Offene Kanal Hamburg den interkulturellen Dialog durch Initiativen fördern. Mittlerweile besteht in der Bundesrepublik eine gesellschaftliche Notwendigkeit für interkulturelle Konzepte, die gegenseitiges Verständnis und interkulturelle Kompetenz fördern. Dazu müssen Inhalte vermittelt werden, die für beide Seiten, also Migranten und Majorität, interessant sind. Dies setzt Deutsch als gemeinsame Sprache voraus. Offene Kanäle können also auf lokaler und regionaler Ebene eine wichtige Plattform zur Information und Kommunikation für Migranten sein. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Aktivierung von Migranten ist deren Motivation. Interkulturelle Sendungen sind am ehesten mit jüngeren Migranten machbar, weil sie Deutsch kompetent beherrschen, denn die Kompetenz der deutschen Sprache bestimmt die Programmform. Wer nicht gut Deutsch spricht und versteht, kann Sendungen nur in der Muttersprache machen. Des Weiteren ist eine redaktionelle Struktur mit Anleitung, Koordination und Programmgestaltung unerlässlich für erfolgreiche Sendungen. Sobald Hilfen für die Produktionen angeboten werden, sinkt auch die Hemmschwelle für Migranten und ihre Vereine, in den Bürgermedien mitzuwirken und sie mitzugestalten.115 Das Konzept, mit deutschsprachigen Programmen aus der Ecke der Ausländerprogramme herauszutreten, ersetzt allerdings kein fehlendes, neues inter- 114 115 Vgl.: Troché (wie Anm. 113). Vgl.: Troché (wie Anm. 113). 82 kulturelles Konzept. So könnte es schnell zum Sinken der Zuschauerzahlen und zum Abschieben der Sendungen auf unattraktive Sendeplätze kommen. Damit würde auch in den Bürgermedien kein befriedigender Beitrag zu interkulturellem Dialog, Partizipation und Integration geleistet. Obwohl interkulturelle Sendungen von Seiten der Offenen Kanäle unterstützt werden, gibt es nur wenige. Doch es gibt erste Ansätze, bilingual zu senden und so auch zu einem Austausch der unterschiedlichen Migrantengruppen untereinander zu kommen. Bei dieser sprachlichen Verständigung muss die Sprache der Mehrheitsgesellschaft die gemeinsame Plattform sein, damit ein interkultureller Bezug stattfinden kann. So könnte ein Austausch zwischen allen Kulturen, innerhalb der Kulturen, gleichberechtigt stattfinden und nicht nur zwischen Majorität und Minorität. 5.2.2 Integrationsleistungen der in Deutschland produzierten Websites für Migranten Die Liste der türkischen bzw. deutsch-türkischen Internetseiten wächst. Diese Möglichkeit der elektronischen Datenverarbeitung und -verbreitung ist beliebt. Das Spektrum der Websites und der Homepageanbieter ist sehr unterschiedlich. Da gibt es sowohl lokale, regionale und überregionale Internetseiten, als auch kommerzielle und nichtkommerzielle. Sie alle wollen die Benutzer informieren. Doch wie stark und wofür ethnische Minderheiten in Deutschland das Internet nutzen ist bisher kaum bekannt. Bei großen Studien wird nicht nach der Herkunft oder etwa dem deutschen Pass gefragt. Doch eine Untersuchung der Berliner Marketingfirma „LabOne“ (www.labone.de) ergab, dass unter den türkischen Internetusern besonders viele über sieben Stunden in der Woche im Netz sind und somit zu den so genannten „heavy usern“ gehören. Die Verbreitung des Internets in der Türkei ist derzeit allerdings erst auf einem mit dem von Deutschland von vor drei bis vier Jahren vergleichbaren Stand. So surfen 83 die türkischen Nutzer in Deutschland zu 60% auf Seiten mit deutschem Inhalt. Das ist nicht unbedingt überraschend, da Migranten der dritten Generation besser Deutsch als Türkisch beherrschen und für sie vor allem der türkische Alltag in Deutschland interessant ist. Genau dieses Interesse bedienen deutsch-türkische Internetseiten wie „Türk Dünya“ („Türkische Welt“, www.turkdunya.de) aus Hamburg und „Vaybee“ („Wow“, www.vaybee.de) aus Köln mit nicht immer ganz deckungsgleichen Inhalten in Deutsch und Türkisch. Sie richten sich speziell an die türkische Bevölkerung in Deutschland. „Vaybee“ wurde im Februar 2000 gegründet. Das Unternehmen will der jungen Generation der in Deutschland und Europa lebenden Türken und türkischen Unternehmern eine Plattform bieten. Bei den Inhalten handelt es sich um Orientierung, „Infotainment“, Interaktion sowie Linkverzeichnisse und Lifestyle. Ähnliche Internetseiten trifft der Surfer bundesweit. Diese bescheidenen Internetseiten lösen einen Schneeballeffekt aus, indem sie auf weitere ähnliche große wie kleine Links, zum Beispiel durch Suchmaschinen, aufmerksam machen. So kann der Benutzer mit einem Mausklick noch weitere türkische oder deutsch-türkische Seiten aufrufen.116 In Deutschland gibt es über 50.000 Unternehmer türkischer Herkunft. Kemal Şahin, Gründer der „Şahin-Gruppe“ im Textilbereich oder Vural Öger von „Öger Tours“ haben ihre Firmen in Deutschland gegründet und sind zu einem Begriff der deutschen Wirtschaft geworden. Darüber hinaus gibt es sehr viele Lebensmittelgeschäfte, Döner-Imbissbuden und Reiseagenturen. Viele Einzelhändler und Großhändler organisieren sich zudem in Vereinen. Migranten türkischer Herkunft sind risikofreudig. Wirtschaft ist für sie ein wichtiges Thema, deswegen gibt es auch Internetseiten, die diesen Bereich entdeckt haben. Der Anbieter „eYol.de“ (auf Deutsch: elektronischer Weg) bietet „Business-to-Business“ an, d.h. Unternehmer können sich je nach Interesse über diese Website kontaktieren. Sie ist eine türkische Branchenseite im Internet, d.h. ein elektronisches Branchenbuch. Über deutsch-türkische Wirtschaft in Deutschland berichtet auch girisim.net. Die Vgl.: Stiegers, Fiete: Webseiten – Migranten als neue Zielgruppe, Berlin 2003. In: taz Nr. 6991 vom 27.2.2003, S. 14. 116 84 Internetseite gibt auch Tipps zur Existenzgründung und bietet damit wichtige Informationen für angehende Unternehmerinnen und Unternehmer.117 Mittlerweile gibt es auch auf deutschen Internetseiten türkischsprachige Informationen, z.B. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Auf seiner Homepage (www.bma.bund.de) signalisiert schon eine türkische Fahne, dass auch eine türkische Seite vorhanden ist. Darin werden den Besuchern aus erster Hand sozialpolitische Informationen angeboten. Das Institut für Entwicklungsforschung, Wirtschafts- und Sozialplanung GmbH („isoplan“), das auch die Zeitschrift „aid-Ausländer in Deutschland" herausgibt, bietet ebenfalls Informationen in türkischer Sprache an. SWR international hat während des digitalen DAB-Radioprojektes Zusatzinformationen zu eigenen Sendungen auch in türkischer Sprache angeboten. Geplant ist, die Homepage des SWR international (www.swr.de/international) auch in türkischer Sprache zu gestalten und wichtige Informationen aktuell in türkischer Sprache anzubieten.118 Die Internetseiten der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion wie „Germany.ru“ und „Hamburg.ru“ sind dagegen fast immer auf Russisch. Da diese Migranten noch keine so lange deutsche Geschichte haben wie die Türken, werden Alltagshilfen, wie zum Beispiel die Erklärung des deutschen Versicherungssystems, sinnvollerweise auf Russisch gegeben. Eine häufigere Nutzung gibt es bei „Germany.ru“ ebenso wie bei „Vaybee“ allerdings in den Chaträumen, Diskussionsforen und Anzeigenseiten. Da junge Deutschtürken häufig in großen gesellschaftlichen Zwängen leben, versuchen sie diesen im Internet zu entfliehen. Auf der Website www.indernet.de suchen viele indische Mädchen nach einem indischen Freund, da sie hoffen, dass dieser von der Familie besser akzeptiert wird. Doch gerade hier muss die Onlineredaktion oft mäßigend eingreifen, weil die Liebeserklärungen zu „wüst“ werden. Die Forumsbesucher treffen sich auch gerne auf realen, überregionalen indischen Partys, deren Fotos anschließend bei „Indernet“ veröffentlicht werden. Auch griechische und asiatische Vgl.: Özdali, Cüneyt: Surfen in heimischen Internet-Gewässern – Türkischsprachige und deutsch-türkische Internetseiten – Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2003. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=83&mode=thread&o rder=0&thold=0 118 Vgl.: Özdali (wie Anm. 117),. 117 85 Internetseiten aus Deutschland werben für solche Partys. Bei so viel praktischer Integration im Internet hat nun sogar der deutsche Marktführer T-Online die Migranten als Zielgruppe entdeckt und bietet redaktionelle türkische Seiten an. Einer der größten Anbieter von Gratis-E-Mails hat dagegen seine mehrsprachigen Versionen aufgrund mangelnden Interesses bereits Anfang 2002 wieder eingestellt.119 Diese Bestandsaufnahme ist sicherlich nicht vollständig. Die erwähnten Angebote sind nur ein geringer Teil dessen, was zurzeit existiert. Die rasante Entwicklung auf diesem Gebiet ruft fast tagtäglich eine neue Website ins Leben. Die Zahl wird sicherlich in den kommenden Jahren noch steigen. Das Internet ist längst ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft geworden. Die Zugriffszeit auf Informationen wird immer kürzer. So können Migranten über das Internet auch die Homepages ihrer ursprünglichen Heimat beziehungsweise der Heimat ihrer Eltern aufrufen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen aktuell verfolgen. Das Internet ist auf dem Weg, ein ernsthafter Konkurrent für die ausländischen Printmedien und das Satellitenfernsehen zu werden. Es ist für Migranten ebenso wichtig zum Erhalt ihrer kulturellen Wurzeln wie auch zur Integration in die Aufnahmegesellschaft. 6. Verbesserung der Integration von Migranten durch „soziokulturelle Kompetenzen“ Nicht nur Medienkompetenz sondern auch „soziokulturelle Kompetenz“ wird eine der Schlüsselqualifikationen der Zukunft sein. Ein von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache geprägtes Zusammenleben verändert nicht nur Weltbilder und Wertesysteme, sondern entwickelt auch neue Orientierungs- und Deutungsmuster, die in der alltäglichen Verständigung miteinander von jedem beherrscht werden müssen. Es gibt keine homogene Kultur oder gar eine „Nationalkultur“, 119 Vgl.: Stiegers (wie Anm. 116), S. 14. 86 denn innerhalb der Staaten bestehen kulturelle Unterschiede zwischen den Menschen. Der soziokulturelle Dialog fordert das Gespräch, das Aufeinanderzugehen und die wechselseitige Erforschung der Kulturen, wodurch auch eigene Traditionen in einem neuen Licht erscheinen. Dies schafft Grundlagen für die friedliche Koexistenz in Einwanderungsgesellschaften. „Soziokulturelle Kompetenzen“ befähigen dazu, den Perspektivenwechsel einzuüben, die Relativität der eigenen Position zu erkennen und konfliktfähiger zu werden. IMES will unter gleichberechtigter Mitwirkung von Migranten und Mitgliedern der Mehrheits-gesellschaft Seminarbausteine zur Vermittlung „soziokultureller Kompetenzen“ entwickeln. Deren Beherrschen ermöglicht eine bessere Verständigung zwischen Majorität und Minoritäten, wobei besonders wichtig ist, dass nicht nur die Migranten die „soziokulturellen Kompetenzen“ beherrschen, sondern alle Mitglieder einer Gesellschaft. 6.1 Unterschiedliche kulturelle Kapitalien der Akteure in einer multikulturellen Gesellschaft Bei Konflikten zwischen sozialen Einheiten geht es oft um die Verteilung von knappen Ressourcen wie Macht, Einkommen, Besitz, Reichtum, Prestige, territoriale Fragen oder die Besetzung von Ämtern. Dabei handelt es sich um Interessenkonflikte, während Auseinandersetzungen in den Bereichen Religion, Sprache, Ideologie, Werte und Identitäten soziokulturelle Konflikte sind. Diese Konflikte gelten im Allgemeinen als schwieriger zu lösen, da es um qualitative und nicht quantitative Probleme geht. Sie können sich innerhalb existierender Regeln abspielen, es kann aber auch um die Regeln selbst gehen. Ursache für derartige Konflikte sind Ungleichgewichte, Spannungsverhältnisse und ungelöste soziale Probleme innerhalb der Gesellschaft.120 120 Vgl.: Treichler, Andreas (Hrsg.): Wohlfahrtsstaat, Einwanderung und ethnische Minderheiten. Probleme, Entwicklungen, Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 48. 87 In der westlichen Einwanderungsgesellschaft existieren Konflikte einerseits zwischen der Majorität und der eingewanderten Minorität und andererseits zwischen unterschiedlichen Gruppen auf jeder der beiden Seiten. Die Konflikte können strukturelle und kulturelle Dimensionen betreffen und sich auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Fragen beziehen. Im politischen Bereich geht es um den Status der Zuwanderer bezogen auf Einreise, Aufenthalt, Beschäftigung und soziale Sicherheit. Die soziale Frage betrifft die wichtigen Lebensbereiche, aber auch die Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die kulturellen Gesichtspunkte beinhalten die Möglichkeiten und Formen der kulturellen Entfaltung der Angehörigen der Einwanderungs- minderheiten. Zusätzlich haben Migranten noch mit Problemen der sozialen Diskriminierung, wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu kämpfen.121 Die instrumentellen Werte, bestimmte Eigenschaften, Kompetenzen und Netzwerke eines Akteurs werden häufig als Kapitalien definiert. In Anlehnung an das neoklassische Konzept der Produktionsfunktionen ist das Kapital der Akteure ein Produktionsfaktor, mit dem bestimmte Güter produziert werden. In den Sozialwissenschaften werden alle Ressourcen, welche dem Individuum bei der Erreichung seiner Ziele zur Verfügung stehen, zusammengefasst. Dabei kann man das ökonomische Kapital (finanzielle und physische Ressourcen für wirtschaftliche Zwecke), das Humankapital (alle produktiven Eigenschaften), das kulturelle Kapital (kulturelle Fertigkeiten wie Habitus, Geschmack, Titel, Bildungsabschlüsse), das institutionelle und politische Kapital (Rechte, organisierte Interessenvertretung) und das soziale Kapital (Netzwerke und Beziehungen) unterscheiden. Diese Kapitalien sind Elemente der Sozialstruktur, die den Individuen das Handeln innerhalb dieser Struktur erleichtern.122 All diese Kapitalien sind kontextabhängig, da die generalisierbaren Kapitalien wie zum Beispiel Ausbildung oder Einkommen in vielen Bereichen einsetzbar sind, während die spezifischen Kapitalien nur in einem sehr engen Kontext beim 121 Vgl. ebd., S. 50. Vgl.: Diehl, Claudia: Die Partizipation von Migranten in Deutschland. Rückzug oder Mobilisierung?, Opladen 2002, S. 48. 122 88 Erreichen von Zielen nützen. Letztere sind bestimmte Bekanntschaften oder bestimmte Fertigkeiten, die nicht durch Bildungszertifikate belegt sind. Der Wert dieser spezifischen Kapitalien ist bei Änderungen oder Wechsel des gesellschaftlichen Bewertungsrahmens gefährdet. Migration in einen anderen Bewertungskontext wird deshalb zur Bedrohung, weil Kapitalerwerb nicht beliebig häufig wiederholt werden kann, da er fast immer Zeit, Energie und Geld kostet.123 Kulturelle Kapitalien und Humankapital sind von unmittelbarer Bedeutung für den Zugang zu Status und Bestätigung. Ohne Humankapital in Form von Bildungs- und Berufsabschlüssen ist die Erlangung von Status in den westlichen Gesellschaften nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Bei Schulabschlüssen und Berufsausbildungen, welche Migranten in den Herkunftsländern erworben haben und im Aufnahmeland nicht anerkannt werden, handelt es sich um spezifische Humankapitalien, während anerkannte Abschlüsse generalisierbare Kapitalien sind, die Zugang zu den Statussystemen des Aufnahmelandes ermöglichen. Kulturelles Kapital umfasst neben Bildungsabschlüssen, die den Humankapitalien untergeordnet werden, spezifische kulturelle Kenntnisse und Verhaltensweisen, welche sich in unterschiedlichen Lebensstilen manifestieren. Die elementare Bedeutung dieser sozialen Ungleichheit ist die Interpretation von Verhaltenserwartungen, welche Voraussetzung für den Erhalt von Bestätigung ist. Um die Verhaltenserwartungen verstehen und bedienen zu können, muss man die im sozialen Kontext geltenden Codes beherrschen.124 Entscheidend beim kulturellen Kapital ist, dass es von seinem Träger in einem dauerhaften Prozess angeeignet werden muss und somit sehr eng mit diesem verbunden ist. Dies geschieht hauptsächlich in der Familie, was bedeutet, dass sich Migrantenjugendliche und Jugendliche der zweiten Generation in der Art ihres erworbenen kulturellen Kapitals unterscheiden, auch wenn sie in der gleichen Gesellschaft aufgewachsen sind und die gleichen staatlichen Sozialisationsinstanzen durchlaufen haben. Kulturelles Kapital ist immer spezifisch, da es nur innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Kontexte gilt. Kenntnisse regionaler Bräu- 123 124 Vgl. ebd., S. 49. Vgl.: Diehl (wie Anm. 122), S. 50. 89 che dienen dem Erhalt von Bestätigung nur innerhalb eines engen Kontextes, da sie außerhalb dessen gar nicht entschlüsselt werden können. Allerdings gibt es in den westlichen Industriegesellschaften länderübergreifende Umgangsformen, die in vielen Ländern produktiv für den Erwerb von Bestätigung sind. Allgemeine und grundlegende Voraussetzung für die Entschlüsselung von Verhaltenserwartungen sind Sprachkenntnisse. Einstellungen und Rollenbilder der Zuwanderer können danach unterschieden werden, ob sie mit den in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden Einstellungen kompatibel sind. Auch kulturelle Gewohnheiten können Indikator für kulturelles Kapital sein, da zum Beispiel durch Mediennutzung wichtige Informationen über Umgangsformen, Verhaltensregeln und Rollenerwartungen im geltenden sozialen Kontext vermittelt werden können.125 In einer Gesellschaft, in der mehrere Kulturen miteinander leben, müssen also „soziokulturelle Kompetenzen“ bei allen Mitgliedern der Gesellschaft vorhanden sein. Um auf das Verhalten von Individuen angemessen reagieren zu können, muss man deren Verhaltenscodes beherrschen. In der Europäischen Union, deren Mitgliedsländer alle Einwanderungsländer sind, werden diese „soziokulturellen Kompetenzen“ zunehmend wichtiger, um Migranten als Teil der Gesellschaft gleichberechtigt integrieren zu können. 6.2 Das Konzept der Schlüsselbegriffe Das spanische Advisory Board des Projektes IMES hat sich im ersten Halbjahr der Projektphase vor allem mit den Schlüsselkompetenzen Empowerment, soziales Kapital und lernfähige Organisation auseinandergesetzt. Dies sind Schlüsselbegriffe für das spanische IMES-Projekt geworden, die für die Projekt-Themen „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ gleichermaßen von Bedeutung sind. Von Januar bis Juni 2003 wurde mit der Theorieunterstützung des Wissenschaftlers Alvaro Ramirez am Konzept der Schlüsselkompetenzen gearbeitet und die Oberbegriffe für die Ziele des IMES-Projektes wurden gewichtet und verfeinert. 125 Vgl. ebd., S. 51. 90 Der Bereich der „soziokulturellen Kompetenzen“ dient dazu, die Integration von Migranten in die europäische Gesellschaft zu erleichtern. Ausgehend vom Tatbestand eines interkulturellen Kontextes wurde entschieden, Kompetenzen zu suchen, die durch Gleichberechtigung die Teilnahme und Einbindung erlauben. Nachdem Alvaro Ramirez, der Experte, der das spanische Advisory Board in diesem Prozess begleitet hat, über den konkreten Kontext des Projektes ins Bild gesetzt wurde, zeigte er bei einer Rundreise durch die Bandbreite der verschiedenen Theorien und Erfahrungen Strategien auf, um die am wenigsten begünstigten Gruppen in der Selbstentwicklung ihrer eigenen Integration zu unterstützen. Dadurch lernten die spanischen Mitglieder eine Reihe von Elementen kennen, die zu beachten sind, um sich diesen Gruppen zu nähern und ein organisatorisches, politisch wirksames und effektives Projekt zu entwerfen.126 Die sieben Schlüsselkompetenzkonzepte, die im Folgenden dargestellt werden, sind die Zusammenfassung aus dem, was während der Treffen erarbeitet und diskutiert wurde. Es sind keine Auszüge aus einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Migration oder die gemeinschaftliche Arbeit; genauso wenig handelt es sich um in sich geschlossene Ideen, wie bei dem Bau von Brücken zwischen den Gruppen oder einem neuen Modell einer europäischen Bürgergesellschaft, die auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit basiert. a. El Empoderamiento/ Empowerment – Position von Minderheiten stärken Dies ist die individuelle und kollektive Fähigkeit, Talente und Kompetenzen zu errichten. Eine Gemeinschaft hat dann einen gewissen Grad an Empowerment erreicht, wenn sie in der Lage ist sich selbst zu organisieren und einige Kompetenzen auf sie übertragen wurden, wenn also eine Machtverschiebung zu ihren Gunsten stattgefunden hat. Unter Macht wird hier die Fähigkeit verstanden, seine Rechte auszuüben und Zutritt zum dominierenden Code zu haben, welcher der ist, den der Staat und alle seine Institutionen benutzen.127 126 Vgl.: IMES Advisory Board Barcelona: Das Konzept der Schlüsselbegriffe, Barcelona 2003. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=59&mode=thread&o rder=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 127 Vgl.: IMES Advisory Board Barcelona (wie Anm. 126). 91 b. Das soziale Kapital Hierbei handelt es sich um das Netz an Beziehungen, das jedes Individuum errichtet, die Bindungen und Vereinigungen, die mit Personen im eigenen Umfeld aufgebaut werden. Es basiert auf gegenseitigen Erwartungen und voraussehbarem Verhalten. Die Möglichkeiten, die Position eines Individuums oder einer Gemeinschaft zu stärken, stehen in direkter Beziehung zu ihrem sozialen Kapital: je mehr soziales Kapital, desto mehr Möglichkeiten des Empowerment.128 c. Der Code Dies ist der Träger der Kommunikation, der diejenigen Personen kennzeichnet, die ein gemeinsames soziales Kapital teilen, wie Sprache, Bräuche, Traditionen, Gesetze und Normen. Der Unterschied der Codes zwischen denjenigen, welche bereits die Macht haben und denen, die nach einer gestärkten Position streben, ist eine der größten Schwierigkeiten, die überwunden werden muss, da die Inhaber des dominanten Codes bewusst oder unbewusst Druck auf die Inhaber des Minderheitencodes ausüben. Um Kommunikation zu ermöglichen, muss eine Verbindung zwischen den Codes geschaffen werden. Nur dann kann auch die Position der bedürftigeren Individuen wirksam gestärkt werden.129 d. Der Führer einer Gemeinschaft Es muss einen Führer einer Minderheitengruppe geben, der die kommunikative Verbindung zwischen den Codes herstellt. Dieser muss die unterschiedlichen Codes beherrschen oder bereit sein zu lernen, sie gleichermaßen zu verstehen. Seine Gemeinschaft muss ihn als Autorität anerkennen und ihn als Bindeglied für unerlässliche Kommunikation identifizieren. Der Führer der Gemeinschaft muss immer selbst betroffen sein, weil die Notwendigkeit und das Streben einer 128 129 Vgl. ebd. Ebd. 92 Gemeinschaft und die Art Probleme zu lösen, nicht von außen bestimmt werden können, da dies nur durch Kenntnis des Codes möglich ist.130 e. Vermittelnde Strukturen Die vermittelnden Strukturen sind die Organisationen und Institutionen, welche sich im unmittelbaren Umfeld der Bürger befinden und eine Verbindung zwischen ihnen und dem immensen Überbau wie Markt oder Staat herstellen. Diese vermittelnde Struktur kann eine Brücke zwischen dem Code der zu stärkenden Gemeinschaft und dem dominanten Code schlagen. Ziel ist hierbei, dass die Individuen kompetent in beiden Codes sind oder ihnen zumindest ein Weg des Zugangs angeboten wird.131 f. Die politischen und institutionellen Faktoren Um die Position einer Gemeinschaft zu stärken, muss zwischen politischen und institutionellen Faktoren unterschieden werden. Politische Faktoren gründen auf kommunikativer Kompetenz und versuchen eine reale Bindung zwischen der Gemeinschaft und den Elementen der Macht zu schaffen. Die Position einer Gemeinschaft muss auf einer politischen Ebene gestärkt werden, damit ihre Beziehungen mit irgendeiner Institution gleichgestellt sind, sonst muss sie die erforderlichen Formalitäten für jede Institution erfüllen. Die institutionellen Faktoren beschäftigen sich mit Empowerment ausschließlich hinsichtlich ihrer ökonomischen Wirksamkeit. Der Staat gestattet eine Machtübertragung nur, wenn sich das für ihn als günstiger herausstellt, als sie für sich zu behalten. Da es günstiger für den Staat ist, wenn eine Gemeinschaft sich selbst organisiert, muss man diesen Vorteil nutzen, indem man das Management des sozialen Kapitals der Gemeinschaft nutzt.132 g. Die kommunikative Kompetenz 130 Vgl.: IMES Advisory Board Barcelona (wie Anm. 126). Vgl. ebd. 132 Vgl.: IMES Advisory Board Barcelona (wie Anm. 126). 131 93 Um einen wirksamen Grad des politischen Empowerment zu erreichen, ist eine kommunikative Kompetenz zwischen der Gemeinschaft, den vermittelnden Strukturen und dem Staat unabdingbar. Zur Erschaffung dieser kommunikativen Kompetenz ist folgendes notwendig: - Das soziale Kapital muss gewinnbringend mobilisiert und genutzt werden, indem die von den eigenen Institutionen und die von ihren Individuen weitgehend geteilten Normen identifiziert werden. Die gewohnten Kanäle des Zusammenlebens einer Gemeinschaft müssen erkannt werden, um sie dann politisch zu artikulieren. - Es sollte eine politische und organisatorische Strategie geben. Man darf nichts einem vorhergehenden ideologischen Diskurs unterwerfen, um damit einen größeren Konsens zu gewinnen und die größtmögliche Anzahl an Individuen einzubeziehen. - Die Organisation muss lernfähig gestaltet werden, indem Ziele in Interaktion mit der Gemeinschaft definiert werden und Programme auf eine flexible Weise entwickelt werden.133 h. Die lernfähige Organisation In einer lernfähigen Organisation muss jedes entwickelte Programm interne Anpassungsveränderungen hervorrufen. Dieser Typ Organisation wird von den drei grundlegenden Merkmalen, dass sie mit den Leuten lernt, mit den Leuten plant und die Gemeinschaft mit dem Techniker des Programms (theoretisch und praktisch) verbindet, gekennzeichnet. Der Lebenszyklus dieser Organisation entwickelt sich in diesen drei Stufen: Wirksamkeit, um das Notwendige in Angriff zu nehmen; Effizienz, um seine Lösung zu halten, indem weniger Geldmittel investiert werden als anfangs und aus Kapazität zur Expansion.134 Die Konzepte folgen einer logischen Ordnung und sind für manche vielleicht überraschend, weil sie an Konzepte aus dem Wirtschaftsbereich erinnern. Dieser 133 134 Vgl. ebd. Vgl.: IMES Advisory Board Barcelona (wie Anm. 126). 94 Zusammenhang zeigt, dass die Dinge, die im sozialen Bereich erarbeitet werden, als verbündete Strategien zu verstehen und zu bewerten sind, die auf Effektivität und Effizienz basieren und auf wirtschaftlichen Erträgen, welche über Produktionswege in soziale Erträge und Menschenrechte umgewandelt werden sollten. Das Verstehen, Erlernen und Praktizieren dieser Schlüsselbegriffe ermöglicht die Verständigung in einer multikulturellen Gesellschaft und das Vermeiden von kulturell bedingten Missverständnissen. Diese Schlüsselbegriffe bilden die Basis für die Seminarbausteine, die im Schwerpunktbereich „soziokulturelle Kompetenzen“ entwickelt werden. Sie sollten gleichermaßen an Migranten wie die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft vermittelt werden. Eine weitere Grundlage für die Entwicklung der Seminarbausteine ist der „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“. 6.2.1 Der „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“ Globalisierung und internationale Kooperation beeinflussen weltweit das Leben. Was in unserer Zeit geschieht, ist etwas Radikales: Die gesamte Lebenskultur vieler Menschen verändert sich und etwas ganz Neues entsteht. Die Globalisierung bindet unterschiedliche Lebensweisen und Lernkulturen diverser Länder und kreiert neue Bedürfnisse, neue Lern- und Arbeitskompetenzen und neue Lehrkonzepte, sie greift massiv in unser kulturelles Verhalten ein. Traditionelles Managementwissen allein reicht nicht mehr aus, um den Anforderungen grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeiten gerecht zu werden. Ohne interkulturelle Handlungskompetenzen kommt es zu kostenaufwendigen Konflikten und Missverständnissen. Managementmethoden haben auch außerhalb des Wirtschaftsbereiches an Bedeutung gewonnen. Grund hierfür ist ein zunehmendes Effizienz- und Qualitätsbewusstsein. Interkulturelles Management bezieht sich auf deren Arbeitsverhalten, auf Organisationsstrukturen und auf die gerechte Partizipation an der Macht. Es beschreibt keine neue Managementmethode, sondern stützt sich auf 95 die üblichen Managementfunktionen. Doch die Art und Weise, wie diese Funktionen ausgeübt werden, ist kulturell bedingt. Sie unterscheidet sich in arbeitsrelevanter Form von Kultur zu Kultur, von Land zu Land, von Person zu Person. Interkulturelle Handlungskompetenz ist Voraussetzung für Erfolg in transnationalen und kulturell gemischten Arbeitsfeldern der Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen. Sie kann kostenaufwendige Konflikte und Missverständnisse vermeiden und Synergie-Effekte einer interkulturellen Zusammenarbeit fördern. Mit dem „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“ des Landesamtes für Entwicklungszusammenarbeit werden Trainer in die Lage versetzt, diese besonderen Handlungskompetenzen in praxisorientierter und interaktiver Form zu vermitteln. Dieser Trainingsleitfaden kann auch hilfreiches Vorbild für IMES bei der Erschaffung von Seminarbausteinen im Bereich „soziokulturelle Kompetenzen“ sein. Der Trainingsleitfaden ist in Modulform aufgebaut und verbindet interkulturelle mit betriebswirtschaftlichen Elementen. Die Module sind jeweils gegliedert in: - Hintergrundmaterial für die Trainer - Leitfäden für die Durchführung - Handouts und Folienvorlagen Die interkulturelle Kompetenz ist ein lebenslanger Lernprozess. Folgende Fähigkeiten fördern diesen: - Ambiguitätstoleranz (hat, wer Widersprüchliches aushalten kann) - Empathie (hat, wer sich in andere einfühlen kann) - Frustrationstoleranz (hat, wer Frustration selbstkritisch verarbeiten kann) - Humor (hat, wer sich aus der Distanz betrachten und lachen kann) - Identität (hat, wer die eigenen kulturellen Prägungen kennt) - Konfliktfähigkeit (hat, wer Probleme aushandeln und lösen kann) 96 - Neugierde (hat, wer offen ist und gerne Neues lernt)135 Abb. 1: Modulübersicht nach Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit Wer mit Personen fremder Kulturen arbeiten möchte, muss also auf kulturelle Differenzen vorbereitet sein, da die Kultur das Rückgrat der eigenen Identität ist und mit ihren Werten und Normen das gesamte Leben prägt. Menschen, die sich in anderen Regionen der Welt aufhalten oder sich auch im eigenen Land anders als gewöhnlich verhalten, fühlen sich fremd und werden von anderen als auffällig wahrgenommen. Ihr Verhalten wird am Verhalten der Allgemeinheit oder der Einheimischen gemessen. Fremde erfahren oft Ablehnung und Diskriminierung. Nicht allen Menschen fällt es leicht, der schleichenden und oft bedrohlich 135 Vgl.: Hecht-El Minshawi, Beatrice: Interkulturelle Managementkompetenz. Einführung in das Trainingsmaterial. In: Bevollmächtigter der Freien Hansestadt Bremen beim Bund, für Europa und Entwicklungszusammenarbeit – Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit (Hrsg.): Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz, Bremen 2003, S. 2. 97 wirkenden Veränderung der Lebenskultur mit eigener Kraft etwas entgegen zu halten, schon gar nicht jenen, die von hierarchischen oder fatalistischen Einstellungen geprägt sind. Manchen geht der Prozess zu schnell, andere verweigern sich, an ihm teilzunehmen. Nur etwa 60% einer Gruppe entsprechen einer typischen kulturellen Zuschreibung. Deutsche werden von anderen zum Beispiel oft als systematisch denkende Strategen bezeichnet. Doch viele Deutsche entsprechen diesem Bild nur geringfügig oder gar nicht. Kulturelle Besonderheiten von Personen sollten in der Zusammenarbeit jedoch einsichtig gemacht werden. Multikulturelle Arbeitsfelder müssen neu geformt werden und deren Implementierung in Bildung und Ausbildung, Beruf und Wirtschaft könnte uns allen den Weg aufeinander zuzugehen erleichtern.136 Das Material des „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“ richtet sich an Trainer und soll deren Vorbereitung auf interkulturelle Seminare erleichtern. Es werden das Verhältnis zwischen Business und Kultur im internationalen Kontext aufgezeigt, Fragen gestellt und Zusammenhänge erörtert, in denen die sich ergänzenden Module zu erarbeiten sind. Dieser Leitfaden enthält vielfältige Angebote, aus dem Trainer ihre eigenen Konzepte und Programme entwickeln und individuell methodisch umsetzen können. Das Trainingsmaterial kann weltweit nach kurzer Einführung an beliebigen Orten selbsttätig erarbeitet und dann an andere vermittelt werden. Der modulare Aufbau erlaubt dabei Flexibilität. Je nach Ausbildung und fachlichem Wissen der Trainer einerseits und ihrer Zielgruppe andererseits, kann das Material optimal angepasst werden. In den interkulturellen Trainings geht es - um die systematische Erarbeitung und Relativierung der eigenen Normen, Werte, Einstellungen, Vorurteile und Rassismen - um taktische Wissensvermittlung fremder Normen und Werte, Kulturstandards und länderspezifischer Informationen - um strategische Maßnahmen zur Befähigung interkulturellen Handelns Das Material ist auf eine kulturell, beruflich-fachlich und in der Trainingserfahrung heterogene Zielgruppe ausgerichtet. Erfahrene Trainer müssen daher die Angaben 136 Vgl.: Hecht-El Minshawi (wie Anm. 135), S. 2. 98 zur Bearbeitung des Moduls eventuell weniger berücksichtigen oder sie benutzen nur einzelne Module beziehungsweise Teile davon und fügen selbst weitere ergänzend hinzu.137 Die Lern- und Arbeitsmethoden, die wir bevorzugen, sind ein Teil unserer Identität. Personen, die mehrheitlich unter 40 Jahre alt sind und aus modernen Industriegesellschaften kommen, bevorzugen experimentelles Lernen. Bei ihnen ist „Learning by doing“ sehr beliebt. Ältere Seminarteilnehmer und jene, die aus traditionellen Kulturen kommen, bevorzugen durch Lesen, Zuhören und Rezipieren zu lernen. Interkulturelle Trainer müssen sich demnach darauf einstellen, dass nicht allen Teilnehmern im Seminar moderne Interaktions- und Moderationsmethoden gefallen. So assoziieren manche zum Beispiel mit der Kärtchenmethode eine eher für Kinder geeignete Spielerei. Trainer müssen sich also vor einem Seminar grundsätzlich überlegen, mit welchen Lernpräferenzen sie es zu tun haben werden und die Seminarmethode danach auswählen.138 Im Trainingsleitfaden werden interkulturelle Fragen und betriebswirtschaftliche Fragen des Managements behandelt. In den betriebswirtschaftlichen Modulen finden sich die allgemeingültigen Grundlagen von Management, die interkulturellen Module beschäftigen sich mit der Fragestellung, wie aus diesen Grundlagen interkulturell anwendbare Managementstile gebildet werden. Dabei müssen die Trainer beachten, wie sie selbst und die Teilnehmer eines Trainings kulturell geprägt sind und wie eine Brücke zwischen den Menschen dieser unterschiedlichen kulturellen Kompetenzen geschaffen werden kann, ohne das Verhalten der jeweils anderen Kulturen zu bewerten. Der Trainingsleitfaden besteht aus insgesamt sechzehn Modulen139, wobei die vier Basismodule aufgrund ihrer zentralen Themenbedeutung Pflichtanteile eines jeden Trainings für internationale Managementkompetenz sind. Die darauf aufbauenden neun Wahlmodule geben dem Trainer die Möglichkeit, flexibel auf die spezifischen 137 Vgl.: Hecht-El Minshawi (wie Anm. 135), S. 3. Vgl. ebd., S. 4. 139 Jedes Modul besteht aus: Gegenstand des Moduls, Zielbeschreibung, Beschreibung des Inhalts, zeitlicher Umfang, Material für Trainer, Bearbeitung des Moduls, Thema, Resümee, Empfehlung für Trainer, Bibliographie, Handouts Grundlageninformationen, Fallbeispielen, Folientexten und Checklisten. Die Informationen geben einen zusammenfassenden Überblick über das Modulthema. 138 99 Anforderungen der jeweiligen Zielgruppe einzugehen. Das Abschlussmodul „Interkulturelle Kompetenz“ bildet zusammen mit dem Einführungsmodul den Rahmen des Leitfadens140. Die „Bearbeitung des Moduls“ beschreibt dem Trainer, wie das jeweilige Modul didaktisch vermittelt werden kann. Sie enthält die Oberziele eines Moduls, Hinweise zu dem benötigten Zeitaufwand und zum benötigten Material, beschreibt den Trainingsablauf und die Methoden und enthält Hinweise auf die zu nutzenden Folien, Powerpoint-Präsentationen und Handouts. Letztere sind als Kopiervorlagen im Trainingsleitfaden enthalten, werden während des Trainings an die Gruppe verteilt und enthalten Arbeitsanweisungen und Fallbeispiele oder geben eine Zusammenfassung des zu vermittelnden Stoffes.141 Der Gesamtumfang der Module beträgt 60 Stunden. Je nach Anzahl der gewählten Module sind drei bis sechs Trainingstage nötig. Allerdings können auch einzelne Module herausgenommen und in Workshops einer anderen thematischen Ausrichtung integriert werden. So könnten für alle drei Themenbereiche von IMES auch interkulturelle Module aus diesem Leitfaden für die Seminare des Projektes verwendet werden. Die Bearbeitung der Basismodule ist zwar Voraussetzung für die Wahlmodule, doch es ist auch möglich, ein rein interkulturelles Training auszuwählen, in dem dann nur die beiden interkulturellen Basis- und Wahlmodule bearbeitet werden. Dieser interkulturelle Teil des Leitfadens ist vor allem Vorbild und Anregung für die Erschaffung der Seminarbausteine im Bereich „soziokulturelle Kompetenzen“ von IMES, da die Ziele dieser Module die Verbesserung der interkulturellen Zusammenarbeit durch das Verstehen von interkulturellen Dimensionen, das Nachdenken über globale Abhängigkeiten und moralische Implikationen, das Informieren über Kultur, Interkultur, Kommunikationsstile und Ethik, die Sensibilisierung für anderes und fremdes Verhalten und die Relativierung des eigenen Verhaltens sind.142 Interaktive Vorträge sowie moderierte Diskussionen, Übungen, Fallbeispiele, Simulationen und Rollenspiele machen einen hohen Anteil des partizipativen und 140 Vgl.: Hecht-El Minshawi (wie Anm. 135), S. 5. Vgl. ebd. 142 Ebd., S. 6. 141 100 prozessorientierten Trainingslernprogramms aus. Ein wichtiges Grundprinzip des methodischen Vorgehens ist es, gerade bei einer mehrsprachigen Zielgruppe, Inputs, Diskussionen und Prozesse grundsätzlich zu visualisieren. Das im jeweiligen Modulpunkt „Material für Trainer“ angegebene Equipment ist möglicherweise nicht überall vorhanden und kann selbstverständlich ausgetauscht werden. Hierfür gibt es zusätzlich den „Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden“. Die Zielgruppen, an die sich der „Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz“ des Landesamtes wendet, wurden bewusst sehr offen definiert und liegen in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, NGOs, Verwaltung und allen weiteren transnationalen und kulturell gemischten Arbeitsfeldern.143 Besonders die interkulturellen Module sind in der Arbeit von IMES Vorbild für die Erschaffung neuer Seminarbausteine in den drei Hauptthemenbereichen zur partizipativen Integration von Migranten. Der Aufbau und die Struktur können zum Teil in die Seminarbausteine übernommen werden. Für den Bereich „soziokulturelle Kompetenzen“ gibt es in den interkulturellen Modulen auch viele inhaltliche Anregungen. Das Material für die Trainer enthält viele wichtige Tipps, die helfen, Fehler im Umgang mit verschiedenen Kulturen zu vermeiden. Besonders der Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden entspricht dem bei IMES vertretenen Prinzips des lebenslangen Lernens in der Erwachsenenbildung und gibt konkrete Anleitungen, welche die Teilnehmer ein Seminar partizipativ mitgestalten lassen. 6.2.2 Der Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden In den Konzepten der partizipativen Erwachsenenbildung wird Lernen als ein interaktiver Prozess verstanden. Lehrender und Lernender begegnen sich als erwachsene Menschen mit Lebenserfahrungen und selbst gewählten Interessen. Respekt vor dem Wissen und den Gefühlen aller am Lernprozess beteiligten Personen ist Grundelement der gelungenen Erwachsenenbildung. In diesem 143 Vgl.: Hecht-El Minshawi (wie Anm. 135), S. 5. 101 Bereich wollen Menschen meist aus eigener Motivation lernen, die dann am höchsten ist, wenn sie selbst entschieden haben, was sie lernen wollen, wer ihnen dieses Wissen am besten vermitteln kann und sie sogar für dieses Wissen bezahlen müssen. Wenn Erwachsene freiwillig zu einem Seminar kommen, haben sie meist eine klare Vorstellung darüber, was sie erfahren wollen. Sie sind dann zufrieden, wenn ihre Erwartungen erfragt werden und die neuen Inhalte auf ihre Vorstellungen und ihre bereits vorhandenen Kompetenzen bezogen sind. Je mehr Bezüge zu ihrem persönlichen Umfeld hergestellt werden, desto mehr fühlen sie sich verstanden und sind motiviert, ihre Kenntnisse einzubringen und Neues auszuprobieren. Trotzdem muss der Trainer eine klare Vorstellung vom Lernziel haben und einen sicheren Weg zum Erreichen dieses Ziels ebnen. Erwachsene lernen gern von Gleichgesonnenen. In Gruppen mit diesen können sie animiert werden, ihre Erfahrungen auszutauschen und diese gemeinsam zu analysieren. Bei der Zusammenarbeit im Team können Wissen, Meinung und unterschiedliche Fähigkeiten ausgetauscht werden. Während die Lernenden sich gegenseitig unterstützen und Aufgaben gemeinsam bewältigen, werden ihre Fähigkeiten zur Arbeit im Team gesteigert. Partizipative Lernprozesse gelingen dann am besten, wenn die Teilnehmer gute Beziehungen untereinander aufbauen und sich ungestört auf den Inhalt konzentrieren können. Auch Konflikte können, wenn sie aufgegriffen und produktiv bewältigt werden, zum Lernen beitragen. Deshalb ist die Bewältigung der Beziehungsebene in der lernenden Gruppe ebenso relevant wie die der Inhaltsebene des Programms. Mit partizipativen Arbeitsmethoden muss also eine Atmosphäre angestrebt werden, die von der aktiven Teilnahme aller am Lernprozess Beteiligten geprägt ist. Menschen erinnern sich am besten an Zusammenhänge, die sie selbst entdeckt und formuliert haben. Daher ist das Ziel partizipativer Trainingsmethoden, die Lust am gemeinsamen Lernen zu wecken, vorhandenes Wissen zu aktivieren und die Teilnehmenden an der Entdeckung der neuen Inhalte auf der Basis der bereits vorhandenen Kenntnisse zu beteiligen. Die Lernprozesse müssen durch vorgegebene Fragen strukturiert sein, die aber so offen formuliert sind, dass sie je nach 102 Situation und Wissen der Beteiligten unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen können. Die Teilnehmenden sind dann direkt an der Qualität der Ergebnisse beteiligt. Es handelt sich um ihre eigenen Ergebnisse, mit denen sie sich identifizieren können, was die Effektivität des Seminars erhöht, denn Menschen erinnern sich an nur 20% von dem, was sie gehört haben, an 40% von dem, was sie gehört und gesehen haben, aber an 80% von dem was sie selbst herausgefunden oder getan haben.144 Bei diesem partizipativen Konzept muss der Lehrende die höhergestellte Position verlassen und sich auf die gleiche Stufe mit den Lernenden stellen. Er ist nicht im Besitz des einzigartigen und richtigen Wissens, sondern stößt Lernprozesse an, in denen Wissen und Erfahrung der Teilnehmer ausgetauscht und ausgewertet werden. Er übernimmt also eher die Rolle eines Moderators, der den Prozess initiiert und lenkt, ohne selbst im Zentrum zu stehen. Er ermutigt die Lernenden ständig, ihre persönlichen Beobachtungen und Gedanken einzubringen, strukturiert die Diskussion durch Fragen, fasst die wichtigsten Punkte zusammen und fügt bei Bedarf fehlende Aspekte hinzu. Eine hohe Arbeitsmotivation kann der Lehrende erzeugen, indem er die Vorkenntnisse und Erwartungen der Lernenden erkennt und darauf das Programm abstimmt. Deshalb muss der Trainer vor und während des Seminars Mechanismen etablieren, in denen er die Erwartungen und die Zufriedenheit der Teilnehmer mit dem Programmablauf abfragt. Bei Bedarf kann das Programm jederzeit während des Seminars an die Bedürfnisse der Teilnehmer angepasst werden. So wird der Verlauf des Lernprozesses von ihnen mitgesteuert.145 Um eine Beziehung unter den Lernenden herzustellen, kann der Trainer erklären, warum er welchen Schritt vorschlägt, welchen Lernprozess er geplant hat und an welcher Stelle sich das Seminar gerade befindet. Indem er das Lernkonzept so transparent macht und zur Diskussion stellt, übernehmen die Teilnehmer selbst Verantwortung für den Prozess und das Erreichen des Lernziels. Um zu wissen, 144 Vgl.: Engelhardt-Wendt, Eva: Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden. In: Bevollmächtigter der Freien Hansestadt Bremen beim Bund, für Europa und Entwicklungszusammenarbeit – Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit (Hrsg.): Trainingsleitfaden Interkulturelle Managementkompetenz, Bremen 2003, S. 7. 145 Vgl. ebd., S. 8. 103 welche Lernmethode für die Gruppe geeignet ist, muss der Moderator sich mit dem Kennenlernen der Gruppe Zeit lassen. So erwarten Teilnehmer mit Universitätshintergrund strukturierte Aufträge und schriftliche Informationen, während bei Teilnehmern aus dem Praxisbereich Methoden wie Videos, Plakate und verbale Debatten angemessener sein können. Der Leitfaden für partizipative Trainingsmethoden bietet eine Auswahl unterschiedlicher Methoden, die je nach Zeitumfang und Gruppe zusammengestellt werden können. Der Moderator muss dabei von der Methode, die er verwendet immer so überzeugt sein, dass er sie den Lernenden klar und enthusiastisch erläutern kann. Auch wenn spielerische Methoden eingesetzt werden, muss er das Gefühl vermitteln, dass er das Ziel kennt und alle angewendeten Methoden der Erreichung dieses Zieles dienen.146 Um den partizipativen Trainingsbedarf einer Gruppe zu analysieren, muss deren Arbeitsplatzbeschreibung, welche übergeordnete und spezielle Tätigkeiten mit einschließt, geklärt werden. Die Beschäftigten müssen befragt werden, welche Verbesserungen sie selbst bezüglich der Arbeitsplatzbeschreibung vorschlagen und wie sie ihr Wissen und ihre Kompetenzen in Bezug auf die Aufgabengebiete einschätzen und welche Lücken sie selbst sehen. Die Trainingsbedarfsanalyse kann auch mit einem Fragebogen durchgeführt werden, der dann ausgewertet und für die Abstimmung des Programmverlaufs benutzt wird. Die Antworten werden visualisiert und bei Seminarbeginn gemeinsam mit den Zielen und der Programmplanung vorgestellt. Die Teilnehmer können dann noch Kommentare und zusätzliche Änderungswünsche formulieren, bis sie mit dem endgültigen Programm einverstanden sind. So können auch Erwartungen, die zu hoch sind, als solche identifiziert werden. Wenn gleich am Anfang geklärt wird, auf welche Wünsche eingegangen werden kann, wird Enttäuschungen vorgebeugt und es entsteht ein Arbeitsbündnis zwischen Lehrendem und Lernenden.147 Die Teilnehmer können sich durch Beruf, Alter, Position, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Arbeits- und Lebenserfahrungen unterscheiden. Diese Unterschiede gehen ein in den Erfahrungsschatz, welcher der Gruppe insgesamt zur Verfügung 146 147 Vgl.: Engelhardt-Wendt (wie Anm. 144), S. 8. Vgl. ebd. 104 steht und der von partizipativen Trainingsmethoden aktiviert werden kann. Gerade bei interkulturellen Themen ist es sinnvoll, unterschiedliche kulturelle Perspektiven einzubeziehen, da diese bei der Erarbeitung des Themas hilfreich und notwendig sind. Der Moderator muss hier besonders darauf achten, dass die Minoritäten zu Wort kommen und von den anderen respektiert werden. Außerdem sollte auf eine ausgeglichene Anzahl männlicher und weiblicher Teilnehmer geachtet werden. Aufgrund der verschiedenen Geschlechterrollen können Männer und Frauen unterschiedliche Perspektiven und Meinungen haben und unterschiedliche soziale Fähigkeiten in den Arbeitsprozess einbringen. Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis hilft auch, eine angenehme und entspannte Arbeitsatmosphäre aufzubauen. Es hat sich gezeigt, dass bei einem Seminar ein Geschlecht mit mindestens 30% der Teilnehmer vertreten sein muss. Erst dann fühlen Mann oder Frau sich als Teil einer Untergruppe und können aus dieser Sicherheit schöpfen.148 Die Durchführung partizipativer Lernprozesse erfordert bei den Trainern ein hohes Maß an Konzentration, weil sie gleichzeitig nicht nur die Richtung und Qualität der Inhalte, sondern auch die Stimmung in der Gruppe und die Beteiligung einzelner Teilnehmer im Auge behalten müssen. Die Kunst der partizipativen Moderation besteht darin, einen vorhandenen Plan je nach Diskussionsverlauf und Bedürfnissen der Gruppe umzuwerfen, ohne den roten Faden zu verlieren. Eine gute Zusammenarbeit von Trainern ist die Basis für gelungene Trainings, vor allem, weil diese der Gruppe als exemplarisches Vorbild dient. Daher sollten die Trainer vor Beginn des Seminars einige Prinzipien der Zusammenarbeit festlegen. Alle Trainer sprechen dabei aus oder schreiben auf, was sie brauchen, um gut zu arbeiten und wie sie sich die Zusammenarbeit mit den anderen vorstellen. Danach können sie bestimmte Punkte für die Zusammenarbeit beim Seminar festlegen, also eine Art Teamvertrag abschließen. Selbstverständlich muss in der Vorbereitungsphase auch ein inhaltliches und methodisches Gesamtkonzept erarbeitet werden.149 Während der Trainer beobachtet, wie beim Seminar gerade die Qualität des Inhaltes und das Befinden der Gruppe ist, kann es hilfreich sein, zu wissen, welche 148 149 Vgl.: Engelhardt-Wendt (wie Anm. 144), S. 9. Vgl. ebd. 105 Stadien eine Gruppe normalerweise durchläuft, woran man die Stadien erkennt und wie man mit ihnen umgeht. Alle vorgeschlagenen Strategien müssen an den kulturellen Hintergrund der Teilnehmer und ihre Gepflogenheiten angepasst werden. Dabei gibt es keine vorgefertigten Muster erfolgreicher Verhaltensweisen, weil jeder Kontext anders ist und andere Lösungen erfordert. Bevor der Trainer sich Gedanken über das Befinden der Gruppe macht, sollte er über sich selbst nachdenken. Die Wahrnehmung seines eigenen Befindens ist der beste Weg, um die Gefühle in der Gruppe zu verstehen, wodurch dann schwierige Situationen in der Gruppe gemeistert werden können. Der Moderator sollte in einem partizipativen Training Zeit und Raum geben, um die Situation in der Gruppe zu besprechen und nicht selbst den vorhandenen Konflikt für die Gruppe lösen. Er sollte damit anfangen, seine Gefühle und Wahrnehmungen zu äußern, um dadurch eine Diskussion in Gang zu setzen und dann die jeweiligen Redner mit Fragen zu unterstützen. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass auch die ruhigeren Gruppenmitglieder zu Wort kommen und ausgehandelte Kompromisse wirklich von allen getragen werden. Grundsätzlich muss der Trainer in solchen Situationen den selbst regulierenden Kräften der Gruppe vertrauen.150 Doch gerade wenn in einem Seminar verschiedene Kulturen zusammenkommen, kann es zu Problemen zwischen einzelnen Teilnehmern kommen. In diesem Fall sollte der Trainer in der Gruppe jemanden ansprechen, der eine persönliche Beziehung zu den Beteiligten hat. Dieser sollte als Vermittler mit den betreffenden Teilnehmern ausführlich über das störende Verhalten reden, da die Einbeziehung vermittelnder Personen in den meisten Kulturen eine akzeptierte Form ist, Konflikte auszutragen. Da es in vielen Kulturen zudem unmöglich ist, Konflikte in einer Gruppe offen anzusprechen, sollten schwierige Teilnehmer nur in Ausnahmefällen direkt vor der Gruppe angesprochen werden, da sie sich sonst bloßgestellt fühlen, was in der ganzen Gruppe zur Verstummung führen kann. Die Methoden dieses partizipativen Trainingsleitfadens sollten sowohl bei der Entwicklung der Seminarbausteine als auch bei der Durchführung der Testphase 150 Vgl.: Engelhardt-Wendt (wie Anm. 144), S. 10. 106 der Seminarbausteine mit der Zielgruppe angewendet werden. Werden diese Anleitungen beachtet, entstehen durch die von IMES entwickelten Seminare tatsächlich partizipative Methoden, welche von der Zielgruppe mitbestimmt wurden. Dann wird die Zielgruppe durch die Seminarangebote erreicht, da diese auf sie abgestimmt und für sie von Interesse sind. 7. Möglichkeiten partizipativer Integration durch „Politikmanagement“ Im Bereich „Politikmanagement“ will IMES nicht nur theoretisch arbeiten, sondern auch praktisch, mit dem Ziel sinnvolle Maßnahmen für die tägliche Arbeit der Teilnehmer in diesem Bereich zu entwickeln. Organisationen und NGOs nehmen sich oft nicht die Zeit, um über ihre institutionellen und organisatorischen Schwächen und deren Außenwirkungen nachzudenken. Darin liegt oft die Ursache für das Scheitern. IMES will deshalb den Blick auf diese Schlüsselqualifikationen lenken, vorhandenes Wissen austauschen, gemeinsam diskutieren und vergleichen, wie diese Bereiche bisher in den verschiedenen Migrationsdiensten gehandhabt werden, gemeinsam Veränderungen erarbeiten und ein Evaluationssystem integrieren, um die Arbeit und Außenwirkung zu optimieren. Während des ersten Jahres der nationalen Advisory Boards haben die Mitglieder eine Liste mit den Themen erstellt, die zu einer Verbesserung ihrer Zielorientierung, ihrer Aktivitäten und ihrer zukünftigen Arbeit führen, mit dem Ziel ihre Effektivität in der Gesellschaft zu verbessern. Zu diesen Themen gehören strukturelle Aspekte wie das Verhältnis von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen und wie politische und leitende Ausrichtung, Aufgabenteilung, Entscheidungsfindungen, Erneuerungen, Fragen der Mitgliedschaft, der Zielgruppendefinition und der Finanzierung gestaltet werden sollen. Weitere Themen sind externe Beziehungen zu anderen NGOs, Institutionen, politischen Parteien, Presse und institutionelle Beziehungen, also die Einbeziehung in einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, lokale Organisationen im nationalen Kontext und die europäische Ausrichtung. 107 Jedes IMES-Mitglied kann hier eigene Erfahrungen einbringen und hat gleichzeitig die Chance, sich im Advisory Board von den anderen Kollegen Anregungen zu holen. Es sollen positive und negative Aspekte einer Organisation herausgearbeitet und gemeinsame Punkte festgelegt werden, die für die Arbeit mit Migranten wichtig sind und die Migranten wissen müssen, wenn sie Teil einer Organisation werden oder diese selbst gründen wollen. Aus der generellen Liste werden dann diejenigen herausgefiltert, bei denen es sinnvoll ist, gemeinsam an ihnen weiterzuarbeiten und diese als Seminarbausteine für Migranten aufzuarbeiten. Diese Vorschläge und Evaluierungsmethoden werden auf der europäischen Ebene abgestimmt und erstellt. Im Weiteren werden in den Seminaren die Ergebnisse ausgetauscht und Migranten haben die Möglichkeit aus dem offenen Umgang und der deutlichen Darstellung der positiven und negativen Aspekte für ihre Organisation zu lernen, oder sich an bereits vorhandenen Organisationen zu beteiligen. Am Ende wird ein Handbuch zum Thema „Politikmanagement“, über den Wissensaustausch zu den Themen und die unterschiedliche Art und Weise damit problemlösend umzugehen, erstellt. Außerdem wird es genauere Informationen und eine Methode, wie Veränderungen angegangen werden können, geben. 7.1 Grenzen der politischen Möglichkeiten von Migranten Neben der Unkenntnis der Migranten über ihre eigenen politischen Möglichkeiten ist eine weitere Schwierigkeit, dass diese in den europäischen Ländern oft sehr beschränkt sind. Aus den Prozessen der Einwanderung, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der Vergangenheit in hohem Maß erfolgt sind und voraussichtlich auch in Zukunft stattfinden werden, ergibt sich die Notwendigkeit, sich mit Fragen der Integration und der Integrationspolitik auseinanderzusetzen. Die Bundesrepublik ist aufgrund der hohen Migrationszahlen ein Einwanderungsland und Europa ein Einwanderungskontinent. Zum 108 einen ist mit Integration die Eingliederung des Migranten in die Aufnahmegesellschaft gemeint. Die Integration zielt darauf, dass der Migrant eine Position einnimmt, welche den Positionen ähnlich ist, die vergleichbare einheimische Gruppen in bestimmten Lebensbereichen einnehmen, und in der sie außerdem die Möglichkeit haben, relevante Bestandteile „ihrer“ Kultur aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus ist Integration aber auch der Prozess der Aufrechterhaltung und der Weiterentwicklung des Zusammenhalts der Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen. Politik ist ein Instrument, um gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten, Probleme zu bewältigen und Konflikte zu regulieren. Deshalb spielt Politik für den Abbau von Integrationsproblemen eine wichtige Rolle, die Förderung von Integrationsprozessen in Einwanderungsgesellschaften ist eine zentrale und dauerhafte politische Aufgabe. Politik muss die Gestaltung des Zusammenlebens von Mehrheitsgesellschaft und zugewanderten Minderheiten regulieren, wobei sie sich mit unterschiedlichen Instrumenten und Methoden an unterschiedliche Adressaten richtet. Hierbei werden verschiedene Ebenen, Bereiche und Akteure relevant und sind deshalb zu berücksichtigen. Für die unterschiedlichen Integrationspolitiken ist das Prinzip der Demokratie, welches gebunden ist an den Grundsatz der Menschenwürde, die Menschenrechte, das Rechts- und Sozialstaatsprinzip und den Föderalismusgrundsatz, ein verbindlicher Rahmen sowie ein Leitbild. Dies resultiert aus den demokratischen Verfahrensregeln, die auf bestimmten inhaltlichen Werten und Idealen basieren und auf deren Verwirklichung ausgerichtet sind. Zwar sind die Elemente der Demokratie einerseits unmittelbare Realität, darüber hinaus jedoch ein noch zu verwirklichendes Ziel. Als Maßstab ermöglicht das Demokratieprinzip also einen Vergleich zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit gesellschaftspolitischer Verhältnisse, womit gewährleistet ist, die Integrationspolitiken unter analytischen, normativen und konstruktiven Gesichtspunkten zu beurteilen.151 151 Vgl.: Schulte, Axel: Integrations- und Antidiskriminierungspolitik in Einwanderungsgesellschaften, Hannover 2003. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=33&mode=thread&o rder=0&thold=0 (Stand: 11.4. 2004). 109 Demokratische Verfahren sollen strukturelle Defekte und Defizite der Demokratie verringern und damit einhergehende Unfreiheiten und Ungleichheiten abbauen, die Möglichkeit einer freien und gleichen Partizipation für Individuen und Gruppen erweitern und Konflikte gewaltfrei bewältigen. Deshalb gehört die Entgegenwirkung struktureller Desintegration von Migranten und die Sicherung ihrer formell und real gleichen Teilhabechancen in der Gesellschaft zu den zentralen Aufgaben von Integrationspolitik. Dabei müssen Integrationshemmnisse und -sperren auf Seiten der Migranten ebenso wie in Strukturen und Mechanismen der Aufnahmegesellschaft berücksichtigt werden. In dem Maß, wie Integrationspolitik in dieser Hinsicht erfolgreich und nachhaltig wirkt, kann sie auch zur Demokratisierung auf der gesamtgesellschaftlichen und transnationalen Ebene beitragen. So sind Freiheit und Gleichheit normative Grundlagen der Demokratie und stehen in einem engen Zusammenhang mit dem ethischen Individualismus, nach dem jedes Individuum als Person mit den gleichen Rechten und der gleichen Würde gilt. Freiheit und Gleichheit sind jedoch keine Tatsachen, sondern zu verfolgende Ideale und verpflichtende Werte. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, was die bisherige Integrationspolitik zu deren Realisierung und Weiterentwicklung geleistet hat und welchen Beitrag sie in Zukunft leisten kann und sollte.152 Bei einem großen Teil der in westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften, insbesondere der in der Bundesrepublik lebenden Migranten, handelt es sich um Personen mit dem rechtlich-politischen Ausländerstatus. Dadurch leben sie in einem Nebeneinander von gleicher und ungleicher Freiheit, da sie einerseits auf verfassungsrechtlicher Ebene, nach dem Prinzip der Menschenrechte und mit Ansprüchen auf wirksamen Rechtsschutz die gleichen Rechte haben, andererseits als Ausländer nicht über die Bürgerrechte verfügen und ausländerrechtlichen Sondernormen unterliegen. Dies ist zwar unter völker- und verfassungsrechtlichen Aspekten zulässig, wird aber mit zunehmender Integration der Migranten in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Aufnahmelandes immer problematischer. Daher muss den länger im Land lebenden Migranten in staatlichen Integrationspolitiken mehr gleiche Freiheit gegeben werden, weil die vielfältigen Formen der ungleichen 152 Vgl.: Schulte (wie Anm. 151). 110 Freiheit zu Verunsicherungen, Benachteiligungen und Diskriminierungen direkter und indirekter Art führen. Selbst auf der Ebene der Europäischen Union haben Angehörige von EU-Mitgliedstaaten bestimmte Gleichstellungsdefizite und somit Integrationssperren. Folgende Maßnahmen sollten die ungleiche Freiheit abschwächen: - die Beseitigung oder Modifizierung einzelner, besonders problematischer ausländerrechtlicher Bestimmungen - eine Überprüfung und gegebenenfalls Änderung von rechtlichen Bestimmungen, die sachlich nicht mehr legitimierbare Ungleichbehandlung von Ausländern beinhalten - Maßnahmen zur Umsetzung von Konzepten eines Niederlassungsrechts oder einer postnationalen Mitgliedschaft - Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht, die darauf gerichtet sind, den Erwerb der Staatsangehörigkeit für Einwanderer in konsequenter und vorbehaltloser Weise zu erleichtern - Maßnahmen auf der EU-Ebene zur Gewährleistung einer gerechten Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, durch eine Integrationspolitik, die darauf gerichtet ist, ihnen vergleichbare Rechte und Pflichten wie EU-Bürgern zuzuerkennen - eine Verringerung der Differenzen zwischen Menschen- und Bürgerrechten, entweder dadurch, dass bestimmte Grundrechte, die bisher als Bürgerrechte konzipiert sind, als Menschenrechte umdefiniert werden und/oder dadurch, dass ein neuer Bürgerbegriff entwickelt wird, der nicht nur die jeweiligen Staatsangehörigen, sondern auch die dauerhaft in einem Territorium lebenden Personen umfasst.153 Für die politische Demokratie ist das Konzept der Freiheit als Autonomie kennzeichnend, die in der Möglichkeit besteht, sich die Gesetze und äußeren Normen, denen man gehorcht, selbst zu geben. Das für demokratische Systeme charakteristische Prinzip der Partizipation soll also gewährleisten, dass die Staatsbürger direkt oder indirekt aktiv an der politischen Willensbildung teilnehmen 153 Vgl.: Schulte (wie Anm. 151). 111 und politische Entscheidungen beeinflussen und kontrollieren können. Dem entsprechend beinhaltet das Prinzip der politischen Gleichheit, dass jeder Staatsbürger über das gleiche Recht verfügt, den politischen Willensbildungsprozess beeinflussen und gestalten zu können. Dieses demokratische Versprechen auf gleiche politische Autonomie wirft die Notwendigkeit auf, auch die dauerhaft im Inland lebenden Migranten in die demokratischen Teilhaberechte gleichberechtigt mit einzubeziehen und damit sowohl deren Freiheit und Integration durch Partizipation als auch die der gesamten Gesellschaft zu fördern. Solange Migranten in der Bundesrepublik den Ausländerstatus haben, ist deren politische Partizipation besonderen Bedingungen unterworfen. Ihnen ist vor allem das aktive und passive Wahlrecht vorenthalten, was die Bevölkerung Deutschlands in politisch voll- und minderberechtigte Teile spaltet und die Integration von Migranten erschwert.154 Um Migranten mehr politische Freiheit und Gleichheit und damit ein höheres Maß an Integration zu ermöglichen, muss man ihnen zunächst die Bürgerrechte auf lokaler Ebene verleihen. In den Mitgliedstaaten der EU wurde durch den Maastrichter Vertrag 1992 und den damit zusammenhängenden Verfassungsänderungen zwar das Wahlrecht für Unionsbürger auf der kommunalen Ebene eingeführt, dieses ist aber eben auf die kommunale Ebene beschränkt und für Migranten aus nicht-EU-Ländern gar nicht vorhanden. Daher wäre die Erleichterung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes für die demokratische Partizipation und Integration von Zugewanderten ein bedeutender Beitrag. In Deutschland ist das Staatsangehörigkeitsrecht durch erhebliche Restriktionen gekennzeichnet. Zwar kam es am 1. Januar 2000 zu einer erheblichen Verkürzung der Mindestaufenthaltszeiten, doch die Gesetze konzentrieren sich weiterhin auf die Einbürgerung und das Abstammungsprinzip, während doppelte Staatsbürgerschaft vermieden wird. Wenn Fortschritte bei den Integrationsprozessen erzielt werden sollen, sind weitere Erleichterungen des Erwerbs der Staatsangehörigkeit erforderlich. 154 Vgl.: Schulte (wie Anm. 151). 112 Eine nachhaltige gesellschaftliche Integration kann zudem nicht ohne einen sozialen Ausgleich gelingen. Die jeweilige soziale Wirklichkeit muss berücksichtigt werden, damit eine Gleichstellung in den materiellen Auswirkungen des Rechts erzielt wird. Die gesellschaftliche Entwicklung wird also nicht nur allein den Marktkräften überlassen, sondern verpflichtet staatliche Organe, soziale Ungleichheit abzubauen und so die Freiheit und Würde der schwächeren Gesellschaftsmitglieder und deren Partizipationsmöglichkeiten zu schützen. Diese sozialen Rechte gelten in der Bundesrepublik unabhängig von der Nationalität und somit auch für in Deutschland lebende Migranten. Deren soziale Lage ist jedoch noch immer durch erhebliche Ungleichheiten, Benachteiligungen und beeinträchtigte Lebenschancen gekennzeichnet. Zum Abbau dieser Integrationsdefizite können sozialstaatliche Integrationsmaßnahmen an den Defiziten der Information und der sprachlichen und beruflichen Qualifikation der Migranten durch besondere Beratungs- und Fördermaßnahmen ansetzen. Doch die benachteiligte soziale Lage der Zuwanderer ist nicht nur durch sie selbst bedingt, sondern auch durch Phänomene und Mechanismen, welche in der Mehrheitsgesellschaft existieren. Deshalb müssen zusätzliche Maßnahmen für den Abbau von Diskriminierung und Rassismus entwickelt und verwirklicht werden.155 Neben sozialstaatlichen Maßnahmen „von oben“ können auch Zusammenschlüsse auf gesellschaftlicher Ebene „von unten“ die soziale Lage von Migranten verbessern. Gemeint sind damit Formen der kollektiven Selbsthilfe sowie deren rechtlich-politische Anerkennung und Förderung. Im Bereich der Arbeitswelt sind das die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, die Arbeitskampffreiheit und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte im Rahmen der Betriebsverfassung und der Unternehmensmitbestimmung. Auf die soziale Lage der Migranten und deren Integration, wirken sich außerdem Formen der sozialen Vernetzung beispielsweise in Form von Einwanderungskolonien positiv aus. Sie geben den Betroffenen Möglichkeiten der Orientierung, der Vernetzung, der Selbsthilfe, der Identitätsbildung, der Integration und der Interessenvertretung. 155 Vgl.: Schulte (wie Anm. 151). 113 7.2 „Politikmanagement“ durch Vereinigungen Von Kultur ist meistens in Form von Monokultur die Rede. Begriffe wie Überfremdung, Überschwemmung und Kolonienbildung sind nicht weit entfernt von der Idee der „deutschen Leitkultur“. Diese Idee kulturalisiert Politik und politisiert Kultur, um mit der Angst vor dem Verlust kultureller Werte und Normen interkulturelle Verständigungsprozesse zu blockieren und kulturblinden Stimmenfang zu betreiben. Dieser Diskurs ist ein über die Instrumentalisierung der Kultur ausgetragener Versuch der Festschreibung des alten Zustandes, in dem die Partizipationsmöglichkeiten der Migranten stark eingeschränkt sind. In der einwanderungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre hat die Frage der politischen Partizipation kaum eine Rolle gespielt. Für die überwiegende Mehrheit der Migranten in Deutschland gibt es kaum Möglichkeiten der klassischen politischen Betätigung. Die einzigen, teilweise gewählten Gremien sind die Ausländerbeiräte, welche in manchen Städten wie Hannover aufgelöst und in Migrations- und Integrationsausschüsse umgewandelt werden. Diese leiden allerdings unter einer chronischen Legitimitätsschwäche, da sie meistens nicht einmal 10% der möglichen Stimmen erreichen. Weitere Schwierigkeiten sind ihre Selbstorganisation und hauptsächlich an der Politik ihrer Herkunftsländer orientierte politische Bewegungen, mit denen sie sich an der Grenze zum Gesetzesverstoß bewegen, da das Ausländerrecht ihre politischen Betätigungsrechte einschränkt. Im Kern hat das neue Zuwanderungsgesetz in §47 das umfassende „Verbot und Beschränkung der politischen Betätigung“ aus dem Ausländergesetz bruchlos übernommen.156 Auch durch die Ausdifferenzierung des Anti-Terroristengesetzes wurden die Verbotsgründe für so genannte Ausländervereine stärker modifiziert und erweitert. Trotzdem muss „Politikmanagement“ eine wichtige Stellung bei der Entwicklung partizipativer Methoden zur Verbesserung der Integration von Migranten 156 Vgl.: Caglar, Gazi: Kultur und Migration, Hannover 2003. In: http://www.imes.info/modules.php?op=modload&name=News§file=article§sid=37 2004). (Stand: 11.4. 114 einnehmen, da die Nutzung derjenigen demokratischen Methoden, die dem Migrant im Aufnahmeland zur Verfügung stehen, ihm die Möglichkeit bietet, selbst Einfluss auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Integration zu nehmen. Und hier bieten bis jetzt nun mal Vereinigungen die besten Plattformen für die Artikulation langfristiger Interessen, welche nach außen gerichtet sind. Das Projekt IMES will ein Netzwerk zwischen den unterschiedlichen Vereinigungen des Migrationsbereiches in der Region aber auch länderübergreifend schaffen. Vereinigungen stellen Kontexte dar, in denen die Mitglieder bezahlte und unbezahlte Positionen (Vorsitzender, Sprecher) erhalten können, was ein innerorganisatorischer Aspekt von Vereinigungen ist. Außerdem sind sie enge Interaktionsnetzwerke, die wie Familien oder Freundschaftsnetzwerke Bestätigung bieten. Wie alle gesellschaftlichen Gruppen können auch Migranten sich in Vereinigungen zusammenschließen, um ihre gesellschaftlichen Interessen zu vertreten und langfristig auf eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position hinzuwirken. Hierbei gibt es zwei Strategien. Zum einen können Zuwanderer, die generalisierbare Ressourcen kontrollieren, denen aber der individuelle Zugang zu den Netzwerken der Aufnahmegesellschaft nicht zugänglich ist, diese Barrieren durch kollektives Handeln abbauen. Ein weiterer Weg ist, wenn die bestehenden Opportunitäten den Migranten zu beschränkt erscheinen, auf deren Ausweitung hinzuarbeiten. Je größer, etablierter und institutionell vollständiger eine Vereinigung ist, desto weniger sind die Migranten darauf angewiesen, diese für bestimmte Vorgänge zu verlassen.157 Grundsätzlich soll die politische Interessenvertretung von Zuwanderern auf den Abbau von Barrieren, welche ihnen die effektive Nutzung ihrer Ressourcen erschweren, hinarbeiten. Diskriminierungsabbau soll es ermöglichen, gleiche Rechte für alle Gesellschaftsmitglieder durchzusetzen. Es sollen also keine besonderen Rechte, sondern Abwehrrechte gegen Benachteiligung eingefordert werden. Typische Gleichberechtigungsforderungen von Migranten sind die nach Ausländerwahlrecht, Einbürgerungserleichterung und Anti-Diskriminierungsgesetzen. Es handelt sich also um eine Angleichung von Rechten der Minorität an die 157 Vgl.: Diehl (wie Anm. 122), S. 67f. 115 der Majorität. Die Durchsetzung dieser Rechte ist oft nur in kollektivem Handeln möglich, weil sie meist mit hohen Kosten verbunden ist und die kollektive Forderung außerdem die Legitimität erhöht.158 Die Forderung nach einer Bewahrung der kulturellen Gruppe zielt darauf ab, innerhalb des Aufnahmelandes einen Bereich zu schaffen, in dem die Regeln, Bräuche und Bewertungsmuster der Herkunftsgesellschaft gelten. Der Zugang der Migrantengruppe zu sozialer Anerkennung wird insofern verbessert, als dass der Geltungsbereich der herkunftslandspezifischen Ressourcen ausgeweitet wird. Hierfür sollte die Verfassung der Aufnahmegesellschaft um Elemente der Verfassung der Vereinigung bzw. des Herkunftslandes erweitert werden. Dies setzt nicht zwangsläufig Diskriminierung voraus, sondern soll die Stellung der jeweiligen Minorität verbessern und sie als Gruppe erhalten. Sonderrechte für Minoritäten schaffen in der Gesellschaft einen Kontext, in dem die Gruppenmerkmale, zum Beispiel Sprachkenntnisse, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe oder Kleidung, zu effizienten Mitteln für den Zugang zu sozialer Anerkennung werden. Ihr Wert ist also vom Erhalt der Gruppe abhängig.159 Die Partizipation in solchen Vereinigungen trägt zur Entstehung einer Migrationskultur bei. Diese nimmt die Erfahrung des Fremdseins ernst, lebt von der Sehnsucht nach dem globalen einheimisch werden und versucht die Zerrissenheiten des Lebens als Migrant als Zerrissenheiten von Gesellschafts- und Welterfahrung zu verallgemeinern und so für alle verständlich, vermittelbar und kommunizierbar zu machen. So schafft sie Solidarität, ermöglicht Empathie und verbindet. 8. Beurteilung der ersten Projektphase Ende des Jahres 2003 wurde die erste der drei Phasen des Projektes IMES abgeschlossen. Nun kann reflektiert werden, inwieweit die Zwischenziele bei der 158 159 Vgl. ebd., S. 69. Vgl.: Diehl (wie Anm. 122), S. 70f. 116 Entstehung neuer Methoden zur partizipativen Integration von Migranten erreicht wurden, wo noch Verbesserungsbedarf besteht und was für den Erfolg des Projektes verändert werden muss. Zum einen gibt es die Beurteilung des Projektes durch den deutschen Koordinator selbst, der sich in Berichten an die EU dazu äußert. Nach Abschluss des ersten Jahres hat auch die zweite deutsche Partnerin, Gabi Janecki vom VNB, ihre Beurteilung über den bisherigen Projektverlauf abgegeben. Außerdem gibt es eine Befragung des IMES Mitglieds Frank Auracher, der in Hildesheim lebt und daher einen objektiveren Blickwinkel auf das Projektgeschehen hat, da er weniger in die Migrationsarbeit in Hannover eingebunden ist. Eine weitere objektive Befragung entstand mit Julia Gebke, die während eines zweimonatigen Praktikums einen Einblick in die Arbeit von IMES bekommen hat. 8.1 Beurteilung durch den deutschen Koordinator Georg May Die Erwartungen des deutschen Koordinators Georg May an das Projekt IMES haben sich von Beginn an erfüllt. Schon nach den ersten drei Monaten von Oktober bis Dezember 2002 war das deutsche Advisory Board komplett. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch einzelne Zusagen wünschenswert erschienen, war das Board groß genug und die derzeitigen Mitglieder erfüllten die Zusammensetzungskriterien nach Gender und dem ausgewogenen Verhältnis von Deutschen und Migranten sowie Professionellen und Ehrenamtlichen. Seine eigene Rolle sah der Koordinator in dieser Zeit in der Entwicklung der Boardstruktur und der Kommunikationsstrukturen, doch da die Mitglieder interessiert waren, schien schon jetzt eine konstruktive Zusammenarbeit wahrscheinlich.160 160 Vgl.: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Zwischenbericht der Projekte zur länderübergreifenden Zusammenarbeit. Sokrates Programm. Finanzielle Vereinbarungen Nr.: 100912 – CP – 1 – 2002 – 1 – GRUNDTVIG – G1, Hannover 2003, S. 1. 117 Allerdings war das Projekt während dieses Anfangsstadiums noch sehr theoretisch, was Georg May mit dem Einstieg in das erste Thema „Neue Medien“ aber im nächsten Projektabschnitt ändern wollte. Die Bereitschaft zur Mitarbeit ist seiner Meinung nach bei den Teilnehmern geweckt worden.161 „Das Interesse an den nächsten Schritten und Treffen ist da. Die Verbindung der direkten Kommunikation durch die Treffen in Kombination mit der Website scheint auf Akzeptanz zu stoßen.“162 Für die weitere Projektarbeit wurden vor allem Hilfe und Hinweise für Texte (auch für die Website) und Referenten benötigt, da die BoardMitglieder als viel beschäftigte Experten eher selten den Themeneinstieg vorbereiten würden.163 Den Verlauf des Projektes reflektierte der deutsche Koordinator vor allem durch Einzelgespräche und Befragungen der Advisory Board-Mitglieder nach und zwischen den Treffen, da die Mitglieder vor ihrem Erfahrungshintergrund aus der Arbeit mit Migranten beurteilen können, welche pädagogischen Ansätze Erfolg versprechend sind, welche Lücken bestimmte Methoden füllen können und wie in den Focus genommene Gruppen erreicht werden können. Diese Hinweise sind vor allem für die Entwicklung und Durchführung der Seminarangebote notwendig und können in Verbindung mit gezielten Informationen durch Experten neue Ideen und Bildungsansätze entstehen lassen. Von Januar bis März 2003 wurde das Advisory Board nach der Beurteilung durch Georg May endgültig komplett, wobei es immer für einzelne neue Mitglieder offen blieb, eine intensive Suche danach jedoch nicht mehr nötig war. Seine eigene Rolle sah er nun als organisatorisch und fachlich anerkannt im deutschen Advisory Board.164 „Das Board arbeitet konstruktiv und interessiert zusammen. Die Koordinationsarbeit ist interessant, aber zeitaufwändiger als geplant. Das Projekt muss sich als Netzwerk noch entwickeln.“165 Die professionellen Mitglieder haben laut des deutschen Koordinators bereits eigene Kommunikationsstrukturen und sehen IMES als einen zusätzlichen Arbeitsbereich, den sie aber noch nicht aktiv in ihre 161 Vgl. ebd. Europäische Kommission (wie Anm. 160). 163 Vgl. ebd. 164 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 160), S. 4. 165 Europäische Kommission (wie Anm. 160). 162 118 Arbeit integrieren. Dies sei nach so kurzer Zeit auch noch nicht zu erwarten, bleibe aber weiterhin Anspruch des Projektes. Für die Netzwerkentwicklung seien die regelmäßigen Treffen sehr wichtig, müssten aber so gut vorbereitet und mit Informationen von guten Referenten versehen sein, dass der Nutzwert einer Teilnahme größer als der Nachteil der zusätzlichen Zeitbelastung für die beruflich sehr eingespannten professionellen Migrationsarbeiter werde.166 In der Zeit von April bis September 2003 sah der deutsche Koordinator bei seiner Arbeit eine Entwicklung des Projektes zum Netzwerk. Die Vorteile für die professionellen Mitglieder seien bei der Planung gemeinsamer Seminare deutlich erkennbar, was zur Stabilisierung der Teilnahme beitrage. Allerdings sei in allen Organisationen spürbar, dass die finanziellen Mittel sinken und damit die Arbeitsbelastung steige, was auch für die Zusammenarbeit von IMES noch nicht absehbare Konsequenzen haben könne. Einige Advisory Board-Mitglieder konnten daher auch nicht kontinuierlich an den Treffen teilnehmen, da sie beruflich verhindert waren. Doch Größe und Zusammensetzung seien trotzdem weiterhin ausreichend gewesen und die Informationen durch Referenten führten weiterhin zu vertieften Diskussionen und zur Weiterentwicklung des Projektansatzes. Des Weiteren stellt sich nach Meinung von Georg May die Zusammenarbeit mit einem Experten zum auf der vorherigen Sitzung ausgewählten Thema als sehr gut heraus. Sie verschaffe dem Advisory Board neue Einsichten und Ideen und der Koordinator könne sich stärker auf die Entwicklung der Zusammenarbeit konzentrieren. Die Erarbeitung konkreter Seminarvorschläge für das Thema „Neue Medien“ sei nun ein wichtig werdender Arbeitspunkt, dessen konkrete Kooperation in Vorbereitung sei.167 Für wünschenswert hält Georg May es, wenn das Projekt eine gemeinsame Konferenz der Advisory Board-Mitglieder aus allen drei Ländern ermöglichen könnte, da auch bei den Koordinatoren schon deutlich wird, dass der Erfahrungsaustausch bei ihren Treffen im direkten Dialog am hilfreichsten und intensivsten ist. Konkrete Pläne gibt es hierzu jedoch noch nicht. 166 167 Vgl. ebd. Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 160), S. 6. 119 8.2 Beurteilung durch die zweite deutsche Partnerin Gabi Janecki Gabi Janecki hält das deutsche Advisory Board ebenfalls für eine gut zusammengesetzte Gruppe aus einem breit gefächerten Bereich von Mitarbeitern aus Organisationen des Migrationsbereiches. Es seien sehr interessante Vorträge zu den Themen „Neue Medien“ und „soziokulturelle Kompetenzen“ gehalten sowie sehr gute Experten eingeladen worden, um das Wissen der Mitglieder zu den Themen des Projektes zu vertiefen. Auch das Advisory Board hält sie für eine arbeitsfähige Gruppe aus sehr professionellen Mitgliedern mit einer guten Arbeitsgröße, da sie bei jedem Treffen höher als zehn Mitglieder ist. Die Mitglieder seien das ganze erste Jahr mehr oder weniger dieselben geblieben, wobei nicht jeder an allen Treffen teilnehmen konnte, eine kontinuierliche Arbeit dennoch möglich gewesen wäre.168 Ihre eigene Rolle sieht Gabi Janecki als die einer externen Beobachterin, wobei sie im zweiten Jahr aber auch in die Planung eines Seminars zum Thema „Neue Medien“ mit dem deutschen Koordinator für die deutsche Gruppe miteinbezogen ist. Das wichtigste Ergebnis des ersten Jahres sei die Zusammenstellung und Kapazität des Advisory Boards und die Beschäftigung mit den Themen „Neue Medien“ und „soziokulturelle Kompetenzen“. Ebenfalls wichtig sei die gute Basis für den Erfahrungsaustausch zwischen den Mitglieder und das dadurch entstandene Netzwerk für die zukünftige Bearbeitung der Themen. Für die Zukunft sei es notwendig, die Arbeit des Advisory Boards praktischer zu gestalten. Die theoretischen Ergebnisse des ersten Jahres sollten praktischen umgesetzt werden zum Beispiel durch Radio, Video, Internet oder Trainingseinheiten zu „soziokulturellen Kompetenzen“. Es sei weiterhin wichtig, mehr Kooperationsidentität 168 Vgl.: VNB: New educational methods for an integration of migrants in the European Society. Formal Evaluation Report Form, Hannover 2003, S. 1. 120 zwischen den Mitgliedern herzustellen, was bedeutet, dass das Advisory Board bewusst als Teil des Projektes wahrgenommen werden müsste.169 Die beiden Themen „Neue Medien“ und „soziokulturelle Kompetenzen“ seien in einer sehr guten theoretischen Art vermittelt worden, indem Experten zu den Treffen des Advisory Boards eingeladen wurden, die einen sehr guten Überblick über die derzeitige Diskussion der Themen gegeben hätten. Das Thema „Politikmanagement“ sei dagegen gar nicht behandelt worden. Als Ergebnis des gesamten Projektes würde die zweite deutsche Partnerin sich ein aktives, kompetentes Netzwerk aus vielen im Bereich Migration arbeitenden Mitgliedern und konkreten Lern- und Lehrmaterialien für die drei Projektthemen wünschen. Zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit seien die Nutzung der im Projekt behandelten „Neuen Medien“, eine Broschüre über das Projekt und ein oder zwei öffentliche Veranstaltungen in jedem Land nötig. Ein interkultureller Trainingsworkshop, Training für die Benutzung „Neuer Medien“ und die Einführung in das Thema „Politikmanagement“ sind Ideen für die zweite Phase des Projektes.170 8.3 Befragung des IMES-Mitglieds Frank Auracher171 Der 34-jährige Diplom-Sozialpädagoge Stadtteilmanagement Drispenstedt in Frank Hildesheim Auracher und hat arbeitet die beim deutsche Staatsangehörigkeit. Die Arbeit mit Migranten umfasst nur einen Teil seiner täglichen Arbeit als Stadtteilmanager. Wichtig ist ihm hierbei, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren zu erhöhen, die Sprachförderung zu bündeln und zu intensivieren und die Stadtteilbevölkerung zu mehr Offenheit und Toleranz gegenüber jeweils anderem zu ermutigen. Bezogen auf konkrete Projekte im Stadtteil legt er Wert darauf, in allen Projekten bereits bei der Planung frühzeitig Migranten mit einzubeziehen, wobei er aber feststellt, dass der verstärkt nötige Anteil an aktivierender Arbeit nur zum Teil machbar ist. 169 Vgl.: VNB (wie Anm. 168), S. 2. Vgl. ebd., S. 2f. 171 Von der Verfasserin geführtes Interview mit Frank Auracher im November 2003 in Hannover. 170 121 Als einziges nicht aus Hannover oder Umgebung stammendes Mitglied des deutschen Advisory Boards ist Frank Auracher über seine Mitgliedschaft im Vorstand der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. zu seiner Mitarbeit bei IMES gekommen. Entscheidend war dabei natürlich der Inhalt seiner Arbeit mit den unterschiedlichen Menschen in Drispenstedt, da in diesem Stadtteil von Hildesheim die Quote der Migranten im Vergleich zu anderen Stadtteilen sehr hoch ist. Die interkulturelle Arbeit ist somit ein Schwerpunkt seiner Arbeit und er versucht die Integration durch die Stärkung der interkulturellen Kommunikation und Begegnung zu fördern. Die Mitarbeit bei IMES wird daher von der Seite seines Auftraggebers, der Stadt Hildesheim, unterstützt. Von der Mitarbeit bei IMES erwartet sich Frank Auracher einen Dialog mit Experten aus anderen Berufsfeldern im Arbeitsbereich Migration, eine begleitende Evaluation eines Modellprojekts zum Thema Integration sowie Informationen aus den verschiedenen Bereichen der aktuellen Migrationsdebatte, innovative Ansätze und Referate verschiedener Experten aus der Arbeit mit Migranten. Speziell für Drispenstedt ist die Nutzung des Bürgerradios mit dem Aufbau einer interkulturellen Redaktion geplant. Diese Erwartungen wurden für ihn bis jetzt weit übertroffen. Die Integration von Migranten werde bei IMES durch die Entwicklung von innovativen Konzepten zur Integrationsarbeit mit Migranten, aber gleichzeitig auch mit der Stadtbevölkerung insgesamt durch den Dialog von Experten gefördert. Außerdem werde sie durch die gegenseitige Information, durch das Erproben innovativer Konzepte in Form von Modellprojekten, die aktive Mitgliedschaft von Experten mit eigenem Migrationshintergrund und Internetpräsenz als Instrument der Zusammenfassung aktueller Entwicklungen in der Arbeit mit Migranten unterstützt. Die Rolle der Migranten, welche im Advisory Board von IMES Mitglied sind, sei eine besondere, da diese aus eigener Erfahrung innovative Ansätze kritisch hinterfragen könnten und so sicherstellen würden, dass nicht an den Betroffenen vorbeigeplant werde. Außerdem würden sie kritisch hinterfragen, warum die Zielgruppe häufig Migranten seien und nicht etwa die Stadtteilgesellschaft allgemein. Durch die Mitarbeit der Migranten werde zudem 122 gewährleistet, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft handelnde Akteure sind oder werden, wodurch die Opferrolle vermieden werde. Sie seien kritische Diskussionspartner, welche allgemein desintegrativen Tendenzen entgegenwirken würden. Frank Aurachers Erwartungen an die Mitarbeit der Migranten bei IMES sind erfüllt. Die neu entstehenden Methoden von IMES seien der innovative Ansatz der Radioredaktion in einem ganz normalen Stadtteil und eine konstruktive Medienkontrolle, welche den kritischen Dialog mit Fernsehmedien stärke. Die Rolle der „Neuen Medien“ sei eine herausragende, da das ganze Projekt um die Nutzung „Neuer Medien“ in der Migrationsarbeit herum aufgebaut sei. Allerdings zeige sich an der geringen Nutzung der Homepage, dass Praxis und Theorie auch hier auseinanderdriften. Der Bergriff der „soziokulturellen Kompetenz“ müsse klar definiert und entsprechend in die unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft transportiert und vermittelt werden. Die entsprechenden Teilkompetenzen sollten daher Eingang in alle Curricula und Ausbildungsgänge finden, um die bereits bestehende interkulturelle Gesellschaft auch tatsächlich zu einer lebendigen Gesellschaft, basierend auf der kompetenten Kommunikation über die Grenzen verschiedener Milieus hinaus, werden zu lassen. Kritisch anmerken möchte Frank Auracher jedoch, dass es IMES auch obliegt aufzuzeigen, dass Integration nicht unbedingt aufgrund mangelnder interkulturelle Kompetenz misslingt, sondern ebenso sehr Verteilungskonflikte von Ressourcen und Gerechtigkeitsdefizite eine Rolle spielen. Integration funktioniere also nur, wenn Chancengleichheit für Migranten gepaart mit der Weiterentwicklung interkultureller Kompetenzen hergestellt werde. Bislang sei man in diesem Bereich bei IMES aber bei der Diskussion stehen geblieben und habe noch keine Praxisrelevanz entwickelt. „Politikmanagement“ habe bisher bei IMES noch keine Rolle gespielt, da dieses Thema noch nicht behandelt wurde. Im nächsten Quartal erwartet sich Frank Auracher jedoch sehr viel von der Klärung der Frage, wie Einfluss auf Politik und Verwaltung, hinsichtlich einer Öffnung der Gesellschaft zu einer Zuwanderungsgesellschaft, genommen werden kann. Dazu gehöre eine sprachliche Öffnung 123 ebenso wie verstärkte Bemühungen jeglicher Fachabteilungen und Politikbereiche Integration als Querschnittsaufgabe zu begreifen. Ebenso gehöre die Öffnung der Verwaltungen zu mehr Transparenz und Beteiligung der gesamten Bevölkerung aber auch die Öffnung der Politik zu mehr Beteiligung und Verstärkung der Moderation von Entscheidungsfindungen anstelle von Entscheidungsfindungen als Machtfaktor dazu. Die Partizipation von Migranten werde allgemein durch die Öffnung von Entscheidungsprozessen, die Transparenz von Verfahren inklusive Mehrsprachigkeit, die Stärkung der Vernetzungsarbeit in den Wohnquartieren und Stadtteilen, den Blickwechsel auf Ressourcenorientierung und Akzeptanz gepaart mit wirklichem Interesse gefördert. Den Anteil der Migranten bei IMES selbst hält Frank Auracher für relativ hoch, wobei abzuwarten bleibe, ob sich diese in den einzelnen Projekten wieder finden wird. Über das Multiplikatorprinzip wirke IMES in verschiedene Teilbereiche der Gesellschaft hinein und entwickele gemeinsam mit Migranten innovative Ansätze in der Integrationsarbeit und eine Veränderung von Strukturen und Bewusstseinsprägungen in der Zuwanderungsgesellschaft. Als Verbesserungsvorschlag für das Projekt plädiert Frank Auracher für eine transparentere und intensivere Selbstdefinition von IMES. Es müsse klar sein, was IMES will, was für die Mitglieder dazugehört, wo für jeden Einzelnen der Nutzen und wo die Herausforderung und Selbstverpflichtung liegt. Dazu seien die Einzelgespräche sehr wichtig, welche der deutsche Koordinator derzeit führt, aber auch jeweils ein kurzer Austausch hinsichtlich der Frage, wer wo steht, was gerade in der Arbeit von jedem Priorität hat und wie der Stand des zu entwickelnden Modellprojekts ist. Momentan beobachtet Frank Auracher, dass einzelne Mitglieder nicht präsent sind, ebenso ist er unsicher in der Frage, ob der Kreis offen ist für neue Mitglieder. Das würde er stark begrüßen, da er wahrnimmt, dass sich einzelne aufgrund von zeitlichen Überschneidungen nicht ausreichend einbringen können. Wenn dies schon nicht möglich sei, stelle sich die Frage, wie es möglich sein solle, Modellprojekte zu initiieren. 124 8.4 Befragung der Praktikantin Julia Gebke172 Die 22-jährige deutsche Studentin Julia Gebke absolvierte ein zweimonatiges Praktikum bei Tapas – Verein für Kultur, Völkerverständigung und Umweltschutz e.V. mit dem Schwerpunkt IMES. Dieser Praktikumsschwerpunkt wurde gewählt, da ihr das Internetprojekt von tapas-multimedia zur Erlebnisausstellung „Clandestino illegal“, welche illegale Migranten thematisiert, sehr gut gefiel. Von der Mitarbeit bei IMES erwartete sie sich einen Einblick in die interkulturelle Arbeit. Allerdings hatte sie auch gehofft, konkrete Medienprojekte mit bzw. von Migranten mitzuerleben, was jedoch nicht der Fall war. Daher haben sich ihre persönlichen Erwartungen an IMES nicht erfüllt, Julia Gebke hofft aber, dass diese im Verlauf des Projektes noch realisiert werden. Die Integration von Migranten werde bei IMES momentan vor allem durch den Austausch von Informationen gefördert. Jeder trage durch seine eigenen Erfahrungen und Arbeitshintergründe dazu bei, Ideen für neue Projekte zu entwickeln. Dazu kommen noch die Referate von verschiedensten Personen aus der interkulturellen Arbeit. Die Stellung der Migranten bei IMES sei vollkommen gleichberechtigt, da diese schon direkt bei den Treffen mitarbeiten und nicht über, sondern mit ihnen diskutiert werde. Durch deren Mitarbeit erwartet Julia Gebke, dass dadurch der typische Fehler, Integration als einseitigen Prozess zu sehen, von vornherein vermieden wird. Außerdem werde somit die Wahrnehmung von Integration besser gewährleistet. Des Weiteren sei zu hoffen, dass durch die Mitarbeit von Migranten im Advisory Board, IMES auch von den Migranten, die an den geplanten Projekten teilnehmen, ernst genommen wird. Bis jetzt erfüllen sich diese Erwartungen. Der Einsatz von Medien und der Umgang mit „Neuen Medien“ solle Integration fördern, zum Beispiel auch dadurch, dass Migranten in einem Workshop lernen, mit der Kamera umzugehen und eigene Beiträge zu produzieren. Außerdem könne dies dazu beitragen, das Thema Integration in einem neuen Licht in den Medien zu zeigen, aus dem Blickwinkel der Migranten, der oft vernachlässigt werde. 172 Von der Verfasserin geführtes Interview mit Julia Gebke im Oktober 2003 in Hannover. 125 „Soziokulturelle Kompetenzen“ zu besitzen und weiterzuentwickeln sei heute in allen Lebensbereichen wichtig, da wir schließlich bereits in einer multikulturellen Gesellschaft leben. Für das Thema „Politikmanagement“ wünscht Julia Gebke sich, dass die Lobby der Migranten gestärkt wird und die Parteien für das Thema sensibilisiert werden. So sollten zum Beispiel diejenigen, welche noch keinen Migrationssprecher oder ähnliches besitzen, dadurch mit dem Thema konfrontiert werden. Partizipation werde gefördert, indem man Migranten nicht nur in die Rolle des Lernenden hineinpresse. Daher sei es wichtig, bei den Projekten darauf zu achten, dass Migranten ihre Teilnahme selber mitgestalten. Julia Gebke hofft, dass dieses bei IMES umgesetzt wird. 8.5 Auswertung Alle Beurteilungen des Projektes IMES sind überwiegend positiv und die Erwartungen der Befragten haben sich weitgehend erfüllt, wobei der Subjektivste der Befragten, der deutsche Koordinator Georg May, am wenigsten Kritik anbringt. Seine Erwartungen an das Projekt wurden von Beginn an erfüllt, wobei auch er die Arbeit anfangs als zu theoretisch empfand, was er jedoch mit dem Einstieg in das erste Thema als verändert betrachtete. Die drei anderen Befragten halten das Projekt aber bis heute für zu theoretisch. Die zweite Koordinatorin Gabi Janecki findet es wichtig, dass die Arbeit des Advisory Boards praktischer wird, was sie sich von der Durchführung der Seminare im zweiten Jahr erhofft. Ebenso kritisiert Frank Auracher, dass das Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ bei der Diskussion stehen geblieben ist und noch keine Praxisrelevanz entwickelt wurde. Auch Julia Gebkes Erwartung, konkrete Medienprojekte von und mit Migranten erleben zu können, hat sich nicht erfüllt. Dies zeigt, dass das Projekt noch nicht über das Planungsstadium hinausgewachsen ist, wobei der deutsche Koordinator seine Arbeit auch als aufwändiger als erwartet beurteilt. Insgesamt gehen aber alle 126 Kritiker davon aus, dass IMES im zweiten Projektjahr praktischer wird, halten das aber auch für notwendig. Georg May empfindet viel Bereitschaft und Interesse bei den Mitgliedern des Advisory Boards und sieht die unregelmäßige Teilnahme einiger Mitglieder im Zeitmangel und in den Geldkürzungen der Migrationsarbeit begründet. Auch Gabi Janecki beurteilt die Arbeit des Advisory Boards als kontinuierlich, obwohl manchmal einige Personen bei den Treffen fehlen. Frank Auracher sagt dagegen, dass einzelne Mitglieder zu wenig präsent sind und fragt sich, wie Modellprojekte durchgeführt werden sollten, wenn schon für die Treffen des Advisory Boards zu wenig Zeit ist. Auch sein Zweifel, ob das Advisory Board für neue Mitglieder offen ist, steht im Widerspruch zu Georg Mays Einschätzung, dass einzelne neue Mitglieder jederzeit willkommen sind. Ebenso kontrovers ist, dass der deutsche Koordinator die Kommunikation des Projektes durch die Treffen und die Website als akzeptiert ansieht, Frank Auracher aber die Homepage nach eigenen Angaben zu wenig nutzt und das auch bei anderen Mitgliedern vermutet. Zukünftig muss also ein Weg gefunden werden, die Mitglieder zu motivieren, regelmäßiger an den Treffen des Advisory Boards teilzunehmen und die Website mehr zu nutzen. Geschieht dies nicht, muss ein zusätzliches Kommunikationsmedium neben der Internetseite eingesetzt werden. Obwohl Gabi Janecki meint, dass durch das Advisory Board ein Netzwerk entstanden sei, fordert sie mehr Kooperationsidentität zwischen den Mitgliedern und hält deren Bewusstsein, dass das Advisory Board Teil des Projektes ist, für zu niedrig. Diese Kritik sollte sehr ernst genommen werden, da das Advisory Board den Großteil von IMES ausmacht. Auch ihr Wunsch, dass ein kompetentes Netzwerk der Mitglieder Ergebnis des gesamten Projektes sein soll, zeigt, dass dieses Netzwerk entweder noch nicht ausgereift ist oder die Gefahr besteht, es könnte sich nach Beendigung des Projektes wieder auflösen. Des Weiteren wünscht sie sich eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit durch die Nutzung der „Neuen Medien“, eine Broschüre über das Projekt und öffentliche Veranstaltungen. Auch Frank Auracher findet, dass nicht klar genug ist, was IMES will und welche Mitglieder dazugehören. Er wünscht sich eine transparentere und intensivere 127 Selbstdefinition. Beide Meinungen zeigen, dass die Selbstdarstellung des Projektes nach außen verbessert werden muss. Die Beteiligung der Migranten bei IMES ist nach Meinung Frank Aurachers relativ hoch, was deren Partizipation gewährleistet. Er ist aber skeptisch, ob dieser Anteil auch in den Projekten ebenso hoch sein wird. Darauf sollte bei deren Durchführung geachtet werden. Julia Gebke hält es dabei für besonders wichtig, dass in der kommenden Phase der Seminarprojekte die Migranten nicht in die Rolle des Lernenden gepresst werden. Obwohl der Anteil der Migranten im Advisory Board bei fünfzig Prozent liegt, besteht die Gefahr, dass Migranten, mit denen in der Testphase Seminarprojekte durchgeführt werden, wieder in diese passive Rolle geraten, wenn die Seminare nur auf Wissensvermittlung ausgerichtet sind. Das sollte während der Projekte unbedingt vermieden werden, da IMES sonst seinen partizipativen Ansatz, welcher die zentrale Innovation des Projektes ist, verfehlt. 9. Die Arbeit des spanischen Advisory Boards von IMES Das spanische Advisory Board von IMES hat von Januar bis März 2003 sein Schwerpunktthema „soziokulturelle Kompetenzen“ konkretisiert und damit die Arbeit an den Inhalten vereinfacht. Es wurde am Konzept der Schlüsselbegriffe gearbeitet. Die Koordinatorin Anna Sebastian war sich zu diesem Zeitpunkt über die inhaltliche Bearbeitung der Themen „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ im Klaren, hatte aber leider nie genügend Zeit für die Koordinationsaufgaben. Weiterhin fehlten dem Advisory Board noch Migranten, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nichtmigranten und Migranten zu schaffen.173 173 Vgl.: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Relazione Barcelona. In: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Zwischenbericht der Projekte zur länderübergreifenden Zusammenarbeit. Sokrates Programm. Finanzielle Vereinbarungen Nr.: 100912 – CP – 1 – 2002 – 1 – GRUNDTVIG – G1, Barcelona 2003, S. 1. 128 Obwohl die Koordinatorin in ihrer Vereinigung SOS Racisme von April bis Juni 2003 große Schwierigkeiten hatte, hoffte sie bis September die ersten klaren Arbeitsvorschläge bei IMES präsentieren zu können. Die Themen „soziokulturelle Kompetenz“ und „Politikmanagement“ wurden nun abgeschlossen, um mit dem Thema „Neue Medien“ zu beginnen. Es wurde zwar schon mit dem Internet gearbeitet, aber zu diesem Thema waren noch weitere Informationen nötig. Des Weiteren wurden immer noch dringend neue Mitglieder benötigt. Das fertige Konzept der Schlüsselbegriffe hielt die Koordinatorin nun für eine gute Grundlage zur Erstellung der Seminarbausteine im zweiten Jahr.174 Das Konzept der Schlüsselbegriffe wurde von Juli bis September 2003 in die täglich Arbeit der Mitglieder des Advisory Boards eingebracht. Hierfür wurden Auswertungsbögen entwickelt. Anna Sebastian hatte aber für dieses Projekt durch die Arbeit in Ihrer Vereinigung immer noch Zeitprobleme. Auch die Mitgliederzahl wurde geringer statt größer, so dass ein Treffen des Advisory Boards sogar abgesagt werden musste. Das gesamte Board musste daher neu formiert werden. So kam es auch zu einer Verzögerung der Themenbearbeitung „Neue Medien“. Um mehr Geld für IMES zu bekommen, wurde das Projekt außerdem einer privaten Vereinigung vorgestellt.175 Das neue Advisory Board mit zwölf Mitgliedervereinigungen begann seine Arbeit im Quartal von Oktober bis Dezember 2003. Der spanischen Koordinatorin erschien es bei einem so komplexen Projekt wie IMES schwierig, den Vereinigungen verständlich zu machen, dass es sich um einen sehr offenen Prozess mit langfristigen Ergebnissen handelt. Es war außerdem schwierig, Menschen zu finden, die sich im Thema auskennen, Migranten sind und freiwillig teilnehmen wollten. Obwohl es in Barcelona viele soziale Einrichtungen gibt, empfand Anna Sebastian die meisten dort arbeitenden Menschen als zu wenig kompetent für die notwendige Reflexion, um bei einem Projekt mitzuwirken, das sich, statt mit direkter sozialer Hilfestellung mit der Entwicklung von intellektuellen Arbeitsschritten beschäftigt, da die Sozialarbeit in Spanien viel unprofessioneller 174 175 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 173), S. 2. Vgl. ebd., S. 3. 129 als in Deutschland sei. Daher hat die Koordinatorin die meiste Zeit damit verbracht, das Projekt IMES potentiellen Mitgliedern zu erklären, wobei Anna Sebastians Unerfahrenheit mit solchen Projekten den Prozess noch verlangsamte.176 Die Koordinatorin des spanischen Advisory Boards fühlt sich mit ihrer Aufgabe sichtlich überfordert. Auch der deutsche Koordinator Georg May hatte bereits eingeräumt, dass seine Aufgabe sehr aufwändig sei, sich aber nach kurzer Zeit eingewöhnt. Obwohl das spanische Advisory Board mit dem Konzept der Schlüsselbegriffe einen sehr guten Beitrag für die Erstellung der Seminarbausteine des gesamten Projektes geleistet hat, gibt es große Schwierigkeiten Mitglieder für das Advisory Board zu finden. Hier scheint es einen noch größeren Zeitmangel und weniger Interesse für das Projekt zu geben, was an existenzielleren Problemen von Migranten in Spanien im Gegensatz zu denen in Deutschland liegen könnte. Anna Sebastian sollte von der Gesamtleitung des Projektes IMES finanzielle sowie personelle Unterstützung bekommen, um diese Probleme zu meistern und das Projekt sinnvoll fortführen zu können. 10. Die Arbeit des italienischen Advisory Boards von IMES Die IMES Gruppe in Italien hat sich zum Ziel gesetzt, neue Methoden zur Verbesserung der sozialen, pädagogischen und kulturellen Kompetenzen von Migranten und Nichtmigranten zu erarbeiten. Im ersten Vierteljahr ging es auch hier vor allem darum, die lokalen Gruppen zu aktivieren. Das Advisory Board wurde aus Experten der CISS, einem Zusammenschluss von Vereinigungen, die sich um Migranten kümmern und fünf ausländischen, in diesem Gebiet ansässigen Gemeinden (unter anderem aus dem Sudan, Nigeria und dem Kosovo) zusammengesetzt. Die Kriterien für die Zusammenstellung des Advisory Boards waren die Verfügbarkeit und das Interesse für das Projekt, die Anwesenheit in dem 176 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 173), S. 4. 130 Gebiet und bei den unterschiedlichen geplanten Aktivitäten sowie die ausgewogene Anzahl von Migranten und Nichtmigranten.177 Das Advisory Board hat nach seiner Zusammenstellung mit seinem Schwerpunktthema „Politikmanagement“ begonnen. Für die neu entstandene Gruppe war der Einstieg in dieses Thema nicht leicht, da es in Sizilien hierzu keine Anregungen, Projekte und Serviceleistungen gibt, an denen man sich orientieren könnte. Nach einer langen Vorbereitungsphase hat die Gruppe die Vorgehensweise und die Hauptthemen festgelegt. Das erste Treffen des Advisory Boards bezog sich auf das maßgebende System, in dem die Migranten und Flüchtlinge leben. Beim zweiten Treffen analysierten die Teilnehmer den angebotenen Service, der den Zugang und das Verständnis zum Gesetz erleichtert. Beim dritten Treffen wurden die Möglichkeiten, welche die Bürgerschaft zur Erhöhung der eigenen Macht bietet, erörtert, weil in diesem Bereich die Bedürfnisse der Bürger mit angebotenen Lösungen der Gemeinde verbunden werden.178 Es war nicht einfach diese Treffen durchzuführen, da die Gruppe während dieser Zeit von einem dramatischen Ereignis betroffen war. Einige der sudanesischen Gruppe, die hauptsächlich aus Männern, welche politisches Asyl erbeten hatten, besteht, mussten aus ihrem Wohnheim ausziehen. Dieses wurde zwar von einer Privatperson geleitet, aber mit Mitteln der Stadt Palermo unterhalten. Der Grund für den Zwangsauszug waren die sehr widersprüchlichen und restriktiven Hausregeln. Dieses Ereignis hat mit starker Wucht die Probleme der Beziehung zwischen ausländischen Vereinigungen und der institutionellen Wirklichkeit aufgezeigt. Es wurde deutlich, wie wichtig die intensive Auseinandersetzungen des Advisory Boards mit dem sozialen und politischen Bereich, aber auch konkrete Aktionen sind.179 Von April bis Oktober 2003 führte das Advisory Board die Arbeit am Thema „Politikmanagement“ fort, obwohl geplant war, das Thema „Neue Medien“ zu 177 Vgl.: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Schema Report Italia. In: Europäische Kommission. Generaldirektion Bildung und Kultur: Zwischenbericht der Projekte zur länderübergreifenden Zusammenarbeit. Sokrates Programm. Finanzielle Vereinbarungen Nr.: 100912 – CP – 1 – 2002 – 1 – GRUNDTVIG – G1, Palermo 2003, S. 1. 178 Vgl. ebd., S. 1f. 179 Vgl. ebd., S. 2. 131 behandeln. Die Komplexität des Themas „Politikmanagement“ erforderte für seine angemessene Behandlung mehr Zeit als ursprünglich gedacht. Außerdem haben interne Probleme der Gruppe eine regelmäßige Fortsetzung der Arbeit erschwert. Sowohl Migranten als auch CISS-Mitglieder haben es nicht geschafft, dauerhaft und regelmäßig präsent zu sein. Das führte zu bedeutenden Veränderungen in der Gruppe und Schwierigkeiten, eine kontinuierliche Arbeit durchzuführen. Nachdem sich das Advisory Board im ersten Vierteljahr hauptsächlich mit den Problemen der 53 Flüchtlinge aus dem Sudan beschäftigt hatte, entstand dem gegenüber in der Gruppe eine große Ungeduld. Es wurde beschlossen, das Thema nicht mehr in der Gruppe zu behandeln und die Arbeit anhand ähnlicher Themen zum „Politikmanagement“ zu beginnen.180 Um sich durch“ Politikmanagement“ besser integrieren zu können, sollen Migranten Kompetenzen bezüglich ihrer Rechte erhalten. Neben dem Erläutern der Rechte wird auch nach Möglichkeiten gesucht, auf das soziale und kulturelle Leben der jeweiligen Stadt Einfluss zu nehmen. Dazu hatte die Gruppe die Themen Arbeit, Rechte, Informationen, Schule, Dokumente, Unterkunft, Anerkennung von Titeln und Kompetenzen, Versammlungsräume und Gesundheit vorgeschlagen, wobei die letzten vier Themen Wunsch der Migranten im Advisory Board waren. Schließlich wurde entschieden das Thema Gesundheit näher zu behandeln.181 Mit der Network Analyse wurden die Beziehungen zwischen den Gemeinden und gesundheitlichen Einrichtungen (beispielsweise Krankenhäuser) gemessen. Die Network-Analyse sorgt dafür, die Beziehungen zwischen einem Gebiet und einem Service oder aber einem Subjekt des Gebietes und dem Service zu messen und die Qualität dieser Beziehung zu bewerten. Ein weiterer Schritt der Analyse war, zu untersuchen, welche Schritte nötig sind, um diese Beziehung zu verbessern. Während die Gemeinden das Gefühl haben, Informationen klar zu vermitteln, werden gesundheitliche Institutionen von Migranten selten als freundlich und einladend empfunden. So halten Sprachschwierigkeiten und andere Auffassungen von Gesundheit und Prävention die Migranten vom Aufsuchen eines Kranken- 180 181 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 177), S. 4. Vgl. ebd. 132 hauses ab. Dies macht deutlich, dass ein kultureller und sprachlicher Vermittler in den Krankenhäusern gebraucht wird, dessen Anwesenheit den Migranten den Zugang zu Krankenhäusern erleichtert. Der Einsatz eines solchen Vermittlers sollte getestet werden, um die Ergebnisse dann im Seminar, zu dem man Vertreter der lokalen gesundheitlichen Institutionen einlädt, vorzustellen. Als Ergebnis wäre die Entstehung eines multikulturellen Krankenhauses wünschenswert.182 In der Zeit von Oktober bis Dezember 2003 wurde das Thema „soziokulturelle Kompetenzen“ eingeführt. Daraufhin hat das Advisory Board die eigenen Zusammenhänge und Verbindungen analysiert, was interessante Punkte in Bezug auf die gruppeninternen dynamischen Prozesse und die kommunikativen Regeln in der Gemeinschaft von Migranten aufgeworfen hat. Das Advisory Board analysierte diese Zusammenhänge im Hinblick auf die Vermittlung zwischen den Migranten und den gesundheitlichen Institutionen. Weiterhin wurde die Nutzung einer Videokamera erklärt und gezeigt, wie man damit die Arbeit im Themenbereich Gesundheit weiterführen kann. Der Gebrauch der Kamera als Integrationsmöglichkeit für Migranten wird in einem lokalen Seminar mit einem Internetexperten fortgesetzt.183 Im Gesundheitsbereich wurde festgestellt, dass vor allem die Frauen die gesundheitlichen Institutionen nutzen. Männer nutzen sie nur im Ernstfall, weshalb sie meist in die Notfallstation eingeliefert werden und somit ihre Behandlung nicht im Einzelnen mitverfolgen können. Oft gehen sie auch nicht zu den nötigen Nachfolgebehandlungen und erhöhen so ihr eigenes Gesundheitsrisiko. Dass der Gesundheitsservice nicht genutzt wird, liegt einerseits an der Angst illegaler Migranten, angezeigt zu werden und andererseits daran, dass sie die Mechanismen dieser Institutionen nicht kennen. Durch die Geburt und Pflege von Kindern gehen Frauen sehr viel mehr in Krankenhäuser und lernen so deren Mechanismen kennen. Aber auch sie sind skeptisch und gehen ungern freiwillig zum Arzt.184 Mittlerweile wurden drei Gesundheitsinstitutionen gewählt, in denen ein Vermittler eingesetzt werden soll. Es handelt sich dabei um eine Familienberatungsstelle, die 182 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 177)., S. 5. Vgl. ebd. 184 Ebd., S. 6. 183 133 hauptsächlich von Frauen frequentiert wird, eine öffentliche Unfallaufnahme und eine private Unfallaufnahme, die von der Caritas geleitet wird. Die Untersuchung fand von Mitte Januar bis Mitte Februar statt. Nach der Auswertung wird es ein öffentliches Seminar geben, in dem die Ergebnisse mit Migranten diskutiert werden und Verantwortliche aus den öffentlichen und privaten gesundheitlichen Einrichtungen mögliche Lösungen vorschlagen und diskutieren können. Des Weiteren wird die Möglichkeit eines multikulturellen Krankenhauses besprochen.185 Die Koordinatorin des italienischen Advisory Boards, Barbara Giardello, sieht das Advisory Board als Möglichkeit, die eigenen Kompetenzen zur Schaffung einer Gruppe aus Migranten und Vertretern einzelner Vereinigungen zu testen. Für sie war das aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse und Arbeitsarten nicht einfach. Eine Arbeitsgruppe, die sich versteht und in der Lage ist, Ziele und Aktivitäten zu formulieren, sei schon ein Schritt in Richtung Integration. Man müsse sich als Koordinator vor allem in der Anfangsphase der Gruppenbildung sehr engagieren und dann versuchen, der Gruppe eine gewisse Kontinuität zu geben und einen Dialog in der Gemeinschaft herzustellen. Zur Erleichterung der internen Diskussionen und Planung der Arbeit des Advisory Boards wird es einen zusätzlichen Koordinator geben. Barbara Giardello empfand den Aufbau des Advisory Boards als sehr schwer, weshalb mit Verzögerungen angefangen wurde. Die Gruppe aus Migranten und Repräsentanten von Vereinigungen habe nicht über die Kompetenz verfügt, um eine eigene Gruppe zu bilden und zu analysieren. Die Gruppe wurde deshalb verändert und nach Kriterien aufgebaut, die dem Ziel des Projektes mehr entsprachen. Doch aufgrund der vielen anderen Verpflichtungen der Advisory Board-Mitglieder bleibt die Arbeit weiterhin schwierig, weshalb Konzepte erarbeitet werden sollen, welche der Gruppe Kontinuität geben. Im Gegensatz zum deutschen Advisory Board, in dem die Migranten in der Migrationsarbeit tätig und bereits selbst in die Aufnahmegesellschaft integriert sind, sind die Migranten im italienischen Advisory Board hauptsächlich Flüchtlinge und Asylantragssteller, während die Mitglieder, die in der Migrationsarbeit tätig sind, 185 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 177), S. 6. 134 der Aufnahmegesellschaft entstammen. Dadurch hat sich in der italienischen Gruppe eine Front zwischen Migranten und Migrationsarbeitern gebildet, welche die Kommunikation im Board erschwert und zum Teil auch die Koordinatorin überfordert. Im Gegensatz zum deutschen Advisory Board hat das Italienische aber weniger Probleme mit der Praxis. Unlösbare Probleme werden nicht zwangsläufig ausdiskutiert, da es wichtiger ist Konzepte zu erstellen, um praktische Lösungen zu finden. Dass der Bereich Gesundheit so problematisch ist, zeigt, dass die Integrationsprobleme in Italien ganz andere Dimensionen haben als in Deutschland. Bei den Integrationsproblemen in Deutschland geht es weniger um die Abdeckung der Grundbedürfnisse als vielmehr um die soziale Eingliederung in die Gesellschaft. Doch gerade die unterschiedlichen Integrationsprobleme und Lösungsansätze können in den jeweils anderen Ländern neue Denkanstöße geben. 11. Aktivitäten der zweiten und dritten Phase des Projektes IMES Mit dem Beginn der zweiten Phase von IMES sollen „Train the Trainer“-Seminare in den jeweiligen Ländern unter Teilnahme von Mitgliedern der nationalen Advisory Boards und unterschiedlichen Migrationsgruppen stattfinden. Ursprünglich war geplant, die Seminare in drei Blöcken zu „Neue Medien“, „Politikmanagement“ und „soziokulturelle Kompetenzen“ durchzuführen. Dies hat sich nach der Arbeit in der ersten Projektphase als nicht sinnvoll erwiesen. Daher wurde diese Planung geändert und es finden in allen drei Themen zeitgleich Seminare statt. Der Austausch darüber erfolgt über die nationalen Koordinatoren bei deren Treffen. Ziel der zweiten Projektphase ist die Entstehung getesteter Seminarbausteine in allen drei Ländern, die mit kollektiven Erfahrungen angereichert sind und im Koordinatorenkreis rückgekoppelt werden. Gemeinsam wird dann die europäische Transmission erarbeitet. Neu ist in der zweiten Projektphase bereits, dass jeden ersten Donnerstag im Monat das Magazin „Blickpunkt Global“ beim Offenen Kanal in Hannover H1 zu 135 sehen ist. Dieses regelmäßige TV-Magazin wird in der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. unter Beteiligung der anderen beiden Länder erstellt. Es zeigt Beiträge über Migranten in den jeweiligen Städten. Ziel ist es, durch die Videoseminare Migranten zu gewinnen, die sich an der Erstellung der Sendung beteiligen oder eigene Beiträge eigenständig erarbeiten. Schon im November 2003 begann der deutsche Koordinator Georg May mit dem Advisory Board Mitglied der Caritas, Christiane Kemper, die ein Wohnheim für Aussiedler und Flüchtlinge leitet, mit der Seminarplanung für Videoseminare mit russischen Aussiedlern. Im Januar 2003 fand das erste deutsche Advisory Board Treffen zum Thema „Politikmanagement“ beim Migrationsdienst der Arbeiterwohlfahrt statt, während das spanische Advisory Board mit der inhaltlichen Debatte über „Neue Medien“ begann. Am 22. Januar 2004 fand schließlich das erste Videoseminar im CaritasAussiedlerwohnheim statt. Teilnehmer waren neun russische Aussiedlerinnen und ein russischer Aussiedler, denen der Umgang mit der Videokamera beigebracht wurde, damit sie nach einigen Seminaren selbst Beiträge für H1 erstellen können. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, selbst Probleme zu thematisieren und ihren eigenen Blickwinkel der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Durch die Erfahrung mit diesen Seminarteilnehmern können erste Seminarbausteine für Videoseminare mit Migranten erstellt werden.186 Im Februar 2004 fand das Treffen des deutschen Advisory Boards bei der Gewerkschaft IG Chemie, Papier und Keramik zum Thema „Politikmanagement“ und das Treffen des spanischen Advisory Boards zum Thema „Neue Medien“ und zur Festlegung einer Unterarbeitsgruppe Medien statt. Vom 5. bis 7. März wurde ein Seminar mit Migranten des Freundeskreis Tambacounda und anderen in Hannover lebenden Afrikanern durchgeführt, dessen Erfahrungen zur Erstellung der Seminarbausteine „Neue Medien“ dienen. Das spanische Advisory Board führte bei seinem Treffen eine Debatte zum Thema „Neue Medien“ und legte die Seminartermine fest.187 186 187 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48.), S. 12. Vgl. ebd., S. 13. 136 Für den 26. und 27. April 2004 ist mit dem Advisory Board Mitglied des Arbeitskreises Ausländer im Bund deutscher katholischer Jugend, Beata Brod, und Mitarbeitern des Vereins Niedersächsischer Bildungsinitiativen ein Videoseminar mit Migranten und Nichtmigranten geplant. Die Zusammensetzung des Seminars aus Deutschen und Ausländern wird einen neuen Aspekt in die Erstellung von Seminarbausteinen „Neue Medien“ bringen. Im Mai 2004 ist dann auch in Italien ein Videoseminar zur Erstellung von Seminarbausteinen im Bereich „Neue Medien“ geplant. Außerdem wird sich das italienische Advisory Board verstärkt mit dem Thema Gesundheit beschäftigen. Auch in diesem Bereich sollen dort Seminarbausteine erarbeitet werden, da er ein zentrales Problemfeld von Migranten in Italien darstellt. In Deutschland sollen zusammen mit dem Freiwilligenzentrum in Hannover Seminare im Bereich Politikmanagement für verschiedene Migrationszielgruppen durchgeführt werden, um entsprechende Seminarbausteine zu erarbeiten. Weitere konkrete Planungen für die zweite Phase von IMES gibt es noch nicht.188 Ziel der dritten Projektphase ist es, eine Database zu erstellen, Seminare mit direkter Zielgruppe durchzuführen und konkrete Seminarbausteine fertig zu stellen. Bisher soll diese Phase also wie geplant durchgeführt werden. Das heißt, dass von Oktober 2004 bis September 2005 in den einzelnen beteiligten Ländern mit den nationalen Koordinatoren und den Mitgliedern der nationalen Advisory Boards als Experten gearbeitet wird. Dabei wird bei den Treffen der Koordinatoren mit der Gesamtkoordinatorin ein intensiver Austausch stattfinden. Bei einigen Treffen der nationalen Advisory Boards werden Mitglieder aus den anderen beiden Ländern zum Erfahrungsaustausch anwesend sein. Es werden Informationen zum Auffüllen der Database gesammelt und es wird eine aufsuchende Seminararbeit an den Plätzen, an denen sich Migranten treffen, stattfinden, um möglichst viele verschiedene Schichten der Zielgruppe zu erreichen.189 Von Januar bis April 2005 finden Workshops mit Migranten zu allen drei Themenbereichen „soziokulturelle Kompetenz“, „Politikmanagement“ und „Neue 188 189 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48.), S. 13 Vgl. ebd., S. 14. 137 Medien“ statt. Es wird trainiert, die „Neuen Medien“ als Partizipationsmittel zu nutzen. Den Migranten soll in den jeweiligen Ländern Grundwissen gegeben werden, mit dem sie die demokratischen Werkzeuge der Gesellschaft sinnvoll nutzen, um sich so aktiv an ihr beteiligen und als aktiver Teil der Gemeinschaft fühlen zu können. Für Juni 2005 ist eine öffentliche Internetkonferenz geplant. Es soll eine von den nationalen Koordinatoren organisierte Videodiskussion und einen Chatroom mit Experten geben. Hier wird über die Ergebnisse diskutiert und ein gemeinsamer Ausblick in die Zukunft gegeben. Danach kommt es zu einer nationalen Abschlusskonferenz in allen Ländern, bei der die Ergebnisse diskutiert und weitere Zusammenarbeiten nach Beendigung von IMES geplant werden.190 12. Fazit Die Pläne für die kommenden beiden Projektjahre sind Erfolg versprechend, doch bezogen auf das erste Jahr des Projektes IMES kann man sagen, dass trotz guter Ansätze in den drei Themenbereichen „Neue Medien“, „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ die Arbeit in den Advisory Boards zu theoretisch war und folglich in den verbleibenden beiden Jahren mehr Praxis in die Projektarbeit gebracht werden muss. Die unregelmäßige Teilnahme der Mitglieder an den Treffen der Advisory Boards könnte aber die praktische Umsetzung der im ersten Jahr geplanten Aktivitäten zusätzlich erschweren. Auch scheint das Kommunikationsmedium Internet, in dem die IMES-Website als Verständigungsmittel zwischen den Mitgliedern dient, hierfür nicht auszureichen. All das zeigt, dass das Netzwerk von IMES noch viel zu instabil ist, was die Nachhaltigkeit des Projektes stark gefährdet. Für das zweite und dritte Projektjahr müssen Lösungen gefunden werden, die der realistischen Umsetzung der geplanten Seminare dienen. Auch die Außendarstellung von IMES ist nicht ausreichend. Sogar Mitglieder des Advisory Boards sind sich über die Selbstdefinition des Projektes nicht vollkommen 190 Vgl.: Europäische Kommission (wie Anm. 48.), S. 14. 138 im Klaren. So werden weder Migranten noch andere Personen von dem Projekt erreicht, um an den Seminaren teilzunehmen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Gefahr, dass bei der Durchführung der Seminare die Migranten wieder in die Rolle des ausschließlich Lernenden gepresst werden. Dagegen muss IMES eine Strategie entwickeln, damit der partizipatorische Ansatz des Projektes nicht verloren geht. Allgemein sollte jedoch überlegt werden, ob die Seminare im Bereich „soziokulturelle Kompetenzen“ Migranten wie auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaft gleichermaßen als Zielgruppe einbeziehen müssen, da die Beherrschung dieser Kompetenzen für beide Seiten zur möglichst missverständnisfreien Kommunikation sehr wichtig ist. Die Intention des Projektes war, denjenigen Migranten bei ihrer Integration zu helfen, die von den durchaus zahlreich existierenden Integrationsprogrammen nicht erreicht werden. Daraus resultierte auch der partizipative Grundsatz des Projektes. Allerdings wurde noch keine Methode entwickelt, wie ghettoisierte Migranten erreicht werden könnten. Es ist zu bezweifeln, dass es ausreicht, typische Migrantentreffpunkte aufzusuchen. Außerdem wird einer der wichtigsten Integrationsaspekte, nämlich die Problematik der Sprache, bei IMES vollkommen ignoriert. Ein so entscheidendes Integrationsproblem muss auch in einem partizipativen Projekt berücksichtigt und in die Seminarpläne mit einbezogen werden. Wenn an diesen Kritikpunkten gearbeitet wird, kann IMES jedoch erfolgreich werden, da im ersten Projektjahr gute theoretische Grundlagen erarbeitet wurden. Die Struktur des Projektes und die Arbeitsmethoden der nationalen Advisory Boards können eine gute Grundvoraussetzung für die Erschaffung neuer partizipativer Integrationsmethoden sein. Allerdings richtet sich das Projekt nicht nach integrationstheoretischen Modellen und wird den Annahmen der Integrationstheorien auch nur bedingt gerecht. In den drei Schwerpunktbereichen von IMES „Neue Medien“, „soziokulturelle Kompetenzen“ und „Politikmanagement“ wurde jedoch sehr viel theoretisches Wissen erworben und auf der Website veröffentlicht. Besonders im Bereich „Neue Medien“ sind in Deutschland die Voraussetzungen für die praktische Durchführung von Seminaren für Migranten 139 zur Erstellung von eigenen Fernsehbeiträgen ausreichend gegeben. Der theoretische Bereich der „soziokulturellen Kompetenzen“ muss allerdings noch für die Praxis umsetzbar gestaltet werden. Der Bereich „Politikmanagement“ wird in diesem Jahr noch vertieft. Die Arbeit im spanischen und italienischen Advisory Board gestaltet sich allerdings problematischer. Hier herrscht ein noch größerer Zeitmangel. In Spanien hatte die Koordinatorin Schwierigkeiten, genug Migranten und kompetente Mitglieder aus der Migrationsarbeit für das Projekt zu akquirieren. Fragt sich, ob dies an zu geringem Interesse, den existenzielleren Problemen in Spanien oder einer mangelnden Qualifikation der spanischen Koordinatorin liegt. Dass die Probleme der Migranten auch in Italien anders gelagert sind als in Deutschland, zeigt das Problem der sudanesischen Asylanten, die zu Beginn des Projektes ihr Wohnheim verlassen mussten und keine Unterkunft mehr hatten. Und auch hier war es für die Koordinatorin schwer, das Advisory Board aufzubauen, dessen Arbeit Kontinuität zu geben und genügend Zeit dafür aufzubringen. Aufgrund dieser Überforderung wurde in Italien schon ein zweiter Koordinator eingesetzt. Trotzdem sollte analysiert werden, wo die Ursachen für diese Probleme liegen, um die Arbeit der Advisory Boards in Italien und Spanien effektiver gestalten zu können. Insgesamt erscheint es schwierig, neue Methoden für eine partizipative Integration von Migranten zu erschaffen. Große Probleme ergeben sich aus dem Zeitmangel und der Überlastung der Menschen, die im Migrationsbereich tätig sind. Auch der partizipative Aspekt ist nicht leicht umzusetzen, da die Migranten der Advisory Boards die Dinge oft aus ihrer professionellen Migrationsarbeit heraus beurteilen und die Migranten, die an den Seminaren teilnehmen, zum Teil durch mangelnde Sprachkenntnisse wenig beitragen können. Trotzdem hat IMES gute Grundvoraussetzungen, etwas für die Verbesserung der Integration von Migranten in europäischen Ländern zu leisten. Abschließend muss jedoch gesagt werden, dass die besten Integrationsprojekte sinnlos sind, wenn die Integrationspolitik versagt, denn zu einer erfolgreichen Eingliederung gehören auch immer angemessene gesellschaftliche Voraussetzungen für die Integration von Zuwanderern. Besonders die finanziellen Kürzungen des letzen Jahres im Bereich der 140 Migrationsarbeit erschweren die regelmäßige Teilnahme kompetenter Mitarbeiter an dem Projekt. 13. 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