Identität

Werbung
Lothar Krappmann
Identität: Gibt es die denn noch?
Vortrag vor Schülern und Eltern in der Schule Beatae Mariae Virginis, Essen, 16. März 2011
Über die Einladung, hier darüber zu sprechen, ob Menschen heute noch eine Identität
entwickeln und bewahren können, habe ich mich sehr gefreut. Ich spreche über dieses Thema
gar nicht so oft, wie Sie vielleicht meinen, auch deswegen nicht, weil zur Zeit ein anderes
Tätigkeitsfeld allen Vorrang hat, die Menschenrechte der Kinder. Ich war bis vor kurzem
Mitglied des Kinderrechtsausschusses der Vereinten Nationen. In den Auseinandersetzungen
mit den Regierungen der Staaten, in denen die Kinderrechtskonvention ratifiziert wurde, geht
es um das Recht der Kinder auf Leben und Überleben, ihre Gesundheit, ihre Schulbildung,
Beteiligung und manche weitere unverlierbare Rechte, auch - und so knüpft die Arbeit doch
an mein früheres Thema an - um die Kindern zuzusichernde Identität. Gemeint ist in diesem
Zusammenhang, dass Kinder nach dem Völkerrecht das Recht auf eine Geburtsurkunde
haben.
In vielen Ländern fehlt für die Ausstellung dieser Urkunde eine Behörde, oder diese
Urkunden sind teuer. Das hat schwerwiegende Folgen, denn "identitätslosen" Kindern wird
oft der Zugang zu medizinischer Versorgung, materieller Unterstützung und Schule
verweigert. So kämpft der Ausschuss dafür, dass Kinder auch dann, wenn sie noch kein
Identitätspapier haben, zu Ärzten und in die Schule gehen können.
Identität zu beweisen, ist für diese Kinder ein existentielles Problem. In anderer Weise ist
auch das Identitätsproblem, über das ich jetzt sprechen will, ein existentielles Problem, denn
ich will zeigen, dass alle Menschen eine Identität in den Augen ihrer Mitmenschen entwickeln
und ihnen präsentieren müssen, wenn sie in das Zusammenleben der Menschen integriert
werden wollen. Hier ist Identität nicht ein bürokratisches Problem, sondern ein
mitmenschlich-soziales.
Das Buch, das ich einst zu diesem Thema geschrieben habe, hat mich ein Leben lang
begleitet. Es wurde vor mehr als 40 Jahren veröffentlicht, am Beginn meines
wissenschaftlichen Lebens. Der Krappmann, so haben die Leute gesagt: "Das ist doch der mit
der Identität!" Bei Einladungen kamen Menschen auf mich zu und sagten: "Sie haben doch
damals dieses Identitätsbuch geschrieben. Darüber wurde ich geprüft."
Ich habe als Mitarbeiter an einem Max-Planck-Institut und als Hochschullehrer später viele
Jahre Forschungen über die Sozialentwicklung von Kindern im Grundschulalter gemacht:
Kinderspiel, Kinderstreit, Kinderfreundschaft, Kindergruppen - schöne Arbeiten, wie ich
glaubte. Wenn ich mir aber anschaute, was von meinen Veröffentlichungen von den
wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen zitiert wurde, dann war es immer - jedenfalls
lange Zeit ganz überwiegend - "Soziologische Dimensionen der Identität".
Gut, ich war ja froh, ein anerkanntes Buch verfasst zu haben. Ich erinnere mich jedoch, dass
ich eines Tages bei meinem Freund und Kollegen Hans Oswald jammerte, ich hätte so gern,
Wissenschaft und Kollegen nähmen wahr, ich würde auch noch etwas anderes zustande
bringen als nur Gedanken und Überlegungen zur Identität. Ich will es nicht übertreiben: Aber
meine enge Verknüpfung mit diesem Thema brachte mich in eine kleine Identitätskrise.
Sie merken, dass ich Ihnen nicht nur Geschichtchen erzähle, sondern beim Thema bin: Immer
wieder fragen sich Menschen: Wer bin ich eigentlich? Nehmen mich die anderen überhaupt
wahr? Oder: Bin ich eigentlich derjenige/diejenige, den/die die anderen in mir sehen? Oder
auch: Will ich derjenige sein, als den die anderen mich betrachten?
Als Beispiele für solche Missverhältnisse, solche Verunsicherungen nennt man schnell Migranten, Roma-Kinder, Menschen mit Behinderungen, die sich in Schubladen gesteckt und
nicht wahrgenommen fühlen. Aber schieben wir es nicht dahin. Es ist unser aller Problem,
unser aller Leid und unser aller ständiges Bemühen, Anerkennung für ein Bild von uns selbst
zu erhalten, mit dem wir einverstanden sind - Identität zu gewinnen.
Allerdings trifft man heute oft auf den Einwand, dass Identität doch ein gänzlich überholtes
Thema sei:
- Die Welt wandle sich so schnell: Wie soll man da noch Identität bewahren?
- Migration und Mobilität würfle die Menschen durcheinander: Wer weiß da noch, mit wem
man es eigentlich zu tun hat?
- Der Alltag zerfalle in Teilstücke: Wie soll man darin als Person noch ganz bleiben?
- Themen, die Menschen beschäftigen, werden von den Massenmedien hoch gepuscht und
wieder fallen gelassen: Wie soll man da noch Stellung beziehen können?
Daher sagen manche Beobachter des Geschehens, Identität sei out. Menschen verhielten sich
am besten angepasst wie ein Chamäleon oder je nach Situation, weil ja ohnehin nichts
Bestand habe. Was übrig bliebe von Identität, sei bestenfalls ein Fleckenteppich, ein
Patchwork aus dürftig zusammengehäkelten Stücken, die nichts miteinander zu tun haben.
Das Seltsame ist, dass zur gleichen Zeit das Thema Identität, das angeblich out ist, in aller
Munde ist. Ich habe vor ein paar Wochen, als dieser Vortrag näher kam, nach
Identitätsbüchern in einem der Internetbuchkataloge gesucht. Über 900 deutsche Titel waren
unmittelbar lieferbar: Multiple Identität, Identität und Differenz, Identität und Globalisierung,
Die outgesourcte Identität, Fragmentierte Identität, Identität und Transformation, Beschädigte
Identität, Die kollektive Identität, Die Suche nach Identität und viele, viele Titel mehr.
Immer war und ist den Menschen Identität vor allem dann ein Thema, wenn sie in ihrer
Identität verunsichert sind. Identität wird zum Thema in Krisen. Was gerät da eigentlich in die
Krise?
Ich bin heute nicht so ganz derselbe wie der, der ich war, als ich vor Jahrzehnten studierte; ich
bin hier nicht ganz derselbe wie in einer Diskussion mit meinen Forscherkollegen; ich bin
wieder ein etwas anderer, wenn ich mit meinen Nachbarn plaudere. Ich wandele mich im
Laufe des Tages, im Laufe des Lebens, ich wandle mich mit meinen jeweiligen
Gesprächspartnern und, unter dem Einfluss des Ortes, an dem ich mich gerade befinde.
Verliere ich mich selber dabei? Kann ich mich festhalten? Erkennen die anderen mich
wieder?
Solange es Brücken zwischen diesen Welten gibt, so lange es Kommunikation zwischen
diesen Bereichen meines Lebens gibt, so lange es Menschen gibt, die mich an verschiedenen
Stellen sehen, werden sie mich, manchmal mit Erstaunen, manchmal mit Verwirrung, manchmal mit Empörung, an das erinnern, was ich gestern, was ich vor ein paar Jahren, was ich in
der Forschergruppe, was ich beim Treffen mit den Nachbarn gesagt oder getan habe. Sie
verlangen meine Identität, weil sie dann wissen, wie sie mit mir umgehen können. Und auch
ich verlange von ihnen Identität, um zu wissen, wie ich sie ansprechen, wie ich mit ihnen
kooperieren kann.
Menschen tolerieren Wandel und Varianten im Auftreten, wenn sie ihnen erklärt werden. "Als
Student fehlten mir noch die Erfahrungen." "Wenn Du einmal das Elend in so einem Land
gesehen hast, denkst Du anders!" Oder auch nur: "Ich war zu erschöpft, um gut aufzupassen."
Es gibt hohe Sensibilität für Ausreden. Aber eine glaubhafte Stellungnahme signalisiert den
anderen, dass ich das, was ihnen an mir auffällt, anerkenne. Dann können sie mit mir
weiterreden und planen, denn ich übernehme Verantwortung für mein Reden und Handeln,
auch gestern, auch in anderen Rollen. Ich bin nicht mehr in einem äußeren Sinn derselbe wie
vorher. Aber ich rechne es mir noch zu.
Wer sich nicht auch in seiner Verschiedenheit umgreift, ist ein unkalkulierbarer Partner. Man
überlegt sich, was man mit ihm zusammen tun kann. Im Extremfall meidet man eine solche
Person, umgeht sie, schließt sie aus. Mit einem identitätslosen Menschen kann man nicht
kooperieren, keine Beziehungen aufbauen - außer in besonderen standardisierten Situationen,
in denen Menschen auf Automaten reduziert werden. Als Beispiel nennt man gern den
Fahrkartenkauf: "Einmal Hannover, zweite, hin und zurück." Ganz zweckorientiert - im
Grunde gar keine Kooperation. Da sind keine Menschen, die etwas miteinander zu tun haben
Aber unter Menschen, die einander wahrnehmen, ist Zusammenleben ohne Identität nicht
vorstellbar. Wer auf den anderen schaut, entdeckt, dass er/sie verschieden ist und braucht
einen Hinweis, wer er/sie ist, damit Interaktion, gemeinsames Handeln möglich wird.
Es gibt eine Gruppe von Soziologen, die postmodernen, die der Auffassung sind, dass dieses
Bewusstsein von Identität und die wechselseitige Anerkennung von Menschen in ihrer
Identität angesichts der schon genannten gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr zu
leisten ist. Die Welt verändert sich immer schneller, sie ist unübersichtlich geworden, die
Überfülle der Information verwirrt, viele fühlen sich gehetzt, nur der ökonomische Ertrag
scheint zu zählen - beeindruckende Klagen, bedrückende Klagen.
Derartige Zweifel daran, ob es dem Menschen gelingen könne, Identität zu entwickeln und
aufrechtzuerhalten, sind alt. Sie waren es auch schon, als ich vor vielen Jahren an dieses
Thema geriet.
Das war in den späten 60er Jahren. Auch damals hat uns in der Forschung über Schule und
Bildung bereits beschäftigt, dass Kinder aus der so genannten Unterschicht weniger am
Gymnasium und an den Universitäten zu finden waren als Kinder anderer sozialer Schichten.
Wer gehört aber zur Unterschicht? Die Soziologen hatten ein Maß für die
Schichtzugehörigkeit konstruiert, das mehrere soziale Stufenleitern kombiniert: Einkommen,
Ausbildung, berufliche Stellung und manchmal noch die kulturelle Beteiligung. Aus den
Messzahlen, die durch Befragungen ermittelt werden, wird dann ein Durchschnittswert
berechnet.
Halt, sagten damals einige Soziologen. Wieso eigentlich ein Durchschnittswert? Ist es nicht
gerade sehr bedeutsam, dass jemand möglicherweise eine gute Ausbildung, aber keine
entsprechende berufliche Stellung und nur ein geringes Einkommen hat, aber mit seinen
Freunden Musik macht? Oder dass jemand nur über eine schlechte Ausbildung verfügt, aber
im Beruf eine einflussreiche Stellung erlangt hat, viel Geld verdient, jedoch besser schweigt,
wenn die anderen über aktuelle Bücher reden.
Die Soziologen haben für diese Unstimmigkeiten/Widersprüchlichkeiten einen Ausdruck in
die Welt gesetzt, der nicht ganz einfach klingt: Statusdiskrepanz. Menschen in
Statusdiskrepanz leben wirtschaftlich, sozial und kulturell in verschiedenen Welten. Diese
Menschen passen nicht so ganz in die üblichen Schemata: Sie haben etwas zu erklären; sie
ecken manchmal an; sie fallen aus Erwartungen heraus. Man prüfte, ob diese Menschen mit
Statusdiskrepanz neben den anderen irgendwie auffallen und stellte fest, dass sie
gesundheitlich, in ihrem seelischen Befinden, in ihrem Sozialverhalten, in der
Kriminalstatistik, beim Suizid von üblichen statistischen Durchschnittswerten abweichen. Es
gab immer signifikant mehr oder weniger, die ein bestimmtes Verhalten zeigten, als man es
bei Menschen ohne Diskrepanzen findet.
Man folgerte: Statusdiskrepanz ist ein Problem. Der nächste Schritt war zu sagen: es handelt
sich um ein Identitätsproblem, denn diese Menschen, so wurde vermutet, haben es nicht
leicht, sich zuzuordnen, sich einzuordnen, die Anerkennung der anderen für ihren besonderen
Lebensweg zu erhalten. Wohin gehören diese Statusdiskrepanten? Wer sind sie eigentlich?
Statusdiskrepanz scheint die Entwicklung und Anerkennung von Identität zu belasten.
Allerdings - und das hat mich damals viel mehr interessiert - viele dieser statusdiskrepanten
Menschen, die nicht in die üblichen Raster fallen, zeigen kein auffälliges Verhalten. Wie
gelingt ihnen das? Wie bewahren sie Identität trotz Statusdiskrepanz trotz Verschiedenheiten
und Widersprüchlichkeiten?
Ich wollte noch ein Stück weitergehen: Ich fragte mich, ob Statusdiskrepanz nicht etwas ganz
Normales sei. Gibt es nicht ständig Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten auch im
normalsten Leben? Müssen nicht alle Menschen ständig daran arbeiten, auf Unstimmigkeiten
und Widersprüchlichkeiten eine Antwort zu finden, bei der zu zeigen versuchen, wie sie
selber das Problem sehen? Ich habe ja eben zu erklären versucht, dass dann, wenn jemand
einmal so und ein anderes Mal unvorhersehbar anders reagieren, er sich im Zusammenleben
mit anderen schadet. Andererseits können Menschen auch nicht immer auf dieselbe Weise
antworten. Sie brauchen Konsistenz, aber nicht sture Wiederholung; sie brauchen Identität,
ein Handeln, in dem man sie wiedererkennt.
Es gibt zwar extreme Erwartungen und Anforderungen, die Menschen zu zerreißen drohen:
Der Kulturschock bei der Migration. Der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes; Tod eines
Menschen, mit dem man eng verbunden ist. Unfälle, die das Leben durcheinander bringen.
Aber daneben gibt es den Normalfall von Wechselfällen des Lebens. Menschen leben in
verschiedenen Zusammenhängen, auf die sie sich einstellen, an die sie sich anpassen müssen.
Sie müssen sich im einen Zusammenhang anders verhalten als in einem anderen, anders in der
Schule als zu Hause, anders unter Freunden als in einer Arbeitsgruppe, anders in der Freizeit
als in einer Mathestunde, anders mit Vorgesetzten als mit Gleichrangigen.
Die Soziologen haben für diese Tatsache den Begriff der Rolle eingeführt. Menschen stecken
in mehreren Rollen: Sie sind Tischler, Vater, Nachbar, Verkehrsteilnehmer, Bürger. Jemand
hat in einem Buchtitel daraus gemacht: Wir spielen alle Theater. Das kann einen falschen
Eindruck erwecken, weil der Hinweis auf das Theater so klingt, als ob es sich nicht um die
Realität handle. Mit dem Ausdruck Rolle wollen die Soziologen aber gerade die
verschiedenen Realitäten benennen, in denen wir alle leben und für die es unterschiedliche
Verhaltensmuster und Normen gibt. An sie sollte man sich halten, wenn man sich das Leben
mit anderen nicht erschweren will.
Plausibel, und doch nicht so einfach: Man spricht - um bei der Schule zu bleiben - von der
Schülerrolle. Aber ein Jugendlicher steckt nicht nur in der Schülerrolle, sondern auch in der
Freundes- oder Freundinnenrolle, in der Rolle des Mitglieds seines Volleyballclubs, des Fans
einer Musikgruppe usw. In manchen Situationen ist er oder sie nur Schüler/Schülerin, in
anderen aber nicht nur Schüler, sondern steht zugleich auch unter dem Anspruch, der
Freundesrolle gerecht zu werden: zu helfen, obwohl Alleinarbeit verlangt ist? Dem Freund im
Konflikt mit den Regeln der Institution beizustehen? Das sind nicht nur moralische Konflikte,
sondern sie strahlen auf die Person, die Identität aus.
Aber auch wenn Rollen nicht miteinander konkurrieren, sind sie nicht so einfach auszuüben,
wie man meinen mag. Was der Schüler zu tun hat, liegt keineswegs so fest. Die Schülerin, der
Schüler ist ein junger Mensch mit eigener Perspektive und eigenen Erfahrungen, ein Subjekt,
ein aktiv Beteiligter im Lern- und Bildungsprozess. Daher muss der Schüler seine, die
Schülerin ihre Schülerrolle immer wieder neu gestalten.
Damit Menschen diese Rollen miteinander in Einklang bringen und immer wieder neu
gestalten können, braucht man Fähigkeiten. Sie kennen, was ich damals vorgeschlagen habe
und was immer offenbar immer noch produktive Anregungen gibt: die Grundqualifikationen
des Rollenhandelns. Sie helfen, von Rollen nicht verschluckt zu werden, sondern in
Auseinandersetzung mit ihnen seine Identität zu entwickeln. Ich will sie nennen, aber nicht
viel dazu sagen. Das ist
- die Fähigkeit zur Rollendistanz, zum Abstand von der Rolle, so dass der Mensch in der
Rolle seine Rolle bedenken kann;
- die Ambiguitätstoleranz, die ermöglicht, Unstimmigkeiten zu ertragen, anstatt sie zu leugnen
oder zu verdrängen;
- die Empathie - heute würden wir vielleicht von der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel
sprechen -, die Fähigkeit, sich in die Lage, in den Blickwinkel des Rollenpartners, des
Gegenübers, des Mitmenschen versetzen zu können; und
- die Darstellung des Selbst bzw. der Identität, somit die Fähigkeit, seine eigene
Ausgestaltung der Rolle im Zusammenhang der verschiedenen Rollen, in denen man steckt,
den anderen zu erläutern.
Wenn sie heute in Soziologiebücher schauen, stellen sie fest, dass der Rollenbegriff in der
Soziologie nicht mehr so populär ist wie vor einigen Jahrzehnten. Aber geblieben ist, was er
verdeutlichen wollte, nämlich dass Menschen sich mit sehr unterschiedlichen Anforderungen
in ihrem sozialen Leben auseinandersetzen müssen. Gegenüber diesen Anforderungen bleiben
die Grundqualifikationen das Potential, sich nicht von einer einzelnen Anforderung allein bestimmen zu lassen, sondern immer noch ein Stück mehr in das Handeln hineinzubringen, als
an dieser Stelle als Minimum verlangt wird, sich in seiner Identität zu zeigen. Dann wissen
die anderen, mit wem sie es zu tun haben; dann weiß der Handelnde selbst, dass er nicht nur
ein Rädchen in einem Getriebe ist, nicht nur fremdbestimmt; er spürt sich selbst. Er/sie hat ein
Bewusstsein seiner/ihrer Identität .
In einem abschließenden Teil will ich meine Sicht auf das Identitätsproblem noch einmal in
acht Punkten zusammenfassen:
1. Als erstes will ich betonen, dass es menschliches Zusammenleben ohne Identität nicht
geben kann. In allen wichtigen Situationen des Lebens müssen Menschen wissen, wer der
Handlungspartner ist, wozu er/sie fähig ist und was wir von ihr/ von ihm erwarten können.
Daher ist die Frage, ob Identität heute noch möglich sei, für mich geradezu eine Scheinfrage.
Es mag manchmal sehr schwer sein, sich in seiner Identität zu behaupten. Aber zu zeigen, wer
man ist und wofür man Verantwortung übernimmt, ist so wesentlich, so fundamental im
menschlichen Zusammenleben, dass die Aufgabe, sich um Identität zu bemühen, nicht
aufgegeben werden kann. Diese Identität zu entwickeln und zu zeigen, kann mehr oder
weniger gut gelingen, weil nicht jeder die eben genannten Grundqualifikationen in gleicher
Weise beherrscht. Je mehr man sie beherrscht, desto mehr kann man in diese Identität
hineinlegen. Irgendeine Vorstellung vom Menschen entsteht jedoch im sozialen Miteinander,
ob man es will oder nicht.
2. Aber auch wenn man solche Fähigkeiten hat, sich als identischer Mitmensch zu
präsentieren und andere in ihrer Identität anzuerkennen, stößt man auf Schwierigkeiten.
Identität ist bedroht - heute anders als vor 50 Jahren und anders als zur Kaiserzeit oder im
Mittelalter. Da wir Menschen sind, die in ihrer Gegenwart leben, sagen wir gern: Heute ist
diese Identität in der Krise. Sogar: heute ist sie in ganz besonderer Weise in der Krise.
Ich habe versucht, zu erläutern, dass Identität immer in der Krise ist. Menschen stecken
immer in unstimmigen und widersprüchlichen Arbeits-, Sozial- und Lebenszusammenhängen,
die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Daher stehen wir immer vor der Aufgabe, uns
anzupassen, sonst schließt man uns aus; wir müssen aber auch dieselben über viele
Situationen hinweg bleiben, sonst erkennen die anderen uns nicht wieder, und wir werden
ebenfalls ausgeschlossen. Da die Verhältnisse, in denen wir leben, sich ständig ändern,
können wir uns nie auf unserer Identität ausruhen. Ich muss morgen ein anderer sein als heute
und doch müssen mich die Menschen wieder erkennen.
3. So kommt es zu dem Bild von der Balance, das ich gern gebraucht habe. Menschen müssen
sich anstrengen, das Widersprüchliche, Auseinanderstrebende zu verbinden, erklären, warum
es zu ihnen gehört, verständlich machen, dass die Bedeutung von Dingen sich ändert. Sa
beleiben Spannungen, die man aushalten und ausgleichen muss, indem man den Schwerpunkt
in der einen Situation mehr hier setzt, in einer anderen Situation eher da. Ich habe einmal
einige der Lebensläufe, die ich für verschiedene Zwecke, Bewerbungen, Kandidaturen,
Autorenportraits, Nachweise meiner Kompetenz, geschrieben habe, nebeneinander gelegt und
war erstaunt, wie verschieden sie waren, weil sie immer auf die jeweiligen Adressaten
eingegangen sind. Würde mich ein Leser all dieser Selbstdarstellungen als dieselbe Person
entdecken?
Diese Spielbreite der Identitätsdarstellung erfinden wir nicht aus Spielerei oder Leichtsinn. Es
ist sogar mühsam, denn diese immer wieder neuen Versuche, ein vielgestaltiges Leben zu
integrieren, sind nur glaubhaft, wenn die Begründungen überzeugend sind. Wenn sie aber
glaubhaft sind, dann wird selbst der Wandel ein Anzeichen, geradezu ein Markenzeichen der
Identität.
4. Da überzeugende Identitäten so wichtig im sozialen Leben sind, profitieren sie letztlich alle
davon, wenn sie einander in den Bemühungen unterstützen, Identität zu entwickeln und zu
bewahren. Bei der Suche nach Balance geraten wir manches Mal aus der Balance: Wir
vergessen Verpflichtungen, wir haben nicht an den Freund gedacht, wir wissen nicht, wie wir
auf den Wunsch der Mutter reagieren sollen. Jede Kultur kennt Wege, Riten, Regeln,
Identitätsverletzungen wieder in Ordnung zu heilen: Entschuldigungen,
Wiedergutmachungen, Rituale, Gesten, Ungeschehen-Machen. "Lass uns morgen noch
einmal darüber reden", sagt man dem Freund. "Ach, das hast Du sicher nicht so gemeint",
hilft man dem Arbeitskollegen. Das gibt Raum, um die Balance wieder zu finden, um sie neu
zu justieren.
5. Noch einmal: Bei Balance geht es nicht um Beliebigkeit. Beliebigkeit ist sogar sehr
gefährlich, denn sie macht schwer, das, was ein Mensch redet und tut, auf einen Nenner zu
bringen und ihm ernsthaft zuzurechnen. Identität setzt voraus und baut auf Verantwortung
sich selbst gegenüber. Verantwortung meint hier, dass der Mensch bereit ist, sich
zuzurechnen, sich zuzurechnen zu lassen, dass er gestern/früher, im Berufsleben, in einer
anderen Rolle etwas gesagt oder getan hat, was nicht zu passen scheint, was er/sie hier und
jetzt sagt oder tut. Er anerkennt, das war ich auch; das habe ich damals getan; so kann es ein
Teil der Identität werden.
Dies fällt allerdings leichter, wenn der Mensch alle diese Dinge geredet oder getan hat auf der
Basis einer Überzeugung, einer Auffassung von dem, was richtiges und gutes Handeln ist. Ich
hoffe, es ist klar, was ich meine. Es geht nicht um äußerliche Übereinstimmung, sondern um
das Handeln nach bestem Wissen, nach der moralischen Überzeugung, nach Werten, die sich
ein Mensch setzt. Menschen mit einer Lebensphilosophie, mit einem Wertesystem fällt es
leichter, Identität zu entwickeln und zu wahren, als ohne eine solche Grundlage und daher mal
so und mal so reagieren.
Einen kleinen, aber doch wichtigen Zusatz will ich machen: Es gibt Phasen des Umbruchs, in
denen Menschen mal so und mal so reagieren - nicht aus Gleichgültigkeit oder
Rücksichtslosigkeit, sondern weil sie ihre Orientierung verloren, noch nicht gefunden haben.
Ich glaube, dass man dies Menschen, gerade jungen Menschen zugestehen muss. Oder mit
anderen Worten: dass man Suche respektieren muss.
Außerdem sagte ich: "Fällt leichter." Auch für Menschen mit einer ernsthaft überlegten
Weltsicht, mit begründeten Werten und moralischen Überzeugungen nehme ich nicht zurück,
was ich vorher gesagt habe: Auch diese Menschen müssen sich neuen Situationen,
veränderten Anforderungen, anderen Menschen in ihrem Umkreis anpassen und sich als
Identität wieder finden. Sie buchstabieren ihre Überzeugungen dabei jeweils neu aus. Aber sie
handeln aus denselben grundlegenden Gedanken heraus.
Noch einmal zur Balance: Sie ist kein beliebiges Zusammenbringen der Verschiedenen, kein
willkürliches Patchwork, sondern ein ständiges Bemühen, neue Gesichtspunkte, neue
Erfahrungen zu integrieren und doch dem treu zu bleiben, was man für richtig und wichtig
hält.
6. Nach allem, was ich sage, ist Identität etwas sehr Wesentliches. Aber zugleich ist Identität
auch etwas sehr Triviales. Das steht im Gegensatz zu manchen Vorstellungen, die Identität
mit dem Besonderen verbinden. Wenn ich besonders bin, dann habe ich eine Identität; das
glauben manche. Vorsicht, auch hier lauert eine Gefahr. Einerseits ist richtig, dass Identität
etwas mit Besonderheit zu tun hat, denn wie ein Mensch seine Rollen zusammenbringt,
Unstimmigkeiten überbrückt, Balance hält, das ist einmalig - im Sinne von: das gibt es nur ein
Mal, denn jeder von uns lebt in seiner besonderen Konstellation von Zeit, Raum und anderen
Menschen.
Aber es bleibt trivial, eine triviale Besonderheit, weil jeder sie leisten muss. Dieser Mensch
tut dabei nichts, was ihn/sie auf die Titelseiten von Zeitungen bringt. Jetzt kommt das
andererseits, denn es gibt Menschen, denen diese triviale Besonderheit nicht genug ist; sie
wollen etwas mehr Farbe ins Bild bringen, und so weit ist es schön und erfreulich. Aber wenn
daraus eine Jagd nach dem Einmaligen, alles Übertreffenden wird, dann ist die Gefahr groß,
dass der Mensch das Einmalige immer dann endlich erhascht, wenn es alle anderen Jäger
auch schon ergattert haben und gerade das Gegenteil erreicht wird: statt Einmaligkeit die xte
Kopie des derzeit Modischen. Schwieriges Thema, weil die Sozialwelt öde wäre, wenn es
nicht bunte Tupfer gäbe.
7. Die Aufgabe, eine Identität zu entwickeln, wird besonders der Jugendzeit zugeschrieben.
Diese These stammt von dem Identitätspsychologen Erik Erikson, der betonte, dass
Jugendliche in diesem Lebensabschnitt vorangegangene Erfahrungen mit sich selbst und der
Welt zu einer Identität zusammenfügen müssen. Dafür gebe es in jeder Gesellschaft einige
Grundmodelle, unter denen sich die Jugendlichen für eines entscheiden müssen. Die Stellung
unter den Gleichaltrigen, das Verhältnis zum anderen Geschlecht und die Orientierung an
einem Beruf sind dabei entscheidende Gesichtspunkte.
Am Ende dieser oft turbulenten Phase, so Erikson, muss der Jugendliche geklärt haben, wie er
sich in seiner Gesellschaft versteht. Komme es nicht zu einer gefestigten Identität, sei die
Gefahr groß, intolerant zu werden, um die Unsicherheit zu überspielen, sich autoritären
Gruppen anzuschließen, um dort Halt zu finden, in engen Beziehungen zu scheitern, weil man
Angst hat, etwas von sich selber preis zu geben, weil man sich nicht sicher ist, wer man ist.
Übrigens wies Erikson auch darauf hin, dass typische Identitätsprobleme in jeder
Lebensphase auftauchen. Dennoch muss nach seiner Auffassung das Grundmuster in der
Jugendzeit entwickelt werden. Erikson stützt sich auf Beobachtungen in den 40er und 50er
Jahren in den USA, als viele Jugendliche noch vor dem Highschool-Abschluss die Schule
verließen, früh im Leben einen Beruf suchten oder in den Krieg gegen Nazi-Deutschland
ziehen mussten. Diese jungen Leute standen unter großem Druck, erwachsen zu werden, ihren
Mann zustehen und zu wissen, wofür.
Jugend- und Entwicklungsforschern zweifeln, dass dieses klassische Bild noch stimmt, auch
wenn man die militärischen Aspekte beiseite lässt. Der Zeitpunkt der tatsächlichen
Selbständigkeit liegt in der Jugendzeit für viele noch weit entfernt. Die Schule ist zu weit vom
Leben entfernt, als dass sie die Jugendlichen in den Horizont eines eigenverantwortlichen
Lebens rücken könnte. Eigene Jugendkulturen trennen die Jugendlichen vom
Erwachsenenleben. Handys und Computerspiele tragen ihren Teil dazu bei, wie jedenfalls
Erwachsene befürchten. Außerdem verwischt sich die Grenze von Jugend- und
Erwachsenenwelt. Alkohol, Rauchen, Sexualität beginnen für viele früh. In manchen
Bereichen bestimmen die Jugendlichen, was in und out ist: Mode, Musik, Freizeit. Das ist
nicht mehr der klassische Kontext von Adoleszenzkonflikt und Identitätsbildung.
Für Erikson gehörte auch eine gewisse Erprobungs- und Nachdenkphase zu diesem Prozess,
Moratorium genannt. Wo ist eine solche Pause geblieben? Beschleunigtes Abitur,
Konkurrenzdruck um die beste Schule und die meisten Punkte, lange Arbeitstage, zusätzliche
Qualifikationen außerhalb der Schule, so wird das Bild des jugendlichen Alltags heute
gezeichnet, der auch noch von Lehrstellen- und Studienplatzregulierungen überschattet wird.
Jedoch bestätigen Forschungen auch, dass viele Jugendliche nach wie vor ernsthaft nach
ihrem Platz im Leben suchen, ihre Grundsätze entwickeln und sich engagieren, also genau das
tun, was ihnen Identität abverlangt. Wir sollten vorsichtig mit den Klagen über die Jugend
sein; sie sind alt und waren meist überzeichnet von Erwachsenengenerationen, die selber
katastrophale Fehler begangen haben. Wir, die Erwachsenen, sollten ihnen unsere
Erfahrungen, so gut wir es können, vermitteln, sollten ihnen sicher auch sagen, was wir für
fragwürdig halten, aber ihnen mit Respekt für die Identitätsleistungen begegnen, die ihnen
heute abverlangt werden. Geben wir ihnen die Räume der Verantwortung, die ihnen
angemessen sind; dann werden sie sich auch in ihrer Identität herausgefordert.
8. Am Schluss möchte ich noch anmerken, dass ich zwar viel über die ernste Aufgabe, die
Anstrengung, die Leistung gesprochen habe, die Menschen abverlangt wird, wenn sie einen
festen Platz im sozialen Miteinander einnehmen wollen. Sie müssen als verlässlicher Partner
erkennbar sein, sich die Anerkennung für ihre Art, mit anderen zu kooperieren und
zusammenzuleben, sichern. Identität zu gewinnen und zu bewahren ist keine leichte Aufgabe.
Aber lassen Sie uns auch die andere Seite sehen. Identität ist die Antwort auf die Tatsache,
dass Menschen keine programmierten Wesen sind: Wir Menschen können auf neue
Situationen, die voller neuer Herausforderungen sind, eingehen, in dem wir das, was wir
können und wollen, unter den neuen Bedingungen einsetzen. Identität teilt mit, ich bin immer
noch der, den ihr kennt, obwohl ich hier etwas tue, was ich noch nie getan habe. "Vertraut
mir, plant mich ein: Ihr kennt mich doch!" Identität befreit von ewiger Wiederholung und
sturer Rigidität. Daher ist die Anstrengung, seine Identität zu entfalten oder zu stärken, zwar
eine schwere Aufgabe, aber keine Last, sondern eine der großen Chancen des Mensch-Seins.
Herunterladen