III Analyse und Deutung

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Ursprung der Tragödie
III Analyse und Deutung
1 Form
Dramatische Struktur
Der Ursprung der griechischen Tragödie verschwimmt im
mythischen Dunkel der archaischen Zeit. Aristoteles schreibt
in seiner Poetik, wie alle Kunst sei auch die Dichtkunst aus
»zwei Ursachen« entstanden (Poetik 4, 1448b): der Lust, ande­
re nachzuahmen, und der Freude, solchen Nachahmungen
zuzusehen und daraus etwas zu lernen. Die dramatische
Kunst speziell habe »ursprünglich aus Improvisationen« zu
festlichen Anlässen bestanden (ebenda, 1449a). Die entschei­
denden Elemente dieser Improvisationen seien erstens die
Erinnerung an die Erzählungen von Heroen (wie in Homers
Epen), zweitens das »Satyrische« (»einer auf Lachen zielenden
Redeweise«) und drittens der »Dithyrambos« (gesungene
Chorlieder) gewesen. Sie hätten »dem Tanze« nahegestanden.
Bei tragischen Stoffen sei das Satyrische zunehmend zurück­
gedrängt und der Vortrag mit einer gewissen »Feierlichkeit«
versehen worden (ebenda). Herodot (Historien 5, 67) erwähnt
einmal im Zusammenhang mit bestimmten Kultformen »die
Aufführung tragischer Chöre« zu Beginn des 6. Jahrhunderts
v. Chr., die die Leiden des mythischen Heroen Adrastos zum
Inhalt gehabt habe; auch dies ist eine mögliche Quelle für die
Tragödie. Jedenfalls haben sich chorlyrische Aufführungen
im archaischen Zeitalter rasch verbreitet, indem sie sich »als
kulturelles Ereignis verselbständigten. Man trug die Heroen­
geschichten […] nicht mehr nur im Kult des betreffenden
Helden vor, sondern benutzte sie auch zur Ausgestaltung
anderer Feste« (Seeck, S. 33).
Um vom Chorlied zur Tragödie zu gelangen, bedurfte es
noch zweier weiterer Schritte: »Erstens mußte die Einzelrolle
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Dramatische Handlung
erfunden werden und zweitens die dramatische Handlung«
(Seeck, S. 39). Von wem die Idee mit der Einzelrolle stammt,
ist nicht genau bekannt. Antike Autoren nennen als ›Erfinder‹
der Tragödie einen gewissen Thespis, über den man nichts
weiß, außer dass er im sechsten Jahrhundert gelebt haben
muss, da er sowohl Solon wie auch Peisistratos kannte. Er sei
der Erste gewesen, der als Einzelsprecher in Prolog und Rhe­
sis (längere Rede in einem dramatischen Werk) dem Chor
gegenübergetreten sei (Diogenes Laertius 3, 56). Inhaltlich
wird es um die Leiden eines Heroen gegangen sein; formal
kann die Rhesis sowohl ein Bericht über diese Leiden sein,
und zwar in der Rolle des Heroen selbst, in der eines Boten,
der dem wartenden Chor Nachricht bringt, oder in Gestalt
eines zunächst sich sorgenden, dann trauernden Angehörigen.
Alle diese Elemente finden sich noch in den Persern des
Aischy­los, wobei hier Bote, Angehörige und der geschlagene
Held mitunter zusammen auftreten (so ein Bote und die Mut­
ter des Xerxes), weswegen Aischylos den zweiten Schauspie­
ler erfinden musste (vgl. Aristoteles, Poetik 4, 1449a).
Doch auch das Gegeneinander zweier Schauspieler macht
noch nicht automatisch eine dramatische Handlung aus. Der
bloße Bericht über die Leiden des Helden ist episch und der
Klagegesang des Chors darüber lyrisch zu nennen. Drama­
tisch wird das Spiel dann, wenn die Situation durch die Reden
zeitlich gespannt und teleologisch (auf ein Ziel hin) gerichtet
wird. Eine Handlung hat nach Aristoteles eine »bestimmte
Ausdehnung«; sie soll in sich geschlossen und »etwas Ganzes«
sein, also einen Anfang und ein davon qualitativ unterschie­
denes Ende haben – zum Beispiel »einen Umschlag vom Glück
ins Unglück« (Poetik 7, 1450b –1451a). »Wenn nun jemand er­
findet, daß der Chor am Anfang nicht genau Bescheid weiß,
sondern Befürchtungen äußert und auf eine Nachricht war­
tet«, dann wird die Situation mit dramatischer Spannung
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Inhaltliche und formale Charakteristika der Tragödie
aufgeladen; so wartet in den Persern »der Chor – zwischen
Sorgen und Hoffnung schwankend – auf Nachricht von dem
ausgezogenen Heer. Diese labile Situation wird durch den
Boten, der die Niederlage des Heeres meldet, been­det. Die
Spannung hat sich gelöst, und der Chor reagiert auf die neue,
jetzt eindeutige Situation mit Klagen« (Seeck, S. 41 f.).
Noch dramatischer werden Situationen, wenn über ihre
Einschätzung oder Bewertung gestritten wird. Mit dem Dia­
log betreten der Logos (die Vernunft) und die Politik die Büh­
ne. Im Gespräch kann über das Richtige gestritten, argumen­
tativ gerungen werden, um zu einer einheitlichen Bewertung
der Vorgänge zu finden. Antigone zeigt im Übrigen, dass das
Gespräch nicht immer mit einer einvernehmlichen Beurtei­
lung enden muss: Hier bleiben die Gegensätze unüberwind­
lich. In die Dialogstruktur kann auch der Chor mit einbezogen
werden; allerdings ist dies verhältnismäßig selten der Fall.
Tatsächlich sind die Chorlieder oft Resümees oder verallge­
meinernde Überlegungen zu Themen, die während der Sze­
nen aufkamen.
Inhaltlich also ist die Tragödie an den Mythos oder an he­
roische Ereignisse gebunden, stilistisch muss sie sich durch
einen gewissen feierlichen Ernst auszeichnen, formal soll sie
eine Handlung aufweisen, in der sich chorische und szenische
Teile abwechseln, wobei die szenischen Teile durch schauspie­
lerische Nachahmung von Ereignissen und durch – am besten
dialogische – Erörterungen von Situationen und Ereignissen
bestimmt sind. Überdies soll die Tragödie eine in sich ge­
schlossene Handlung haben, die auf ein bestimmtes Ziel hin
organisiert ist. Meistens sind die Tragödien – und zwar so­
wohl insgesamt als auch in ihren Teilen – nach dem Schema
»Spannung / Entscheidung / Reaktion« strukturiert (Seeck,
S. 195). Dieses Schema kann beliebig oft eingesetzt werden.
Es gab bei den antiken Tragikern keine festgefügten Vorstel­
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Dialog- und Gesangsszenen
lungen davon, wie oder wie oft die Elemente aneinanderzu­
reihen waren. Es kam nur darauf an, mittels einander abwech­
selnder Dialogszenen und gesungener Chorlieder eine
dramatische Handlung zu erzeugen. Bei Aischylos dominie­
ren lange Chorpassagen, in die gesprochene Szenen einge­
schaltet werden; bei Sophokles findet sich ein relativ ausge­
glichenes Verhältnis von Szene und Chor; und bei Euripides
treten die Chorpartien so stark hinter die dialogischen Szenen
zurück, dass sie wie Einsprengsel wirken.
Erschwerend für die systematische Beschreibung ist auch,
dass die Abgrenzung zwischen Dialogszenen und Gesangs­
szenen mitunter schwierig ist, etwa wenn der Chor sich als
Gesprächspartner in den Dialog von Protagonist und Antago­
nist (erstem und zweitem Schauspieler) einmischt (in Antigo­
ne zum Beispiel in der ersten Szene: V. 211–222 und 278 f.); oder
wenn der Protagonist selbst ein Klagelied anstimmt (in Anti­
gone beispielsweise in der vierten Szene: V. 806–881). Vollends
kollabiert das Schema, wenn der Chor sogar die Hauptrolle
spielt wie in Aischylos’ Hiketiden (Die Schutzflehenden). Mit
rein schematischen Begriffen lässt sich die antike Tragödie
nicht beschreiben. Obwohl Aristoteles nur gut zwanzig Jahre
nach dem Tod von Sophokles und Euripides geboren wurde
und in seiner Poetik viele Ausführungen mit Beispielen aus
den Stücken der drei großen Tragiker belegte, sind auch seine
Begriffe nur bedingt zur Beschreibung der erhaltenen Tragö­
dien geeignet, weil er zugunsten einer allgemeineren Theorie
von den konkreten Ausgestaltungen der Stücke abstrahierte.
Grundsätzlich können literaturwissenschaftliche Termini
»also immer nur momentane Orientierungshilfen sein, aus
denen man nicht allzu direkt auf den wirklichen Aufbau der
Tragödie schließen darf. Griechische Tragödien folgen keinem
äußerlichen festliegenden Schema und sind nicht aus genau
definierten Einzelteilen zusammengesetzt« (Seeck, S. 191).
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Prolog
Die österreichische
Schauspielerin Mady
Christians (1896 bis
1951) als Antigone in
einer Inszenierung am
Großen Schauspielhaus
in Berlin (1920).
Für die Antigone lassen sich immerhin folgende Elemente
isolieren: Als ›Prolog‹ wird nach Aristoteles alles bezeichnet,
was vor dem ersten Chorlied gesprochen wird. Das erste Lied
singt der Chor, während er von beiden Seiten auf die Bühne
kommt. Nach diesem Einzugslied, der ›Parodos‹, folgt der
szenische Auftritt eines Schauspielers oder, wie in Antigo­ne,
mehrerer Schauspieler: das ›Epeisodion‹ (das ›noch Dazukom­
mende‹). Die vom Schauspieler verkörperte Figur kann in
einer ›Rhesis‹ (›Rede‹) ein längeres Argument entfalten (wie
Kreon zweimal in der ersten Szene: V. 162–210 und 280 bis
314), oder sie tritt in den Dialog mit dem Chor (V. 211–222)
oder mit der vom anderen Schauspieler verkörperten Figur
(V. 237–248), nimmt einen Botenbericht entgegen (V. 249 bis
277), streitet vielleicht sogar in schneller Wechselrede, genannt
›Stichomythie‹ (›Zeilenrede‹), wenn sich die Sprecher mit je­
dem Vers abwechseln (V. 315–323).
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