Welche Orientierung können Religionen für das Leben geben – heute und in Zukunft? (Impulsreferat beim Eröffnungsplenum am 18. Juli 2013 der Internationalen interreligiösen Konferenz Graz 2013) Die Situation der Religionen heute inmitten einer säkularen und weltanschaulich pluralistischen Welt bringen neue Fragen mit sich, auf die Antworten erwartet werden. Im Unterschied zu einer relativ geschlossenen Kultur – eine absolute Abgeschlossenheit hat es auch in vormodernen Gesellschaften niemals gegeben -, kennzeichnet die heutige kulturelle Situation generell eine Unabgeschlossenheit und Offenheit, die entscheidend auch das religiöse Selbstverständnis mitprägt. Einerseits ermöglicht diese sowohl für die individuelle Religiosität auch für die Religionen als Gemeinschaften neue Perspektiven, die es so in der Geschichte noch nicht gegeben hat, wie sie sich z. B. aus dem Gespräch und Zusammenleben mit Menschen, die einer anderen Religion oder auch keiner angehören, ergeben, andererseits führt die gelebte Pluralität zu neuen Fragen, bis hin zu Infragestellungen traditioneller religiöser Orientierungsmuster – eine neue Orientierung ist vonnöten – wie aber soll diese aussehen? Dazu möchte ich kurz einige Überlegungen einbringen, als Impulse für weitere Diskussionen. Im Hinblick auf mein Referat ist von den ExpertInnen der interreligiösen Arbeitsgruppe, die diese Konferenz vorbereitet hat, die Idee in den Raum gestellt worden, Gedanken zu folgender Frage einzubringen: „Was geht der Welt ab, wenn es die Religionen nicht mehr gibt?“ Gerne gehe ich auf diese Anregung ein, möchte meine Antwort deshalb besonders auch im Dialog mit Religionslosen und Religionsfernen zu finden suchen, aber diese Frage eher positiv formulieren, da wir einerseits in der Geschichte der Menschheit keine völlig religionslose Kultur kennen, und es andererseits aufgrund der derzeitigen globalen Religionsstatistik höchst unwahrscheinlich, eigentlich ausgeschlossen ist, dass die Religionen im Verlaufe des 21. Jahrhunderts aussterben; sie werden sich aber sehr verändern (müssen), um den gewandelten Bedingungen der gleichberechtigten Situation der verschiedenen Religionen sowie einem (post-)säkularen Zeitalter zu entsprechen. Ich versuche also eine Antwort, die – wie im Titel angegeben – zeigen will, welche Orientierung die Religionen für das Leben geben können, wodurch sie zugleich auf die heutige säkulare und pluralistische Situation antworten. Oder anders formuliert: „Was besitzt die Welt durch die Religionen?“ bzw. “Was würde mit dem(hypothetisch) angenommenen Untergang der Religionen verloren gehen?“, wie ihn die neuzeitliche Religionskritik bis vor etwa einem halben Jahrhundert nicht nur als hypothetisch, sondern faktisch erwartetes Resultat (meist verbunden mit einer extremen Säkularisierungsthese) vielfach angenommen hat. Um darauf zu antworten, müsste vorher zuerst wenigstens kurz geklärt werden, was eine Religion ist, und was eine Religion leisten kann, um zu sehen, ob sie auch eine Orientierung für 1 das Leben – individuell und gesellschaftlich – geben kann. Was ist ihre Kompetenz im Unterschied zu anderen sinnorientierten Angeboten, wie Philosophie, Therapie, Weltanschauung und allgemeine Lebenserfahrung? Diese Dimensionen der Religionen will ich im 1. Teil meines Referates hervorheben, um im 2. Teil ihren spezifischen Beitrag zur Lebensorientierung aufzuzeigen. 1. Grunddimensionen im Verständnis von Religion(en) 1. 1.Vorbemerkung zur existenziellen Dimension des Begriffs der Religion Eine Definition der Religion zu geben ist heute fast aussichtlos. James Leuba, ein amerikanischer Religionspsychologe, hat schon 1912, also vor 100 Jahren über 50 verschiedene Definitionen aufgezählt, und heute sind es gewiss über 100 und mehr. Ohne im Einzelnen darauf eingehen zu wollen, haben uns diese vielen Definitionsversuche doch eines gemeinsam, nämlich ihre Aussage, dass es in der Religion es um etwas geht, das mehr umfasst als die endliche Welt, mehr als den einzelnen Menschen und seine Lebenszeit, mehr als die betreffende Religion selbst. Es ist ein Überschreiten der stets gegebenen Begrenztheit menschlichen Daseins auf einen übergreifenden Horizont hin, der in den verschiedenen Religionen vermittelt und unterschiedlich erfahren wird. In dieser Ausrichtung auf eine transzendente göttliche bzw. absolute Wirklichkeit hin, die personal oder a-personal, theistisch oder auch nicht-theistisch verstanden wird, ist ein gemeinsames Grundmerkmal aller Religionen gegeben. Diese abstrakt und allgemein umschriebene Wirklichkeit hat jedoch eine konkrete existenzielle Bedeutsamkeit, der wir uns in diesem Referat, in dem es um die Bedeutung der Religionen für das Leben geht, ausdrücklich zuwenden müssen. Eine solche existenzielle Dimension der Religionen wird im Einleitungsartikel der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das „Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ in einer, wie ich meine, auch für Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen eindrucksvollen und zutreffenden Weise umschrieben, insofern gesagt wird, dass die Menschen „von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins (erwarten)“. Es geht um jene Fragen, die die Herzen der Menschen im Tiefsten bewegen. Insgesamt sind es Formulierungen einer existenziell orientierten Anthropologie. Die grundlegenden Sinnfragen und ethischen Probleme werden erörtert: „Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes 2 letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ Besonders die letzte Frage ist uns wohlvertraut durch Kardinal König, der ja wesentlich an der Entstehung dieser Erklärung beteiligt war: „Woher sind wir gekommen, wohin gehen wir – was ist der Sinn unseres Lebens“ - so hat er oft formuliert. Dies sind zeitlose Fragen, auf die die Religionen antworten; auch Philosophien und nicht-religiöse Weltanschauungen machen das, handelt es sich doch um allgemein-menschliche Fragen; die Religionen jedoch tun dies einerseits im Horizont einer göttlichen bzw. absoluten Wirklichkeit, die andererseits existenziell erfahren wird – denn es werden Antworten auf grundlegende Fragen des Daseins gegeben. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Religionen stellen den Anspruch, einen Beitrag zu zentralen existenziellen Problemen zu leisten. Doch welche Aspekte der Religionen sollen in einer säkularen Welt hervorgehoben werden, welche Sprache soll gewählt werden, damit diese heute Lebensorientierung zu geben vermag, und diese Fragen (und vielleicht auch Antworten) Menschen einer säkularen Welt als ihre eigenen Anliegen verstehen? 1.2. Die Weisheitsdimension der Religionen Vereinfacht kann man in Religionen drei grundlegende Dimensionen unterscheiden: die Lehre (Dogmen, etc.), die Ethik (Praxis, Moralgebote, etc.), den Kult (Gebet, Ritual, etc.), diese drei werden zusammengehalten durch die religiöse Gemeinschaft (sowohl im Großen – global, als auch im Kleinen – lokal). Heute, denke ich, müsste eine vierte Dimension religiösen Selbstverständnisses neu betont und akzentuiert werden, obwohl diese die Religionen von ihren Anfängen an begleitet hat: nämlich ihre Weisheit. In ihr liegt m. E. ein zentraler Beitrag der Religionen zur Lebensorientierung begründet. Angesichts eines weltanschaulichen Pluralismus, des Aufeinandertreffens sehr verschiedener Lebensmodelle innerhalb einer Kultur und Kulturen überschreitend ist es eine fast normale Konsequenz, dass es zu Infragestellung von tradierten Orientierungsmustern kommt, bis hin zu einer Orientierungslosigkeit, die ihrerseits wieder zur verstärkten Suche nach verlässlichen Wegweisern führen kann. Religionen und religiöse Menschen sind von diesem kulturellen pluralistischen Milieu, wie einleitend erwähnt, nicht unbetroffen. Ja, sie mögen diese Anfrage umso bedrohlicher erleben, als sie sich selbst als „Wege“, und zwar mit klaren Orientierungen verstehen: Für Christen ist Christus „der Weg, die Wahrheit und das Leben“, und die ersten Christen verstanden sich als Anhänger „eines (neuen) Weges“, wie es in der Apostelgeschichte heißt (vgl. Apg. 24, 14). Für Muslime ist der Weg, was Scharia wörtlich heißt, eine grundlegende Orientierung für das Leben; Buddhisten lehren - wie das Zweite Vatikanische Konzil in der erwähnten Erklärung über die nichtchristlichen Religionen treffend formuliert - , einen „Weg“, der zu vollkommener Befreiung bzw. höchster 3 Erleuchtung führt, nämlich den achtgliedrigen Pfad, der Ethik, Weisheit und Meditation beinhaltet. Die Klarheit und Evidenz der Wege ist zwar wichtig angesichts der Infragestellungen, aber sie darf nicht mit starrer unveränderlicher, fundamentalistischer Doktrin verwechselt werden. Dann würde vergessen, was diese Wege sein sollten: nämlich Orientierungen für unterwegs, und das heißt zugleich: in Bewegung sein, sich der neuen Situation aussetzen. Dem entspricht auch die Sprache, die Art und Weise, wie Religionen ursprünglich ihre Botschaft verkündet haben. In Beispielen und Gleichnissen werden Lebensmodelle vor Augen gestellt, die oft recht einfach und vor allem unmittelbar verständlich, die auf Praxis bezogen sind. Die Attraktion der Religionen in der „westlichen“ Welt, die zugleich christlich und säkular geprägt ist, würde m. E. zu einem guten Teil in der Einfachheit und Plausibilität der lebensorientierenden und sinngebenden Angebote der verschiedenen Religionen bestehen, wobei freilich jede ihre eigenen Formen und Überlieferungen hat. So sind z. B. im Islam solche Orientierungsmuster für situationsgerechtes Handeln in anschaulicher Weise in den Hadithen, der außerkoranischen Überlieferung von Aussagen des Propheten und seinem Vorbild, sowie in Sufi-Traditionen und –Erzählungen anzutreffen. Im Christentum sind sie namentlich in der Weisheitsliteratur des Ersten Testaments gegeben, die stärker beachtet werden sollte, sowie in zentralen weiteren Texten der Bibel und der mystisch-theologischen Tradition. Insgesamt ist dies eine Sprache, die der Mensch als Mensch versteht, in gewissem Sinn ist diese religions- und kulturübergreifend, zugleich aber in der Lage, zurückzuführen zur Quelle der Weisheit in den jeweiligen Religionen. Insgesamt können so Religionen eine Orientierung für Menschen in einem religionsdistanzierten Klima bieten, die aufgrund ihrer allgemein menschlichen Relevanz auch eine Perspektive für Menschen sein könnten, die sich keiner der bestehenden Religionen zuordnen wollen bzw. als religionslos verstehen. Hier ist ein bewusster und aufgeschlossener Dialog auch mit Religionsdistanzierten zu führen. Eine solche Situation hat es in der Geschichte der Religionen noch nie in dieser Weise gegeben, und dementsprechend groß ist die Verunsicherung durch die Säkularisierung (und insbesondere durch deren extreme Form, den Säkularismus), die m. E. im Hintergrund vieler Reform-, Anpassungsund Abwehrbemühungen der christlichen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften steht. Angesichts der nichtreligiösen Alternativen sind sie alle herausgefordert. Zugleich muss man auch das Positive einer säkularen und demokratischen Kultur für die Religionen sehen. Sie wurden von Aufgaben entlastet, die nicht eigentlich religiöser Art sind, und können sich ihrem Kernanliegen widmen. Es ist also eine Situation der Verabschiedung von Bindungen und Ordnungen vormoderner Kulturen (wie sie vergleichsweise in allen großen Religionen anzutreffen war bzw. noch ist), und die Frage ist nun, was zum bleibenden „Kerngeschäft“ der Religion oder der Religionen tatsächlich gehört. 4 Es sei auch erwähnt, dass gerade die säkulare Kultur mit ihren rechtlichen Rahmenbedingungen die Freiheit und gleichwertige Anerkennung der verschiedenen Religionen ermöglicht hat. Beiläufig ist auch hinzuweisen, dass erst diese gemeinsame gesellschaftliche Basis einen repressionsfreien Dialog ermöglicht hat, der in vormoderner Zeit höchstens als Utopie vor Augen gestanden ist, und den die Religionen bzw. Konfessionen über lange Zeit nicht zu realisieren vermochten. Generell kann gesagt werden, dass der Erfahrungsschatz der Religionen, ihre in vielen Jahrhunderten oder auch nur kürzeren Zeiträumen der Moderne oder Gegenwart gewonnenen Einsichten für das Leben des einzelnen und das Zusammenleben der Menschen gewissermaßen neu entdeckt und gewertet werden müsste, wobei die problematischen Elemente in der Geschichte der Religionen nicht beschönigt oder übergangen werden dürfen. Dann könnten Religionen auch wesentliche Aspekte zur Orientierung in einer säkularen Zeit beibringen. Auf zwei Bereiche, in denen ein solcher religiöser Beitrag besonders relevant ist, will ich nun im zweiten Teil meiner Ausführungen kurz hinweisen. 2. Lebensorientierung durch die Religionen in einer säkularen Welt Religionen waren nie nur auf das Jenseits bezogen, sondern gaben stets zugleich eine Antwort auf das Leben im Säkular-Weltlichen. Das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist heute in vielen Staaten der Erde durch Gesetze und Vorschriften geregelt, die für alle in gleicher Weise gelten, ob sie Gläubige oder Nichtglaubende sind. In diesem Bereich sind in der Moderne die meisten Fragen des Zusammenlebens auf profane, innerweltliche Weise geregelt. Doch der religiöse Mensch hat – obwohl in derselben gemeinsamen Welt lebend – eine darüber hinausgehende Perspektive; und wenn diese verloren geht, dann fehlt etwas im individuellen Leben des Menschen und der Kultur generell. Was können aber die Religionen in der heutigen Situation ihrerseits konkret beitragen? Man könnte auch die Einleitungsfrage wiederholen und fragen: „Was geht der Welt ab, wenn es die Religionen nicht gäbe?“, bzw. positiv: „Was besitzt die Welt durch die Religionen?“ Ich will diese Thematik einerseits (2.1.) im Hinblick auf sozial-gesellschaftliche Bereiche, andererseits (2.2.) hinsichtlich individuell-spiritueller Aspekten exemplarisch zur Sprache bringen. 2.1. Sozial-gesellschaftliche Dimensionen Auch wenn durch staatliche, säkulare Ordnungen vieles und Grundlegendes geregelt ist, bleiben wichtige menschliche Haltungen bzw. Anliegen der subjektiven bzw. kollektiven Gestaltung 5 anvertraut, wie Vertrauen, Treue, Hilfsbereitschaft. Ein Gespür dafür kann in spezifischer Weise durch religiöse Einstellungen sensibilisiert und motiviert werden. Es geht um Grundhaltungen, die nicht ohne weiteres gesetzlich verordnet werden können, wie z. B. bestimmte karitative Tätigkeiten. In diesem Bereich ist der Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften in vielen Ländern und auch in globaler Perspektive unverzichtbar. In meinem Referat, in dem es um die Transzendenzthematik geht, will ich exemplarisch nur einen Punkt nennen: die Erfahrung von Gerechtigkeit. Sie ist eine Grundlage jeder Gemeinschaft, des Staates, der Völkergemeinschaft. An sich ist es eine höchst schwierige und selten erreichte Fähigkeit, gerecht zu sein und zu handeln. Der religiöse Mensch jedoch handelt im Horizont einer letzten und alles umfassenden Gerechtigkeit – angesichts des transzendenten Gottes oder – in nicht-theistischen Religionen – z. B. im Kontext der Wiedergeburtslehre und des Karma, eines Gesetzes der Folge der Taten. In beiden Fällen ist eine im Prinzip alle Menschen umfassende Gemeinschaft einbezogen; eine isolierte Gerechtigkeit gibt es nicht – weder für Personen noch für Nationen. Hier helfen die Religionen mit, dass eine humane Dimension offen gehalten wird, die allzu oft durch selbstgerechte Egozentrik verschlossen wird. 2.2. Individuell- spirituelle Lebensgestaltung Mit dem „Abschied vom Christentum“ (G. Wyneken) bzw. von den Religionen generell gehen auch darauf begründete Sinnorientierungen und Lebenshaltungen verloren. Wer zu radikal Religionen verneint, wird vielleicht bald selbst spüren, dass etwas abgeht, und manche nichtreligiöse Denker versuchen daher, diese Werte neu zurückzugewinnen - und zwar außerhalb der traditionellen Religionen. Dies wird z. B. in dem Buch von Alain de Botton versucht, das 2013 in deutscher Übersetzung erschienen ist und dessen Titel lautet: „Religion für Atheisten“. D. h., er will religiöse Werte sowie ursprünglich religiöse ethische und spirituelle Haltungen in ihrer Positivität auch für die Religionslosen aufzeigen. „Die Kernaussage dieses Buches lautet“, wie er selbst sagt, „dass Lösungen für viele der Probleme der modernen Seele bei den Religionen zu finden sind, sobald man diese“ – und er spricht hier als Atheist – „von ihren übernatürlichen Strukturen herausgelöst hat, mit denen sie ursprünglich konzipiert wurden“ (300f.). Er meint: „Die Weisheit der Religionen gehört der gesamten Menschheit (…)“, und weiter: „Religionen sind insgesamt gesehen zu nützlich, effektiv und intelligent, um sie allein den Gläubigen zu überlassen.“ (aaO. 301) Ein anderer französischer Autor, André Comte-Sponville hat ein Buch mit dem Titel: „Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott“ (2008) geschrieben. Diese Autoren spüren, dass eine platte Verabschiedung von der Religion auch ihre Defizite hat. Selbst von Nietzsche wird die Wichtigkeit der Kontemplation in einem weiteren Sinn wiederholt betont. Tritt hier die 6 religionslose Welt das Erbe der Religionen an, weil die religiösen Denker keinen richtigen Umgang damit mehr haben? In dieser Situation sollten die Religionen selbst ihr Potenzial entdecken, um Menschen bei Problemen in einer Welt permanenter Veränderungen, bei unvorhergesehenen Schicksalsschlägen sowie bei alltäglichen Fragen Orientierung geben zu können. Angesichts der genannten religionskritischen Tendenzen sind m. E. Religionen aufgefordert, ihren inneren Wert und Reichtum in einer Weise zu präsentieren, die Menschen in einer säkularen Welt anspricht – die Sehnsucht danach besteht. Zentral dabei ist jedoch – im Gegensatz zur Meinung der genannten atheistischen Denker, dass es wesentlich die transzendente Dimension ist, die es zu erfahren gilt und die eine umfassende Orientierung angesichts der Bedingungen des menschlichen Dasein gibt. Ein zentraler Topos für eine solche weisheitliche Lebensorientierung ist besonders in den meditativen und spirituellen Traditionen der Religionen gegeben, und fast alle haben eine Religionen und Weltanschauungen übergreifende Intention. Diese zeigt sich zum Beispiel an ihrer Fähigkeit, die säkular ausweglose existenzielle Situation zu verstehen: Ein Hinweis auf die buddhistische Achtsamkeitsmeditation mag hier genügen, die in ihrer europäischen und amerikanischen Anwendung z. B. in Spitälern, bei unheilbar Erkrankten zeigt, was spirituelle Lebensausrichtung sein kann: realitätsgerecht auf die jeweilige, auch bittere Situation zu antworten und sie in einem übergreifenden Sinnkontext zu verstehen. Ein zweiter zentraler Aspekt ist die Fähigkeit, mit der Fehlbarkeit des Menschen umzugehen, mit Fragen des Verzeihens und der Schuld, die zugleich eine religionen-versöhnende Dimension hat.Aus dem Bereich der islamischen Mystik möchte ich dafür ein Beispiel, nämlich ein Gedicht von Rumi erwähnen, das sehr schön die religionen-verbindende Dimension solcher Spiritualität der Innerlichkeit zeigt. Bei einer der Eingangstüren des Mevlana-Klosters in Konya in der Türkei ist dieser Spruch zu lesen: „Komm, komm, wer du auch immer bist, komm! Ob Ungläubiger, Parse, oder Götzenanbeter, komm! Unser Orden ist kein Orden der Hoffnungslosigkeit. Wenn du auch hundertmal dein Gelöbnis gebrochen hast, so komm trotzdem!“ Das lässt erleben, dass die Visionen der großen Mystiker nicht tot sind, sondern deren Intentionen strahlen Kraft und Leben aus, die in einer säkularen – auch vom „Ungläubigen“ ist hier die Rede – und pluralistischen Zeit auch für andere Religionen wegweisend sein kann. 7 Abschließend sei gefragt: Was kann man in der Begegnung mit Spiritualitäten und Weisheitstraditionen verschiedener Religionen für die Situation in einer säkularen Welt lernen, gerade heute? Ich denke, dass einem bewusst werden kann, dass es die Lehre der Mystiker aller Religionen ist, das Leben in einem umfassenden Horizont zu sehen: das eigene Leben, die eigene Religion, jeweils in einem übergreifenden Kontext zu betrachten, der konzentrisch wächst: vom Ich weiterschreitend zum Du, dann zum Wir der Gemeinschaft, des Staates, der Kultur, dann der Verbundenheit mit anderen Religionen und Völkern, letztlich zur Einheit aller Menschen gelangend, ohne die Differenzen und Unterschiede aufzuheben. Darin wird der Geist des Gemeinsamen, die Geistigkeit einer universalen Einheit, realisiert und erlebt. 8