Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und

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Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus
und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft. Mit einem
Geleitwort von Volkmar Sigusch (= Beiträge zur Sexualforschung;
Bd. 85), Gießen: Psychosozial 2005, 243 S., 54 Abb., ISBN 389806-463-8, EUR 29,90
Rezensiert von:
Marion Hulverscheidt
Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Rainer Herrn, Mitarbeiter der Forschungsstelle zur Geschichte der
Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin, legt hier
eine Studie über Transvestitismus und Transsexualität in der frühen
Sexualwissenschaft vor. Er belegt damit, dass es Magnus Hirschfeld war,
der den Begriff des Transsexuellen in die Diskussion der noch jungen
Sexualwissenschaft eingebracht hatte, und dies schon vor dem Ersten
Weltkrieg. Damit zeigt Herrn, dass Hirschfeld mitnichten nur die
Homosexualität betrachtete und gesellschaftsfähig zu machen versuchte.
Anhand von weitgehend unbekanntem Archiv- und Bildmaterial beschreibt
Herrn den Diskurs um das Cross-dressing und das zähe Ringen sowohl
der Transvestiten als auch der Transsexuellen um Anerkennung. Herrn
stellt dar, dass die ersten Operationen zur Geschlechtsumwandlung in
Deutschland ab 1912 durchgeführt wurden. Er bezieht sich hauptsächlich
auf Quellenmaterial der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, hat dabei aber
durchaus die Situation in Deutschland im Blick.
Ein Geleitwort des Frankfurter Professors für Sexualwissenschaft Volkmar
Sigusch führt in die Thematik und in das Wechselspiel von Können und
Wollen - chirurgische Expertise in der Medizin weckt Wünsche bei den
transsexuellen Klienten und vice versa - auf dem Gebiet der Medizin ein.
Das Buch selbst ist in sieben Kapitel gegliedert; nach einer Einführung in
die Begrifflichkeit wird Hirschfelds Entwurf des Transvestitismus
vorgestellt, in einem weiteren Kapitel werden die Folgen dieser neuen
Sichtweise dargestellt. Welche bedeutende Rolle das Berliner Institut für
Sexualwissenschaft für die Transvestiten spielte - als Ort der
Anerkennung und der Zuflucht - sowie die Transvestiten für das Institut als Forschungsobjekte und Beratungsklientel -, wird in einem
anschließenden Kapitel erörtert. Hier findet sich auch der interessante
Exkurs über die Transvestiten in der NS-Zeit, der die üblichen SchwarzWeiß-Bilder von Freund und Feind verblassen lässt. Ein ausführliches
Kapitel hat den langen Weg zu den operativen Geschlechtsumwandlungen
zum Inhalt, nicht nur persönliche, sondern auch medizinische und
juristische Aspekte und Hürden werden angesprochen. In einem
Abschlusskapitel wird zusammenfassend dargestellt, dass Hirschfeld und
sein Institut eine zentrale Rolle einnahmen in der Umsetzung der
Wünsche der Transvestiten / Transsexuellen, sowohl derer nach
Anerkennung als auch derer nach körperlicher Veränderung.
Transsexuelle, Menschen die sich in ihrem körperlichen Geschlecht nicht
zuhause fühlen, gerieten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den
Fokus der pathologisierenden Wissenschaft. Sie wurden definiert,
abgegrenzt, kategorisiert und als Gruppe, als Einheit beschrieben. Der
Begriff des Transsexuellen wurde von Magnus Hirschfeld schon 1923
verwendet, gleichwohl beansprucht Harry Benjamin, den Begriff 1953
anlässlich eines Symposiums von Psychotherapeuten eingeführt zu haben.
Hirschfeld verwendete den Begriff des Transsexualismus in der
Beschreibung von Transvestiten, von Menschen, die der Vorliebe
nachgehen, sich nach dem anderen Geschlecht zu kleiden. Er beschrieb
diese Cross-dresser bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, weswegen er
von denselben aufgesucht wurde. 1910 veröffentlichte er eine auf
siebzehn Fallbeispielen fußende Studie "Die Transvestiten. Eine
Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb". Hier ging
Hirschfeld noch davon aus, dass der Transvestitismus eine Subform der
Homosexualität und damit eine der von ihm beschriebenen sexuellen
Zwischenstufen darstellte. Doch ließ er sich von den Transvestiten vom
Gegenteil überzeugen, weil nur eine Minderheit unter ihnen homosexuell
veranlagt war.
Die Transvestiten stellten also eine heterogene Gruppe dar, sie waren
lediglich in der Außenwahrnehmung als Einheit konstruiert, so konnten sie
keine gemeinsame Lobby aufbauen und wollten es auch nicht. Ihre
Inklusion in die Homosexuellen-Verbände schlug fehl, eben weil sich die
Cross-dresser nicht über ihre sexuelle Orientierung, sondern über ihr
äußeres Erscheinungsbild definieren. In Abgrenzung zu den
Homosexuellen waren die Transvestiten zufrieden mit der staatlichen
Anerkennung durch den Transvestitenschein, sie suchten Räume, in
denen sie ihren Neigungen nachgehen konnten, und fanden diese vor
allem in Großstädten. Diese Erkenntnis war auch für Hirschfeld mit
einigen Mühen verbunden.
Anfang der 1920er-Jahre kam es zu einem Paradigmenwechsel in der
Behandlung sexueller Störungen, psychotherapeutische Verfahren wurden
abgelöst von sexualchirurgischen und medikamentösen (hormonellen)
Therapien. Die ersten Mann-zu-Frau-Operationen wurden schon in den
1920er-Jahren durchgeführt, Frau-zu-Mann-Operationen erst in den
1970ern, weil der Aufbau eines Penis als schwieriger angesehen wurde als
die Schaffung einer Neovagina. Diese geschlechtsverändernden
Operationen wurden in mehreren Schritten durchgeführt und hatten
zunächst die Neutralisation des bestehenden Geschlechts zur Aufgabe; so
wurden also Brüste und Eierstöcke beziehungsweise Bart und Hoden
entfernt. Erst in einem nächsten Schritt wurde die operative Bildung einer
Neovagina vollzogen; diese Operation war für die Behandlung von
Intersexuellen mit einer blind endenden Vagina entwickelt worden, um
deren Kohabitationsfähigkeit - für den heterosexuellen
Geschlechtsverkehr - herzustellen. Auch die Implantation von
Keimdrüsen, Ovarien und Hoden war Teil der Behandlung von
Transvestiten; zunächst sollten sie damit wieder normalisiert werden,
demnach wurden Mann-zu-Frau-Transvestiten zusätzliche Hoden
implantiert. Doch verwahrten sie sich gegen diese Form der Behandlung
und forderten im Gegenteil die Implantation von Ovarien, um von deren
verweiblichender hormoneller Wirkung zu profitieren.
Herrn kann einen interessanten Unterschied zwischen Cross-dresserFrauen und Cross-dresser-Männern aufzeigen: Frauen ließen sich eher
von Ärzten operieren, Männer legten selbst Hand, beziehungsweise das
Messer, an sich, um so auch eine Operation zu erzwingen. Die ersten
geschlechtsverändernden Operationen wurden zu einem großen Teil als
Notoperationen deklariert, vordergründig um einen Suizid zu verhindern,
jedoch auch, um so eine ethische Diskussion im Vorfeld gar nicht erst
aufkommen zu lassen.
Während des Nationalsozialismus kam es zu einem widersprüchlichen
Umgang mit den Transvestiten. Diese wurden als Asoziale und als
Homosexuelle kategorisiert, auch wenn es misslang, ihnen kriminelle
Neigungen zu unterstellen. Gleichwohl wurden weiterhin
Transvestitenscheine ausgestellt, wenn auch nur unter Ausschluss eines
jeglichen Homosexualitätsverdachts und unter starker staatlicher
Repression und polizeilicher Kontrolle.
Dieses Buch beschreibt nicht nur diese überaus interessante Phase in der
frühen Sexualwissenschaft, Herrn dokumentiert auch die Fotografien, die
zur damaligen Zeit als Illustration und Beweis angeführt wurden.
Wünschenswert wäre eine stärkere internationale Einordnung von
Hirschfelds Leistungen und dem Institut gewesen, scheint diese
Institution doch in ihrer Form zur damaligen Zeit einzigartig gewesen zu
sein. Dem Textverlauf zu folgen ist auf manchen Seiten schwierig, weil
Haupttext, Fußnoten und Bildunterschriften sich über mehrere Seiten
ziehen, hier wäre eine Bearbeitung des Drucksatzes lohnenswert
gewesen. Die unvoreingenommene und behutsame Art der Beschreibung,
die zugleich von großer Kenntnis zeugt, macht dieses Buch zu einem
Leseerlebnis der besonderen Art; ohne Voyeurismus wird ein heikles
Thema umfassend und detailliert dargestellt, dennoch ist das Buch
verständlich geschrieben.
Redaktionelle Betreuung: Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Marion Hulverscheidt: Rezension von: Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts.
Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft. Mit einem
Geleitwort von Volkmar Sigusch, Gießen: Psychosozial 2005, in: sehepunkte 6
(2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: <http://www.sehepunkte.historicum.
net/2006/03/9795.html>
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