Aus: Christa Putz Verordnete Lust Sexualmedizin, Psychoanalyse und die »Krise der Ehe«, 1870-1930 August 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1269-1 Ende des 19. Jahrhunderts begannen Mediziner/-innen, Sexualforscher/-erinnen und Psychoanalytiker/-innen, Störungen der sexuellen Lust bei Männern und Frauen als Krankheiten zu erforschen und zu therapieren. Angetrieben wurden diese Bemühungen von historisch neuen Idealen lustbetonter Heterosexualität und veränderten Erwartungen an die Ehe. Dieses Buch zeichnet den wissenschaftlichen Diskurs nach und legt seine theoretischen und kulturellen Voraussetzungen offen. Die Dokumentation konkreter Fälle veranschaulicht seine Reichweite und praktischen Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten. Christa Putz (Dr. phil.) arbeitet als freiberufliche Historikerin mit Schwerpunkt Geschichte der Medizin in Wien. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/ts1269/ts1269.php © 2011 transcript Verlag, Bielefeld I N H AL T Dank 9 Einleitung 11 Die Pathologien des Sexuellen Störungen des Sexuellen beim Mann (1875–1890) Störungen des Sexuellen bei der Frau (1860–1905) Die Innovationen der Psychoanalyse (1900–1935) Der Beitrag anderer Disziplinen nach 1910 23 24 40 55 77 Ein Problem erfassen: Wissenschaftliche Grundlagen »Sexualität« als psycho-physisches Geschehen Wendungen in der Triebtheorie: Von der Fortpflanzung zur Heteroerotik Geschlechterdifferenzen 83 84 101 110 Die »Krise der Ehe« um 1900 Ehe vor 1900: eine historische Skizze Die moderne Ehe Ehe im medizinisch-therapeutischen Diskurs 123 124 135 143 Die Anfänge der Sexualtherapie Die Behandlung der Impotenz (1870–1905) Eine verzögerte und verhinderte Therapeutik: die Behandlung von Frauen (1870–1905) Der Eintritt der Psychoanalyse in das therapeutische Feld (1905–1935) Orte und Beziehungen in der Sexualtherapie 155 157 168 175 185 Fälle: Dimensionen subjektiver Erfahrung Gericht versus Therapeutik: Konturen sexualtherapeutischer Interaktionen Sexuell gestört?! Variationen eines Gefühls Tugendhaft/lasterhaft: Zwei Abweichungen von zeitgemäßer Liebesanforderung 193 Schluss 231 Literatur 239 197 212 222 EINLEITUNG Entweder ist der Mensch ein Geschlechtswesen oder er ist überhaupt nicht. Iwan Bloch1 Lustlosigkeit als aktuelles Problem Sexuelle Lust und Befriedigung sind in unserer gegenwärtigen Lage Genüsse, die wir nicht missen möchten. Wir sind überzeugt, dass Glück in einer Paarbeziehung mit sexueller Erfüllung einhergehen muss. Die Vorteile eines genussvollen Sexuallebens führen uns die Expertinnen und Experten in den Medien von Zeit zu Zeit vor Augen: Es stille nicht nur unsere Bedürfnisse nach körperlicher Berührung, sondern erzeuge Toleranz, befreie von Ängsten und Depressionen, lindere Schmerzen, stärke das Immunsystem, mache uns kreativ und erfolgreich, schlanker, jünger und schöner.2 Parallel zu dieser Hochschätzung (und Überhöhung) sexueller Lust nehmen auch Klagen über das Verschwinden leidenschaftlicher Sexualität, besonders aus traditionellen Mann-Frau-Beziehungen, zu. Anscheinend reden, tauschen und arbeiten wir zu viel, lieben und 1 2 Zit. nach Hermann Rohleder: Die libidinösen Funktionsstörungen der Zeugung beim Weibe, Leipzig 1914 (= Monographien über die Zeugung beim Menschen 4), S. 22. Norbert Regitnig-Tillian/Claudia Hefner: »›Let’s do it‹. Häufiger Sex ist die beste Medizin«, in: Profil online 3 (2003), http://p_content.php3? mdoc_id=2440667&xmlval_ID_Key (2006; 2011 nicht mehr online). 11 VERORDNETE LUST begehren einander aber zu wenig.3 Die Lustlosigkeit wird zum Angriffspunkt von populären und wissenschaftlichen Debatten, von medizinischtherapeutischen Maßregeln und von Bemühungen der Identitätsfindung »asexueller« Subjekte.4 Medizinisch sind Defizite im sexuellen Empfinden längst als relevante Probleme erkannt. Eine österreichische Sexualtherapeutin warnt etwa vor der Geringschätzung dieser Leiden und sieht Männer mit Potenz- und Luststörungen an der »Basis ihrer Persönlichkeit« angegriffen. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung beschäftigte sich unlängst unter der Überschrift lustlos potent/potent lustlos exklusiv mit dem Thema der gestörten sexuellen Lust.5 Auch das verminderte Lustempfinden der Frauen wird als Problem akzeptiert und sehr kontrovers diskutiert.6 Im medizinisch-therapeutischen Fachdiskurs sind sexuelle Probleme ein gut bereitetes Feld, und es ist unumstritten, dass es sich dabei um der Behandlung bedürftige Zustände handelt: Das DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders) kennt sexuelle Leiden als körperliche Gebrechen und als Störung der sexuellen Empfindung. Sexuelle Störungen untergliedert es in Krankheitsbilder, die das Verlangen, die Erregung, den Orgasmus, das allgemeine Lustempfinden und die ge3 4 5 6 12 Vgl. Yvonne Bauer: Sexualität, Körper, Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003 (= Studien zur interdisziplinären Geschlechterforschung Bd. 26), S. 11. Vgl. Stephan Hipold: »Vorboten einer Entwicklung. Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch über Lustlosigkeit und Höhepunkt des sexuellen Zeitalters«, in: Der Standard. Album, 16.11.2005, Dossier Asexualität, S. 3; Dany-Robert Dufour: »De la réduction des têtes au changement des corps«, in: Le Monde diplomatique, April 2005, S. 14 f., http://www.mondediplomatique.fr/2005/04/DUFOUR/12105 (2.2.2011); AVEN The Asexual Visibility and Education Network http://www.asexuality.org/home (2.2.2011); Karin Pollack: »No sex, please! Asexuelle definieren sich«, in: Der Standard. Album (16.11.2005) Dossier Asexualität, S. 3. Allen Frances/Michael B First/Harold Alan Pincus (Hg.): DSM IV Guidebook, Washington, London 1995, S. 309–323; Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, 3. Klinische Tagung der DgfS vom 19.–21 Mai 2006 in Münster. Ray Moynihan: »The making of a disease. Female sexual dysfunction«, in: British Medical Journal (4. January 2003), Vol. 326, Issue 7379, S. 45–47; »Weibliche Impotenz« existiert nicht. WissenschafterInnen üben Kritik an Gewinnsucht von Pharmakonzernen – Verhalten der Männer ausschlaggebend. Postings, in: Die Standard (3. Jänner 2003), http://diestandard.at/ 1173231 (2.2.2011); Female Impotence: Firms under fire, in: CNN.com/ Health (January 3th, 2003), http://asia.cnn.com/2003/ HEALTH/conditions/ 01/03/viagra.women/ (2.2.2011); Eva Stanzl: »›Sexualität ist nicht Austernknacken‹«, in: Der Standard Online (12.11.2003), http://derstandard.at/1480562 (2.2.2011). EINLEITUNG schlechtliche Identität betreffen. Spezialisierte Einrichtungen und ausgewiesene Expertinnen und Experten nehmen sich mit einer Vielzahl therapeutischer Heilverfahren – von der Potenzpille bis zur Psychotherapie – der sexuellen Unzufriedenheit an.7 Sexuelle Störungen als historischer Gegenstand Mit diesem Blick auf die Gegenwart möchte ich meine Arbeit über die historische Konstituierung des Wissens über sexuelle Störungen und die dazugehörigen therapeutischen Maßnahmen einleiten. Warum sprechen wir über unser sexuelles Begehren so, wie wir es tun, und wie analysieren und beheben wir seine Defizite? Als Historikerin interessieren mich die Umstände und Vorgänge, unter denen sich unsere Ansprüche, Erwartungen und Enttäuschungen an und in Liebesbeziehungen ausgebildet haben. Wie kam es dazu, dass wir uns in solchen Problemlagen Fachleuten aus Medizin und Psychotherapie anvertrauen? Ich lasse diese diskursgeschichtliche Arbeit in den 1870er-Jahren beginnen. Dabei handelt es sich um einen der möglichen Anfänge des Diskurses über sexuelle Störungen. Andere Arbeiten bringen seine Konjunktur mit der neuen Sexualwissenschaft und der sexuellen Revolution der 1960er- und 1970er-Jahre in Verbindung. Die Anfänge des Diskurses ließen sich sogar bis zu den antiken Autoren und der Gerichtsmedizin der frühen Neuzeit verfolgen.8 Mir lag aber weniger daran, eine Ideengeschichte dieses Diskurses vorzulegen als vielmehr die Genese eines bestimmten Diskurstyps aufzuzeigen.9 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnen Mediziner nämlich jene Art und Weise auszubilden, sexuelle Störungen zu erkennen, über sie zu sprechen und sie zu therapieren, die uns auch heute noch geläufig ist. Dieses Unternehmen ist an Berlin und Wien als Zentren der Beschäftigung mit Sexualität um 1900 gebunden. An diesen Orten konzentrieren sich Autoren und Institutionen.10 Zeitlich endet die Arbeit aus nahe liegenden Gründen in den 7 Vgl. auch Volkmar Sigusch: Praktische Sexualmedizin. Eine Einführung, Köln 2005. 8 Janice M. Irvine: Disorders of Desire. Sexuality and Gender in Modern American Sexology, 2. Auflage, Philadelphia 2005; Angus McLaren: Impotence. A cultural history, Chicago, London 2007. 9 Methodisch ähnlich auch Claudia Bruns: Wissen-Macht-Subjek(e). Dimensionen historischer Diskursanalyse am Beispiel des Männerbunddiskurses im Wilhelminischen Kaiserreich, in: ÖZG (2005), S. 106–122. 10 Vgl. Harry Oosterhuis,: »Medical science and the modernisation of sexuality«, in: Lesley Hall/Franz X. Eder/Gert Hekma (Hg.): Sex cultures in Europe. National histories, Manchester, London 1999, S. 221–241; David Luft: »Thinking about Sexuality and Gender in Vienna«, in: Günter Bi13 VERORDNETE LUST 1930er-Jahren: Berufsverbote, Vertreibung und Ermordung von Medizinerinnen und Medizinern, Sexualforschern sowie Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern führen in der NS-Zeit zur Zerstörung und partiellen Verlagerung von Sexualforschung in die Exilländer. Ein Großteil der in meiner Arbeit genannten Autorinnen und Autoren, die in den 1930erJahren noch lebten, war von diesem Schicksal betroffen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der Berliner Urologe Leopold Casper muss 1941 emigrieren und verstirbt 1959 in New York; Maximilian Steiner, ein Wiener Urologe und Psychoanalytiker, wird 1938 aus »rassischen Gründen« zum Aufgeben seiner Ordination gezwungen, flieht nach England und verstirbt 1942 in London. Einem leitenden Mitarbeiter am Berliner Institut für Sexualwissenschaft, Arthur Kronfeld, wird 1935 aus »rassischen Gründen« die Lehrbefugnis an der Universität entzogen. Er emigriert zunächst in die Schweiz, dann in die Sowjetunion und nimmt sich dort 1941 mit seiner Frau das Leben.11 Im Forschungsprozess präsentierte sich der historische Diskurs zunächst als unebenes Terrain: Erforschung und Behandlung sexueller Beschwerden sind im 19. Jahrhundert weder ein Privileg der Psychoanalyse oder einer spezialisierten Sexualmedizin, sondern liegen bei verschiedenen Fachdisziplinen, wie der Gynäkologie, der Urologie, Psychiatrie, Nervenheilkunde oder auch der »Balneologie« – der Bäderkunde. Fragen der Definition der Krankheitsbilder und der Zuständigkeit in der Behandlung sind offen und Gegenstand inhaltlicher Kontroversen und praktischer Abgrenzungsbemühungen. Dieser zeitliche Abschnitt, welcher den Vorgänger moderner Sexualmedizin und -therapie bildet, ist bisher nur ungenügend erforscht. Auch fehlt eine Zusammenschau der Krankheitsbilder von Männern und Frauen.12 schof/Anton Pelinka/Dagmar Herzog (Hg.): Sexuality in Austria, New Brunswick 2007 (= Contemporary Austrian Studies Bd. 15), S. 21–30, hier S. 21. 11 Elke Mühlleitner: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Die Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1902–1938, Tübingen 1992, S. 317–319; Alma Kreuter (Hg.): Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München, New Providence, London u. a. 1996, S. 388–393, S. 795–797; Ingo-Wolf Kittel: Zur historischen Rolle des Psychiaters und Psychotherapeuten Arthur Kronfeld in der frühen Sexualwissenschaft, http://www2.hu-berlin.de/sexology/GESUND/ARCHIV/ DEUTSCH/kronfeld.htm (2.2.2011), S. 1–13, hier S. 1. 12 Die sexuellen Störungen von Frauen werden meist in der Literatur über Hysterie behandelt. Arbeiten über männliche Impotenz vermeiden ebenfalls den Vergleich mit ähnlichen Störungen bei Frauen. Vgl. Christina von Braun: NICHTICH. Logik. Lüge. Libido, 4. Auflage, Frankfurt/Main 14 EINLEITUNG Als Quellen für meine Analyse verwende ich einen Korpus von etwa 110 publizierten medizinischen Texten (Monografien ebenso wie Artikel aus Fachzeitschriften). Neben kanonisierten Texten wie Sigmund Freuds Drei Abhandlungen über die Sexualtheorie finden sich darin auch unbekannte Autorinnen und Autoren sowie Schriften, die weniger durch ihre Innovation auffallen, sondern das bestehende Wissen eher kompilieren oder auch popularisieren. Wissen und Normen Diese Texte analysiere ich entlang dreier großer Kategorien, die auch den Aufbau der Arbeit bestimmen: Wissen, Normen und Subjektivität. Zunächst analysiere ich die Vorgänge, die den (natürlich bekannten) Umstand sexueller Gebrechen in einen wissenschaftlichen Gegenstand transformierten. Es stehen hier die Fragen an, auf welche Weise die Ärzte vorhandene Krankheitsbilder unterscheiden und detailliert ausformulieren und Beschwerden von Patientinnen und Patienten ordnen, benennen und in neuartige Krankheiten übersetzen. Wie versuchen sie, dieses anrüchige Thema der gestörten Lust in ein wissenschaftsfähiges Objekt umzuformulieren? (Kapitel 1) Um die Abweichungen erfassen zu können, müssen sich Ärzte an Normen für eine gesunde und richtige Sexualität orientieren.13 Ich versuche daher, diese normativen Vorstellungen aus den Texten, die sich mit den Pathologien befassen, herauszuarbeiten. Über die Entstehung eines modernen Begriffs der Sexualität im 19. Jahrhundert gibt es mittlerweile einige Arbeiten. Historiker haben herausgefunden, dass das Ziel der Sexualität von den Ärzten »umgeschrieben« wird – nämlich vom Ziel der Fortpflanzung hin auf das Ziel sexueller Lust und Befriedigung – und dass sie eine psychologische Auffassung von Sexualität ausbilden, die deren Thematisierung als Ensemble von Gefühlen und Empfindungen ermöglicht. Wenn sie Sexuelles thematisieren, schreiben Ärzte nun weniger über Körperflüssigkeiten als vielmehr über Erregung und Orgasmus. Das Analysieren der Sexualität in Kategorien der Intensität wird wichtiger.14 Es ist zu fragen, ob und wie sich diese Vorstellungen 1994, S. 9–82; Franziska Lamott: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900, München 2001; Lesley Hall: Hidden Anxieties. Male Sexuality 1900–1950, Oxford 1991; A. McLaren: Impotence. 13 Vgl. Colin Jones/Roy Porter: Reassessing Foucault: power, medicine and the body, London, New York 1994, S. 11. 14 Vgl. John H. Gagnon/Richard Parker (Hg.): Conceiving Sexuality. Approaches to Sex Research in a Postmodern World, New York, London 1995, S. 4 f.; Harry Oosterhuis: »Medical science and the modernisation of sexuality«, in: Lesley Hall/Franz X. Eder/Gert Hekma (Hg.): Sex cul15 VERORDNETE LUST »moderner« Sexualität in den Schriften über sexuelle Störungen von Männern und Frauen finden lassen. (Kapitel 2) Es war nicht zu übersehen, dass der Eifer der Sexualforscher auch von einer größeren sozialen Problemlage angetrieben wurde. Es geht um 1900 darum, die Ehe zu »retten« oder wenigstens ihre Krisen handhabbar zu machen. Ich bringe den Fachdiskurs daher mit den zeitgenössischen Klagen über eine »Krise« der traditionellen Mann-Frau-Beziehungen in Verbindung. Rechtliche Schlechterstellung der Frau in der Ehe, Anstieg der Scheidungsrate, Rückgang der ehelichen Geburten und Scheitern romantischer Ideale in der Praxis – das sind die Ingredienzien der Krisenstimmung. Wie wirkt dieses gesellschaftspolitische Umfeld auf den Fachdiskurs in Medizin und Psychoanalyse? Wie greift aber auch der Fachdiskurs verändernd in das gesellschaftliche Gefüge ein? Ich untersuche, welche Vorstellungen sich die Ärzte von der Ehe machen, etwa vom romantischen Liebesideal, von der Partnerschaftlichkeit, von der Relevanz sexueller Lust, aber auch von Geburtenkontrolle oder Scheidung.15 Die Krise des (bürgerlichen) Geschlechtsverhältnisses um 1900 ist ein gut erforschtes Thema. Mittlerweile gibt es auch Arbeiten über eine »Modernisierung« der Ehe und den Wandel des Verständnisses von Liebe im 20. Jahrhundert.16 Vor allem die sexuelle Leidenschaft erlebt dabei in der Ehe eine Aufwertung. Ratgeber etwa unterrichten die Ehepartner nun nicht mehr darin, wie sie ihre Lust zügeln und möglichst der Zeugung unterordnen sollen, sondern wie es gelingen könnte, Leidenschaftlichkeit zu entfachen und dauerhaft zu erhalten. Es wird dem Paar regelrecht vorgeschrieben, sich in der Ehe sexuell zu verwirklichen. tures in Europe. National histories, Manchester, London 1999, S. 221– 241, hier S. 230–233; Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 142; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1977. 15 Vgl. die Forderung, Sexualität nicht in jedem Fall von Liebe zu trennen bei Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Cambridge 1992, S. 24. 16 Vgl. Christina Simmons: Making Marriage Modern. Women’s sexuality from the progressive Era to World War II, New York 2009; Regina Mahlmann: »Liebe im 19. Jahrhundert«, in: Peter Kemper/Ulrich Sonnenschein (Hg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahmen eines unordentlichen Gefühls, Frankfurt/Main 2004, S. 24–41, hier S. 32–34; Regina Mahlmann: Psychologisierung des »Alltagsbewußtseins«. Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über die Ehe, Opladen 1991 (= Studien zur Sozialwissenschaft Bd. 98), S. 92; Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchung zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1982, S. 347 f. 16 EINLEITUNG Die Zeugung von Nachkommen wird dabei nachrangig.17 Die Umsetzung solcher Anforderungen setzt das Benennen und Bearbeiten der Abweichungen vom idealen Zustand gewissermaßen voraus oder bringt sie mit sich. Wie beziehen Autorinnen und Autoren des Fachdiskurses über sexuelle Störungen zum Problem der Ehe Stellung? Welche Lösungen bieten sie an? (Kapitel 3) Therapeutik Neben dieser Auseinanderlegung des akademischen Diskurses sind Fragen nach seiner praktischen Umsetzung ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit. Die Praxis spielt auch in den Texten selbst eine tragende Rolle indem diese der Therapie sexueller Störungen und den Fallberichten viel Raum geben. Die Therapeutik war lange Zeit ein eher vernachlässigtes Gebiet der Medizingeschichte, und auch in Arbeiten zur Sexualwissenschaft wird sie meist nur gestreift.18 Therapeutik in der frühen Sexualmedizin analysiere ich in zwei Richtungen: zum einen als Arbeit, die sich erst Respekt als »Profession« verschaffen muss, zum anderen als tätiges und sprachliches Handeln zwischen Ärzten/Ärztinnen und Patientinnen/Patienten. Sexualtherapie wird Ende des 19. Jahrhunderts zwar nicht erfunden, ihre Relevanz als (oft auch nur potenzielle) Einkommensquelle akademischer Ärzte nimmt aber zu. Die Behandlung sexueller Störungen wird zum umkämpften Feld zwischen »Kurpfuschern« und Ärzten, aber auch zwischen Medizinern verschiedener Fachrichtungen untereinander. Es ergeben sich Fragen nach den Rahmenbedingungen von Sexualtherapie als Arbeit: Wie versuchen Ärzte, sich als Experten für Sexualtherapie durchzusetzen? Wie handeln sie offene Fragen der Zuständigkeit aus? Welche (professionellen) Standards legen sie an ihre Arbeit an? Welche Konflikte und Probleme belasten sie? Wichtig sind aber auch die konkreten Heilverfahren, die zur Anwendung kom- 17 Jonathan Ned Katz: The Invention of Heterosexuality, New York 1995, S. 28 f., S. 51 f.; Lesley Hall: »›Good Sex‹: The new Rhetoric of Conjugal Relations«, in: Roy Porter/Lesley Hall (Hg.): The facts of life: the creation of sexual knowledge in Britain 1650–1950, New Haven, London 1995, S. 202–223, hier S. 218. 18 Vgl. Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt/Main, New York 2008; Vern L. Bullough: Science in the Bedroom. A History of Sex Research, New York 1994; Annemarie Wettley: Von der »Psychopathia sexualis« zur Sexualwissenschaft, Stuttgart 1959 (= Heinz Bürger-Prinz/Hans Giese (Hg.): Beiträge zur Sexualforschung, Organ der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Heft 17); Joachim S. Hohmann: Geschichte der Sexualwissenschaft in Deutschland 1886–1933. Eine Übersicht, Berlin, Frankfurt 1987. 17 VERORDNETE LUST men – ihre Bandbreite, Herkunft, Um- und Zielsetzung. Keineswegs erschöpft sich Sexualtherapie im beratenden Gespräch, sondern umfasst verschiedene Maßnahmen, die auch am Körper der Patientinnen und Patienten ansetzen.19 Schließlich versuche ich die wenigen Hinweise in den Texten auf konkrete »Settings« von Sexualtherapie auszuwerten: Wo finden die Behandlungen statt? Wie lassen sich die Räume und Anordnungen von Arzt/Ärztin und Patient/Patientin beschreiben? Wie lange dauern die Behandlungen? (Kapitel 4) Fälle und Subjektivität Eine Analyse von Fällen, die Ärzte/Ärztinnen publizieren, soll schließlich die subjektiven Erfahrungen der Subjekte als »Kranke« in den Vordergrund rücken. Ich gehe nicht davon aus, dass etwa »Frigidität« ein Delirium nichtsahnender Ärzte ist, über das Frauen schon damals herzlich lachten.20 Ich meine, dass die medizinisch-therapeutischen Kategorien doch so wirkmächtig sind, dass sie Enttäuschung, Sorge oder sogar ein Krankheitsgefühl in den Subjekten erzeugen, das diese in Therapie bringt. Aber auch die therapeutische Situation selbst bildet und formt Identität. Wie die Analyse der Fälle zeigt (die ja selbst schon einen Filter der sozialen Praxis nach den Kriterien der Ärzte darstellen), ist die soziale Praxis vielfältig und komplex. Die Kategorien und Handlungsanweisungen der Ärzte/Ärztinnen werden von den Patientinnen und Patienten weder durchgängig angenommen noch einhellig abgelehnt. Die Fragestellung muss daher lauten, welche verschiedenen Möglichkeiten es gab, zum Fall einer pathologischen oder problematischen Sexualität zu werden. Dabei geht es nicht um Erfahrungen im landläufigen Sinn – als authentischer Ausdruck von Gefühlen und Erlebnissen –, sondern eher um die Herstellung einer charakteristischen Subjektivität und sexuellen Identität (im Sinn von Michel Foucault): Wie kommen die Subjekte dazu, sich in ihrem sexuellen Erleben als pathologisch oder problematisch zu erkennen und anzunehmen? Leisten sie Widerstand (durch Ablehnung oder alternative Sichtweisen)? Welche (diskursiven) Handlungen werden regelmäßig gesetzt und charakterisieren somit Sexualthera- 19 Zur Therapeutisierung vgl. Sabine Maasen: Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt/Main 1998; R. Mahlmann: Psychologisierung. 20 Vgl. dazu in etwa Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 2000, S. 169–186. 18 EINLEITUNG pie? Wie verhalten sich die Patientinnen und Patienten zu den therapeutischen Handlungen der Ärzte?21 (Kapitel 5) Theoretische Positionen Mehrere theoretische Positionen, die um die Frage kreisen, warum westliche Gesellschaften sich seit dem 19. Jahrhundert einen wissenschaftlich-medizinischen Begriff von der Sexualität machen und der sexuellen Lust einen hohen Stellenwert einräumen, habe ich versucht, in der gesamten Arbeit im Auge zu behalten. Lawrence Birken bringt das Auftauchen eines weniger an Zeugung, sondern an Lust orientierten Begriffs der Sexualität mit der entstehenden Konsumkultur in Verbindung, die Genuss und Befriedigung positiv bewertet. Bürgerliche Milieus werden Ende des 19. Jahrhunderts Träger dieser neuen Kultur, die nicht nur Arbeit, sondern auch Erholung, Unterhaltung, Zeitvertreib und Vergnügen kennt. Vor allem die private Sphäre wird zum Ort, an dem Konsum und Genuss geübt werden kann und soll.22 Fügen sich die ärztlichen Bemühungen, sexuelle Störungen ausfindig zu machen, in ein Projekt, Subjekte zu formen, die sich immer wieder neue Lüste zu verschaffen wissen? Ein anderer Ansatz unterstreicht eher die zunehmende Unter– scheidbarkeit privater Beziehungen vom Arbeitsleben. Anders als die geltenden Normen in der Arbeit hätten sich Liebesbeziehungen von Pflicht auf Selbstentfaltung umgestellt. Gefühl, Freiwilligkeit und Spontaneität in der Liebe grenzen sich deutlich gegen Planung, Rationalität und Disziplin bei der Arbeit ab. Liebesbeziehungen sollen die Subjekte daher auch für die kalten, unwirtlichen Verhältnisse des Arbeitslebens entschädigen. Dieser Wunsch bricht sich aber an den zu hohen Erwartungen. Daraus erklären sich die hohe Scheidungs- und Trennungsrate und die große Nachfrage nach therapeutischer Hilfe im 20. Jahrhundert.23 Waren auch die frühen Sexualmediziner in ihren Texten bemüht, zwei Sphären – eheliche Intimbeziehungen und Arbeit – genauer auseinanderzuhalten? Galten Verhaltensweisen, die beide Logiken vertauschten oder mischten, nun als krankhaft oder problematisch? Geht ihr Pro21 Vgl. Merl Storr: »Transformations: Subjects, Categories and Cures in Krafft-Ebing’s Sexology«, in: Lucy Bland/Laura Doan (Hg.): Sexology in Culture. Labelling Bodies and Desires, London 1998, S. 11–26. 22 Vgl. Lawrence Birken: Consuming desire: Sexual science and the emergence of a culture of abundance 1871–1914, Ithaca 1988. 23 Vgl. François De Singly: Die Familie der Moderne. Eine soziologische Einführung, Konstanz 1995, S. 104; Bettina Jakob: Liebe und Ehe am Scheideweg ins neue Jahrtausend. Ein sozialhistorischer Blick auf Liebe, Ehe, Trennung und Scheidung vom Hochmittelalter bis heute, Berlin 2001, S. 102. 19 VERORDNETE LUST jekt in die Richtung, leistungsfähige und duldsame Subjekte für das Wirtschaftsleben bereitzustellen? Einen weiteren Ansatz liefert Michel Foucault. Er liest an den Veränderungen der Sexualität einen Wandel in der Beherrschung von Subjekten generell ab – von der äußerlichen Machtausübung zur Selbstdisziplin. Während die ältere Ordnung des Sexuellen Beziehungen reguliert (und Sexualität durch das Recht auf legitime Beziehungen zu beschränken versucht), erfasst die historisch jüngere Ordnung das Subjekt und fordert es auf, seinen Körper und seine Empfindungen zu thematisieren. Sexualität wird zum Brennpunkt von neugierigen Fragen darüber, wer man sei. Eingelassen in diese Selbstsuche sieht Foucault aber eben auch Selbstkontrolle und Ausrichtung an herrschenden Erwartungen.24 Vollzieht der Diskurs der Sexualmedizin im 19. Jahrhundert eine ähnliche Wende und hilft, das Ehepaar in eine von Foucault skizzierte moderne Ordnung der Sexualität einzuführen? Inwieweit versuchen Ärzte/Ärztinnen, Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker eine disziplinierte und normierte Sexualität durchzusetzen? Schließlich gibt es eine feministische Kritik an der Medizin und Psychoanalyse des 19. und 20. Jahrhunderts, ihrem Frauenbild und ihrem Sexualitätsbegriff. Dem Aufbruch in moderne Zeiten und zu egalitären Geschlechterbeziehungen seien Ärzte und Psychoanalytikerinnen/Psychoanalytiker großteils mit Abwehr begegnet. Emanzipatorische Bestrebungen von Frauen und Uneindeutigkeiten der Geschlechterdifferenz hätten sie durch ihre Arbeit bekämpft.25 Wenn auch der Psychoanalyse (zum Teil) gutgeschrieben wird, dass sie das sexuelle Begehren von Frauen zum öffentlichen Gesprächsthema gemacht hat, so wird auf der anderen Seite der Vorwurf erhoben, die Frauen auch in der Sexualität dem Mann zu- und untergeordnet zu haben.26 Wie verhält sich der Fachdiskurs über sexuelle Störungen zum Geschlechtsverhältnis? Sprechen sich die Ärzte/Ärztinnen für Egalität aus, sanktionieren sie Hierarchien? Pochen sie auf die Geschlechtsunterschiede? Definieren sie weibliche Eigenart, Autonomie oder Emanzipation in etwas Krankhaftes oder Gestörtes um? Versuchen sie in der Therapie, Frauen wieder auf den »richtigen« Weg zu bringen – in ein traditionelles Mann-Frau-Verhältnis, in 24 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 128–133. 25 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München, Wien 1998, S. 224–229; Katrin Schmersahl: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 12 f.; F. Lamott: Vermessene Frau, S. 19; anders L. Birken, Consuming Desire, S. 7–12. 26 Rachel B. Maines: The technologies of orgasm. »Hysteria«, the Vibrator and Women’s sexual satisfaction, Baltimore, London 1999, S. 3–5. 20 EINLEITUNG dem der Mann die Frau dominiert und diese sich ganz an seinen Bedürfnissen ausrichtet? In der Schlussfolgerung komme ich auf diese Fragen noch einmal zurück und bemühe mich um eine abschließende Gewichtung. Zum Schluss dieser Einleitung möchte ich noch offenlegen, was diese Arbeit nicht leisten kann. Ich liefere etwa keine Geschichte der Institutionen der frühen Sexualmedizin oder ihrer Bemühungen, sich zu organisieren oder als akademisches Fach an Universitäten zu etablieren. Auch bietet dieses Buch keine systematisch recherchierten oder vollständigen Biografien jener Ärzte, deren Texte ich analysiert habe. Die Angaben zur Person, die ich bringe, habe ich aus den Texten selbst, aus Bibliothekskatalogen, Nachschlagewerken und der Sekundärliteratur zusammengetragen. Da ich kaum Archivmaterial in diese Studie einbezogen habe, kann sie auch keine genaueren Auskünfte über lokale Verhältnisse geben. 21