Die Beziehungen zwischen musikalischer Ratio und musikalischem

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Fortschreibung der Arbeit
Stand: 01. Februar 2014
4. »Die Beziehungen zwischen musikalischer Ratio und musikalischem
Leben gehören zu den historisch wichtigsten variierenden
Spannungsverhältnissen in der Musik« - Das musiksoziologische Fragment
a) Einleitung
Das Musizieren1 kann eine Sache auf Leben und Tod sein: Weber schildert in
seinem Fragment Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik 2, daß in
der stark stereotypisierten, der Magie unterstellten primitiven Musik Sänger mit dem
Tode bestraft wurden, wenn sie falsch sangen (MS, S. 833). Dieses anschauliche
Beispiel erhellt, daß es sich auch in der Musik um ein - mehr oder weniger –
subjektiv sinnvolles Handeln von Menschen handelt (WuG, S. 1 f.), um soziale
Beziehungen (WuG, S. 13 f.) – mit anderen Worten: um soziale Phänomene, die von
der Soziologie im Sinne eines handlungstheoretischen Ansatzes verstehend erklärt
werden können (vgl. WuG, S. 1). Mag es hier auch – worauf die geisteswissenschaftlich orientierte, von der Hermeneutik Diltheys herkommende
Musiktheorie gegenüber der Soziologie immer insistiert hat – in Analogie zum
religiösen Handeln Formen des Handelns geben, die sich dem Verständnis dauerhaft
1
Was Weber unter Musik verstand, hat er selbst niemals definiert. Sein Thema ist – so muß
man in Analogie zu seinen Ausführungen in der Religionssoziologie (vgl. hierzu WuG, S.
227: „...wir haben es überhaupt nicht mit dem »Wesen« der Religion, sondern mit den
Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen
Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des
Einzelnen — vom »Sinn« — aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst
vielgestaltiger ist.“) schließen - musikalisches Handeln bzw. musizieren, und zwar im
weitesten Sinne: es schließt ebenso die musikalischen Reflektionen der Theoretiker ein wie
das handwerkliche Schaffen der Instrumentenbauer! Weber betrachtet nicht musikalische
Kunstwerke, sondern das soziale Handeln der musikalischen Akteure und Rezipienten.Musiksoziologie ist demzufolge weniger die Betrachtung der gesellschaftlichen Relevanz der
Musik im weitesten Sinne als vielmehr die methodische Betrachtung der Akteure in der
Musik – wobei ein deutlicher Akzent auf den subjektiv gemeinten Sinn, auf
Verhaltenserwartungen, Verhaltensregelmäßigkeiten und Typologien gelegt wird – unter
Ausschaltung von ästhetischen und wertenden Gesichtspunkten.- Exakt hier liegt das
Skandalon einer so verstandenen Musiksoziologie für jeden Ästheten: denn daß Haydns
Schöpfung und Stefan Raabs Wadde hadde dudde da, Techno und Wagners Tristan dem
Musiksoziologen zunächst einmal als qualitativ gleichartig erscheinen, hat ja selbst Theodor
W. Adorno nicht eingeleuchtet (vgl. hierzu etwa Blaukopf 1996, S. 235) – geschweige denn
einem Musikwissenschaftler, der bereits mit jeder simplen Qualifizierung eines Intervalls als
konsonant bzw. dissonant eine praktische Wertung vollzieht.2
Posthume Erstveröffentlichung: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik
mit einer Einleitung von Theodor Kroyer, Drei-Masken-Verlag, München 1921, 2. Aufl.
1924. Dann als Anhang zur 2ten, 3ten und 4ten Auflage von Wirtschaft und Gesellschaft.
Tübingen, 1925, 1947 ff. Separat erschienen: Tübingen 1972. Hier wiedergegeben nach
Wirtschaft und Gesellschaft (1947), S. 818 - 869.
59
entziehen (vgl. dazu etwa (RS I, S. 111 f. Anm. 4):3 die soziologische Analyse findet
auch in der Begegnung zwischen dem künstlerisch Schaffenden (dem
Musikproduzenten; vgl. RS I, S. 555) und dem Musikkonsumenten (dem „ästhetisch
erregten Rezipierenden;“ RS I, S. 556), also im Musikerlebnis (so Silbermann 1979,
S. 203) ein soziales Geschehen. Diesem hat sich Weber wiederholt, wenn auch nur
hier im Zusammenhang, zugewandt.4 In einem Diskussionsbeitrag auf dem ersten
Soziologentag 1910 in Frankfurt / Main hat er selbst – mit Blick auf die Bedeutung
des großstädtischen Lebens für die Kunst und die Bedeutung der Technik in ihr –
das Verhältnis zwischen Musikwissenschaften und Soziologie so bestimmt:
„Denn auf diesem Problemgebiete gehört in die Musikgeschichte, und nur in sie,
die Frage der Beziehung zwischen künstlerischem Wollen und musiktechnischem
Mittel. In die Soziologie dagegen die andere Frage nach der Beziehung zwischen
dem »Geist« einer bestimmten Musik und den das Lebenstempo und die
Lebensgefühle beeinflussenden allgemeinen technischen Unterlagen unseres
heutigen, zumal wiederum unseres großstädtischen Lebens.“ (SP, S. 455).
Und so ist das musiksoziologische Fragment,5 ein schier unerschöpflicher Steinbruch
für fast alle relevanten Fragen der Musikwissenschaft und –soziologie6, das einzige
zusammenhängende Zeugnis für Webers Sicht der Rationalisierungsprozesse auf
dem Gebiet der Musik.3
Vgl. hierzu auch Silbermann (1963, S. 463): „Ebenso wie Webers Religionssoziologie der
Gedanke durchzieht, daß religiöses Verhalten nicht als sozial anzusehen ist, solange es im
Zustand innerer Kontemplation verbleibt, ebenso steht hinter den Erläuterungen zu der durch
die Entwicklung des Instrumentenbaus hervorgerufenen fortschreitenden Rationalisierung der
Gedankengang, daß eine Musik, die unsing- oder unspielbar ist, eine Musik, die sich nicht
transponieren läßt oder, wenn sie gesungen wird, kein adäquates Begleitinstrument finden
kann oder sich schriftlich nicht fixieren läßt, nicht sozial ist, da ihr dadurch die Möglichkeit
entzogen wird, mit dem Verhalten dritter Personen in Verbindung zu treten.“
4
Weber war Kunstkenner (Literatur, Architektur, Malerei; vgl. etwa SP, S. 452 u.ö.) und
erweist sich insbesondere in der vorliegenden Schrift nicht nur als umfassender Musikkenner,
sondern auch als Musiktheoretiker auf der Höhe seiner Zeit; daneben hat er auch selbst
musiziert (Braun 1992, S. 22). Und auch seine Tantengeschichten (so Winckelmann, zit bei
Kaesler 1989, S. 36) - ein Beleg für die enge Beziehung zwischen Werk und Biographie spielen in diesem Zusammenhang eine wohl nicht unerhebliche Rolle: in der Forschung wird
häufiger (so etwa Braun 1992, S. 13) die naheliegende Vermutung geäußert, daß insbesondere
die Freundschaft zur Pianistin Mina Tobler, die in dieser Zeit begann und bis zu Webers
Lebensende andauerte, die musiksoziologischen Arbeiten erheblich beflügelt habe.
5
Entstanden ist die Schrift zwischen 1910/11 (Kaesler 1998, S. 215, Silbermann 1963, S.
448) oder aber zwischen 1912/13 (so Braun 1992: 13; vgl. auch Schluchter 1988b, S. 567); sie
ist ein essayistisches Fragment (Silbermann 1963, S. 448), die einzelnen Abschnitte sind
teilweise übergangslos aneinandergehängt. Die Überschrift stammt nicht von Weber selbst
(Braun 1992, S. 12).
6
Daß Webers Musiksoziologie chronisch abseits der soziologischen Betrachtung liegt (vgl.
Braun 1992, S. 11 f.; Schluchter 1988b, S. 566 ff.; Schluchter beschäftigt sich allein unter
werkgeschichtlichen Aspekten mit der Schrift), hängt sicherlich auch mit dem Gegenstand der
Schrift zusammen; aber nicht nur: die Schrift gilt aufgrund ihres skizzenhaften, unvollendeten
Charakters selbst über das für das gesamte c.w. geltende Maß hinaus als schwierig (vgl. dazu
Braun 1992, S. 140). Entsprechend schmal ist die Sekundärliteratur; die wechselvolle
Editionsgeschichte der Schrift (vgl. dazu Silbermann 1963, S. 449) ist so gesehen eher
Symptom als Grund der Nichtbeachtung.
60
b) Zur Bedeutung der Schrift im Schrifttum Webers
Keine Analyse des Weberschen Rationalitätsbegriffs kann an dieser Schrift
vorbeigehen, und dies gleich aus mehreren Gründen: zunächst einmal bietet das
Fragment in einer quantitativen Analyse des Wortfeldes »*rational*« einen hohen
absoluten Zähler (131 Belege) sowie einen bis dato hohen relativen Zähler:
Worte
29.084
Suchwort
rational*
82
Maßzahl
2,82
Suchwort
*rational*
131
Maßzahl
4,50
Man kann geradezu sagen: ab dieser Schrift gewinnen die relativen Zähler eine neue
Qualität: bewegten sie sich vor 1910 im Promille-Bereich, so liegen sie ab dem
zweiten Durchbruch im Prozent-Bereich. Allerdings: dieses Niveau ist hier erst zur
Hälfte erreicht.
Hinzu kommen sachliche Gründe: Weber hat der Schrift selbst hohe Bedeutung
zugemessen (vgl. Braun 1992, S. 11) und sich bis zu seinem Ableben mit der
Musiksoziologie beschäftigt (Braun 1992, S. 132 f.): mehrfach nahm er später auf die
Schrift Bezug – und zwar gerade an solchen Stellen, die für das Verständnis des c.w.
entscheidend sind, wie z.B. in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen
zur Religionssoziologie (RS I, S. 2; vgl. Kaesler 1998, S. 215; Schluchter 1988b, S.
567 f.) oder aber der Zwischenbetrachtung (RS I, S. 554 ff.); die Arbeit gehört zu
einem auf die Vorkriegszeit zurückgehenden, dann aber nicht realisierten Plan einer
alle Künste umfassenden Soziologie (vgl. Lebensbild, S. 507), in der Weber
insbesondere die irrationalen Lebenssphären daraufhin untersuchen wollte, inwieweit
auch sie einem Prozeß der Rationalisierung unterliegen.- Die Schrift beinhaltet nach
Schluchters Hypothese den „zweiten Durchbruch“: wiederum untersucht Weber eine
typisch irrationale Lebenssphäre wie bereits in der Protestantismusschrift von 1904,
jetzt aber entdeckt er Rationalisierungsprozesse zu allen Zeiten, an allen Orten; vom
Glissando-Geheul in der primitiven Musik (MS, S. 831) bis hin zur modernen
Atonalität der Wiener Schule, von der Pentatonik in westfälischen Kinderliedern (MS,
S. 823) bis hin zur Musik der Chippewah-Indianer öffnet sich Webers Horizont. Es
wird hier erstmalig Webers kulturvergleichende Methode in extenso praktiziert, die er
– mit Blick auf die Soziologie der Stadt – in einem Brief an Georg von Below (vgl.
MWG I/19: 16 f.) 1914 so umschrieben hat:
„... das, was der mittelalterlichen Stadt spezifisch ist, ... ist doch nur durch die
Feststellung: was andern Städten (antiken, chinesischen, islamischen) fehlte, zu
entwickeln“.
Insofern muß man hier also von einer erheblichen Ausweitung der Rationalitätsthese
sprechen.- Und noch etwas: es gibt im Fragment auffällige Parallelen zur Religion,
und zwar sowohl hinsichtlich der Sphären selbst7 als auch hinsichtlich der
Behandlung beider Sphären durch den Forscher Weber.8
Vgl. etwa RS I, S. 554: „Mit der ersteren [= der ästhetischen Sphäre der Kunst; jum] steht
die magische Religiosität in intimster Beziehung.“
8
Vgl. etwa Braun 1992, S. 96. Kaesler (1998, S. 216) schreibt: „Gerade wegen ihrer
vermeintlichen „Irrationalität“ reizte ihn die Fragestellung, wie weit auch im Bereich der
„Kultur“ dieser Prozeß nachzuweisen sei; diese Hypothese ist das Grundthema des Fragments
zur Musiksoziologie.“- Die angebliche Irrationalität der Musik ist allerdings die spezifische
Sicht der romantischen Schule; inwieweit Weber ihr verhaftet war, ist umstritten. Braun
7
61
c) Der Inhalt des musiksoziologischen Fragments
Es geht im folgenden nicht primär um eine Darstellung des Inhaltes der Schrift; aber
gerade hier fallen wichtige Entscheidungen über das Rationalisierungsverständnis in
der Schrift: die evolutionäre Perspektive, die etwa Kaesler (1998, S. 216 f.)9 und
Silbermann (1963, S. 459) in der Schrift entdecken, ist nämlich ex post aus der
Vorbemerkung (vgl. RS I, S. 2) an das Fragment herangetragen – und dann auch nur
zur Hälfte zutreffend: eine sorgfältige Analyse der Vorbemerkung würde nämlich
erweisen, daß nicht die simple Problemstellung okzidentale Rationalisierung hie –
orientale Irrationalität dort Webers Anliegen ist, sondern vielmehr die spezifische
Eigenart des modernen Rationalismus (vgl. bes. RS I, S. 11!).- Demzufolge sei hier
summarisch der Inhalt dieses außerordentlich detailreichen Aufsatzes beschrieben.
Vor allem ist wichtig zu sehen, daß die Darstellung über weite Passagen hinweg eine
Auseinandersetzung mit der Tonphysiologie von Hermann v. Helmholtz10 beinhaltet;
m.a.W.: Weber sucht hier gegenüber den ästhetisierenden Tendenzen der
Musikwissenschaft seiner Zeit einen klaren (positivistischen) Standpunkt: er will auch
hier empirische Forschung betreiben!- Silbermann (1963, S. 459) hat den Inhalt des
Fragments folgendermaßen zusammengefaßt:
„Zusammengefaßt und auf einen einfachen Nenner gebracht, stellt Weber
gegenüber: das Prinzip der simplen Distanz von Tönen untereinander und das
Prinzip der Akkordharmonik, das Ganze evolutionär gesehen. War die treibende
Kraft hinter dem Distanzprinzip Zweckmäßigkeit, reine Praxis, so war sie bei der
Akkordauffassung Ausdruck eines ästhetischen Bedürfnisses. Die Entwicklung
beider Prinzipien dient dazu, Irrationalitäten soweit wie möglich auszuscheiden;
sie sind also Zeichen der rationalen Mentalität einer Gesellschaft, selbst wenn eine
völlige Rationalisierung sich insofern nicht durchführen ließ, als die
unsymmetrische Stellung gewisser Töne, der Septime zum Beispiel,
Irrrationalitäten in sich birgt. Aber selbst wenn die Systeme der westlichen Musik
nur unvollständig rationalisiert sein sollten, sind sie zumindest durch ein Streben
nach Rationalität gekennzeichnet, während, so weist Weber nach, bei den
primitiven und orientalischen Musiken diese Beziehung gar nicht oder kaum
zutage tritt ...“ (Hervorhebung im Text; jum).Diese Interpretation bleibt nicht ohne Bedenken. Zunächst einmal dies: indem
Silbermann den Text von der Idee vom zweckrationalen Handeln (a.a.O., S. 460) her
interpretiert, trägt er – aus WuG – eine Formulierung ein, die dem Text selbst nicht
(1992, S. 21 ff.) sieht Weber in der romantischen Musiktradition angesiedelt; dagegen
schreibt Silbermann (1963, S. 460 f.): „[Musik hat Weber besonders gereizt; jum], weil es
angesichts seiner „Irrationalität“ näch gängigen Auffassungen, insbesondere nach denen der
romantischen Schule, die ja in der ersten Hälfte von Webers Leben die Musik noch
beherrschten, sich jedweder rationalen Erfassung zu entziehen scheint. Daß er sich selbst in
seinem persönlichen Verhältnis zur Musik weitgehend von den romantisierenden
Darstellungen der Musik als sogenannter „zarter Schauer der Seele“ oder als Hegelsche
„Kunst der Innerlichkeit“ entfernt hatte, beweisen einige seiner Briefstellen, in denen er von
Konzerteindrücken berichtet.“
9
Kaesler 1998 kann man nicht als selbständiges Votum behandeln: er hat nämlich die Passage
bei Silbermann 1963 (S. 459) abgeschrieben; Kaesler 1998 ist jedem, der seine Darstellung
von 1978 kennt, eine herbe Enttäuschung!
10
Vgl. dazu: Helmholtz, Hermann von (1863): Die Lehre von den Tonempfindungen als
physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig (versch. Aufl.).
62
zu entnehmen ist. Gewichtiger sind inhaltliche Einwände: so ist z.B. nach Weber
auch die sog. temperierte Stimmung objektiv als eine simple Distanzskala auffassen;
vgl. MS, S. 860), vor allem aber unvollständig: denn Weber untersucht in der Schrift
nicht
nur
Rationalisierungsprozesse,
sondern
zugleich
auch
Irrationalisierungsprozesse: er sieht sie etwa in der Entwicklung der Kunstmusik, wie
sie sich im Schicksal der hellenistischen Musik zeigen (MS, S. 844). Vor allem aber
sieht er in der Entwicklung der arabischen Musik, die den ganzen vorderen Orient
(mit Ausnahme der jüdischen Synagoge) beeinflußte, und auch in der basikischen
Musik genau die entgegengesetzte Entwicklung wie im Okzident: während sich hier
aufgrund der Polyphonie in Verbindung mit der rationalen Notenschrift eine strenge
Diatonik entwickelte, wurde die arabische Musik aufgrund des Auftretens von
Berufsmusikern – und damit vermehrten ästhetischen Bedürfnissen - bei
gleichzeitigem Fehlen sowohl von Mehrstimmigkeit als auch der Notenschrift der
entgegengesetzte Effekt erzielt: zunehmende Irrationalität, die sich in irrationalen
Intervallen in den Skalen äußerte (MS, S. 855 f.):
„Für das Maß der Überwucherung der tonalen Bestandteile durch neuentstehende
melodiöse Ausdrucksbedürfnisse gibt es eben keine feste Schranke, sobald der
feste Halt der typischen Tonformeln verlassen ist und der Virtuose oder der auf
den Virtuosenvortrag hin geschulte Berufskünstler Träger der Musikentwicklung
wird“ (MS, S. 855 f.).
Das aber bedeutet: Rationalität und Irrationalität sind zugleich Max Webers Thema in
dieser Schrift, erst beides zugleich erweist das – im Vergleich! – höhere Ausmaß von
Rationalität in der Musik des Okzident. Unmißverständlich hat Weber diesen
Sachverhalt später in der Werturteilsschrift von 1917 formuliert:
„Daß
subjektiv
fortschreitend
rationaleres
Handeln
zu
objektiv
»zweckmäßigerem« Handeln führt, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten und
ein mit (verschieden großer) Wahrscheinlichkeit zu erwartender Vorgang.“ (WL,
S. 488).
d) Webers Verständnis von Rationalisierung im musiksoziologischen Fragment
Es sei an dieser Stelle Webers Verständnis von Rationalität an der Schrift selbst
erhoben. Schon im ersten Satz der Schrift fällt der Ausdruck „harmonisch
rationalisierte Musik“ (MS, S. 5); er nimmt ein wichtiges Teilergebnis der Studie
vorweg. Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Weber geht aus von den
akustischen Phänomenen zur Tongewinnung innerhalb des okzidentalen
akkordharmonischen Musiksystems; was er hier deduktiv anhand der diversen
Teilungsversuche der Schwingungszahlen von Tönen nachvollzieht, haben die
Musiker - die ja in der Regel nicht Mathematiker und nicht Physiker waren - praktisch
realisiert: etwa anhand des sog. Monochords (MS, S. 842 u.ö.; vgl. dazu Grabner
1970, S. 48 f.), einer über einen Resonanzboden gespannte Saite mit
verschiebbarem Steg, häufig auch mit einer Meßlatte versehen. Durch die
verschiedenen Teilungsverhältnisse der Saite wird hier das Tonmaterial gewonnen –
eine Halbierung der Saite, also ein Schwingungszahlverhältnis von 1/2, ergibt die
nächsthöhere Oktave zur Grundschwingung, ein Teilungsverhältnis von 2/3 ergibt die
reine Quinte usw. Entscheidend ist nun: auf diese Weise läßt sich keine rationale
Skala (i.e.: eine Skala mit gleichen Abständen zwischen den reinen Einzeltönen, die
also transponierbar ist!) gewinnen.- Und auch die andere Weise der Gewinnung von
Tonmaterial, nämlich die Stimmung von Saiten über die Quinten- bzw. Quartenzirkel
– schon Pythagoras zugeschrieben, heutzutage jedem Klavierstimmer vertraut,
erzeugt keine Töne, die von den Schwingungszahlen her Oktavparallelen
63
erzeugen.11 Dasselbe Ergebnis zeigt sich auch von der Saitenteilung her. Dieser
Sachverhalt, der – wie Weber zeigt – im Laufe der Zeit in den verschiedenen
Kulturen zu ganz unterschiedlichen Versuchen der Temperierung führte, bildet für ihn
die „Grundtatsache[.] aller Musikrationalisierung“ (MS, S. 818).- Rationalisierung
bedeutet in diesem Zusammenhang also zuallererst: Ordnung des Tonmaterials
durch seine mathematische Erschließung (MS, S. 818) – und nicht etwa dadurch,
daß man symmetrische Löcher in Pfeifen bohrt (vgl. etwa MS, S. 858)! Diese Form
von Rationalisierung erfolgte zuallererst in der Musiktheorie der Griechen.
Rationalisierung – das wird so nicht unmittelbar deutlich bei Weber – wird erforderlich
primär durch die praktischen Anforderungen des gemeinsamen Musizierens,
insbesondere auf unterschiedlichen Instrumenten: eine irrationale Skala ist
unproblematisch, solange ein einzelner Musiker allein spielt - und die Tonart nicht
wechselt.12 Sobald aber zwei Musiker auf unterschiedlichen Instrumenten
gemeinsam musizieren, stellt sich sofort das Problem der Skalen und der
Transposition; bereits die griechische Skalenlehre bezeugt dieses Problem.- Jeder
Musikpraktiker kennt nun das leidige Problem der Stimmungen: Tasteninstrumente
sind temperiert gestimmt, Streicher sind rein gestimmt, Blasinstrumente besitzen –
häufig unveränderbare – Naturtöne – all diese Umstände gestalten das Konzertieren
bis auf den heutigen Tag allein schon von der technischen Seite her schwierig.- Dem
liegt folgender Sachverhalt zugrunde: auch die Welt der Töne ist ein irrationales
„Chaos regelloser Willkür“ (MS, S. 830; das ist nicht zu verwechseln mit der
angeblich primitiven Musik!). Es gilt dieser Sachverhalt in vielerlei Hinsicht:
 Die Abgrenzung von Tönen gegenüber Geräuschen: regelmäßige Schwingungen vs.
unregelmäßige Schwingungen;
 Der einzelne Ton (nach Lautstärke und Schwingung, i.e.: hörbar vs. unhörbar; nach
Obertönen (= unterschiedliche Instrumente): Klänge!
 Die Bezeichnung von Tönen und damit zugleich: die Festlegung von Tonhöhen;
 Die Teilung der Oktave und die Gewinnung von Tonmaterial durch Tonschritte – was so
selbstverständlich nicht ist, wie es uns heute erscheint;
 Die Festlegung von Distanzen zwischen 2 oder mehreren Tönen; vgl. dazu allein das
Glissando-Geheul (MS, S. 831) in der primitiven Musik! Dann aber vor allem die
unterschiedlichen Versuche der Gliederung von Tetrachorden in der griechischen und
byzantinischen Musik;
 Die Deutung der Distanzen (akkordharmonisch vs. distanzmäßig) – ein Problem, das
lange Zeit insbesondere bei der Terz ungelöst war;
 Die Festlegung von Tonsystemen (Skalen, Modi, Tonleitern usw.);
 Die Erweiterung des Tonmaterials durch die Harmonik durch Tonfolgen und –leitern
(essentielle Tonleitern: MS, S. 834 vs. akzidentielle Tonleitern – also Tonfolgen ohne
einen Grundton wie etwa die sog. Kirchentonleitern);
 Die Spannung zwischen Harmonik und Melodik, also die Erweiterung des Tonmaterials
durch die Melodik unter Verwendung von harmoniefremden Tönen, usw. ...
11
Der sog. „Quintenzirkel“ C – G – D – A – E – H – Fis (enharmonisch verwechselt = Ges) –
Des – As – Es – B – F – C erzeugt allein in der temperierten Stimmung in 12 Quintschritten
eine Oktavparallele; in reiner Stimmung erzeugt er einen um das sog. pythagoreische Komma
(vgl. dazu MS, S. 818) von der 7. Oktavparallele abweichenden Ton – eine für unser Ohr fast
unhörbare Abweichung.
12
Schon bei der sog. Rückung, also einer einfachen Wiederholung einer musikalischen Phrase
auf einer anderen Tonstufe, wird eine wie auch immer geartete Rationalisierung erforderlich;
vgl. hierzu MS, S. 830!
64
Zutreffend formuliert Braun (1992, S. 141):
„Nicht nur das organisch begrenzte menschliche Hörvermögen wählt aus diesem
unbeschränkten Tonvorrat aus, sondern auch und vor allem das, was je nach
Kultur und Tradition ‘sinnvoll‘ erschient und erscheint – sei es aus praktischen
Gründen einer leichten Sing- und Spielbarkeit, sei es aus emotionalen oder
kultisch-religiösen, aus zahlensymbolischen Motiven oder aus mathematischer
Experimentierfreude. In Anlehnung an Webers »Kultur«-Begriff läßt sich ein
Tonsystem in diesem selektiven Sinn als ein historisch-kulturell bedingter, »mit
Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen
Unendlichkeit« des Tonvorrates ‘an sich‘ bezeichnen (WL, S. 170).“
Dies ist der Inhalt der Musikrationalisierung (MS, S. 818): Auswahl und Ordnung
einer irrationalen Vielfalt von Tönen, wobei sich die europäische Form der
Rationalisierung im Vergleich der Kulturen untereinander als ein Sonderweg erweist
– zugleich aber als eine Einengung des Spielraumes und somit als Verlust von
(musikalischer) Freiheit. Weber unterscheidet hierbei eine äußere – also durch den
Instrumentenbau bedingte (MS, S. 822. 832) – Form der Rationalisierung, wie sie vor
allem in Asien zu finden ist, von einer inneren, durch die Ordnungsprinzipien der
Musiktheorie bedingten (MS, S. 858).
Die rationalen Grenzen des okzidentalen Tonsystems
Er entwickelt nun (MS, S. 818 f. 835 ff.) die zwölfstufigen bekannten diatonischen –
also: auf Tonleitern basierenden – und chromatischen Tonleitern, unsere heutige
Unterscheidung in Dur und Moll sowie das Prinzip der Tonalität13 - also die
Bezogenheit auf ein tonales Zentrum sowie die funktionalen Beziehungen zwischen
den einzelnen Tönen einer Leiter - mit ihrer grundlegenden Unterscheidung zwischen
Konsonanten und Dissonanzen. Es gibt hier Grenzen der Rationalisierung. Zum
einen systemimmanent: und hier vor allem durch die Moll-Septime bedingt (MS, S.
819 f.), was zur heutigen Unterscheidung zwischen natürlich Moll (= äolisch),
harmonisch Moll mit erhöhter 7. Stufe (= Durmoll) sowie melodisch Moll (=
zusätzliche Erhöhung der 6. Stufe) führte (vgl. zum Ganzen etwa Grabner 1970, S.
62 f.); zum anderen aber durch die Spannung zur irrationalen Melodieführung (MS,
S. 821), die nie allein aus der Harmonik zu erklären ist. Diese Spannung zwischen
Melodik und Harmonik ist ein grundlegendes Problem der gesamten
Musikgeschichte; Weber versteht sie als eine grundlegende Spannung zwischen
Rationalisierung und Irrationalität (MS, S. 821). Man kann sie verstehen als eine
diachrone (Tonfolgen) bzw. synchrone (Akkorde, Schichtungen usw.) Blickrichtung in
der Musik bzw. eine vertikale und horizontale Sichtweise, wobei die Hellenen - und
die meisten der sog. primitiven Musiken – den ersten Weg gegangen sind
(Distanzskalen), während die europäische Musik im Mittelalter ein harmonisches
Tonsystem begründete und immer weiter versuchte, die melodischen Irrationalitäten
ihrem Einfluß zu unterziehen. Weber zeigt nun anhand der Chromatik auf, wie beide
Sichtweisen zu ganz unterschiedlichen, folgenreichen Resultaten führten:
„Daß die gleichen Ausdrucksbedürfnisse dort [in Hellas; jum] zu einer Zersetzung
der Tonalität, hier [...] zur Schaffung der modernen Tonalität führten, lag in der
sehr abweichenden Struktur derjenigen Musik, in welche jene Tonbildungen im
13
Das Prinzip der Tonalität wurde immer wieder polemisch ausgespielt gegen die Atonalität,
vgl. dazu Silbermann 1963, S. 450 Anm. 13.
65
einen und im anderen Fall eingebettet wurden. Die neuen chromatischen Spalttöne
wurden in der Renaissancezeit als Terzen- und Quintenbestimmte harmonisch
gebildet. Die hellenischen Spalttöne dagegen sind Produkte einer rein
distanzmäßigen, der exklusiven Pflege melodischer Interessen entsprungenen
Tonbildung“ (MS, S. 827; Hervorhebung von jum) ) – die Distanzen sind hier
irrational (a.a.O., S. 827), weil nicht einem einheitlichen Ordnungsprinzip unterworfen.
Aber dies ist eben allein vom Standpunkt der »harmonisch rationalisierten okzidentalen
Kunstmusik« aus so gesehen: sie ergeben eben kein „harmonisch-rationales, für eine
Akkordmusik brauchbares Intervallsystem“ (MS, S. 822).
Die Temperierung versucht dieses Problem durch künstlich gebildete, gleiche
Distanzen zwischen den Halbtonschritten zu lösen. Aus dieser Tatsache folgt auch
der unterschiedliche Charakter unterschiedlicher Tonarten auf allen temperierten
Instrumenten: die Distanz der Funktionstöne zueinander ist in jeder einzelnen Tonart
unterschiedlich! Von daher ist der Charakter, das Ethos (MS, S. 823) einer Musik,
nur teilweise ein Werturteil: er ist auch – neben anderen Faktoren (etwa die
Tatsache, daß der festliche oder auch kriegerische Charakter einer D-Dur-Tonleiter
ursprünglich mit der Verwendung gleichgestimmter Trompeten, die eben zu
festlichen oder auch militärischen Zwecken verwendet wurden, zusammenhängt) bedingt durch die unterschiedlichen Distanzen zwischen den Haupttönen in den
verschiedenen Tonarten der temperierten Stimmung:14 diese Unterschiede sind real,
weil tonphysikalisch bedingt, subjektiver praktischer Wertung entspringt die
Zuordnung von ästhetischen Kategorien zu diesen Unterschieden.- Es läßt sich also
festhalten, daß auch die Temperierung das Problem der rein gestimmten Instrumente
nicht gänzlich löst, insbesondere im Zusammenspiel mit Tasteninstrumenten.
Aber – und das ist nun der grundlegende Gedanke - gerade all diese melodischen
Irrationalitäten, all diese Spannungen zur akkordharmonischen Rationalisierung,
geben dem Fortschreiten in der Musik – Weber meidet hier wie anderswo das
geschichtsphilosophisch belastete Wort vom Fortschritt und verwendet es eher
unspezifisch (vgl. dazu etwa (MS, S. 862; WL, S. 480) – seine spezifische Dynamik:
„Eben diese akkordfremden Töne sind nun aber naturgemäß, gerade durch den
Kontrast gegen das akkordlich Geforderte, die wirksamsten Mittel der Dynamik des
Fortschreitens einerseits, andererseits auch der Bindung und Verflechtung der
Akkordfolgen miteinander. Ohne diese durch die Irrationalität der Melodik
motivierten Spannungen gäbe es keine moderne Musik ...“ (MS, S. 821;
Hervorhebung durch jum).
Man vergleiche diesen Satz etwa mit Kaeslers Darstellung15 oder aber mit
Silbermanns „evolutionärer Sicht“ (s.o.)! Es sind dies Deutungen, die an den Text
herangetragen sind und keine Basis in der Darstellung selbst haben!
14
Auf Hochdeutsch: ein Dur-Dreiklang setzt sich – tonphysikalisch gesehen – in C-Dur aus
anderen Intervallen zusammen als etwa in As-Dur.
15
Kaesler 1998, S. 216 f.: „Alle Feststellungen, die Weber zur Harmonielehre „alter“ und
„moderner“ Musik, zur Entstehung der Notenschrift und zur Entwicklung des
Instrumentenbaus machte, zielten auf den Nachweis einer allmählichen Auflösung mystischer
und „irrationaler“ Qualitäten in der Kunst bzw. der Kunstausübung und deren allmähliche
Ersetzung durch rationale Muster. Das Hauptergebnis dieser Untersuchung war dabei, daß das
Prinzip der simplen Distanz von Tönen untereinander durch das „rationale“ Prinzip der
Akkordharmonie abgelöst wurde. Diese Entwicklung interpretierte Weber als Zeichen einer
rationalen Mentalität der abendländischen Gesellschaft.“- Das ist – mit Verlaub! – Unfug.
66
e) Zusammenfassung
Einige wichtige Probleme des Fragments müssen an dieser Stelle unerörtert bleiben:
zunächst die Frage nach Freiheit und Ordnung in der Musik. Rationalisierung
beinhaltet ja zugleich immer auch einen Freiheitsverlust: Musik ist mehr als unsere
eingeschränkte Sichtweise, die allein die 12tönige temperierte Stimmung zum Maß
aller Dinge macht! Weber hat hier keineswegs eine einlinige Sicht!16 Gerade nicht die
fortschreitende Rationalisierung – von der er übrigens sagt, daß sie allein schon in
sich bleibende Irrationalitäten beinhaltet (MS, S. 821)! - , sondern die Spannung –
man könnte auch sagen: der Kampf, der unversöhnliche Gegensatz (vgl. MS, S. 820)
– zwischen Rationalisierung und (bleibender) Irrationalität bewirkt den »Fortschritt«
in der Musik und erhält so bleibende Spielräume!- Des weiteren müssen hier
unerörtert bleiben die eigentlich soziologischen Fragestellungen17 sowie die damit
zusammenhängende Frage nach dem Charakter der Schrift: ist sie allein Vorarbeit
und Materialsammlung (allerdings mit deutlichen soziologischen Hinweisen, gerade
in den Schlußpartien) – so zutreffend Silbermann und Schluchter – oder beinhaltet
sie selbst schon die geplante Soziologie der Künste (so Kaesler)? Dahinter steht die
grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Soziologie im Ansatz
von Weber (vgl. Anlage III.).- Und auch ein Blick auf die weitere Entwicklung der
Musiksoziologie in Deutschland unter dem Einfluß von Theodor W. Adorno muß an
dieser Stelle unterbleiben.-18
16
Vgl. etwa MS, S. 837: Stände, insbesondere die Virtousenkunst, entreißen die Musik den
Priestern, die sie – stark stereotypisiert – der Magie unterstellt haben; auf der anderen Seite
bringt erst die Temperierung der Akkordmusik die volle Freiheit (MS, S. 860) usw.;
interessant hier gerade sein Verhältnis zu Wagner und zur modernsten Musik (vgl. etwa MS,
S. 818. 844 sowie MS, S. 821)!
17
„Die Tatsache, daß Weber [...] streng bei einer rationalen, das heißt logischen oder
mathematisch-naturwissenschaftlichen Analyse verblieben ist, um von hier aus ein
soziologisches Bild, wenn auch ein unvollständig gebliebenes, zu entwerfen; die Tatsache,
daß er, trotz der verführerischen Qualität der Musik zum Emotionalen hin, an keiner Stelle
emotionalen oder künstlerisch-ästhetischen Argumenten verfallen ist; letztlich die Tatsache,
daß er nirgends versucht hat, das Musikalische mit Weltanschaulichem zu durchtränken – alle
diese Tatsachen machen das Fragment trotz gewisser musikologischer Fehler zu einem
Vorbild für jedwede Art kunstsoziologischer Studien, sowohl in methodischer als auch in
erkenntnistheoretischer Hinsicht.“ (Silbermann 1963, S. 467).- Weber selbst hat übrigens
später die Schrift einlinig als Musiksoziologie bezeichnet (vgl. etwa Lebensbild, S. 715).
18
Bekanntlich ist die Musiksoziologie Weber nicht gefolgt: einflußreich wurde vielmehr der
1962 in seiner Musiksoziologie geschriebene, aber nicht vornehmlich hier seine Wirkung
entfaltende, berühmte Satz von Theodor W. Adorno: „Die gesicherten Beobachtungen fügen
sich zur Mauer vor dem Wesen, das im Beobachteten bloß erscheint; der Empirismus erfährt
nicht, was er erfahren zu wollen behauptet“ (Adorno 1962, S. 209). Hier wird wiederum auf
die Ungegenständlichkeit der Musik - so die Formulierung von Silbermann (1963, S. 465) –
abgehoben, die sich einer rationalen Durchdringung angeblich entziehe. Immerhin hat Adorno
explizit mehrfach Weber ausdrücklich gewürdigt (vgl. etwa Institut für Sozialforschung 1974,
S. 100).- Es ist hier nicht der Ort, den weiteren Gang der Musiksoziologie zu verfolgen; aber
es ist schon ein deutliches Indiz für ihren geringen Stellenwert in der deutschsprachigen
Soziologie, wenn ein Standardwerk wie das von Korte / Schäfers überhaupt keine »Soziologie
der Künste« bietet (vgl. Korte / Schäfers 1993. 1997) und in der DGS keine Sektion – oder
auch nur eine Arbeitsgruppe! – »Kunst-« oder »Musiksoziologie« existiert. Eine »MusikIndustrie«, die allein im Jahr 1999 weltweit gut 32 Mrd. $ Milliarden umgesetzt hat (errechnet
67
Vorrangig wichtig ist im Zusammenhang der Extrakt des Fragments für den Begriff
der Rationalisierung. Und hier gilt zunächst generell: Musik unterliegt ihrer eigenen
Rationalität, es gibt zur logischen Rationalität allenfalls Analogieverhältnisse (MS, S.
833). Dennoch läßt sich für die musikalische Ratio dasselbe feststellen wie für das
(logische) Rationale, daß sie allein im Okzident „zur bewußten Grundlage des
Tonsystems gemacht worden ist“ (MS, S. 861). Des weiteren läßt sich in dreierlei
Hinsicht ein Fortschritt im Rationalisierungsverständnis bei Weber in dieser Schrift
gewinnen:
Zur Begrifflichkeit des Rationalisierungskonzepts bei Weber
Zunächst läßt sich in dieser Schrift ein klares Verhältnis zur Begrifflichkeit gewinnen:
das ursprüngliche Chaos in der Musik wird - ganz einlinig - durch Rationalisierung
zur Rationalität. Das bedeutet: Wenn Weber hier den Begriff rational verwendet,
bezeichnet er durchgängig das Ergebnis eines Rationalisierungsprozesses: das
„rationale[.] Resultat“ (MS, S. 858).
Sehr deutlich sieht man dies im folgenden Zitat: „An Stelle des tippenden Anschlags bei den
Tasteninstrumenten des 16. Jahrhunderts war, von der Orgel aus, schon für das Cembalo eine
rationale Fingersatztechnik in der Entwicklung begriffen, freilich mit ihrem Ineinandergreifen
der Hände und Übereinandergreifen der Finger für unsere Begriffe noch kraus und
halsbrecherisch genug, bis die beiden Bach sie, durch Einfügung einer rationalen
Verwendung des Daumens, auf eine, man möchte sagen: physiologisch »tonale« Grundlage
stellten.“ (MS, S. 868). Rational bedeutet hier soviel wie rationell (MS, S. 864), also
praktisch; Bachs Innovation des Daumenuntersetzens beinhaltet dabei den entscheidenden
Rationalisierungsschritt. Und zugleich wird deutlich, daß diese Rationalisierung nach ganz
unterschiedlichen Gesichtspunkten geschehen kann, wie hier hinsichtlich der Physiologie.
Zugleich belegt das Zitat aber noch etwas anderes: im »evolutionären« Prozeß der
Rationalisierung ist die Rationalität dann wiederum auch Voraussetzung der
Rationalisierung:
verschiedenen
Formen
der
Rationalität
entsprechen
unterschiedliche Plateaus, Stufen bzw. Niveaus (vgl. MS, S. 851); so etwa die
Entwicklung der rationalen modernen Notenschrift als Ergebnis von
Rationalisierungen (Neumen, Mensural-Notation), die
Weber als technisch
bezeichnet (MS, S. 852)!- Weber urteilt hier durchgängig vom Standpunkt der
europäischen musikalischen Rationalität in ihrer um die Jahrhundertwende gültigen
aus: DER SPIEGEL 30/2000, S. 107; zum Vergleich die wachstumsstärkste Branche: die 10
stärksten Unternehmen der deutschen Touristikbranche haben im Jahr 2001 ca. 81 Mrd. DM
umgesetzt; vgl. DIE ZEIT Nr. 33 v. 9. August 2001, S. 16) und, sieht man hier einmal ab von
den direkt Beschäftigten, in der Lage ist, beispielsweise 20 Mio. »User« auf einer virtuellen
Tauschbörse (Napster) zu vereinen (zum Vergleich: ca. 700 Mio. Menschen sind im Jahr
2000 geschäftlich oder zu privaten Zwecken gereist; vgl. DIE ZEIT Nr. 33 v. 9. August 2001,
S. 15) – ganz zu schweigen von ihren inneren (Weber) Qualitäten: welches gesellschaftliche
»Subsystem« ist schon in der Lage, 1 Mio. Menschen zu mobilisieren wie etwa die
diesjährige »Love-Parade«! – das sollte der Soziologie schon etwas mehr Aufmerksamkeit
wert sein, zumal sich gerade hier durch die Einführung der elektronischen Medien und
Nutzung des Internet fast unbemerkt ein ganz neuartiger Rationalisierungsschub entwickelt
hat. Hier zeigt sich deutlich ein rationalistischer Bias der Soziologie – aber eben diese
Tatsache ist in sich zugleich ein deutlicher Hinweis auf die bleibenden Irrationalitäten der
Musik.
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Form – also vor der sog. atonalen Musik; von diesem Gesichtspunkt aus ergeben
sich dann einzelne, abgestufte Formen der Rationalität:
Die Musik der sog. Primitiven, „d.h. tonal nicht oder wenig rationalisierte Musiken“
(MS, S. 823. 824); sie ist dennoch kein „Chaos regelloser Willkür“ (MS, S. 830);
partiell rationalisierte Tonskalen, wie etwa die Pentatonik (MS, S. 824), die bereits
„eine Art von Auslese rationaler harmonischer Intervalle aus der Fülle der
melodischen Distanzen“ darstellen (MS, S. 826), oder:
die Entwicklung der rationalen Notenschrift (MS, S. 852 ff.),
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