Gottesdienst am 10. Sonntag nach Trinitatis 28. August 2011 Der rastende Christus Nein, liebe Gemeinde, wir kennen seine Gedanken nicht. Was er in diesem Augenblick gedacht hat, was ihm durch den Kopf ging, wir wissen es nicht. Noch nicht einmal, ob er wirklich je so dagesessen ist, den Kopf in die Hand gestützt. Es kann gut so gewesen sein, wenn ihm denn die römischen Soldaten und die voranhetzende Menschenmeute, gierig auf die Sensation einer öffentlichen Hinrichtung, überhaupt Zeit ließen zum Nachdenken. Der Meister, der die Figur für die Dreifaltigkeitskirche in Görlitz geschaffen hat, wollte die Menschen seiner Zeit in das Geschehen einbeziehen. Sie einladen mit dem rastenden Jesus zu rasten, mit dem sinnierenden Jesus zu sinnieren, seine Erinnerungen, seine Gedanken zu teilen, freilich immer die, die wir ihm, wohl begründet, in die Stirn legen. Wir sind eingeladen uns dazuzugesellen seine und unsere Gedanken zu teilen, seine und unsere Ängste auszusprechen, seine und unsere Hoffnungen zu bedenken. „Der rastende Christus“ – so mag er vielleicht gesessen sein, abgerissen, die Spottkrone auf dem Haupt, getrocknetes Blut am Körper, erschöpft und am Ende. Wir setzen uns an seine Seite. Wir dürfen das, ohne jede Anmaßung, denn wir gehören zu ihm als seine Jüngerinnen und Jünger. In den Momenten des Todes, in der Angst davor in aufs Höchste gepresster Anstrengung, die das letzte dem Körper abfordert, da schaltet das Gehirn um auf Zeitraffertempo. In der Nahtodforschung liest man von Berichten, die genau dies beschreiben, wie gleichsam in Sekundenschnelle das ganze Leben noch einmal vor dem inneren Auge abläuft. So mag es um Jesus stehen in diesem Moment. Vor seinem inneren Auge rasen die Szenen seines Lebens vorbei, stürzen die Bilder, die eindrücklichen, ineinander in einen Schnellkochtopf der Erinnerungen. Zurück gehen die Gedanken in die Jahre in Nazareth, zu den ersten Besuchen in der Synagoge, dem frühen Erlernen von alter Sprache und Bibel. Ein ausgewählter religiöser Schüler war er, frühreif und tief begnadet. Dann folgt der Aufbruch. Die innere Unruhe hatte sich verdichtet, sie war in dem kleinen Ort nicht mehr zu ertragen. Er geht fort von seinem Ort, fort von Eltern und Geschwistern. Er zieht in umher in der näheren Umgebung bis hinauf nach Jerusalem und immer wieder zurück ins Elternhaus, wo sie mit zunehmender Sorge auf sein Leben schauen. Wo soll das hinführen? Bald schon gesellsen sich Freunde zu ihm, Anhänger, Jünger und Jüngerinnen, die mit ihm ziehen. Eine kleine Schar unterwegs. Er predigt, er redet, er streitet. Er dreht die gegebenen Dinge um und schichtet das Unterste obenauf. Da und dort Wunder: Kranke werden gesund, Lahme gehen, Blinde sehen. Ja, auch das, Tote stehen auf. Genau so, wie es die Propheten beschrieben haben, wenn sie vom Messias reden. Dann und wann, damals schon, Ruhepausen dazwischen, einsame Stunden und Tage an abgelegenen Orten. Das Gespräch zwischen ihm und Gott, seinem himmlischen Vater. Jetzt, hier, auf seiner letzten Wegstrecke noch einmal so ein Augenblick der Ruhe, mitten im Gejohle und Trubel, der Blick nach innen und solchermaßen zu Gott. Jesus hält Rast. Ich könnte mir denken, dass die eine oder andere Begebenenheit, eben jenes Gespräch, die eine Begegnung ihm jetzt in den Sinn kommt. Die Begegnung mit den Vielen vielleicht auf dem Berg, oder das lange Gespräch mit Nikodemus oder der Frau am Brunnen. Noch einmal, so denke ich mir, versichert er sich der Spur, die früh aufgenommen jetzt ans Kreuz führt. Begleitet von Widerspruch, Ausweichen, Fragen und Klagen und am Ende, unausweichlich, der Weg nach Golgotha. Die Anklage der Juden, die um die Reinheit ihres Gottesbildes fürchten und der heidnische Prokurator, Pilatus, der vielleicht mehr ahnt als er aus politischen Gründen zugeben darf. Natürlich auch die Frage, was aus seinen Freunden soll man jetzt schon sagen: aus seiner Bewegung? - werden soll, dereinst einmal. Es könnte irgendwie weitergehen, denkt Jesus. Im Augenblick wohl auch nicht die wichtigste Frage. Dann bleibt er an dem Bild in Getsemane hängen, als der Jünger mit dem Schwert dreinschlagen wollte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Petrus bewaffnet war. Aber das sind Vorgehensweisen dieser Welt, nicht seiner Welt. Überhaupt, diese Welt und seine Welt. Es wird eine ewige Frage bleiben, wie das zusammengeht. In diese Welt wird jetzt das Kreuz hineingestellt, sein Kreuz. Ich möchte mich zu Jesus gesellen, mich gleichsam hineindrängen in diesen Augenblick der Rast, der vorüberziehenden Bilder. Ich möchte meine Bilder und meine Fragen dazufügen. Ich will mich mit dem rastenden Jesus und den Satz aus dem Psalm 42 stellen, der vielleicht auch ihm durch den Sinn geht und der uns heute als Losung mitgegeben ist: Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich. Ich will den rastenden Jesus nicht stören, mich nicht aufdrängen. Ich würde ihn so gerne trösten und kann es nicht. Aber mich doch dem Bild hinzugesellen, mit den Bildern und Fragen meiner Zeit. Zwei Fragen sind es, die mich im Moment bedrängen. Die Zeitungen, die Fernsehbilder zwingen uns dazu anzuschauen, was kaum auszuhalten ist. Verhungernde Kinder. Abgemagert, zum Weinen schon nicht mehr fähige kleine Kreaturen, die in großen Lagern in Kenya, wo hundertausend andere schon aufgenommen wurden, ankommen. Diese sieht man, die andern, viel, viel mehr noch, die sieht man nicht. Wo sie sterben kommt keine Kamera hin. Berührende Bilder, die danach schreien, dass wir, dass ich etwas tue. Den Bildern sind die Nummern und Namen von Spendenkonten hinzugefügt. Das können wir tun. Spenden. Geld schicken. Gut so. Wir tun es. Schicken viel Geld in die Region. Millionen, viele Millionen. Die Regierung gibt das Ihre dazu, die UNO, das Rote Kreuz, das Diakonische Werk. Die Organisation Afrikanischer Staaten, wirklich keine reiche Organisation, hat gestern 37 Millionen laufende Hilfe und 300 Millionen aus der afrikanischen Entwicklungsbank. So kommen hohe Summen zusammen. Man spricht davon, dass zwei Milliarden Euro gebraucht werden um an die zehn Millionen Menschen zu versorgen. Eine gigantische Summe, von der ich mir nicht vorstellen kann, wie sie in dem gegebenen Chaos sinnvoll eingesetzt werden soll. Dann macht mich eine kleine Notiz im Wirtschaftsteil der Zeitung stutzig. Äthiopien, auch ein Hungerland dieser Region, hat hunderte Quadratkilometer Land an amerikanische und französische Agrarkonzerne verkauft. Nicht um Lebensmittel für die hungernde Bevölkerung zu erzeugen, sondern Agrarprodukte für den Weltmarkt, solche zumal, die zur Gewinnung von Biotreibstoff geeignet sind. Das, was letztendlich, noch vor der klimatischen Ursache dieser Hungerkatastrophe und dem Bürgerkrieg in Somalia, zum Hunger geführt hat, dass nämlich in den meisten Länder Afrikas die Landwirtschaft, die bisher die Bevölkerung gut und ausreichend ernähren konnte, auch in Ostafrika, umgestellt wurde auf den Anbau von Exportprodukten, Kaffee, Kakao, Sisal usw. Der Erlös aus dieser Monokultur kam den Eliten des jeweiligen Landes zugute, die Bevölkerung wurde in den Hunger geschickt. Mitten in der Katastrophe am Horn von Afrika, die uns in Europa das Herz zuschnürt, werden die Interessen großer Konzerne bedient – letztendlich übrigens zu unserem Vorteil. Das, lieber rastender Jesus, ist so ein Bild, das ich mit dir anschauen muss, weil es mich ratlos und wütend macht, weil es mir meine vergebliche Ohnmacht zeigt, weil es mich hineinführt in das Dillemma, das wir Kreuz nennen. Weil es mich an deine Seite stellt, der du leidest am Unrecht dieser Welt, der du rasten musst, weil dein Leib müde geworden ist, der du deinen Gedanken nachhängst, die schon längst kein ganzes Bild mehr ergeben. Ich will ein Bild aus dem kirchlichen Leben hinzufügen. Nur dieses eine. Im Sonntagsblatt wird dieser Tage aus der kleinen Gemeinde Beerbach in der Gegend von Erlangen berichtet. Der Pfarrer will ein Gemeindehaus bauen, vorausschauend in schwierigen Zeiten. Der Kirchenvorstand hat es einstimmig beschlossen. Eine Gemeindebefragung soll, gut basisdemokratisch, das Projekt auf den Weg bringen. Die Enttäuschung freilich war groß in Beerbach. Nicht, weil die Gemeinde das Projekt abgelehnt hat, ach wo, die Zustimmung derer, die sich an der Abstimmung beteiligt haben war groß. Aber es haben sich nur weniger als zehn Prozent der Gemeinde überhaupt an der Abstimmung beteiligt. Obwohl sie persönlich angeschrieben worden waren, obwohl es kein Problem gewesen wäre, die Karte auszufüllen und zurückzuschicken. Nein, es war kein Interesse da, überhaupt zu antworten! Das Projekt wurde abgeblasen, das Gemeindehaus wird nicht gebaut. Die Enttäuschung gewaltig. Danke, kein Interesse! Man muss kein großer Analyst sein, um in diesem Ereignis eine Grundkonstante unserer Kirche zu sehen. Kirche ist geschrumpft zu einer Gelegenheitskirche. Sie wird nicht mehr als ein lebensbegleitender Ort empfunden, für den man ja dann auch ordentliche Räume bräuchte, sondern man ruft hin und wieder Leistungen ab: Taufe, Trauung, Weihnachten, Konfirmation, Beerdigung. Ich will nicht schwarz malen, es gibt sicher andere Gemeinde, wo ein solches Projekt gut gelaufen wäre. Mein Eindruck: das war eher typisch für den Zustand unserer Kirche. Ein Zustand, der mich umtreibt, der mich ratlos macht über die Zukunft unserer Kirche. Auch im Blick auf die Frage, auf welcher Grundlage unsere Gemeinde zum Beispiel ein Gebäudekonzept entwickeln soll. Ein Zustand, der mich an die Seite des rastenden Jesus treibt. Nein, ich will den rastenden Christus, so wie er da sitzt und im Leid nach Atem und ein wenig Ruhe ringt, nicht mit meinen Fragen belasten. Aber wir gehören doch zusammen. Ich schaue auf sein Leid, höre seine Fragen, vernehme sein Seufzen und geselle mich mit meinen Fragen dazu. Der Grundfrage des Glaubens, was es denn bedeutet in unsere komplexe und komplizierte Welt das Kreuz zu stellen, oder anders: was bedeutet es diesem Christus, wie er da sitzt, nachzufolgen. Nicht, wie es das gedanklich ja auch gibt, in einer Nachahmung, nein nur in der Nachfolge. Seine Liebe, seine Hoffnung in dieser Welt gelebt. Sein großes Trotzdem und sein schier unerschütterliches Vertrauen in Gott, der sich dieser Welt in ihm und im Kreuz verbindet. Das mag es ja dann am Ende sein: dass ich mich, dass wir uns dazustellen dürfen. Dass wo er Rast nimmt, auch wir Rast nehmen dürfen. Dass unsere Fragen die seinen sind, so sehr wie auch der Blick auf ihn dazugehört. Dass darin allein schon Trost uns zukommt, dass wir uns mit ihm verbinden - im Fragen, im Klagen, aber ebenso im Dank und im Lob. Der rastende Christus gewährt uns auch Rast in einer rastlosen Zeit. Dafür will ich ihm danken – ein bisschen auch dem Künstler, der diese wunderschöne Figur geschaffen hat. Amen