1 Freitag, 10.07. 2015 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: vorgestellt von Doris Blaich Neues Geigerlicht auf Mendelssohn und Bartók Felix Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll op. 64 Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2 Augustin Hadelich (Violine) Norwegisches Radiosinfonieorchester Leitung: Miguel Harth-Bedoya AVIE 2323, LC 11982 Ein klingendes Hochzeitsgeschenk aus Arkadien „Il trionfo di Dori“ Madrigale von Baccusi, Vecchi, Gabrieli, Gastoldi, Anerio, Palestrina etc. The King’s singers Signum records SIGCD 414, LC 15723 Quartette aus Smetanas Leben Bedrich Smetana: Streichquartett Nr. 1 e-Moll “Aus meinem Leben” Streichquartett Nr. 2 d-Moll Pavel Haas Quartett Supraphon SU 4172-2, LC 00358 Bachs h-Moll-Messe aus Dresdner Noten Johann Sebastian Bach: H-Moll-Messe BWV 232 Carolyn Sampson (Sopran), Anke Vondung (Alt), Daniel Johannsen (Tenor), Tobias Berndt (Bass) Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester Leitung: Hans-Christoph Rademann 2 CDs, Carus 83.315, LC 3989 (die Deluxe-Ausgabe enthält zusätzlich eine DVD mit Dirigentengespräch, Konzertvideo und pdf-Datei der Quellen) Vergleich des Kyrie I mit der Aufnahme von John Eliot Gardiner, The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists Archiv Produktion 415 514-2, LC 0113 Starkstrom-Schostakowitsch aus Russland Dmitrij Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 9 Violinkonzert Nr. 1 Leonidas Kavakos (Violine) Mariinsky Orchestra Leitung: Valery Gergiev Mariinsky SACD MAR0425 (kein LC?) 2 M0349105 001 Signet ... mit Doris Blaich. Ich grüße Sie. Smetana Pfeifton e Take 4, 3’32-3’40 0‘08 Dieser hohe Pfeifton klang im Ohr von Friedrich Smetana; ein Tinnitus nach einem Hörsturz; er hat seitdem alles andere übertönt. Eine Qual, vor allem für einen Musiker! Smetana hat das Erlebnis in ein Streichquartett einkomponiert mit dem Titel „Aus meinem Leben“. Davon gibt’s eine neue Aufnahme mit dem Pavel Haas Quartett, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, außerdem auch Musik von der Sonnenseite des Lebens: Violinkonzerte von Mendelssohn und Bartók mit dem Geiger Augustin Hadelich, das Madrigalbuch „I trionfi di Dori“, das ein reicher Venezianer im Jahr 1577 seiner Frau zur Hochzeit schenkte, dann die neue Einspielung von Bachs h-Moll-Messe mit Hans-Christoph Rademann, der Gächinger Kantorei Stuttgart und dem Freiburger Barockorchester – im Vergleich mit einer älteren Aufnahme und die Neunte Sinfonie von Schostakowitsch. Die Aufnahme mit Valeri Gergiev und dem Mariinsky-Orchester ist gerade frisch erschienen. Wir starten mit Mendelssohn – mit musikalischer Intelligenz und musikantischer Spielfreude gegeit von Augustin Hadelich. Hadelich – Mendelssohn Take 3 ab 0’40 Felix Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll op. 64 Augustin Hadelich (Violine) Norwegisches Radiosinfonieorchester Leitung: Miguel Harth-Bedoya AVIE 2323, LC 11982 6‘00 „Es ist schwierig, spontan zu sein, wenn man das Stück stundenlang geübt hat, um die kleinsten Details perfekt drauf zu haben“, das hat Augustin Hadelich einmal in einem Interview gesagt. Und weiter: „Das Publikum erwartet Perfektion, deshalb muss man sich so gut vorbereiten. Wie kann man aber auf der Bühne so spielen, als ob einem die Musik gerade aus dem Herzen fließt? Mir – so sagt Hadelich – hilft es da, innerlich mitzusingen, mit dem Stück mitzuatmen; und mich so tief wie möglich in diese Gefühlswelt hineinzuversetzen.“ Und das merkt man einfach, wenn Augustin Hadelich Geige spielt: dass er beides zusammenbringt, das Technische und das Lebendige, Spannungsreiche, Emotionale. Eben hörten wir ihn mit dem dritten Satz aus Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll, begleitet vom Norwegischen Radiosinfonieorchester, der Dirigent war Miguel Harth-Bedoya. Augustin Hadelich ist Anfang 30, er wurde als Sohn deutscher Eltern in der Toskana geboren und war schon früh sehr gut auf der Geige. Als Jugendlicher erhielt er u. a. den REGIOFörderpreis Basel und ein Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg. Alles ging mehr oder weniger schnurgerade seinen Weg. Bis er dann mit 17 einen schweren Brandunfall hatte; da war lange nicht klar, ob er überhaupt wieder Geige spielen könnte. Er erholt sich von den Verletzungen, studiert dann in Livorno und an der New Yorker Juilliard School und gewinnt 2006 beim Internationalen Violinwettbewerb in Indianapolis den 1. 3 Preis, außerdem sechs Sonderpreise. Im Jahr 2009 bekommt er in New York den "Avery Fisher Career Grant" verliehen, 2011 wird er mit einem Stipendium des Borletti-Buitoni Trusts ausgezeichnet. Heute lebt er in New York und tourt mit seiner Geige um die Welt: einer Stradivari mit dem Beinamen „Ex Kiesewetter“. Für mich ist Augustin Hadelich einer der großen Geiger der jüngeren Generation. Ich hab ihn schon ein paar Mal live gehört und war jedesmal begeistert und berührt: von der Leichtigkeit und Souveränität, mit der er noch über die fiesesten Geigenstolpersteine tanzt, von den reichen Schattierungen und der Leuchtkraft seines Klangs, von der Ernsthaftigkeit seiner Interpretation. Augustin Hadelich spielt auf Risiko, er wirft sich voll und ganz rein in die Musik, in ihre Schönheit, ihre Schroffheiten, ihre Abgründe und auch ihre Verletzlichkeit. Das alles ohne Show und Gehabe. Seine neue CD kombiniert zwei Konzerte miteinander, die man vielleicht erst mal nicht unbedingt zusammenbringen würde: Mendelssohn und Bartók (dessen zweites Violinkonzert); aber die beiden Stücke in ihrer Verschiedenheit beleuchten sich gegenseitig neu und deshalb hört man sie mit Gewinn direkt nacheinander. Hier kommt noch eine Kostprobe aus dem Bartók-Konzert, es ist komponiert in den Jahren 1937/38, als sich in Europa das Ungetüm des Faschismus ausbreitete, für den Freigeist Bartók eine existenzielle Bedrohung. Wir hören rein in den zweiten Satz des Konzerts, ein Thema mit Variationen. Augustin Hadelich wird begleitet vom Norwegischen RadioSinfonieorchester, der Dirigent ist Miguel Harth-Bedoya. Hadelich Bartok 2. Satz Take 5 Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2 Augustin Hadelich (Violine) Norwegisches Radiosinfonieorchester Leitung: Miguel Harth-Bedoya AVIE 2323, LC 11982 Ausschnitt, ca. 3’50 - auf Zeit Hier schleichen wir uns raus aus dem zweiten Satz des 2. Violinkonzerts von Béla Bartók. Letzte Woche ist diese Aufnahme beim Label AVIE herausgekommen, Augustin Hadelich ist der Solist, das Norwegische Radio-Sinfonieorchester spielt unter Leitung von Miguel HarthBedoya. Die nächste CD versetzt uns nach Arkadien; in der Realität eine Gebirgslandschaft in Griechenland, in der Dichtung der Renaissance- und Barockzeit ist dieses Arkadien der utopische Sehnsuchtsort aller gestressten Seelen: eine sanfte Hügellandschaft, in der friedlich die Schafe weiden, und genauso friedlich die Menschen zusammenleben – lauter Hirten und Schäferinnen, die den ganzen Tag zusammen singen, tanzen und feiern. Es gibt keine sozialen Hierarchien, keine abgründigen Gefühle und nicht die Spur einer Finanzkrise. Wobei Geld sowieso kein Problem war für den Mann, der sich hier ein exklusives Stück Arkadien in sein Privatleben hineinkomponieren ließ: Leonardo Sanudo, steinreicher Adliger aus einer der angesehensten Familien von Venedig, feiert im Jahr 1577 seine Hochzeit. Für seine Frau Elisabetta Giustinian hat er ein besonders schönes und aufwändiges Geschenk: Eine Sammlung von 29 italienischen Gedichten, Madrigalen, die Elisabettas Schönheit verherrlichen, geschrieben von Italiens angesagten Poeten – jedes Gedicht ist von einem anderen Komponisten in Musik gesetzt, und auch hier findet man große Namen: Palestrina, Marenzio, Gastoldi und Gabrieli zum Beispiel. 4 Bei all der Exklusivität darf das Geschenk natürlich nicht platt rüberkommen, deshalb sprechen die Dichter den Namen Elisabetta niemals aus, sondern tarnen die Ehefrau mit einem Decknamen: Dori – benannt nach einer schönen Meeresnymphe. Alle Gedichte enden mit der Zeile „Viva la bella Dori“ – es lebe die schöne Dori. „Il trionfo di Dori“ ist denn auch der Titel der Sammlung, 1592 erscheint sie im Druck. Blättern wir durch zur Nummer 27: „Al mormorar de liquidi cristalli“ – das Murmeln eines kristallklaren Flusses ist hier die Szenerie, Giovanni Gastoldi der Komponist; wir hören die King’s singers. IL trionfo di Dori Take 27 Giovanni Gastoldi : Al mormorar de liquidi cristalli „Il trionfo di Dori“ The King’s singers Signum records SIGCD 414, LC 15723 2’37 Giovanni Gastoldi: ein Madrigal aus der Sammlung „Il trionfo di Dori“, gesungen von den King’s singers. Dieses Jahr feiern die King’s singers ihren 50. Geburtstag: 1965 haben sie sich zum Sextett zusammengeschlossen – alle Gründungsmitglieder waren Studenten am King’s College in Cambridge, daher der Name. Inzwischen ist von den Gründervätern keiner mehr dabei, aber die Klangkultur, die Lust am Humor und auch der musikalische Wagemut der King’s singers ist über die Jahrzehnte geblieben. Immer wieder haben die King’s singers populäre Programme gemacht, mit Volkslied-Bearbeitungen und Beatles-songs zum Beispiel. Aber genauso wichtig ist und bleibt ihnen das Repertoire am Rand des gängigen Konzertlebens: Sie haben über 200 Uraufführungen gesungen und graben immer wieder spannende Alte Musik aus – aus dem 15., 16. oder 17. Jahrhundert. Wie zum Beispiel diese Madrigalsammlung „Il trionfo di Dori“, die sie ganz puristisch eingespielt haben, ohne irgendwelches Beiwerk oder Instrumentalsätze, in denen das Ohr mal eine Pause machen könnte von dem dichten polyphon -verschlungenen Satz, in dem die Komponisten der Renaissance schreiben. Auch wenn der hohe Countertenor der King’s singers manchmal etwas forciert und damit raussticht aus dem sonst so homogenen und erdigen Klang des Ensembles: ich finde, diese Aufnahme ist eine echte Entdeckung. Hören wir noch eines dieser Madrigale: Es stammt von dem römischen Komponisten Felice Anerio und entführt uns Hörer in einen schattigen Hain, wo die schöne Nymphe Dori ruht und dem Rauschen eines Flüsschens lauscht. Schon der Text ist hier Musik, und der Komponist Anerio setzt hier wunderbar den Klang der Sprache in Töne: In der ersten Zeile ist vom angenehmen Schatten die Rede, da gibt’s fast nur dunkle Vokale: „Sotto l’ombroso speco“ – und in der Musik hört man entsprechend die dunklen Register, dann hellt sich die Landschaft auf, in der Sprache überwiegen die hellen Vokale i und e: „Di fior herbetta e fronde“ – und auch in der Musik wird’s heller; jetzt singen die hohen Stimmen. 5 Dori Take 21 Felice Anerio: Sotto l’ombroso speco „Il trionfo di Dori“ Madrigale von Baccusi, Vecchi, Gabrieli, Gastoldi, Anerio, Palestrina etc. The King’s singers Signum records SIGCD 414, LC 15723 2’44 Die Nymphe Dori und ihre Hirtenfreunde in der schattigen Landschaft Arkadiens. Und etwas von dieser angenehm-kühlen Prise möchte man gerne mitnehmen diesen heißen Sommer nehmen! Das war das Madrigal „Sotto l’ombroso speco“, gesungen von den King’s singers. Es ist enthalten auf ihrer neuen CD mit italienischen Madrigalen der Renaissance. Sie trägt den Titel „Il trionfo di Dori“ und enthält alle 29 Stücke dieses klingenden Hochzeitgeschenks von Leonardo Sanudo an seine Frau Elisabetta. Erschienen ist die CD bei signum records. Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik mit neuen CDs – und auf meinem Stapel liegen jetzt Streichquartette von Friedrich Smetana mit dem Pavel Haas Quartett. „Aus meinem Leben“ heißt Smetanas berühmtes autobiographisch geprägtes Quartett, ein musikalischer Gang durch sein Leben. Im ersten Satz klingen die romantisch-sehnsüchtigen Stimmungen von Smetanas Jugend an; immer wieder schimmern darin aber auch Ahnungen künftiger Schicksalsschläge hervor. Pavel Haas Quartett Smetana Take 1 Bedrich Smetana: Streichquartett Nr. 1 e-Moll “Aus meinem Leben”, 1. Satz Pavel Haas Quartett Supraphon SU 4172-2, LC 00358 7’39 Das Pavel Haas Quartett mit dem ersten Satz aus dem Streichquartett „Aus meinem Leben“ von Friedrich Smetana. Die vier jungen Musiker – drei Männer und eine Frau an der ersten Geige - stammen aus Tschechien. Als Namensgeber haben sie den tschechisch-jüdischen Komponisten Pavel Haas gewählt, einen Schüler von Leos Janacek, dessen Leben 1944 auf tragische Weise in den Gaskammern von Auschwitz endete. Gleich mit ihren ersten beiden CDs haben die vier das gesamte Streichquartettschaffen von Pavel Haas aufgenommen - und damit eine ganze Reihe von preisgekrönten Aufnahmen mit Musik aus Osteuropa eröffnet. Prag ist der Hauptwohnsitz des Pavel Haas Quartetts, von dort aus reist es seit 2005 auf die Konzertbühnen der Welt. Dieses Jahr war es Artist in Residence beim Bodenseefestival, vielleicht haben Sie das eine oder andere Konzert gehört – live oder hier in SWR2. Für mich ist das Besondere an dieser neuen Aufnahme die Kompromisslosigkeit, mit der das Pavel Haas Quartett spielt. Wild und ungezügelt und im besten Sinne ungeschönt, mit Mut zum Brüchigen und auch mit viel Gespür für die feinen Nuancen. Manchmal bewegt sich Smetanas Musik an der Grenze zum Schmalz, und diesen schmalen Grad kosten die vier Musiker lustvoll aus – mit süßestem Zuckervibrato, mit Rubati und Glissandi – genauso, wie man sich den böhmischen Stehgeiger im Kaffeehaus vorstellt. Und ein paar Takte später wird es dann derb-musikantisch, diese Freude am Drauflosspielen (das hier ganz schön viel Virtuosität abverlangt und sehr gut geprobt sein will), die findet man in dieser Aufnahme genauso wie die eine höchst kultivierte Klanggestaltung. Aus Smetanas Quartett „Aus meinem Leben“ hier noch das Finale. Jubelnd und satt beginnt 6 die Musik – der passende Ausdruck für ein reiches Künstlerdasein - bis sich dann eine plötzliche, brutale Wende ereignet: Auf dem Höhepunkt bricht die Musik ab - Pause - Dann: ein widerwärtiger Pfeifton, ein viergestrichenes e, als Flageolett-Ton gespielt, das heißt: der Finger liegt dabei nur ganz lose auf der Saite und drückt sie nicht herunter; dadurch entsteht ein körperloses schrilles Pfeifen. Dieser Ton war für Smetana Realität: er begleitete ihn seit seinem Hörsturz, und ab da schritt langsam aber sicher seine Ertaubung fort. Was danach kommt, sind nur noch wehmütige Rückblicke in die Vergangenheit: Erinnerungen aus den anderen Sätzen, deren Glücksmomente das Unglück dieser Krankheit nur noch finsterer einfärben. Smetana Take 4 Bedrich Smetana: Streichquartett Nr. 1 e-Moll “Aus meinem Leben”, 4. Satz Streichquartett Nr. 2 d-Moll Pavel Haas Quartett Supraphon SU 4172-2, LC 00358 6‘00 Friedrich Smetana: Streichquartett Nr. 1 e-Moll „Aus meinem Leben“, das Pavel Haas Quartett spielte das Finale daraus. Beide Quartette von Smetana sind auf dieser neuen CD versammelt, sie ist beim tschechischen Label Supraphon erschienen. **** Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe – das „größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker“ – so pries sie enthusiastisch Hans-Georg Nägeli, der erste Herausgeber der Partitur. Auch wenn man versucht, sich in Superlativen zu mäßigen: bei der h-Moll-Messe kommt man nicht darum herum, sie zählt einfach unbestritten zu den großen Schätzen unseres musikalischen Erbes. Jeder große Chor und jeder ambitionierte Chordirigent hat sie im Repertoire; entsprechend viele Aufnahmen gibt es – auch viele gute. Gerade hat der Dirigent Hans-Christoph Rademann eine neue Einspielung herausgebracht, mit herausragenden Solisten, der Gächinger Kantorei Stuttgart und dem Freiburger Barockorchester. Das Besondere daran: zum ersten Mal hat man hier die Stimmen verwendet, die Bach für den Dresdner Hof angefertigt hat. Ich möchte Ihnen Ausschnitte aus dieser Neuaufnahme vorstellen. Hören wir rein in den Anfang, das erste Kyrie: ein großes musikalisches Eingangsportal. Rademann CD 1, Take 1 30 Sek bis zur GP, Johann Sebastian Bach: H-Moll-Messe BWV 232, Beginn Kyrie I Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester Leitung: Hans-Christoph Rademann 2 CDs, Carus 83.315, LC 3989 ca. 0‘30 Die Aufnahme der h-Moll-Messe mit Hans-Christoph Rademann. Neben mir liegt noch eine andere Einspielung, mit John Eliot Gardiner, dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists. Die ist von 1985, jetzt also 30 Jahre alt, ich finde sie nach wie vor großartig. Hören wir zum Vergleich die Anfangstakte mit Gardiner, eine völlig andere Klangästhetik. 7 Gardiner CD 1, Take 1, ca. 30 Sek. bis zur GP J.S. Bach: H-Moll-Messe, Beginn des Kyrie I John Eliot Gardiner, The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists Archiv Produktion 415 514-2, LC 0113 ca. 0‘30 Zwei Welten! Rademann gestaltet ganz homogen, man hat den Eindruck, Chor und Orchesterklang fließen hier direkt ineinander und man hört sehr gut auch die dunkleren Register. Bei Gardiner dagegen die pure Pracht – alles strahlt und glänzt; die Soprane haben hier die Macht, die hohen Register der Orgel unterstützen sie kraftvoll. Rademanns Chor singt ein abgedunkeltes „Kyrie“, Gardiner ein helles „Kirie“; er hat hier durchgängig die italienische Aussprache des Lateinischen gewählt: benedicimus und unigenite zum Beispiel (bei Rademann dagegen benedicimus und unigenite). Das gibt der Musik vom ersten Takt an eine völlig andere Färbung. An so manchem Detail merkt man, dass Gardiners Aufnahme 30 Jahre alt ist – zum Beispiel hier am Anfang an den Achtelbindungen in den Streichern, die jede für sich sorgfältig abphrasiert werden, jedesmal mit etwas Nachdruck, das hat man früher so gemacht, heute ist es etwas aus der Mode gekommen und wirkt vielleicht ein bisschen manieriert. Aber trotzdem verliert sich Gardiner nicht im Detail (das ist ja die große Gefahr bei dieser unglaublich differenziert komponierten Musik), sondern bleibt im Fluss und hält den großen Spannungsbogen durch. Gardiner hat sich dafür entschieden, den Chor in Soli und Tutti aufzuteilen, hören wir weiter in seiner Aufnahme Gardiner CD1 Take 1 Ausschnitt, ca. 5‘ J.S. Bach: H-Moll-Messe, Kyrie I John Eliot Gardiner, The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists Archiv Produktion 415 514-2, LC 0113 … ein Ausschnitt aus John Eliot Gardiners Aufnahme der h-Moll-Messe von Bach, ursprünglich war dieses Kyrie vermutlich eine Triosonate, vielleicht für zwei Geigen und Generalbass oder für Orgel. Bach hat es in einen großen Chorsatz verwandelt; dass die Stimmen erst solistisch singen und nach und nach der Chor dazukommt, steht so nicht in den Noten, es ist eine rein aufführungspraktische Entscheidung, die Gardiner da gefällt hat. Hans-Christoph Rademann hat sich in seiner neuen Aufnahme anders entschieden, hier ist alles chorisch besetzt, und der Chor ist ebenfalls excellent: sauber, klar, durchsichtig, wendig. Im Tempo unterscheiden sich die beiden Aufnahmen nicht groß, wohl aber in ihrem musikalischen Fluss. Gardiner strebt immer vorwärts, Rademann schafft gerade dadurch Spannung, dass er den Fluss im Zaum hält. Hören wir also weiter in Rademanns Aufnahme. Rademann CD1, Take 1 Kyrie Johann Sebastian Bach: H-Moll-Messe BWV 232, Kyrie I Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester Leitung: Hans-Christoph Rademann 2 CDs, Carus 83.315, LC 3989 9‘28 8 Vorwärtsdrängend wie Gardiner es in seiner Aufnahme macht oder lieber zurückhaltend und introvertierter, wie Rademann in seiner neuen Aufnahme, die wir eben gehört haben – das ist hier die Frage, und wie so oft, gibt es kein richtig oder falsch und es bleibt dem Geschmack des Hörers überlassen. Meiner, das gebe ich zu, geht in Richtung Gardiner, bei Rademann fehlt mir hier der Fluss, und ich finde, das geht irgendwann auf Kosten des großen Spannungsbogens. Das Kyrie und Gloria der h-Moll-Messe ist eine klingende Bewerbungsmappe. 1733 stirbt in Dresden der sächsische Kurfürst August der Starke, sein Sohn Friedrich August II. kommt auf den Thron. Der neue Herrscher schätzt die Musik ganz besonders und er ist sich bewußt, welche Bedeutung den schönen Künsten bei der fürstlichen Repräsentation zukommen. Bach hofft auf einen Titel bei Hofe. Am 27. Juli 1733 übergibt er dort persönlich die Orchester- und Chorstimmen seines Kyrie und Gloria, versehen mit einem unterwürfigen Widmungsschreiben. Dieser Brief bahnt sich innerhalb von drei Wochen einen Weg durch die höfische Bürokratie, gelangt bis in die höchsten Ebenen des Verwaltungsapparats – und bleibt dort offenbar stecken; Bach erhält jedenfalls keine Antwort auf sein Gesuch. Erst drei Jahre später, nachdem Bach eine erneute Eingabe gemacht hat, gibt es eine Reaktion: auf sein “allerunterthänigstes Ansuchen, und umb seiner guten Geschickligkeit willen” wird Bach der Titel eines kursächsischen Hofkomponisten verliehen. Die anderen Sätze hat Bach erst am Ende seines Lebens zu der Partitur hinzugefügt. Warum, darüber ist sich die Forschung nicht einig, vielleicht hatte er die Einweihung der neuen Dresdner Hofkirche im Blick; die wurde allerdings erst 1751 fertig, im Jahr nach Bachs Tod. Hören wir noch eine weitere Kostprobe, aus dem Gloria der h-Moll-Messe: Gloria in excelsis Deo und Et in Terra pax: Ehre sei Gott in der Höhe (prunkvoll mit Pauken und Trompeten zelebriert) und Friede auf Erden – ein überwältigender Kontrast, wenn der musikalische Scheinwerfer plötzlich runtergedimmt wird auf irdisches Maß! Hier ist dieses Satzpaar in der neuen Einspielung mit Hans-Christoph Rademann, der Gächinger Kantorei und dem Freiburger Barockorchester. Rademann CD 1 Gloria / Et in terra Take 4+5 6’16 Johann Sebastian Bach: H-Moll-Messe BWV 232, Gloria in excelsis und Et in terra pax Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester Leitung: Hans-Christoph Rademann 2 CDs, Carus 83.315, LC 3989 Zwei Sätze aus dem Gloria aus Bachs h-Moll-Messe, da dürfen die Gächinger Kantorei und das Freiburger Barockorchester zeigen, was sie können: Bach nimmt – wie so oft – keinerlei Rücksicht darauf, dass Sänger irgendwann einmal atmen müssen und schreibt für die Stimmen schier endlose Koloraturen, die sich durch unwegsames Gelände und über Stock und Stein bewegen; kein Problem für den bestens aufgestellten Chor; 32 Sängerinnen und Sänger stark ist dieser Chor. Und das Freiburger Barockorchester spielt in gewohnt brillanter Qualität: zupackend, mit viel Elan, und die klangliche Substanz und feine Balance zwischen den Stimmen ist einfach großartig. 9 Jetzt brauchen wir noch eine Kostprobe der Solisten, die mich alle vier überzeugen: Die Sopranistin Carolyn Sampson, die Altistin Anke Vondung – sie hat keine typische Alte-MusikStimme, singt sonst viel Oper an den großen Bühnen der Welt und bringt diese Erfahrung und den Nuancenreichtum ihrer Stimme hier ausgesprochen klug in ihre Partie. Glänzend auch der Bassist Tobias Berndt, der im Dresdner Kreuzchor großgeworden ist und der junge österreichische Tenor Daniel Johannsen – ihn hören wir gleich im Duett „Domine Deus“, gemeinsam mit der Sopranistin Carolyn Sampson. Wie gesagt: Hans-Christoph Rademann hat hier zur Grundlage Bachs handschriftliches Stimmenmaterial genommen, das er 1733 für den Dresdner Hof geschrieben hat. Da gibt es kleine, feine Abweichungen zur Partitur, die Bach ja erst Jahre später geschrieben hat und die die meisten von uns heute im Ohr haben. In diesem Duett hört man die Unterschiede vielleicht am deutlichsten, und zwar an den lombardischen Rhythmen: da sind die Achtelnoten nicht gleichmäßig lang, sondern jeweils in einer Art umgekehrtem Galopprhythmus kurz-lang notiert. Rademann CD 1 Take 8 Domine Deus 5’20 Johann Sebastian Bach: H-Moll-Messe BWV 232, Duett Domine Deus Carolyn Sampson (Sopran) Daniel Johannsen (Tenor) Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester Leitung: Hans-Christoph Rademann 2 CDs, Carus 83.315, LC 3989 Das Duett Domine Deus aus der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Carolyn Sampson und Daniel Johannsen waren die Gesangssolisten, Karl Kaiser und Susanne Kaiser die Flötisten, und Hans-Christoph Rademann leitete das Freiburger Barockorchester. Wenn man die h-Moll-Messe gut kennt, dann bemerkt man in dieser Einspielung einige kleine Unterschiede zur ‚üblichen‘ Aufführungspraxis – hier waren es die lombardischen Rhythmen; so hat sie Bach 1733 notiert, in seinen Stimmen für den Dresdner Hof. Besonders für Bach-Freaks ist diese Aufnahme zu empfehlen: zusätzlich zu den 2 CDs findet man eine DVD, auf der der Dirigent über seinen Zugang zu diesem Stück erzählt, außerdem eine pdf-Datei der Dresdner Stimmen, die kann man dann mit der eigenen Partitur vergleichen; oder sich einfach freuen an Bachs wunderschöner Handschrift. Die Neuaufnahme ist eine Coproduktion mit dem SWR, sie ist gerade beim Carus-Verlag herausgekommen, der in diesem Rahmen auch eine aufwändige DVD erstellt hat, hier können Bach-Freunde alle wichtigen Quellen der h-Moll-Messe miteinander vergleichen. **** Zum Abschluss Schostakowitsch: Der Dirigent Valeri Gergiev hat mit seinem Mariinsky Orchester die Neunte Sinfonie aufgenommen. Schostakowitsch schrieb seine Neunte Sinfonie 1945, kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs, der ja für Russland mit einem Sieg endete - soweit man bei einem Krieg überhaupt von einem Sieg sprechen kann. Zumindest betrachtete Russlands Diktator Josef Stalin den Ausgang des Krieges als Triumph. Schostakowitsch erinnert sich in seinen Memoiren im Zusammenhang mit der Neunten Sinfonie: "Stalin hat ganz gewiss nie an seiner Größe gezweifelt. Alle Welt umjubelte ihn, und nun wurde ich in diesen unheiligen Reigen mit einbezogen. Wir hatten den Krieg gewonnen. Um welchen Preis, das war 10 unwichtig. Wichtig war nur der Sieg. Das Imperium hatte sich ausgedehnt. Von Schostakowitsch erwartete man die große Apotheose: Chor und Solisten sollten den Führer besingen. Auch die Ziffer würde Stalin gefallen: Die neunte Sinfonie! Stalin hörte sich immer genau an, was Experten und Spezialisten einer bestimmten Branche zu berichten wussten. Und in diesem Fall versicherten ihm die Experten, ich verstünde meine Sache. Daraus schloss Stalin, die Sinfonie zu seinen Ehren werde von höchster Qualität sein. Man werde stolz sagen können: Hier ist sie unsere vaterländische neunte Sinfonie". Schostakowitsch aber komponiert etwas ganz anderes als eine kriegerische Triumphmusik: er verweigert in seiner Neunten Sinfonie jede große Geste, jede Verherrlichung des Krieges und seiner Helden. Die Formen und die zeitliche Ausdehnung sind bewusst überschaubar gehalten. Die Musik wird zwar manchmal laut und übermütig, aber die Ausgelassenheit wirkt künstlich, ironisch gebrochen - sie ist überzeichnet, mutiert ins Groteske, in die Zirkusmusik. Hören wir den ersten Satz, immer wieder werden Sie zum Beispiel eine aufsteigende Quarte hören, ein Intervall, das klassischer Weise als Ankündigungssignal dient: sei es für die Feuerwehr, für die Jagd oder für den Auftritt eines wichtigen Menschen. Bei Schostakowitsch aber ist es nur noch eine verzerrte Grimasse. Ich habe den Dirigenten Valeri Gergiev letztes Jahr im Konzert erlebt, von meinem Platz aus konnte ich ihm direkt ins Gesicht sehen; selten habe ich so ein hypnotisches Charisma auf der Bühne erlebt. Alle Aufmerksamkeit auf der Bühne ist bei ihm, er bündelt die Energie des ganzen Saals und gibt sie mit seinen energischen Dirigierbewegungen an der Musiker weiter. Er fordert alles, und das Orchester auf der Bühne und das Publikum im Saal war unter Hochspannung. Nach diesem Konzert war ich völlig erschöpft, das war anderthalb Stunden geballte Intensität. Und genau diese Intensität kann man auf dieser Aufnahme hören, finde ich. Faszinierend, wie Gergiev die Doppelbödigkeit dieser Partitur mit seinem Orchester herausarbeitet: die Bedrohung, die hier die ganze Zeit unterschwellig mitschwingt, die Banalität des Bösen, die sich hinter den betont banalen Melodien und Wendungen verbirgt und ganz plötzlich mit aller Härte und Rohheit zuschlägt. Die ständige Anspannung, die hier herrscht, weil hinter jeder Ecke Gefahren und Abgründe lauern. Mutig finde ich das, wie die Musiker hier das Schrille und Hässliche wagen – die Piccoloflöte zum Beispiel, die zwischendrin scheußlich pfeift, die Klarinette, die ins verzerrtes Kreischen abdriftet, die Posaunen, die sich zu Klanggrimassen verzerren. Schostakowitsch Take 1 5‘27 Dmitrij Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 9 Violinkonzert Nr. 1 Leonidas Kavakos (Violine) Mariinsky Orchestra Leitung: Valery Gergiev Mariinsky SACD MAR0425 Der erste Satz der Neunten Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, gespielt vom Marinsky Orchester unter Leitung von Valery Gergiev. Die Neunte ist kurz, deshalb passt auf diese CD noch ein weiteres Stück drauf: Das Violinkonzert Nr. 1 mit dem griechischen Geiger Leonidas Kavakos als Solisten. Die CD ist erschienen beim orchestereigenen Label Marinsky. 11 Alle Angaben zu den CDs, die ich Ihnen heute vorgestellt habe, finden Sie auf unserer Internetseite swr2.de, dort kann man die Sendung auch nochmals nachhören. Hier im Programm gibt’s jetzt gleich die Tipps vom Kulturservice, anschließend dann die 12-Uhraktuell-Sendung mit Nachrichten. Ich bin Doris Blaich und wünsche Ihnen noch einen guten Freitag.