Selbst - Schulentwicklung NRW

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Was Menschen früher voneinander wussten und heute voneinander wissen –
Selbst- und Fremdbilder in historischer Perspektive.
Anregungen zur Umsetzung neuer Inhaltsfelder im Geschichtsunterricht.
Bärbel Kuhn, Universität Siegen
Im
Folgenden
sollen
vor
dem
Hintergrund
neuerer
Forschungsansätze
in
der
Geschichtswissenschaft Wege aufgezeigt werden, wie die neuen Inhaltfelder der
kompetenzorientierten Lehrpläne ausgefüllt werden können. Inzwischen haben zwar auch
schon zahlreiche Schulbuchverlage auf die neuen Herausforderungen reagiert, doch zumeist
bieten sie Informationen und Quellen nur zu dem im Lehrplan vorgeschlagenen Schwerpunkt
„Reisen früher und heute“ an. Menschen wussten jedoch auch über andere Wege voneinander
und bildeten sich ihre Bilder von sich selbst und von den Anderen auch über andere Formen
des Austauschs und der Begegnungen, seien sie friedlicher Art oder im Konflikt oder Krieg.
Dazu
sollen
aus
der
Vielzahl
der
Möglichkeiten
und
der
entsprechenden
geschichtswissenschaftlichen Konzepte einige herausgegriffen werden.
1. Menschen in Bewegung. Migration
2. Transnationale Geschichte und Migration
3. Migrationsgeschichte als Erfahrungsgeschichte
4. Kulturtransfer und Transkulturelle Perspektiven
5. Selbstbilder und Fremdbilder
1. Menschen in Bewegung. Migration
Wenn im Zusammenhang des Geschichtsunterrichts von Migration die Rede ist, steht zumeist
die Frage im Mittelpunkt, ob sich und wie sich Geschichtsunterricht in seinen Inhalten und
Zielen durch die neue Heterogenität der Klassen infolge von Migration verändern muss. Die
Frage, die Susanne Thurn in Bezug auf geschlechterdifferenzierte Interessen am Fach gestellt
hat („Was hat das alles mit mir zu tun“?), wird mit Blick auf Differenzen nationaler oder
kultureller Art neu gestellt. Für den Geschichtsunterricht können sich zwei Konsequenzen
ergeben:
zum
einen
kann
nach
der
unmittelbaren
Vorgeschichte
der
heutigen
Migrationsgesellschaft gefragt werden, um Gegenwartsphänomene und -probleme vor dem
Hintergrund ihres historischen und politischen Kontextes verständlich werden zu lassen, zum
anderen kann durch Beispiele von Migrationen in der Vergangenheit deutlich werden, dass es
Mobilität und Migration immer gegeben hat, dass Migration der „Normalfall“ in der
1
Geschichte war. In den Lehrplänen ist zumeist nicht explizit von „Migration“ die Rede, wenn
Wanderungen von Menschen Gegenstand des Interesses sind. Dennoch bedeuten die
Bevölkerungsbewegungen im römischen Weltreich, zur Zeit der Völkerwanderungen, im
Rahmen der Kreuzzüge, im Zusammenhang mit Reformation oder den Revolutionen des 18.
oder 19. Jahrhunderts, mit Kolonialismus oder Umsiedlungen, Flucht und Suche nach Asyl im
Kontext und in der Folge der Weltkriege zugleich auch Erfahrungen von Migration. 1 Im
historischen Horizont sind Mobilität von Menschen und Migrationen also keine neuen
Phänomene. Diese Historisierung ermöglicht es, den heutigen Herausforderungen durch eine
entsprechende Relativierung ihre scheinbare Dramatik zu nehmen. Zugleich können an die
Vergangenheit Fragen nach Erfahrungen mit Migration gestellt werden, Fragen danach, wie
die Menschen und Gesellschaften in früheren Zeiten mit Migrationen umgegangen sind, als
Migranten oder als Teil der Aufnahmegesellschaften. Dabei werden sowohl Konflikte als
auch Beispiele gelungener Migration und Integration thematisiert werden können. Vor dem
Hintergrund der Fragen, warum Menschen ihre Heimat verlassen haben (z.B. wirtschaftliche,
politische, religiöse oder klimatische Push- und Pull-Faktoren), wie dies geschah (Ab- und
Verläufe) und welche Folgen und Auswirkungen die Aus- oder Einwanderung für die
Beteiligten und Betroffenen hatte, ist nicht nur eine objektivierte und nüchternere Betrachtung
(im Sine einer Sachanalyse), sondern auch eine sachlichere Bewertung (Sachurteil) möglich.
Möglichst konkrete, anschauliche Beispiele – besonders geeignet sind lokale oder regionale
Fallbeispiele und Einzelschicksale – können Verständnis wecken und Empathie erzeugen und
zugleich auch schon handlungsfähiger im Umgang mit Pluralität machen (im Sinne eines
reflektierten und begründeten Werturteils und kompetenten politischen und sozialen
Handelns).2
1
Vgl. gut lesbar zusammengefasst Dirk Hoerder, Geschichte der deutschen Migration. Vom Mittelalter bis
heute, München (Beck-Wissen) 2010. Ausführlich vgl. die hervorragenden Artikel der Enzyklopedie Migration
in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. von Klaus J. Bade u.a. Paderborn, München u.a., 3.
Auflage 2010. Vgl. für Quellen und Bildmaterialien auch die beiden Bände: Diethelm Knauf, Barry Moreno
(Hrsg.), Aufbruch in die Fremde. Migration gestern und heute, Bremen 2009 und Projekt Migration, hrsg. vom
Kölnischen Kunstverein, Köln 2005. Für Beispiele, wie Bewegungen und Begegnungen von Menschen, wie
transnationale, inter- und transkulturelle Kontakte unterschiedlichster Art im Unterricht zur
Perspektivenerweiterung und zum Perspektivenwechsel beitragen können, vgl. Bärbel Kuhn, Holger Schmenk,
Astrid Windus (Hrsg.), Weltgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht. HISTORICA ET
DIDACTICA – Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für Unterricht und Lehre, Bd. 1, St. Ingbert 2010,
vgl. hier etwa den Beitrag von Ute Schneider, in dem Weltdimensionen des Krieges 1914-1918 am Beispiel der
Kolonialtruppen aufgezeigt werden.
2
Vgl. so auch die Argumentation von Dietmar von Reeken, Migration und Integration – Geschichte als
Möglichkeit zu Auseinandersetzung mit aktuellen Erfahrungen? http://www.bpb.de/files/IO6TF3.pdf [1. Januar
2011]. Für Beispiele vgl. (neben Einzelheften einschlägiger geschichtsdidaktischer Zeitschriften) etwa die
Bände: Migration. Lernchancen für den historisch-politischen Unterricht, hrsg. von Karl Pellens, Schwalbach /Ts
1998 und Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen
2
2. Transnationale Geschichte und Migration
Transnationale Geschichte ist nach Kiran Klaus Patel als Forschungsperspektive zu verstehen,
die nach den unterschiedlichen Formen und Ausprägungen der Verbindung, Verflechtung,
Überschneidung, Interaktion und Zirkulation, die über den Nationalstaat hinausreichen, fragt.3
Transnationale Fragestellungen interessieren sich für den Transfer von Ideen oder kulturellen
Praktiken, sie fragen nach der Zirkulation von Produkten oder nach der Bewegung und
Wanderung von Menschen. Transnationale Beziehungen und Zusammenhänge in den Blick
zu nehmen, bedeutet eine Abkehr von statischen Konzepten von Nation oder Kultur. Nationen
und Nationalgeschichten werden damit nicht in Frage gestellt oder obsolet. Vielmehr spielen
sie in transnationalen Konstellationen weiterhin eine wichtige Rolle als Bezugsgröße, sie
gewinnen relationale Bedeutung. Gegenstand eines zeitgemäßen Geschichtsunterrichts sollte
eine Kultur- und Politikgeschichte der europäischen Länder und Völker im europäischen
Kontext sein, die zugleich universalgeschichtliche Perspektiven und regionale Rückbezüge
integriert.
„Kulturgeschichte“ meint in diesem Zusammenhang weniger eine inhaltliche oder
thematische Erweiterung, sondern „Kultur“ ist als Lebenswelt, als Lebensstil oder
Lebensweise und auch als „Alltag“ zu verstehen, in dem bestimmte kulturelle Muster
reproduziert und verändert werden. Kultur umfasst diejenigen Dimensionen der
Vergangenheit, in denen es um Handlungsmöglichkeiten und konkrete Handlungen der
Menschen geht. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie die Menschen ihr Handeln
und Leiden wahrgenommen, gedeutet und mit Sinn versehen haben. Die „Neue
Kulturgeschichte“ seit den 1980er Jahren ist ein neuer Zugang, meint andere Perspektiven
und erweiterte Fragestellungen (durchaus an die gleichen Gegenstände historischer
Forschung, die auch Gegenstand der Politikgeschichte oder der Gesellschaftsgeschichte sein
können). Die Kulturgeschichte interessiert so etwa, wie die Individuen in unterschiedlicher
Weise mit den strukturellen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten umgehen.4
Das Paradigma „Beziehungsgeschichte“ sollte die Geschichte der Nationen nicht
überspringen, denn um ein „dialogisches“ und komparatistisches Projekt umzusetzen, müssen
Gesellschaft (Schriften zur Geschichtsdidaktik 16), hrsg. von Bettina Alavi und Gerhard Henke-Bockschatz,
Idstein 2004.
3
Vgl. Kiran Klaus Patel, Transnationale Geschichte - Ein neues Paradigma? 02.02.2005, http://geschichtetransnational.clio-online.net/forum/id=573&type=diskussionen [1. Januar 2011];
4
Vgl. dazu zusammenfassend etwa Birgit Emich, Geschichte der Frühen Neuzeit studieren, Konstanz 2006, S.
127-140. Vgl. auch den schon klassischen Beitrag von Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen
Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1997), S. 195-218 u.
259-278.
3
die Vergleichgegenstände vertraut sein.5 Eine transnationale Perspektive eröffnet die Chance,
nationale
Besonderheiten
und
kulturelle
Verschiedenheit
auch
im
Kontext
von
Verschränkungen von Innen- und Außenperspektive zu sehen. Zu erkunden, „was Menschen
voneinander wussten“, erfordert „regards-croisés“, d.h. die Bereitschaft und Fähigkeit,
Ereignisse und Phänomene auch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.6
Das Präfix „trans“ verweist auf die Überschreitung nationaler (oder anderer territorial
definierter) Grenzlinien wie auf Veränderungen auf einer anderen, qualitativen Ebene. Diese
Veränderungen können politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Natur sein oder die in
transnationale Prozesse involvierten Menschen, Waren oder Ideen betreffen. 7 Eine
wesentliche Rolle spielen internationale Verbindungen und Netzwerke, die dank neuer
Medien und Technologien entstehen und aufrechterhalten werden können.
Länder und Ländergrenzen sind in diesem Zusammenhang keine Maßstäbe der Zuordnung
und Identifizierung mehr. Transnationale Migration schafft länderübergreifende Beziehungen
und soziale Praktiken, die über das binäre Schema von Emigration und Immigration oder
push und pull hinausführen.8 Migranten interagieren oft mit mehreren Nationalstaaten oder
Kommunitäten oder identifizieren sich mit verschiedenen Gemeinschaften und schaffen so
neue transnationale Zusammenhänge, Organisationen, Milieus, Situationen oder Räume.
Wenn auch die transnationale Perspektive Nationen und nationale Kulturen nicht als
Strukturmerkmale
und
Kategorien
obsolet
macht,9
so
erlaubt
sie
doch
eine
Deterritorialisierung und Dezentralisierung und kann auch ein neues Licht auf übersehene
transnationale Dimensionen bislang als national verstandener Phänomene werfen. Die neue
Perspektive auf transnationale Migration ermöglicht es, die Menschen selbst, die
5
Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik,
München 2002, S. 265.
6
Vgl. dazu Vorschläge in dem Band: Bärbel Kuhn, Holger Schmenk, Astrid Windus (Hrsg.), Europäische
Perspektiven im Geschichtsunterricht, HISTORICA ET DIDACTICA - Fortbildung Geschichte. Ideen und
Materialien für Unterricht und Lehre, Bd. 2, St. Ingbert 2011. Vgl. Monica Juneja-Huneke, Verwobene
Geschichte oder: was hat das Fremde mit der eigenen Geschichte zu tun? In: Alavi/Henke-Bockschatz (Hrsg.),
Migration und Fremdverstehen, S. 193-205, hier S. 204f.
7
Vgl. Patel, Transnationale Geschichte (Anm. 3); Philipp Gassert, Transnationale Geschichte, Version: 1.0, in:
Docupedia-Zeitgeschichte, 16.2. 2010 [1. Januar 2011]; Matthias Middell, Transnationale Geschichte als
transnationales Projekt? Zur Einführung in die Diskussion, in: H-Soz-u-Kult, 12.01.2005,
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=571&type=artikel [1. Januar 2011]; Barbara Lüthi, Gender in
Trans-it: Geschlecht und transnationale Perspektiven, in: Martina Ineichen u.a.(Hrsg.), Gender in Trans-it:
Transkulturelle und transnationale Perspektiven / Transcultural and Transnational Perspectives. Zürich 2009, S.
9-16, 10 und Almut Höfert, Gender in Trans-it: Geschlecht und transnationale Perspektiven, in: Ebd. S. 17-29.
8
Vgl. Barbara Lüthi, Transnationale Migration – Eine vielversprechende Perspektive? (13.04.2005)
http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/type=diskussionen [1. Januar 2011].
9
Vgl. Heinz Schilling, Europa in der werdenden Neuzeit – oder: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man
europäische
Geschichte?“
Rede
am
23.
Sept.
2002,
Universität
Leiden,
http://www.knaw.nl/heinekenprizes/pdf/1.pdf [1. Januar 2011].
4
Migrantinnen und Migranten als aktive Entscheidungsträger und Akteure mit einzubeziehen
und sie nicht als passive Subjekte politischer, sozialer oder ökonomischer Strukturen und
Bedingungen zu verstehen.10
Auch hier können historische Fallbeispiele dazu beitragen, Geschichte als Geschichte von
Menschen, ihren Handlungsmöglichkeiten und -grenzen zu verstehen.
3. Migrationsgeschichte als Erfahrungsgeschichte
Wichtige Anregungen für derartige Zugangsweisen und Fragestellungen kamen bereits von
der Alltagsgeschichte der 1980er Jahre, der Mikrogeschichte und Historischen Anthropologie.
Sie haben die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsdidaktik nicht nur durch ihre Inhalte,
sondern auch durch ihre anderen Fragestellungen und methodischen Anregungen
entscheidend bereichert.11 Inhaltlich werden elementare Erfahrungen von Menschen, von
Frauen und Männern, in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Methodisch kann die „dichte
Beschreibung“
von
symbolischen
Formen,
Worten,
Bildern,
Institutionen
und
Verhaltensweisen, mit deren Hilfe sich die Menschen darstellen, die Bedingtheit der
Handlungsspielräume der Individuen, ihre Einbindung in zeitgenössische Normen, Leitbilder
und Strukturen erfassen.
Lebensgeschichtliche Quellen haben in diesem Zusammenhang einen wichtigen historischen
und hohen didaktischen Wert: Der lebensgeschichtliche Zugang zur Geschichte stellt die
Menschen mit ihrem Erleben, Erleiden, Erfahren in den Mittelpunkt. Statt eines anonymen
Kollektivs werden Individuen vorgestellt, die Namen und Geschichten haben. Geschichte
über die „Lebenswelt” zu erfahren, ermöglicht es, objektive Strukturen sozialer Wirklichkeit
gleichzeitig mit ihren subjektiven Wahrnehmungen zu erfassen. Lebenswelt ist nicht statisch,
sondern verändert sich mit den Menschen und durch die Menschen. Andererseits erschließen
sich die Beziehungen, in denen Menschen zueinander stehen, erst in ihrem lebensweltlichen
Kontext.
Die biografische und autobiografische Zugangsweise über Autobiografien, Briefe und
Tagebücher ermöglicht es, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen zu
konkretisieren und zu nuancieren. Sind die Vorteile dieser Quellengattung gerade für die die
Migrationsgeschichte unbestritten, so ist es sicherlich notwendig, darauf hinzuweisen, dass
Vgl. Barbara Lüthi, Transnationale Migration – Eine vielversprechende Perspektive? (13.04.2005)
http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/type=diskussionen [1. Januar 2011].
11
Vgl. zu „Ego-Dokumenten“ als Quellen im Geschichtsunterricht ausführlicher Bärbel Kuhn, "Hagestolze" und
"alte Jungfern". Lebenswirklichkeiten und Wahrnehmungen von Ehelosen im 19. Jahrhundert als
geschlechtergeschichtliches Lernpotenzial, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2004, S. 71 - 81.
10
5
”Ego-Dokumente” das Ich einer Person nur mittelbar vorstellen. Eine sinnstiftende und häufig
verklärende Rückschau, die Selbstdarstellung und oft eine Selbststilisierung gebieten Vorsicht
hinsichtlich des Wahrheitsgehalts und der Authentizität dieser Quellengattung.
Jenseits dieser Probleme lassen sich über Autobiografien, Briefe und Tagebücher wichtige
Dimensionen des Alltags erschließen. Der biografische Zugang zur Geschichte hat die
offenkundigen und didaktisch besonders wertvollen Vorteile der Lebensnähe und
Anschaulichkeit. Gegenstand biografischer Untersuchung ist nicht das Individuum als fixe
Größe,
sondern
das
Hauptinteresse
gilt
dem
Wechselverhältnis
zwischen
den
gesellschaftlichen Bedingungen und der Prägung der Menschen durch diese Bedingungen, auf
die sie gleichzeitig verändernd einwirken. Indem die Selbstdarstellung und -interpretation der
Handelnden in ihren historischen und sozialen Kontext gestellt werden, ist im Einzelnen das
Allgemeine präsent.
Werden der Konstruktcharakter und die Subjektivität von Autobiografien und damit die
Grenzen der Quellengattung reflektiert, kann gleichzeitig deutlich werden, dass „EgoDokumente“ einen eigenen Wert gerade durch die subjektive Präsentation von Ereignissen,
Erlebnissen, Handlungsweisen, Wahrnehmungen und Gefühlen gewinnen. Die bewusste
sozio-kulturelle Verortung und das Bemühen um soziale Akzeptanz werfen ein besonderes
Licht auf die Gesellschaft, in der die Person lebt.
Um diese Quellengattung mit all ihren Chancen für unsere Fragestellung „Was Menschen
voneinander wussten“ zu nutzen, müssen wir auch nach „Gegenstimmen“ suchen. Seit dem
18. Jahrhundert kamen Reisende und Seeleute oder auch Arbeitsuchende oder auch Sklaven
aus anderen Kontinenten nach Europa. Im 19. Jahrhundert kamen Menschen zum Studium,
als Politiker, als Dienstboten oder als Kunsthandwerker, zum Beispiel für die großen
Weltausstellungen.12 Derzeit werden immer mehr Texte entdeckt, in denen Nichteuropäer
Europa wahrnehmen, kommentieren und analysieren.13 Dazu gehören etwa auch
Wahrnehmungen von eingewanderten Europäern aus Sicht der amerikanischen Bevölkerung
(vgl. den Unterrichtsvorschlag von Michael Guse zu „Fremdbilder von Migranten im
Vergleich: Deutsche Auswanderer in den USA – „Gastarbeiter“ in Deutschland“ LINK).
4. Kulturtransfer und Transkulturelle Perspektiven
12
Vgl. dazu den Beitrag von Angela Schwarz in: Kuhn/Schmenk/Windus (Hrsg.), Europäische Perspektiven im
Geschichtsunterricht. HISTORICA ET DIDACTICA – Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für
Unterricht und Lehre, Bd. 2, St. Ingbert 2011, S. 42-63.
13
Juneja-Huneke, Verwobene Geschichte, S. 202. Vgl. immer noch zentral das in erster Auflage bereits 1976
erschienenen Buch von Urs Bitterli, Die ‚Wilden’ und die ‚Zivilisierten’. Grundzüge einer Geistes- und
Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München, 3. Auflage 2004.
6
Transnationale Geschichte kann sich je nach Erkenntnisinteresse verschiedener methodischer
Zugänge bedienen, zum Beispiel des Vergleichs oder der Transferanalyse. Das
Transferkonzept wurde Mitte der 1980 Jahre vor allem von französischen und deutschen
Germanisten und Literaturwissenschaftlern entwickelt.14 Das Konzept hat im Unterschied
zum
Vergleich
den
Vorteil,
dass
es
die
Prozesshaftigkeit
interkultureller
Vermittlungsvorgänge deutlich zum Ausdruck bringt und die Uminterpretationen und
Adaptationen durch die Aufnahmekultur ebenso in den Blick nimmt wie die Veränderungen,
die der Rezeptionskontext durch den Import eines fremden Kulturguts erfuhr. Es geht nicht
um den Transfer von Kultur in eine andere Kultur, sondern um den Transfer zwischen
Kulturen. Ein nicht zu vernachlässigender Faktor aller Transferprozesse ist die ‚Konjunktur‘
des Aufnahmelandes: Ob und wie Elemente einer fremden Kultur angenommen werden,
hängt weniger von der Überzeugungskraft der Exporteure oder des Transfergutes selbst ab,
als vielmehr von der ‚Nachfrage’ des Empfängers. Weniger der Wunsch nach Export als
vielmehr die Bereitschaft zum Import steuert die Prozesse kulturellen Transfers. Ein sehr
konkretes, anschauliches und für Migrationsgeschichte(n) im Unterricht sicher motivierendes
Beispiel ist die Frage, welche Esskulturen von Migranten mitgebracht (bzw. mitgenommen)
wurden und in unterschiedlicher Weise (im Umfang wie in Variationen, z.B. in Anpassungen
an den vorherrschenden Geschmack) von der Aufnahmekultur angenommen wurde.
Die Transfertheorie geht von der Beobachtung aus, dass der Kulturtransfer notwendig an
bestimmte empirisch fassbare Vermittler gebunden ist. Besonders aufschlussreich können
Fallstudien zu Emigranten sein, weil sich an ihnen viele Grundprobleme des Transfers in
zugespitzter Form ablesen lassen: sie können wertvolles Material liefern für das
Spannungsverhältnis zwischen nationaler und persönlicher Identität, für die dabei
auftretenden Konfliktsituationen und die gewählten Lösungsstrategien.
Während sich transnationale Ansätze in der Regel auf die Zeit des modernen Nationalstaates
seit dem 19. Jahrhundert beziehen, ist die Frage, wann transkulturelle Bewegungen und
Transfers vorliegen, stärker von der Definition von Kultur abhängig und von der Frage, wann
Vgl. Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, hrsg. von Hans-Jürgen
Lüsebrink und Rolf Reichardt, Leipzig 1997; vgl. auch den Bericht von Katharina und Matthias Middell,
Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland, in: Grenzgänge 1 (1994), S. 107-122; vgl.
Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur
europäischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685; vgl. Matthias Middell.
Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000) Heft 1, S.
7-41; vgl. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der
Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28 (2002) S. 607-636; vgl. Michael
Werner, Maßstab und Untersuchungsebene. Zu einem Grundproblem der vergleichenden KulturtransferForschung, in: Lothar Jordan/Bernd Kortländer (Hrsg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch.
Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995, S. 20-33.
14
7
die Grenzen einer Kultur überschritten werden. Transkulturelle Geschichte thematisiert
Überschreitungen ethnisch, religiös, regional, kulturell usw. „gedachter" Grenzen (auch
innerhalb national konstruierter Gemeinschaften).15 So wird etwa das mittelalterliche Europa
als transkultureller Raum christlicher, jüdischer und muslimischer Kulturen verstanden.
Häufig ist von Transkulturalität die Rede, wenn Kulturräume als räumliche Großkategorien
im Sinne von Zivilisationen verstanden werden. Einheiten wie „Europa“, das „Abendland“,
der „Westen“ werden dann Kulturräumen wie „Indien“, „China“, „Orient“, „Islam“ etc.
entgegengesetzt. Transkulturelle Geschichtswissenschaft studiert als Beziehungsgeschichte
Interaktionen
über
Zivilisationsgrenzen
hinaus:
kriegerische
Auseinandersetzungen,
Bewegungen von Menschen, Waren, Kapital und Ideen.16 Jedoch sollte dabei nicht aus dem
Blick geraten, dass auch solche Konzepte wie die Nation Konstrukte sind und bereits eine
bestimmte Interpretation von Geschichte enthalten. Transkulturalität in diesem Sinne ist
ebenso ein (Hilfs)konstrukt im historiographischen Kontext des Zivilisationsparadigmas.17
5. Selbstbilder und Fremdbilder
Für die Untersuchung der vielschichtigen Beziehungen zwischen den Kulturen bleibt die
Zuschreibung von Fremdem und Eigenem von zentraler Bedeutung.18 Dabei ist Fremdheit
keine absolute, sondern eine relationale Größe: sie stellt eine Beziehung her, nimmt eine
Zuschreibung vor, drückt eine Differenz aus. In historischer Perspektive bedeutet dies, dass
Fragen danach gestellt werden müssen, welches die Maßstäbe für die Differenzbestimmung
sind, in welchen Kontexten und nach welchen Kriterien und anhand welcher Kategorien
Unterschiede zwischen Menschen festgelegt werden, wie sie bewertet wurden, ob und wie sie
sich im Verlauf der Geschichte verändert haben. Denn sicherlich spielt hier der in der
Transfer-Theorie verwandte Begriff der „Konjunktur“ eine wichtige Rolle: Prozesse der
Selbstdeutungen und der Fremdzuschreibungen müssen in ihren jeweiligen sozialen,
politischen und kulturellen Kontext eingeordnet werden.
Gerade die Beobachtung, dass Fremdheitszuschreibungen historisch variabel sind, lässt es
sinnvoll erscheinen, dass das Inhaltsfeld „Was Menschen voneinander wussten“ – oder zu
15
Vgl. Philipp Gassert, Transnationale Geschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 16.02.2010,
http://docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte [1. Januar 2011]
16
Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte
und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2003, S. 40
17
Vgl. Höfert, Gender in Trans-it, S. 19f.
18
Vgl. Monica Juneja-Huneke, Verwobene Geschichte oder was hat das Fremde mit der eigenen Geschichte zu
tun? In: Alavi/Henke-Bockschatz (Hrsg.), Migration und Fremdverstehen, S. 193-205, hier S. 199.
8
wissen glaubten – nicht nur als Querschnitt, sondern an einem Beispiel auch als Längsschnitt,
„in historischer Perspektive“ in den Blick genommen wird.
Das im Folgenden ausgeführte Beispiel der deutsch-polnischen Beziehungen soll dazu
Anregungen bieten. Damit wird zugleich an die Unterrichtseinheit von Michael Guse:
Stereotype, Konflikte, Vernichtung. Polenbilder der Deutschen – eine Sequenz zum
Inhaltsfeld 12 (s. weitere Materialien) angeknüpft.19
Entgegen der Feststellung vom Wandel von Fremdheitszuschreibungen und Völkerbildern
steht der Eindruck einer verblüffenden Beständigkeit bestimmter Vorstellungen von Land und
Leuten in Polen einschließlich der Etikettierungen und Bewertungen. Rudolf Jaworski hat
darauf hingewiesen, dass sich die Konstanz nationaler „Images“ aus der Tatsache ergibt, dass
sie weniger rational begründet als emotional empfunden sind. Ein zweiter Grund für ihre
Zählebigkeit liegt in der Ambivalenz ihrer Werturteile.20
So sind in den Bewertungen eines polnischen Nationalcharakters seit dem 18. Jahrhundert
positive wie negative Eigenschaften enthalten. Zum Einen werden beispielsweise die Polen
als freiheitsliebend charakterisiert, zum Anderen als fanatisch, was jeweils eine andere,
jedoch grundsätzlich auf einem ähnlichen Charakterzug basierende Bewertung bedeutet. Je
nach Kontext und politischer Konjunktur, je nach Konstellation und Disposition kann dieser
mit einem positiven oder negativ konnotierten Adjektiv beschrieben werden. Nach Jaworski
kann so der schnelle Wechsel zwischen Polenschelte und Polenliebe seitdem erklärt werden.
Ein gängiges und seit dem 18. Jahrhundert wiederkehrendes Klischee ist das Stereotyp von
der „polnischen Wirtschaft“. Nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert wurde der
Aufbau des altpolnischen Reiches mit diesem Begriff als chaotisch, unwirksam, machtlos und
nicht länger existenzfähig diffamiert und die Teilung so gerechtfertigt. Zu den Vorstellungen
von staatlicher „Unordnung“ kam diejenige einer maroden und faulen polnischen Adelswelt,
der das Bild vom fleißigen, disziplinierten und sauberen Preußen entgegengesetzt wurde. Das
seit drei Jahrhunderten bekannte Stereotyp hat eine doppelte Funktion: die des
Heterostereotyps und die des Autostereotyps. Vor der Negativfolie konnten die als deutsch
erklärten Tugenden umso vorteilhafter zur Geltung kommen.21
19
Vgl. dazu auch die Beiträge von Michael Guse und Jan Kusber in: Bärbel Kuhn, Holger Schmenk, Astrid
Windus (Hrsg.), Europäische Perspektiven im Geschichtsunterricht, HISTORICA ET DIDACTICA Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für Unterricht und Lehre, Bd. 2, St. Ingbert 2011.
20
Rudolf Jaworski, Zwischen Polenliebe und Polenschelte. Zu den Wandlungen des deutschen Polenbildes im
19. und 20. Jahrhundert, in: Das Bild „des Anderen“. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg.
von Birgit Aschmann u. Michael Salewski, Stuttgart 2000, S. 80-89.
21
Vgl. Hubert Orlowski, Stereotype der „langen Dauer“ und Prozesse der Nationsbildung, in: Deutsche und
Polen. Geschichte – Kultur – Politik, hrsg. von Andreas Lawaty und Hubert Orlowski, München 2003, S. 269279, hier S. 273.
9
Das Negativimage von der Rückständigkeit Polens wurde bereits in der Zeit der Romantik
auch positiv gewendet und Polen wurde zu einer Region exotischer Ursprünglichkeit
verklärt.22 Bereits die Teilungen, aber vor allem der Novemberaufstand von 1830, als sich die
Polen gegen die russische Herrschaft erhoben, löste die sogenannte „Große Emigration“ aus.
Nach Niederschlagung des Aufstandes flohen über 9000 polnische Freiheitskämpfer,
hauptsächlich Soldaten, Offiziere und Intellektuelle nach Westeuropa. Überall in Europa
wurden die Polen als die „Sturmvögel der Revolution“ gefeiert.
Die polnischen Emigranten fanden vor allem in Frankreich Asyl und eine neue Heimat. Unter
ihnen waren bedeutende Schriftsteller und Künstler, so etwa der Komponist Frédéric Chopin
oder der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz. Paris wurde zur Hauptstadt eines nicht
existierenden Staates und zum Zentrum der polnischen nationalen Bewegung. Die Polen
waren jedoch nicht einfach Auswanderer, sondern stilisierten sich zu Vorbildern im Kampf
um die Freiheit für ganz Europa, zu Märtyrern nach dem Motto „für unsere und für Eure
Freiheit.“ In vielen Schriften finden sich zugleich Hinweise auf eine stark empfundene
kulturelle Fremdheit und Abneigung gegen den als dekadent empfundenen „Westen“. So
schrieb etwa Adam Mickiewicz: „Ich bin der Meinung, daß wir unseren Richtungen einen
religiösen und moralischen Charakter verleihen müssen, der sich von dem Finanzliberalismus
der Franzosen unterscheidet und dass wir den Katholizismus als Basis wählen müssen. [...]
Vielleicht ist unsere Nation dazu aufgerufen, den Völkern das Evangelium der Nationalität,
der Moral, der Religion und der Verachtung des Budgets zu predigen [...]. Die Gelehrtesten
unter den Franzosen empfinden weder Patriotismus noch Begeisterung für die Freiheit. Sie
beschränken sich darauf, darüber zu reden."23
Das negative Bild, das der polnische Dichter hier von Frankreich entwarf, diente zunächst der
Abgrenzung und als Maßstab für die Rolle Polens in der Geschichte. Er zwang die Franzosen
dadurch zugleich, ihre eigene Position zu schärfen. "Ihr Orient lässt auf meinen Okzident
unerwartete Lichter fallen", schrieb denn auch Jules Michelet an Mickiewicz 24 und brachte
damit zugleich seine Überzeugung von einer „Zivilisations“-grenze zwischen Frankreich und
Polen zum Ausdruck. Mickiewicz spricht hier noch ein anderes Stereotyp an: die enge
Verbundenheit mit der katholischen Kirche. Dieses von Mickiewicz positiv herausgestellte
22
Jaworski, Zwischen Polenliebe und Polenschelte, S. 82
Adam Mickiewicz an Joachim Lelewel, 23.3.1832, Adam Mickiewicz, Correspondance (1820-1855), Paris
o.J., S. 107f. [Übersetzung aus dem Französischen von Bärbel Kuhn]
24
« Votre Orient illumine mon Occident de lueurs inattendues. » Zit. nach Z. L. Zaleski, Une amitié francopolonaise: Mickiewicz, Michelet, Quinet, in: Séances et travaux de l’Académie des sciences morales et
politiques, sept. 1925, S. 97-114, hier S. 101.
23
10
Nationalcharakteristikum wurde im nachrevolutionären Frankreich wie auch im – in weiten
Teilen – protestantischen Deutschland durchaus ambivalent bewertet.25
In Deutschland entstanden “Polenvereine”, die die durchziehenden Polen feierten und
unterstützten. Für viele Deutsche war der polnische Aufstand tatsächlich Vorbild für den
eigenen Kampf für einen freiheitlichen Nationalstaat. Die deutsche Polenbegeisterung war
stark vom polnischen Selbstbild und der polnischen Selbststilisierung als heldenmütigen und
aufopferungsvollen Freiheitskämpfer geprägt. Innerdeutsche Absichten und die Vorstellung,
ein freies, geeintes Deutschland könne nur entstehen, wenn ein freies Polen im Osten
wiedererstehe, verbanden sich.
Die Polenbegeisterung hatte jedoch zugleich schon eine ambivalente Seite: ein Zeitzeuge aus
Mainz berichtete in seinen um 1860 zuerst erschienenen Lebenserinnerungen, dass die
polnischen Offiziere „meist betrunken“ gewesen seien,26 und das Gastgeschenk der Stadt, die
ein Dutzend Offiziere in das vornehmste Bordell der Stadt einlud, gerne angenommen worden
war. Solche Episoden trübten das heroische Bild und das Image von den Vorkämpfern von
Glaube und Moral.27
Grundsätzlich überdauerte das positive Polenbild den Vormärz und herrschte auch noch zu
Beginn der Revolution von 1848. Als aber im Großherzogtum Posen ein Ausgleich mit den
dort lebenden Polen zur Diskussion stand, änderten auch manche Polenfreunde ihre Meinung.
Die Rede des der Linken zugehörigen Abgeordneten Wilhelm Jordan kann als beispielhaft für
den Meinungsumschwung und die veränderte politische „Konjunktur“ gesehen werden:
„Polen bloß deswegen herstellen zu wollen, weil sein Untergang uns mit gerechter Trauer
erfüllt, das nenne ich eine schwachsinnige Sentimentalität. [...] Ich sage, die Politik, die uns
zuruft: gebt Polen frei, es koste, was es wolle, ist eine kurzsichtige, eine selbstvergessene
Politik, eine Politik der Schwäche, eine Politik der Furcht, eine Politik der Feigheit. Es ist
hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen, aus jener träumerischen Selbstvergessenheit,
in der wir schwärmten für alle möglichen Nationalitäten, während wir selbst in schmachvoller
Unfreiheit darniederlagen und vor aller Welt mit Füßen getreten wurden, zu erwachen zu
einem gesunden Volksegoismus, um das Wort einmal gerade heraus zu sagen, welches die
Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen oben anstellt. Aber dieser Egoismus,
25
Vgl. Klaus Ziemer, Das deutsche Polenbild der letzten 200 Jahre, in: Mythen und Stereotypen auf beiden
Seiten der Oder, hrsg. von Hans-Dieter Zimmermann, Guardini Stiftung [2003], S. 9-25.
26
Otto von Corvin, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1880, S. 286 f., zit. nach Helmut
Bleiber/Jan Kosim, Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830-1892, Berlin 1983, S.
367f.
27
Vgl. Heinrich Olschowsky, Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit – typisch ponisch?, in: Deutsche und
Polen, S. 279-288, hier S. 286, mit Verweis auf H. Bleiber/J. Kosim, Dokumente zur Geschichte der deutschpolnischen Freundschaft 1830-1892, Berlin 1983.
11
ohne den ein Volk niemals eine Nation werden kann, wird von den Polenfreunden als höchst
verdammlich bezeichnet. [...] Unser Recht ist kein anderes Recht als das Recht des Stärkeren,
das Recht der Eroberung.“28
Auf einer anderen, subtileren Ebene, wird der Umschwung von der alten Polenfreundschaft
zum neuen Antagonismus von dem Publizisten Gustav Freytag begründet. In einer Reportage
über Posen schildert er seine Wahrnehmung einer Gruppe polnischer Adliger:
„Sie sahen im Licht der untergehenden Sonne aus wie ein schönes Bild von Meisterhand,
wenn sie mir aber in diesem Augenblick anders vorkamen, als eine Bande roher Indianer, […]
gut für Grenzkriege, für Romane und Trauerspiele, aber unbrauchbar für das Leben, so will
ich nie wieder einem freien Mann die Hand schütteln.“29
Alle Bilder tauchen hier auf, die romantische (Selbst)verklärung, wie sie in Europa etwa
durch das Werk des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz bekannt war, das Klischee
von der polnischen Ursprünglichkeit und „Wildheit“ ebenso wie das Stereotyp der
Unfähigkeit, ein Land effizient zu verwalten, das Klischee von der „polnischen Wirtschaft“
also. Das ursprünglich positive Bild von der „Natürlichkeit“ wird hier also bereits gegen die
Polen gewendet und als Rohheit und Aggressivität ausgelegt.30
Mit der Reichsgründung und der Einbeziehung polnischer Bevölkerungsteile in das deutsche
Reich wurde das Polenthema – zumindest aus Reichsperspektive – zu einer innenpolitischen
Minderheitenangelegenheit. Bis zur Jahrhundertwende verlor das deutsche Polenbild mehr
und mehr seine Mehrdeutigkeit und wurde nun vor allem negativ konnotiert.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, mit dem Vertrag von Versailles und der
Wiedergründung eines polnischen Staates erlangten die deutsch-polnischen Beziehungen
einen Tiefpunkt. Die Polenfeindlichkeit der zwanziger Jahre erfasste alle politischen
Gruppierungen und wurde geschürt durch eine Flut von Pamphleten und antipolnischen
Karikaturen (vgl. Unterrichtsvorschlag von Michael Guse). Das deutsche Polenbild war zu
einem eindimensionalen Feindbild geworden.31
In der NS-Propaganda vermischten sich alte antipolnische Vorbehalte mit rassistischen
Schlagworten. Nach 1945 gab es zunächst ein positives ostdeutsches Polenbild und ein
28
Geschichte in Quellen, Bd. 4.2: Das bürgerliche Zeitalter 1815-1914, bearbeitet von Günter Schönbrunn,
München 1980, S. 180-182.
29
William Rogers [d.i. Gustav Freytag], Beobachtungen auf einer Geschäftsreise in das Großherzogtum Posen,
in: Die Grenzboten 1848, Bd. III, Nr. 27, S. 35-43, hier S. 39, zit. nach Hans Henning Hahn/Eva Hahn, Nationale
Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung, in: Hans Henning Hahn (Hrsg.), Stereotyp,
Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, unter Mitarbeit von
Stephan Scholz, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 17-56, hier S. 29.
30
Vgl. dazu auch Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 41.
31
Vgl. Jaworski, Zwischen Polenliebe und Polenschelte, S. 85
12
zurückhaltendes sowie durch den Wunsch nach Revision der Ergebnisse des Zweiten
Weltkrieges auf Seiten der Vertriebenenverbände auch negativ geprägtes westdeutsches
Polenbild. Erst die Ostverträge eröffneten hier wieder Wege der Annäherung. Respekt und
Anerkennung der Kulturleistungen und schließlich 1980 eine erneute Welle der Solidarität
und Sympathie ließ das alte positive Polenbild wieder aufleben – wenigstens so lange, bis
unter Gorbatschow eine reformbereite Sowjetunion die Begeisterung für die polnischen
Freiheitskämpfer wieder relativierte. Anders in der DDR, wo der polnische Protest auf
Ablehnung stieß. Die DDR-Führung funktionalisierte in diesem Zusammenhang antipolnische
Stereotype um zu verhindern, dass die Demokratiebewegung auf die DDR überspringe. Ein
positives, „alternatives“ Polenbild wurde von einer sehr kleinen Minderheit im Kontext der
Kirchen oder unter Intellektuellen, die sich beispielsweise mit polnischer Literatur
auseinandersetzten, gepflegt.32
Diese unterschiedlichen Wellen der deutschen Einstellung zu Polen zwischen Polenliebe und
Polenschelte oder auch die Nuancen innerhalb Deutschlands zeigen, wie wichtig es ist, die
historische Entwicklung einer nachbarschaftlichen Beziehung kontinuierlich zu begleiten und
nicht nur in ihren negativen oder positiven Extremen zu beleuchten. Dann gerieten auch die
Kontinuitäten und Spannungsfelder der deutsch-polnischen Beziehungen in den Blick als
längerfristige Erklärungsmuster für gegenwärtige Gemengelagen. Wie Hans-Henning Hahn
feststellt, scheinen gegenwärtig die polnischen Deutschen-Stereotypen und die deutschen
Polen-Stereotype relativ ausgeglichen. Doch warnt er davor, deshalb schon anzunehmen, dass
die negativen Stereotypen nicht mehr existierten. Bilder vom Anderen, Fremden können
jederzeit wiederbelebt werden, wenn das Selbstbild auf diese Weise gestärkt werden soll.
Denn, so Hahn, „solche Bedürfnisse gestalten die Stereotypen viel stärker als irgendwelche
realen Erfahrungen, denen sie höchstens ihr ‚Bildmaterial’ entnehmen.“ 33
Für eine von differenziertem historischen Denken geprägte Urteilskompetenz ist es
notwendig, Integrations- und Abgrenzungsfunktionen von Stereotypen in Raum und Zeit im
historischen Kontext zu verorten und zu untersuchen, warum eine Gemeinschaft sich ein
bestimmtes Stereotyp zu bestimmten Zeiten aneignet, es zur Konstruktion des Selbstbildes
also zu benötigen glaubte.34
Wie die deutsch-polnischen Beziehungen können im Unterricht etwa auch die deutschfranzösischen Beziehungen im historischen Wandel thematisiert werden. Hierzu liegt mit dem
32
Vgl. Ziemer, Das deutsche Polenbild, S. 19.
Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 40.
34
Vgl. so auch Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 28.
33
13
deutsch-französischen Geschichtsbuch umfangreiches und gut aufbereitetes Material vor, das
auch geeignet ist, im bilingualen Geschichtsunterricht eingesetzt zu werden. Das Buch macht
den erwähnten „regard croisé“ explizit zum methodischen Zugriff zum Thema: Bilder von
Deutschland vs. Bilder von Frankreich.35 Die Analyse bilateraler Beziehungen kann
eingebettet werden in eine breiter angelegte Thematisierung von Nationalstereotypen. Hier
bieten sich Impulse aus der Völkertafel aus dem 18. Jahrhundert an.36
Der erste Band erschien 2006: Histoire/Geschichte – Europa und die Welt seit 1945, Leipzig (Ernst Klett
Schulbuchverlag) 2006, französische Ausgabe: Histoire/Geschichte – L'Europe et le monde depuis 1945, Paris
(Éditions Nathan) 2006, vgl. dazu: Bärbel Kuhn, Frankreich und Deutschland in Europa und der Welt.
Anmerkungen zum gemeinsamen deutschen und französischen Geschichtsbuch, in: Geschichte lernen 116
(2007), S. 61-62. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die ausgezeichnete Untersuchung von Michael Jeismann,
Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und
Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart 1992.
36
Vgl. dazu den Beitrag von Michael Jeismann, Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches
Handeln? In: Jürgen Link, Wulf Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen nationaler Identität, Klett-Cotta, Stuttgart 1991, S.84-93. Vgl. zur
„Völkertafel“ Franz K. Stanzel, Europäer. Ein imagologischer Essay, zweite Auflage Heidelberg 1998.
35
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