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Erklärungsmodelle – die
Zeit vor dem Suizid
AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid
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Inhaltsverzeichnis
Einführung zum Thema Suizid
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Was ist Suizidalität?
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Situation in Deutschland
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Wie entwickelt sich Suizidalität?
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Risikogruppen17
Psychische Erkrankungen
18
Erklärungsmodelle19
Gedanken zur Suizidprävention
21
Fragen an Prof. Wolfersdorf
23
Beide Auflagen dieser Broschüren wurden gefördert durch die
Hauptverwaltung der Techniker-Krankenkasse Hamburg. Danke!
Herausgeber:
AGUS e.V.
Bundesgeschäftsstelle
Markgrafenallee 3a
95448 Bayreuth
Tel. 0921/150 03 80
[email protected]
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Autor:
Prof. Dr. Dr. Manfred Wolfersdorf,
Bezirkskrankenhaus Bayreuth
1. Auflage 9/2012
2. unveränderte Auflage 6/2014
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Vorwort
In der AGUS-Broschürenreihe greifen wir Themen auf, die Suizidhinterbliebene häufig äußern. Dazu gehört die Frage, was in einem Menschen vorgeht,
der sich das Leben nehmen will.
Bei den zermürbenden Bemühungen, den Suizidverstorbenen zu verstehen und nachzuvollziehen was passiert ist, hat die Zeit vor dem Suizid einen hohen Stellenwert. Es gibt zwar viele Beiträge zu psychischen Erkrankungen, aber diese reichen nicht aus für die eigentlichen, brennenden Fragen
Suizidhinterbliebener.
Fast allen Suizidtrauernden gehen immer wieder die Stunden, Tage, Wochen
vor dem Suizid durch den Kopf. Gab es Anzeichen, wie habe ich reagiert, welche Worte sind gefallen? Abschiedsbriefe ermöglichen manchmal ein kurzes
Schlaglicht auf die Gedanken und Gefühle des Verstorbenen. Viele suchen
nach Hinweisen, was in den Verstorbenen vorgegangen ist. Manche sandten
keine erkennbaren Signale aus, andere drohten seit Jahren mit dem Suizid,
einige veränderten sich im Verhalten deutlich, ohne dass Todesgedanken vermutet werden konnten und wieder andere litten unter psychischen Erkrankungen. Nicht selten müssen Familien große Belastungen schon vor dem Suizid ertragen. Aber es gibt auch Angehörige, die der Suizid wie ein Blitz aus
heiterem Himmel trifft.
Diese Broschüre beschäftigt sich daher mit Erklärungsmodellen zu der Zeit
vor dem Suizid und der präsuizidalen Entwicklung aus psychiatrischer Sicht.
Seit mehr als hundert Jahren beschäftigt sich die Psychiatrie mit Fragestellungen zur Suizidalität. Praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Forschungen führen zu Erkenntnissen, die vor allem der Suizidprävention zu
Gute kommen. Aber auch für Suizidtrauernde kann dieses Wissen eine wertvolle Hilfe sein. Bei der AGUS-Jahrestagung 2008 hielt Prof. Wolfersdorf einen vielbeachteten Vortrag, aus dem er den Beitrag für dieses Heft erstellte.
Dafür danken wir Prof. Wolfersdorf!
Kenntnisse über die Abläufe vor dem Suizid ändern nichts mehr an dem,
was passiert ist. Aber sie können dazu beitragen, versöhnlicher mit dem
Verstorbenen umzugehen oder die eigenen Reaktionen klarer einzuordnen.
Elisabeth Brockmann
AGUS e.V. – Bundesgeschäftsstelle
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Persönliche Vorbemerkungen
Suizid
Erklärungsmodelle, präsuizidale
Entwicklungen, psychische Erkrankungen
von Prof. Dr. Dr. Manfred Wolfersdorf
1. PERSÖNLICHE VORBEMERKUNGEN
Ich möchte vorausschicken, warum ich mich mit diesem Thema beschäftige.
Mit 17 Jahren hatte ich ein Urerlebnis. Mit meiner Jugendfreundin besuchte
ich am Nachmittag ein Kino. Wir waren bis auf einen jungen Mann, der mir
gut bekannt war, die einzigen. Er hat sich in der folgenden Nacht umgebracht.
Dieses Ereignis hat mich über Jahrzehnte hinweg immer wieder begleitet.
Als Psychiater und Psychotherapeut beschäftige ich mich seit 1975 mit Suizidalität. In den 34 Jahren meiner Tätigkeit erlebte ich 15 Suizide von Menschen, die ich selbst behandelt hatte. In einer Forschungsgruppe untersuchten
wir über 1.000 Suizide von Patienten, um mehr zu erfahren. Eine Publikation
zum Thema „Nach einem Suizid“ veröffentlichte vor zwei Jahren eine Regensburger Arbeitsgruppe. Das Ergebnis: viele Fragen und wenig Antworten.
Suizidalität ist eigentlich die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Was wir im Bereich der Psychiatrie bisher zur Suizidalität wissen, möchte ich
im Folgenden weitergeben.
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Einführung zum Thema Suizid
2. EINFÜHRUNG ZUM THEMA SUIZID
Suizidprävention ist eine der wichtigsten notfallpsychiatrischen Aufgaben
im ambulanten wie stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen und
psychosomatischen Versorgungsfeld.
Die Suizidzahl 2006 lag bei 9765 Suiziden (7225 Männer) was einer Suizidrate von 17,9 bei Männern und 6,0 bei Frauen) auf 100 000 Einwohner
entspricht.
Wichtige Risikogruppen für Suizid sind:
- psychisch Kranke (Depression, Schizophrenie, Suchterkrankung, Angst bzw. Persönlichkeitsstörung)
- Menschen in besonders schwierigen Lebenssituationen
(alte Männer, junge Menschen, belastende körperliche Erkrankung)
- Menschen mit bereits durchgeführten Suizidversuchen bzw. Suizidabsichten.
Grundprinzipien der Suizidprävention:
- Verhütung der Umsetzung von Suizidideen in Suizidabsicht und aktuelle
Suizidhandlung
- Zeitgewinn für optimale Therapie und Fürsorge
- Minderung von aktuellem Leidensdruck, von Handlungsdruck und von
Hoffnungslosigkeit. Ziel: der Suizident verzichtet (vorerst) auf eine
suizidale Handlung.
Wichtige Faktoren in der Suizidprävention sind:
- Beziehung
- Diagnostik von Suizidalität und psychischer Grundkrankheit
- Management der aktuellen Situation („sichernde Fürsorge“,
„Kommunikation und Kontrolle“)
- Krisenintervention (psycho-therapeutisch und psycho-pharmakologisch)
sowie Behandlung der Grundkrankheit unter Einbeziehung der Suizidalität
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Einführung zum Thema Suizid
Entwicklungen über die Jahrhunderte
Das Thema Selbsttötung begleitet die Menschen, seit es sie gibt. Es ist über
die Jahrhunderte hinweg sehr unterschiedlich darüber geurteilt worden, von
Suizid als Pflicht bis Suizid als Ausdruck von Sünde, von der Missachtung bis
hin zur Verherrlichung des sogenannten Freitodes.
Anhand einiger Definitionen der letzten Jahrhunderte möchte ich die Entwicklungen bei der unterschiedlichen Einordnung des Suizids aufzeigen:
Paul Federn (1929), einer der ältesten Psychoanalytiker um Sigmund Freud,
war einer der ersten, der sich mit der Frage nach dem Suizid beschäftigte. Er
hat zum Suizid formuliert:
„Kaum jemals bringt jemand sich um, solange eine Person, die für den
Gefährdeten maßgebend ist, mit dem sich sein Über-Ich identifiziert oder die
sein Über-Ich gebildet hat, oder eine Person, die er liebt, ihn, so wie er ist,
am Leben erhalten will, und das unter allen Bedingungen“.
Damit hat Paul Federn zwei wichtige Aspekte herausgehoben. Suizid hängt
zusammen mit den persönlichen Werten, die ein Mensch hat, und mit Beziehungen und erlebten oder geglaubten Wertverlusten.
Esquirol (1838) schrieb in einem Lehrbuch:
„Der Selbstmord bietet alle Merkmale von Geisteskrankheit.“
Bis dahin galt ein religiöses Paradigma für Suizidalität. Wer sich das Leben
genommen hat, hat sich seiner religiösen Verpflichtung entzogen und damit
schwer versündigt. Esquirol aber hat erkannt: Menschen, die sich mit dem
Gedanken, sich das Leben zu nehmen, beschäftigen, sind in einem psychischen Ausnahmezustand. Damit wurde das Thema Suizidprävention/Suizid zum Thema der Medizin. Das ist das große Verdienst von Esquirol.
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Einführung zum Thema Suizid
Ringel (1953):
Suizid als „Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung“ Erwin Ringel hat im Wiener Krankenhaus alle Patienten mit Suizidversuch
untersucht. Er fand heraus, dass es vorher eine Zeit gibt, in der sich die
Menschen wie auf einem Hohlweg auf Suizidalität zu bewegen. Mit der Einführung des Krankheitsbegriffs hat er Krankenkassen gezwungen, Suizidgefährdete als Kranke zu behandeln.
Das Thema Suizidalität verschob sich weg von der Theologie hin zur Psychiatrie, von den Philosophen zu den Psychotherapeuten.
Suizidalität in Deutschland
Derzeit sterben ca. 10.000 Menschen pro Jahr an Suizid in Deutschland, es
gibt weit über 100 000 Suizidversuche pro Jahr. Von jedem Suizid sind nach
WHO ca. sechs nahestehende Personen betroffen. Prof. Schmidtke aus
Würzburg, der das Nationale Suizidpräventionsprogramm leitet, plädiert sogar für 6 bis 23 Personen. Berücksichtigt werden müssen Angehörige, aber
auch die Krankenschwester, der zugehörige Arzt usw. Die Betroffenheit gilt
für alle, nicht nur für Angehörige.
Alle 47 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch durch Selbsttötung.
Alle 4 Minuten versucht ein Mensch sich das Leben zu nehmen.
In den letzten 10 Jahren starben mehr als 110 000 Menschen durch Suizid
und weit über 1 Million versuchten, sich selbst zu töten. Bis zu etwa einer
Million Menschen sind vom Suizid eines nahe stehenden Menschen betroffen.
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Einführung zum Thema Suizid
Todesursachen in Deutschland 2005
Todesursachen
Verkehrsunfälle
[Statistisches Bundesamt]
Mord und Totschlag [Bundeskriminalamt]
Illegale Drogen
[Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung]
AIDS
[Robert Koch Institut]
Anzahl Verstorbene
5 458
869
1 326
720
(Summe der bisher genannten Todesursachen: 8 373)
Suizid [Statistisches Bundesamt]
10 260
Die Zahl der Suizidtoten ist doppelt so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten.
Aber ich sage immer etwas spöttisch: Der ADAC hat die größere Lobby.
Gesundheitspolitische Aktivitäten
Gegenwärtig gibt es verschiedene gesundheitspolitische Aktivitäten zum Thema Suizidalität und Suizidprävention. Der Gesundheitspolitik ist dieses Thema
endlich wichtig geworden:
a)Nationales Suizidpräventions-Programm (NASPRO) für Deutschland
(seit 2003)
b) „Greenbook“ der EU-Kommission für Gesundheit (Oktober 2005)
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Einführung zum Thema Suizid
c)„Gesundheitsziele.de AG Depression“ des Bundesministeriums für
Gesundheit (seit 2004)
d)S3/NV-Leitlinie „Unipolare Depression“ verschiedener Psychiatrischer
Gesellschaften unter Leitung AWMF/ÄZQ
Suizidalität – ein Spannungsfeld
Selbsttötungen beschränken sich nicht auf den Bereich unseres psychiatrischen Versorgungssystems. So gibt es das Thema Suizid in der
Kriegsführung oder denken Sie an die Selbstmordattentate. Es gibt die religiösen Suizide der Märtyrer, die altruistischen Suizide wie von Pater Kolbe, der sich im KZ für einen polnischen Familienvater umbringen ließ.
Damit will ich darauf hinweisen, dass Suizid ein sehr breites Thema ist:
- Freizeitrisikoverhalten
- autoaggressives Verhalten mit suizidaler Intention bzw. Inkaufnahme der
Selbsttötung
- suizidales Verhalten als Ausdruck einer Selbstwertkrise
(narzisstische Krise)
- suizidales Verhalten als Ausdruck einer Wendung der Aggression gegen
sich selbst
- altruistisch erweiterter Suizid (Mitnahmesuizid)
- fremdaggressiv erweiterter Suizid (z. B. Geisterfahrer)
- Opfer-Suizid (für andere Menschen oder eine Überzeugung sich töten
lassen)
- Massensuizid (Tötung - Selbsttötung)
- Mörder-Suizid („murder-suicide“, Kamikaze-Selbstmord u. ä.)
- sog. Freitod (Selbsttötung in Abwesenheit psychischer, somatischer,
sozialer Not)
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Was ist Suizidalität?
3. SUIZIDALITÄT – WAS MEINT MAN ZU GLAUBEN,
WAS DAS IST?
Definition von Suizid (Wolfersdorf):
„Suizidalität meint die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen
oder durch Handelnlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches
Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen.“
Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich, tritt jedoch häufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf (medizinisch-psychosoziales Paradigma). Suizidalität ist bewusstes Denken und Handeln und zielt
auf ein äußeres oder inneres Objekt, eine Person, ein Lebenskonzept. Suizidales Verhalten will etwas verändern, den Anderen, die Umwelt, sich selbst in
der Beziehung zur Umwelt.
Psychodynamisch ist Suizidalität ein komplexes Geschehen aus Bewertung
der eigenen Person, der Wertigkeit in und von Beziehungen, aus Einschätzung von eigener und anderer Zukunft, der Veränderbarkeit eines unerträglich
erscheinenden Zustandes, aus durch psychische und/oder körperliche Befindlichkeit verändertem Erleben.
Motivational spielen appellative, manipulativ-instrumentelle, altruistische sowie auto- und fremdaggressive Elemente eine Rolle.
Suizidalität ist meist kein Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern von Einengung durch objektive und/oder subjektiv erlebte Not, durch
psychische und/oder körperliche Befindlichkeit bzw. deren Folgen, durch gesellschaftlich-kulturelle bzw. ideologische Rahmenbedingung. Die Benennung
„Freitod“ ist für den Großteil suizidaler Menschen/Suizide falsch.
Wir müssen dabei heute zur Kenntnis nehmen, dass es eine Suizidalität auch
außerhalb von Medizin/eines Störungskonzeptes gibt, denken Sie an den
Opfertod der Märtyrer, an Amok oder an Terroristensuizide als Methode der
Kriegsführung (siehe oben).
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Was ist Suizidalität?
Erläuterungen:
Alles was sich in Gedanken und Handlungen abspielt und sich mit dem Ziel
der Selbsttötung bzw. dem Inkauf nehmen des Versterbens beschäftigt, ist
Suizidalität. Beim Suizid ist der Ausgang immer der Tod des Handelnden,
auch wenn der Tod vier Wochen später auf der Intensivstation eintritt.
Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich. Denken Sie dabei auch
an ältere Menschen, die Fragen stellen wie „Was hat mein Leben noch für
einen Sinn?“.
Wir müssen mit offenen Fragen leben. Ich glaube nicht, dass jeder von uns in
jeder Minute eine Antwort auf seine Fragen hat.
Wenn Suizid grundsätzlich allen Menschen möglich ist, dann stellt sich
die Frage: Was bringt manche Menschen näher an dieses Phänomen als
andere?
Suizid ist bewusstes Denken und Handeln. Ich glaube, wir müssen es als
Betroffene akzeptieren, dass Suizid eine Entscheidung ist, eine Entscheidung
gegen das, was bisher wichtig war.
Suizid ist meist kein Ausdruck von Freiheit oder Wahlmöglichkeit. Rein statistisch müsste es den Suizid in völliger Freiheit auch geben, aber ich habe es
noch nie erlebt. Es ist immer eine subjektive Not, die jemand erlebt. So ist das
Wort „Wahlfreiheit“ für die allermeisten Patienten schlicht und einfach falsch.
Es hat nichts mit Freiheit, sondern mit der Einengung von Wahlmöglichkeiten
zu tun.
Als Beispiel für eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten nach einem Suizidversuch zitiere ich die Brüder Grimm „Stadtmusikanten“: Der Esel sprach zum
Hahn:
„Zieh mit uns fort, etwas besseres als den Tod findest du überall.“
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Was ist Suizidalität?
Beschreibung von Suizidalität:
• Wunsch nach Ruhe, Pause, eher passive Suizidalität
- Unterbrechung im Leben (mit
dem Risiko von Versterben)
- Todeswunsch - jetzt oder in einer
unveränderten Zukunft lieber tot
sein zu wollen.
• Suizidgedanke: Zunehmender Handlungsdruck
- Erwägung als Möglichkeit;
- Impuls (spontan sich aufdrängend,
zwanghaft)
• Suizidabsicht
- mit bzw. ohne Plan,
- mit bzw. ohne Ankündigung,
Zunahme des Handlungsrisikos
• Suizidhandlung aktive Suizidalität
- vorbereiteter Suizidversuch,
begonnen und abgebrochen
- durchgeführt (selbst gemeldet,
gefunden)
- gezielt geplant, impulshaft
durchgeführt
Suizidtendenzen in Deutschland
Die Suizidrate ist die Anzahl der Suizide auf 100.00 Einwohner und wird
bei Untersuchungen als Vergleichsgröße genannt:
1990 hatten wir 13.924 Suizide, die Suizidrate war bei 17,5
2007 hatten wir 9.402 Suizide, bei einer Suizidrate von 11,4
D.h. wir haben in der Tendenz insgesamt einen Rückgang der Suizide.
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Situation in Deutschland
Wir könnten dies der Suizidprävention mit einem besseren Wissen um
Suizid zuschreiben. Es könnte aber auch eine der üblichen Jahrhundertschwankungen sein. Es gibt Untersuchungen in anderen Ländern die zeigen,
dass die Besserung der Depressionsbehandlungen und das Angebot von Hilfseinrichtungen wie z.B. der Telefonseelsorge korreliert mit dem Rückgang der
Suizide.
Weltweit haben wir ein Überwiegen der Männer bei Tod durch Suizid, aber ein
Überwiegen der Frauen bei suizidalen Handlungen die überlebt werden.
Anteil älterer Menschen an Suiziden
Die Suizidrate steigt mit zunehmendem Alter, bei Männern in ganz anderen
Dimensionen wie bei Frauen.
Anteil Männer über 60 Jahre
• an Gesamtbevölkerung
• an den Suiziden
22,1 %
40,2 %
Anteil Frauen über 60 Jahre
• an Gesamtbevölkerung
• an den Suiziden
27,8%
49,3 %
(Schmidtke A, Sell R, Löhr C (2008) • Epidemiologie von Suizidalität im Alter.
Z Gerontol Geriat 41: 3 – 13)
Jeder 2. Suizid einer Frau wird von einer Frau über sechzig begangen.
Bei Frauen über siebzig sind es sogar 32,0 %, bei Männern über 70 Jahre
23,6 % der Suizide.
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Wie entwickelt sich Suizidalität?
4. PRÄSUIZIDALE ENTWICKLUNGEN WIE ENTWICKELT SICH SUIZIDALITÄT?
Präsuizidales Syndrom
Damit bezeichnet man die Zeit vor einer suizidalen Handlung. Dieser Zeitraum
ist nicht definiert. Er kann Jahre, aber auch wenige Tage umfassen.
Der wichtige Begriff aus Erwin Ringels Definition ist das Stichwort Einengung. Damit beschreibt er, dass ein Mensch aufgrund seiner inneren Entwicklung sämtliche Kontakte nach außen beendet, immer mehr innerlich und
äußerlich vereinsamt. Dies kann letztendlich zur suizidalen Handlung führen;
die zwischenmenschlichen Beziehungen haben ihre bindende Kraft verloren.
Der Schmerz ist größer als die Bindungskraft an den Partner, die Familie oder
an Gott.
Sobald der Gedanke auftritt „Wenn ich nicht mehr am Leben bin, ist das besser für meine Umwelt“, dann ist das hoch gefährlich. Damit wird positiv besetzt
was vorher negativ belegt war.
Zeitraum
Der „Zeitraum“ des präsuizidalen Syndroms ist nicht definiert. Man kann darunter verstehen
1. Die Entwicklung seit dem erstmaligen Auftreten einer Symptomatik, einer
Konflikt- und Belastungssituation bzw. einer lebensverändernden Situation
bis hin zum Auftreten von Suizidideen
2. Den Zeitraum vor einer suizidalen Handlung z. B. vom erstmaligen Auftre ten von Suizidideen bis zur Handlung selbst
Der erste Zeitabschnitt umfasst Monate bis Jahre, letzterer kann Minuten bis
wenige Wochen dauern.
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Wie entwickelt sich Suizidalität?
Nur etwa 50-60 % aller Menschen, die Suizid begehen, sprechen vorher davon. Das begrenzt unsere Hilfsmöglichkeiten. Der Zeitraum der o.g. Einengung ist nicht definiert. So ist z.B. bei Menschen mit Migrationhintergrund das
5. bis 7. Jahr der gefährlichste Zeitraum, eine Entwicklung über einen langen
Zeitraum.
Was empfindet ein Mensch in dieser präsuizidalen Zeit?
- Nicht (-mehr) Aushalten-Können einer subjektiv „unerträglichen“ Belastung
und/oder Kränkung
- Subjektiv unerträglicher psychischer Schmerz
- Glaube oder Überzeugung, keine Freiheitsgrade mehr zu haben
- Schwer kontrollierbar erscheinende aggressive (selbst- und fremdaggres sive) Impulse
- Gefühle von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit
- Gefühle von Zorn, Wut, „Rache“
- Starres, rigides Denken
Ein wichtiger Punkt ist der Glaube der Person, keine Freiheitsgrade, keine
Möglichkeit zur Veränderung, zur Neuentscheidung mehr zu haben - das Gefühl der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Hinzu kommen häufig autoaggressive Impulse.
Stadien präsuizidaler Entwicklungen nach Prof. Walter Pöldinger
(1929 – 2002):
Ein wichtiger Aspekt Pöldingers:
Bis zur Suizidhandlung gibt es eine Entwicklung. Menschen, die sich mit dem
Gedanken an Suizid beschäftigen, setzen häufig Appelle, Hinweise oder Hilferufe. Sie befinden sich in einem inneren Zustand der Ambivalenz: Ich werde
mir das Leben nehmen, weil ich so nicht mehr leben kann. Der andere Pol ist:
Ich möchte eigentlich leben und niemand kann mir helfen.
Leider senden nur knapp über die Hälfte der Betroffenen Appelle.
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Wie entwickelt sich Suizidalität?
Wie entwickelt sich Suizidalität?
Was kann dieser Appell sein?
- Suizid ist ein äußerst breites Thema, ebenso breitgefächert können Appelle
sein, wie z.B. „Ich kann so nicht mehr weiterleben“.
- Menschen die über Suizid reden, beschäftigen sich mit dieser Thematik.
Das muss aufgegriffen werden.
- Ca. 40 % der indirekten Appelle oder Zeichen sind nicht verstehbar für die
Umwelt. Oft kann man die Zeichen erst im Nachhinein deuten. Das ist bei
vielen Dingen der Fall, die wir in der Entwicklung der Menschen zum Suizid
hin erleben, wo wir an die Grenzen unserer Deutungsfähigkeit stoßen.
Hilferufen, die man als solche deutet, sollte man nachgehen.
- Was kann passieren, wenn die Frage nach suizidalen Gedanken verneint
wird? Die wichtigste Konsequenz bei weiter bestehender Unsicherheit ist,
trotzdem im Gespräch zu bleiben. Wenn nämlich jemand nicht mehr
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Risikogruppen
darüber redet, wissen Sie nicht, wie er sich entschieden hat. Wir erleben oft,
dass es Patienten aufgrund einer inneren Entlastung besser geht. Ich habe
mir angewöhnt zu fragen: Warum geht es Ihnen eigentlich besser, was gibt
es für Gründe dafür.
5. WELCHE MENSCHEN SCHEINEN BESONDERS GEFÄHRDET – SOGENANNTE RISIKOGRUPPEN
- Menschen mit bereits vorliegender Suizidalität:
Suizidankündigungen (Appell in der Ambivalenz); suizidale Krise; nach
einem Suizidversuch ( 10 % Rezidiv mit Suizid)
- Alte Menschen: mit Vereinsamung, mit schmerzhaften, chronischen, ein schränkenden Krankheiten, nach Verwitwung, mit psychischen und körper lichen Erkrankungen (Komorbidität)
- Junge Menschen: in Entwicklungskrisen, bei Beziehungskrisen (innere
Vereinsamung), Drogen-, Ausbildungsprobleme, familiäre Konflikte
- Menschen mit psychischen Erkrankungen: Depressive (primäre
Depression, depressive Zustände, reaktive Depression), Suchtkranke
(Alkoholkrankheit, illegale Drogen), Schizophrenie, Angststörungen
- Menschen in traumatisierten Situationen und Veränderungskrisen:
Beziehungskrisen, Partnerverlust, Kränkungen; Verlust des sozialen, kultu rellen Lebensraumes, Identitätskrisen; chronische Arbeitslosigkeit; Krimi nalität, nach Verkehrsdelikten (z.B. mit Verletzung, Tötung eines anderen)
- Menschen mit schmerzhaften, chronischen, lebenseinschränkenden, verstümmelnden körperlichen Erkrankungen (insbesondere des Bewe gungs- und zentralnervösen Systems), terminale Erkrankungen mit
Siechtum und extremer Pflegebedürftigkeit
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Psychische Erkrankungen
6. PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN UND SUIZID
Ein hoher Anteil der Menschen, die sich suizidierten, litten an einer psychischen Erkrankung. 60 % aller Suizidenten sind depressiv krank gewesen.
Bei Psychosekranken sind es vor allem die jungen psychotischen Männer, die
bei wiederholtem Auftreten der Krankheit gefährdet sind.
Einige psychopathologische Faktoren weisen bei der Depression auf ein
erhöhtes Suizidrisiko hin, dazu gehören vor allem die Hoffnungslosigkeit
und Wertlosigkeit.
Wenn man den Verlauf einer Erkrankung berücksichtigt, ist die Suizidalität am
höchsten bei
- Depression: in der akuten Erkrankungsphase, insbesondere bei Ersterkrankungen
- Schizophrenie: bei Wiedererkrankung (2.-5. Wiedererkrankung) sowie bei
suizidfördernder Psychopathologie
- Alkoholabhängigkeit: eher gegen Ende des Suchterkrankungsverlaufes
Pöldinger: „Wenn es uns gelingt, die Handlung depressiv kranker Menschen um 50 % zu verbessern, reduzieren wir die Suizidrate um 50 %.“
Die Bedeutung psychischer Erkrankungen ist nicht bestreitbar. Allerdings
kann sich suizidales Denken und Handeln auch außerhalb einer akuten
psychischen Erkrankung manifestieren.
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Erklärungsmodelle
7. UNSERE HEUTIGEN MODELLE ZUR
ENTSTEHUNG VON SUIZIDALITÄT
Es gibt verschiedene Verständnismodelle zu Suizidalität, zwei davon möchte
ich hier aufgreifen.
Krisenmodell
Wenn sich Suizidalität in einer belastenden Lebenssituation entwickelt, so
kann man das mit dem Krisenmodell erklären.
Definition von Krise (nach Sonneck 1997):
„Verlust des seelischen Gleichgewichtes bei Konfrontation mit Ereignissen
und Lebensumständen, die nicht bewältigt werden können, weil diese von Art
und Ausmaß die Fähigkeiten und Hilfsmittel zum Erreichen von Lebenszielen
oder Bewältigung einer Lebenssituation überfordern“.
Wie bewältigen wir Krisen: z.B. durch Schlafen oder mit einem anderen reden.
Krisen gibt es aus vielerlei Gründen. Typisch für Krisen, die suizidal sind, ist,
dass sie bewältigt werden müssen, da sonst die Welt untergeht.
Außerdem ist typisch, dass Hilfe nicht mehr funktioniert. Sie wird oft nicht in
Anspruch genommen, weil man überhaupt nicht auf die Idee kommt. Diese
Hemmung oder Unfähigkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, trifft insbesondere
Männer. Diese Situation ist von Unruhe und Verzweiflung geprägt und es fallen Entscheidungen. Es wird Suizid, Selbstverletzung, Trinken usw. gewählt.
Ein weiteres Merkmal suizidaler Krisen ist die große Not, die psychische Erkrankte empfinden, wie z.B. in einer Depression.
Trotzdem bleibt die Frage: warum bringen sich Männer um, die nicht depressiv
erscheinen, Schüler, die sozial eingebunden sind. Ich bin auf diese Thematik
gestoßen, weil ein Patient sich suizidiert hat und ich habe es nicht verstanden.
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Erklärungsmodelle
Krankheitsmodell
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Gedanken zur Suizidprävention
Das Krankheitsmodell besagt: Menschen, die an Suizid versterben, gehen
mit einer biologischen Anlage durchs Leben (Biologische Disposition). Das
ist noch keine Krankheit! Wenn aber ein auslösendes inneres oder äußeres
Lebensereignis hinzu kommt, kann sich eine Krankheit entwickeln und in der
Folge Suizidalität mit sich bringen.
Bekannt ist die biologische Disposition für Impulskontrollstörungen bzw. Störung des serotonergen Systems.
Gefährdet sind vor allem Menschen, die im Gehirn zu wenig Serotonin haben. Serotonin ist eine chemische Substanz, die für Wohlbefinden sorgt und
manchmal auch als „Glückshormon“ bezeichnet wird. Vor allem bei Männern
haben wir damit eine biologische Grundlage, wie wir sie auch bei der Depression und der Impulskontrollstörung haben.
8. GRUNDGEDANKEN AUS DER
SUIZIDPRÄVENTION
In der Regel heißt Suizidprävention, versuchen zu verstehen: Was führt mich
in diese Situation, so dass ich keinen Weg mehr sehe?
Über den Verlauf von Suizidalität haben wir bestimmte Vorstellungen, die mit
Einengung und Zeichensetzung zu tun haben. Beim Erkennen eventueller
Zeichen darf nicht vergessen werden: unsere eigene Verfassung bestimmt
immer auch die Wahrnehmung anderer Menschen.
An der Universität Ulm, meiner früheren Arbeitsstelle, haben wir herausgefunden, dass Menschen mit schwerer Suizidgefährdung nicht in der Lage sind,
sich an veränderte Außenreize anzupassen.
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Gedanken zur Suizidprävention
Suizidprävention besteht aus Zeitgewinn. In den Entwicklungsstadien von Pöldinger würde das die Rückführung in ein früheres Stadium bedeuten: vom
Entschluss zur Ambivalenz, von der Ambivalenz zum Erwägungsstadium, um
sich dann jeweils die Situation mit äußerer Hilfe noch mal anzuschauen.
Eine absolute Suizidprävention gibt es nicht, auch nicht unter optimalen
Therapie-, Betreuungs- und Kontrollbedingungen.
Auch der Patient hat eine Verantwortung, nämlich seine Not deutlich werden
zu lassen.
MEINE PERSÖNLICHE SCHLUSSBEMERKUNG:
Sich mit Suizidalität zu beschäftigen, heißt, sich mit Lebensfragen zu
beschäftigen.
Dabei sind mir die vier großen S wichtig geworden, die den Lebenssinn
bestimmen:
- Sexualität (Beziehungen)
- Sucht (Genießen)
- Suizidalität (Lebenssinn)
- Spiritualität (Normen, Werte).
Ich finde es wichtig, die Fragen nach dem Lebenssinn immer wieder neu
zu stellen.
Prof. Dr. Dr. Manfred Wolfersdorf
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Fragen an Prof. Wolfersdorf
ANHANG
Bei der AGUS-Jahrestagung 2008 hielt Prof. Wolfersdorf den hier gedruckten
Vortrag zum präsuizidalen Syndrom. Einige Fragen von Zuhörern aus der anschließenden Diskussion geben wir hier wieder:
Gibt es Suizid als Kurzschlusshandlung?
Wenn man sich suizidale Handlungen anschaut, meint man mit Kurzschluss,
dass der Zeitraum zwischen dem Suizidgedanken und der Suizidhandlung
ganz kurz ist. Daher ist der Begriff eigentlich falsch.
Es soll einen ganz spontanen Suizid geben. Ich selbst kann die Patienten an
einer Hand aufzählen, bei denen ich in der Vorgeschichte keine Entwicklung
auf den Suizid hin finde.
Fördert unsere Gesellschaft Suizidalität?
Das Thema Suizidalität ist ein Querschnittsthema. Wir haben in unserer industrialisierten Gesellschaft eine Reihe psychischer Probleme. Wenn man sagt,
dass Suizid etwas mit Selbsteinschätzung und Perfektionismus zu tun hat,
dann sind wir in einer suizidfördernden Gesellschaft.
Die eigentliche Frage ist, wo finden Menschen in unserer Gesellschaft Hilfe.
Suizidalität gibt es bei Naturvölkern genauso wie in Industrienationen. Junge
Eskimomänner haben die höchste Suizidrate in Nordamerika. Wir haben zwar
Schwankungen, aber die gibt es überall.
Ist ein Zusammenhang zwischen Depression und Diabetes bekannt?
Das sind zwei Erkrankungen, die jede für sich lebenslange Erkrankungswahrscheinlichkeit haben und die beide behandlungsbedürftig und suizidgefährdend sind. Man ist mit dem Thema Depression und Diabetes dauernd
konfrontiert. Wenn sie zusammen auftreten, ist keine der beiden Erkrankungen nicht wirklich behandelbar. Es führt zu einer hohen Komplexibilität
und zum Thema Komorbidität: Auftreten von körperlicher und psychischer
Erkrankung nebeneinander!
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Fragen an Prof. Wolfersdorf
Worin liegt der Grund für die erhöhte Suizidalität der Männer?
Männer wählen häufiger harte, tödliche Methoden. Suizide von Männern finden eher in der inneren Einsamkeit der eigenen Person statt. Die Inanspruchnahme von Hilfe passt nicht zu ihrem Konzept, sie sprechen weniger über
Probleme: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Die Suizidalität von Frauen
findet mehr in einem Beziehungsgeflecht statt, Männer haben eher ein Wertekonzept im Kopf und suizidieren sich deshalb.
Bestehen Zusammenhänge zwischen Burn-out-Syndrom und Suizid?
Das Burn-out-Syndrom (BOS) ist keine Krankheitsbezeichnung. Es gibt deshalb auch keine Studien dazu. In über 90 % handelt es sich bei BOS um eine
klassische Erschöpfungsdepression.
Warum kommt es zur „Ruhe vor dem Sturm“?
(Angehörige werden von dem Patienten bewusst oder unbewusst in Sicherheit gewogen. Glaubt der Patient tatsächlich, dass er stabil ist?)
Die Ruhe, die manchmal bei jemandem einkehrt, wenn er sich entschlossen
hat, sich dass Leben zu nehmen, wird als Besserung gedeutet. Der Betroffene
scheint das in diesem Moment auch tatsächlich zu fühlen und nicht zu versuchen, seine Umwelt zu täuschen. Es können Missverständnisse passieren,
aber grundsätzlich glaube ich nicht, dass alle Menschen, die sich suizidieren,
uns etwas vormachen.
Ist Suizidalität vererbbar? Genetische Aspekte?
Es gibt kein Gen für Suizidalität. Weitergegeben werden können die Anlagen
für Impulskontrollfähigkeit und Depression: da wissen wir, dass es einen biologischen Anschein gibt, der bei der bipolaren Störung höher ist. Damit steigt
das Risiko zum Suizid. Der biologische Anteil bei Impulskontrollstörungen ist
nicht schicksalhaft. Hinzu kommt gelerntes Verhalten! Wie geht man mit Trennung, Verletzungen, Misserfolgen um.
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Fragen an Prof. Wolfersdorf
Ist eine Krise behandlungsbedürftig oder erst eine Depression?
(Mein Mann war in einer Krise, wollte sich jedoch nicht behandeln lassen.)
Jemand in einer Krisensituation kann durchaus behandlungsbedürftig sein.
Sie können auch in einer Krisensituation ausgeprägte depressive Symptomatik haben, was medizinisch-psychiatrisch behandlungsbedürftig ist.
Die Depressivität bei Männern zeigt sich nicht im Weinen, sondern eher in
einem stillen die-Dinge-regeln-wollen. Die Männerdepression hat oft nicht den
Aspekt von Verzweiflung, sondern von Wut und Sorgen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie auch bei Erkennen der Krise an die Grenzen Ihrer Möglichkeiten gekommen wären. Krisen sind nicht immer eindeutig erkennbar. Auch der
Patient hat eine Verantwortung, nämlich seine Not deutlich werden zu lassen.
Wie ist das Schmerzempfinden im Augenblick des Suizid-Todes?
Menschen, die versucht haben, sich zu suizidieren, beschreiben häufig
keinerlei Schmerzempfinden. Sie gaben an, zum Zeitpunkt der Handlung
keine Schmerzen zu fühlen. Es ist aber die Frage, ob dies nicht einfach
eine Auswirkung der Retroversie ist, d.h. es fällt dem Vergessen und Verdrängen anheim. Möglich ist aber auch ein anästhetischer Effekt, der das
Schmerzzentrum völlig stilllegt. Insofern würde ich eher meinen, es tritt keine
Schmerzempfindung ein.
Glauben Sie an etwas, was jenseits der Wissenschaft liegen könnte?
(Wo sind die Grenzen der Wissenschaft bei der Erforschung der Seele?)
Meine eigene spirituelle Disposition entnehmen Sie meinen bisherigen
Ausführungen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass viele Dinge in
unserer Seele ein Geheimnis bleiben werden und auch bleiben sollten.
Im Umgang mit suizidalen Menschen bleibt immer ein Geheimnis.
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Autor
Prof. Dr. Dr. Manfred Wolfersdorf ist seit 1997 Ärztlicher
Direktor und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses
Bayreuth.
Suizidprävention und Suizidforschung sind seit Jahrzehnten Schwerpunkt seiner ärztlichen und wissenschaftlichen
Tätigkeit. Die Depressionsforschung und Entwicklung
der Suizidprävention hat er in verschiedenen Funktionen
wesentlich geprägt, so ist er u.a Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Suizidprävention IASP und der Deutschen Gesellschaft
für Suizidprävention DGS, Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz BDK
(Konferenz der leitenden Ärztinnen und Ärzte deutscher Fachkrankenhäuser für
Psychiatrie und Psychotherapie), Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN uvm.
Die lange Liste seiner Veröffentlichungen kann hier nicht wiedergegeben werden.
Prof. Wolfersdorf war einer der ersten Mitstreiter der AGUS-Gründerin Emmy
Meixner-Wülker. Wir kennen ihn bis heute als kompetenten und aktiven Unterstützer der AGUS-Anliegen.
Kontaktadresse: [email protected]
LITERATURHINWEISE
Wolfersdorf, Manfred: „Depressionen. Die Krankheit bewältigen“, Balance
ratgeber Bonn 2010, 14,95 €
Wolfersdorf, Manfred, Bronisch, Thomas und Wedler, Hans: „Suizidalität.
Verstehen, Vorbeugen, Behandeln“, Roderer Verlag 2008; 49,90 €
Wurst, Friedrich (Herausgeber), Vogel, Rüdiger und Wolfersdorf, Manfred: „Theorie und Praxis der Suizidprävention.“ Roderer Verlag 2007, 25,- €
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Weitere Themenhefte liegen vor:
Wir achten bei der Erstellung der einzelnen Themenhefte sehr auf inhaltliche
Korrektheit und aktuellen Wissensstand, erheben jedoch keinen Anspruch auf
Vollständigkeit. Daher nehmen wir Rückmeldungen, Ergänzungen und Verbesserungen gerne an. Unser Ziel ist, durch Informationen Unterstützung zu
geben für die schwere Zeit der Trauer nach einem Suizid.
- Suizid und Recht
- Kirche – Umgang mit Suizid
- Trauer nach Suizid – bei Kindern und Jugendlichen
- Schuld – im Trauerprozess nach Suizid
- Trauer nach Suizid – (k)eine Trauer wie jede andere
- AGUS-Selbsthilfegruppen aufbauen und leiten
Herausgeber
AGUS e.V. - Angehörige um Suizid: bundesweiter Selbsthilfeverein
für Trauernde nach Suizid in Deutschland. Zweck des Vereins ist es,
Angehörigen und Hinterbliebenen von Suizidtoten, die wegen ihres
seelischen Zustandes Unterstützung brauchen, Hilfe zu leisten durch:
- Beratung und Betreuung der Betroffenen
- Vermittlung von Kontakten Betroffener untereinander
- Förderung und Gründung regionaler Selbsthilfegruppen
- Öffentlichkeitsarbeit zur Weckung des Verständnisses für Suizidtrauernde, in besonderem Maße durch die Medien
- Zusammenarbeit mit der Fachwelt, mit Behörden und anderen Einrichtungen zur Verbesserung des Angebotes an psychologischen und
sozialen Hilfen.
Elisabeth Brockmann, Dipl. Sozialpädagogin,
Leiterin der Bundesgeschäftsstelle AGUS e.V.
Markgrafenallee 3a, 95448 Bayreuth
Tel. 0921 - 150 03 80
E-Mail: [email protected]
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Andre Maraux, 1901-1976, französischer Schriftsteller und Politiker
www.opus-marketing.de
Über den Tod zu sprechen ist eine der vernünftigsten Arten,
über den Sinn des Lebens zu sprechen.
AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid
EURO 4,80
ISBN-Nr: 978-3-941059-02-3
Bezug über Bundesgeschäftsstelle AGUS e.V.
Markgrafenallee 3 a · 95448 Bayreuth
Tel.: 0921/1500380 · Fax: 0921/1500879
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