Angewandte Geometrie

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Technische Universität München
Zentrum Mathematik
Prof. Dr. J. Hartl
SS 2015
Blatt 1
Angewandte Geometrie
1. Ein Fahrzeug (vereinfacht dargestellt mit
rechteckigem Grundriss der Länge l und der
Breite b) soll die skizzierte Straßenecke
durchfahren. Die beiden eingezeichneten
Straßen stoßen rechtwinklig aufeinander.
Die Breite der vertikal eingezeichneten
Straße sei a, die Breite der horizontal
eingezeichneten Straße sei c. Wie groß
darf (in Abhängigkeit von a > 0, c > 0)
die Länge l höchstens sein, wenn
a) b = 0,
b) b > 0
gegeben ist?
Lösung:
Was hat b = 0 mit b > 0 zu tun?
Ein Fahrzeug mit b > 0 kann durchfahren, wenn ein Fahrzeug der Breite b =
0 eine andere Straßenecke (mit Abrundung innen) durchfahren kann. (Siehe
Figur auf Beiblatt!)
cos ϕ
Normaleneinheitsvektor ~n :=
sin ϕ
(0 < ϕ < π2 )
Hesse-Form von g(ϕ): x cos ϕ + y sin ϕ − d(ϕ) = 0
M einsetzen: a cos ϕ + c sin ϕ − d(ϕ) = b ⇒
d(ϕ) = a cos ϕ + c sin ϕ − b
(≥ 0!)
Sei l(ϕ) := d(X, Y ).
Ges.: minimales l.
X(
l(ϕ) = d(ϕ)
q
1
cos2 ϕ
+
d(ϕ)
, 0),
cos ϕ
1
sin2 ϕ
=
d(ϕ)
cos ϕ sin ϕ
Minima von l? Notwendig dafür:
Y (0,
=
d(ϕ)
)
sin ϕ
a
sin ϕ
+
c
cos ϕ
⇒
−
b
cos ϕ sin ϕ
0 = l0 (ϕ) = −a
cos ϕ
sin ϕ
sin2 ϕ − cos2 ϕ
+
c
−
b
=
cos2 ϕ
sin2 ϕ
cos2 ϕ sin2 ϕ
Den letzten Bruch kann man so zerlegen, dass sich einmal sin2 ϕ herauskürzt,
einmal cos2 ϕ. Daher kann man weiterschreiben:
=
1
1
(c sin ϕ − b) =
2 (−a cos ϕ + b) +
cos2 ϕ
sin ϕ
Da sin2 ϕ = 1 − cos2 ϕ und cos2 ϕ = 1 − sin2 ϕ, kann man zweimal kürzen,
wenn man weiterschreibt:
=
a(1 − cos ϕ)
b−a
c(1 − sin ϕ)
c−b
+
−
+
=
2
2
1 − cos2 ϕ
cos2 ϕ
sin ϕ
1 − sin ϕ
a
b−a
−c
c−b
+
+
+
2
1 + cos ϕ sin ϕ 1 + sin ϕ cos2 ϕ
Zwar sieht man immer noch nicht, welche Nullstellen l0 (ϕ) hat, aber man
erkennt:
l0 (ϕ) ist eine Summe von Brüchen mit konstanten Zähler und variablen positiven Nennern.
Bei den Brüchen mit positiven Zählern ist der Nenner monoton abnehmend,
bei den Brüchen mit negativen Zählern ist der Nenner monoton zunehmend.
Damit sind alle vier Summanden streng monoton steigend.
Damit ist l0 streng monoton steigend.
l0 (ϕ) geht für ϕ → 0 gegen −∞ und für ϕ →
π
2
gegen +∞.
Nach dem Zwischenwertsatz besitzt l0 eine Nullstelle ϕmin in ]0, π2 [, und zwar
genau eine, weil l0 streng monoton steigend ist.
Da l(ϕ) für ϕ → 0 und für ϕ →
Minimalstelle von l0 .
π
2
beide Male gegen +∞ geht, ist ϕmin eine
Damit sind wir zufrieden. Die Nullstelle mit für praktische Zwecke genügender
Genauigkeit zu bestimmen, gehört nicht zu den Aufgaben der Geometrie.
Wir interessieren und noch für leicht zu lösende Spezialfälle:
a) b = 0:
−a
sin ϕ
cos ϕ
+c 2 =0
2
cos ϕ
sin ϕ
c sin3 ϕ = a cos3 ϕ
a
tan3 ϕ =
c
r
a
ϕmin = arctan 3
c
Was ist l(ϕmin )?
l(ϕmin ) =
a
c
+
=
sin ϕmin sin ϕmin
Wir wollen, dass tan ϕmin dasteht. Daher schreiben wir weiter:
r
p
c
1
a
2
=
(
+ c) = 1 + tan ϕmin (a 3 + c) =
cos ϕmin tan ϕmin
a
r
q
1
2
2
1
a 2 2 1
2
2
−
= 1 + ( ) 3 (a 3 c 3 + c) = c 3 c 3 + a 3 (a 3 + c 3 )c 3
c
Also gilt:
q
3
2
2
l(ϕmin ) = a 3 + c 3
b) Die Bestimmung von ϕmin kann zum Beispiel durch Bisektion erfolgen.
Einfach ist noch der Fall a = c. Wegen der Symmetrie der Figur geht jede
Lösung der Figur bei Spiegelung an der Winkelhalbierenden der Straßenecke
wieder in eine Lösung über. Da es nur eine Lösung gibt, geht sie in sich über.
Folglich ist ϕmin = π4 . Damit ist
√
l(ϕmin ) = 2 2a − 2b.
2. In der euklidischen Ebene E 2 seien zwei von einem Punkt S ausgehende
Halbgeraden a+ , b+ mit 0 < ∠(a+ , b+ ) ≤ π3 gegeben; ferner seien P , Q zwei
(nicht notwendig verschiedene) Punkte im Innengebiet des von den beiden
Halbgeraden berandeten konvexen Bereichs K ⊂ E 2 . Gesucht ist der kürzeste
Weg in K, der von P über einen Punkt A ∈ a+ sowie einen Punkt B ∈ b+
nach Q führt.
Lösung:
Wenn man keine Idee zur Lösung der Aufgabe hat, löst man eine ähnliche
einfachere Aufgabe:
In der euklidischen Ebene sei eine Gerade g gegeben sowie zwei Punkte U und
W auf derselben Seite von g. Wie kommt man auf dem kürzesten Weg von U
über einen Punkt G ∈ g nach W ?
Skizze!
Spiegelt man W an g in W 0 , so ist der Weg von U nach W über einen Punkt
G ∈ g genau so lang wie der Weg von U nach W 0 über denselben Punkt G ∈ g.
Der kürzeste Weg von U nach W 0 ist offenbar die geradlinige Verbindung.
Daraus ergibt sich G ∈ g als Schnittpunkt, und der Streckenzug von U nach
G und anschließend nach W ist der gesuchte kürzeste Weg.
Damit ist die Lösung der ursprünglichen Aufgabe fast klar.
Skizze!
Man spiegle z.B. P an a in P 0 , Q an b in Q0 . Der Weg von P über einen Punkt
A ∈ a+ zu einem Punkt B ∈ b+ und weiter zu Q ist genau so lang wie der
Weg von P 0 über A zu B und weiter nach Q0 . Der kürzeste Weg von P 0 nach
Q0 ist die kürzeste Verbindung. Damit ist A = P 0 Q0 ∩ a+ , B = P 0 Q0 ∩ b+ .
Es bleibt die Frage: Soll man P an a in P 0 spiegeln und Q an b in Q0 oder
alternativ P an b in P 00 und Q an a in Q00 ? Zeichnet man beide Möglichkeiten,
Skizze!
so stellt man fest: Für die Dreiecke P 0 SQ0 und P 00 SQ00 gilt: d(P 0 , S) =
d(P, S) = d(P 00 , S) und d(Q0 , S) = d(Q, S) = d(Q00 , S). Falls also der Winkel P 0 SQ0 kleiner ist als der Winkel P 00 SQ00 , ist d(P 0 , Q0 ) kleiner als d(P 00 , Q00 ).
Also: Man lege eine Gerade h durch S, die P und Q trennt und spiegle jeden
der beiden Punkte P und Q an der Halbgeraden a+ oder b+ , die auf derselben
Seite von h liegt wie der Punkt.
Zuletzt noch: Wofür braucht man die Voraussetzung ∠(a+ , b+ ) ≤ π3 ?
Damit das Verfahren funktioniert, sollte P 0 Q0 beide Halbgeraden a+ und b+
schneiden. Das ist sichergestellt, wenn der von ∠P 0 SQ0 eingeschlossene konvexe
Bereich die beiden Halbgeraden a+ und b+ enthält. Und das wird durch die
genannte Voraussetzung sichergestellt. Diese Voraussetzung kann man auch
noch abschwächen. Es reicht z.B. ∠(a+ , b+ ) < π2 , und mit einer komplizierteren
Formulierung kann man die Voraussetzung noch weiter abschwächen.
3. In der euklidischen Ebene E 2 sei ABC ein Dreieck, bei dem kein Innenwinkel
ist. Bestimmen Sie jenen Punkt P in dem von ABC berandeten
größer als 2π
3
endlichen Bereich, für den die Summe der Abstände d(P, A), d(P, B), d(P, C)
minimal ist.
Lösung:
Skizze!
Nimmt man einen Punkt Q im Inneren des Dreiecks ABC und dreht man das
Dreieck AQC um A nach außen durch den Winkel 60o in die Lage AQ0 C 0 , so ist
das Dreieck AQQ0 gleichseitig, also d(C 0 , Q0 ) = d(C, Q), d(Q0 , Q) = d(Q, A),
d(Q, B) = d(Q, B). Damit d(Q, C) + d(Q, A) + d(Q, B) minimal wird, ist also
notwendig d(C 0 .Q0 ) + d(Q0 , Q) + d(Q, B) minimal. Dafür liegt notwendig Q auf
der Geraden C 0 B. Folglich ist P ∈ C 0 B. Analog sieht man P ∈ AC 00 , wobei
C 00 aus C hervorgeht durch eine Drehung um B nach außen durch 60o .
Konstruktion: Drehe C um A durch den Winkel 60o nach auen in die Lage C 0 .
Drehe C um B durch den Winkel 60o nach außen in die Lage C 00 . Dann ist
P = BC 0 ∩ AC 00 .
4. In der euklidischen Ebene sind vier verschiedene Punkte P1 , P2 , P3 , P4
gegeben. Legen Sie durch jeden dieser Punkte je eine Gerade so, dass die
Schnittpunkte der Geraden die Ecken eines Quadrates bilden.
Welche Spezialfälle sind gesondert zu betrachten?
Lösung:
Wir tun so, als hätten wir die Lösung schon:
Seien A1 , A2 , A3 , A4 die Ecken eines Quadrats 2A1 A2 A3 A4 , g1 = A1 A2 ,
g2 = A2 A3 , g3 = A3 A4 , g4 = A4 A1 .
Skizze!
(Dann ist g1 k g3 , g2 k g4 .)
Wie kann man weitere Punkte und Geraden in die Skizze einzeichnen, um
Zusammenhänge zu erkennen, z.B. kongruente Dreiecke oder Ähnliches?
Sei etwa Q1 der Lotfußpunkt aus P1 auf g3 , Q2 der Lotfußpunkt aus P2 auf
g4 . Schneidet das Lot aus P2 auf P1 P3 die Gerade g4 im Punkt P40 , so sind die
Dreiecke ∆P1 P3 Q1 und ∆P2 P40 Q2 kongruent.
Konstruktion (im Beispiel): Fälle aus P2 das Lot auf P1 P3 . Trage darauf von P2
aus die Länge der Strecke P1 P3 ab bis zum Punkt P40 . Dann ist P4 P40 die Gerade
g4 , das Lot aus P1 auf g4 die Gerade g1 , das Lot aus P3 auf g4 die Gerade g3
und das Lot aus P2 auf g1 oder g3 die Gerade g2 . In dieser Konstruktion kann
man P40 auf beiden Seiten von P2 wählen.
Konstruktion allgemein: Fälle aus Pi das Lot li auf Pj Pk mit i 6= j 6= k 6= i.
Trage auf li aus Pi nach einer Seite die Länge der Strecke Pj Pk ab bis zum
Punkt Pl mit l 6= i, j, k. Dann ist Pl Pl0 =: gl und das Lot auf gl aus Pj ist gj ,
das Lot auf gl aus Pk ist gk . Schließlich ist das Lot aus Pi auf gj oder auf gk
die Gerade gi .
Wieviele Lösungen gibt es im allgemeinen?
Fällt man das Lot aus Pi auf Pj Pk wie in der Konstruktion angegeben, so
wird in der Lösng gj parallel sein zu gk und gi parallel zu gl . Dieselbe Lösung
erhält man, wenn man das Lot aus Pj auf Pi Pl fällt. Es gibt zwar 42 = 6
Möglichkeiten, ein Paar {Pj , Pk } aus vier Punkten auszuwählen, aber immer
zwei der Paare führen auf dieselbe Lösung. Also erhält man drei verschiedene
Möglichkeiten.
Es gibt immer zwei Möglichkeiten, die Länge der Strecke Pj Pk von Pi aus
anzutragen.
Insgesamt erhält man im allgemeinen 3 · 2 = 6 verschiedene Lösungen.
Was kann unterwegs passieren?
Es kann Pl = Pl0 sein. Dann kann man gl durch Pl beliebig wählen, und es gibt
unendlich viele Lösungen.
Es kann Pl0 6= Pl auf Pi Pl liegen. Dann ist gi = gl und gj = gk und das Quadrat
entartet in einen Punkt.
Kein der Geometrie Unkundiger möge hier eintreten.
Satz über dem Eingang der von Platon (427 - 347 v. Chr.) in Athen gegründeten und
geleiteten Akademie. Dieser Satz ist auch (in griechischer Sprache) auf dem Emblem
der American Mathematical Society (AMS) zu lesen. Die Platonische Akademie
bestand bis 529 n. Chr. und wurde dann von dem in Konstantinopel, dem heutigen
Istanbul, residierenden Kaiser Iustinian aufgelöst.
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