Motorik und motorische Systeme 쐍 3.3 쐍 3.3 Motorik und motorische Systeme Wie funktionieren Muskeln? Der Spannungszustand der Muskulatur wird von einer Vielzahl von somatosensorischen Rezeptoren beeinflusst (z. B. Haut, Gelenke, Sehnen, Bindegewebe), zu denen Informationen anderer Sinnesorgane (z. B. Auge, Gleichgewicht, Ohr) und anderen motorischen Systemen kommen. Das Zusammenspiel führt dazu, dass Muskellänge, Spannung und Aktivität immer an die Anforderungen der Tätigkeit angepasst sind oder angepasst werden. Die wichtigste Ursache für eine Veränderung der Muskulatur ist die Muskelkontraktion (Brodal, 1995). Bei der Muskelkontraktion, also dem Zusammenziehen der Muskulatur, kommt es zum Ineinanderschieben einzelner Anteile des Muskels, die eine Verkürzung zur Folge haben und nur so aktiv sein können. Ist Muskulatur im gedehnten Zustand, wird mehr Kraft für die Kontraktion benötigt. Angenäherte Muskulatur lässt sich entsprechend einfacher anspannen. 3.3.1 Agonist und Antagonist Das feine Zusammenspiel der Muskulatur (reziproke Innervation) wird bestimmt durch den Agonisten und den Antagonisten. M. trizeps M. bizeps a Abb. 3.10 쐍 Zusammenspiel von Agonist und Antagonist beim Heben einer Flasche. a Beim Anheben einer Flasche ist der Bizeps der Agonist, er kontrolliert die Einwirkung der Schwerkraft und verkürzt sich beim Anheben. b Um das Bewe- Agonist. Der Muskel, der die Schwerkrafteinwirkung kontrolliert, heißt Agonist. Führen wir eine Flasche oder ein Wasserglas zum Mund, so ist der Bizeps der Agonist, er zieht sich zusammen. Stellen wir die Flasche auf den Tisch zurück, so bleibt der Bizeps der Agonist, da er die Flasche gegen die Schwerkraft halten muss. In dieser Bewegung verlängert sich der Muskel. Antagonist. Der Antagonist ist der Muskel, der sich in seiner Arbeit dem Agonisten reaktiv anpasst. Er hat einen niedrigeren Tonus als der Agonist. Während des Anhebens der Flasche verkürzt sich der Bizeps, gleichzeitig muss der Trizeps auf der anderen Seite des Armes Länge geben, um die Bewegung zu ermöglichen. Das feine Zusammenspiel von Agonist und Antagonist macht erst eine harmonische, normale Bewegung möglich (Abb. 3.10). Die reziproke Innervation, also das im Detail abgestimmte Zusammenspiel der Muskulatur von Agonist und Antagonist, ist die Grundlage normaler Bewegungsabläufe. Schädigungen im zentralen Nervensystem können dieses Zusammenspiel verändern und zu deutlichen Bewegungseinschränkungen führen. M M. trizeps ist der Antagonist, er muss gleichzeitig länger werden b M. bizeps ist der Agonist, er verkürzt sich beim Anheben gungsausmaß zu ermöglichen, dass die Flasche bis zum Mund gebracht werden kann, muss der Trizeps gleichzeitig länger werden. I Grundlagen des Bobath-Konzepts Friedhoff, Schieberle, Praxis des Bobath-Konzepts, (ISBN 9783131427816), © 2007 Georg Thieme Verlag KG 25 쐍 3 쐍 Neurophysiologische Grundlagen 3.3.2 Tonische und phasische Muskulatur Die Muskelfasern haben in den einzelnen Phasen der Bewegung unterschiedliche Aufgaben. Bei der glatten Muskulatur (Skelettmuskulatur) werden zwei Arten unterschieden: 쐍 tonische Muskulatur, 쐍 phasische Muskulatur. Tonische Muskulatur. Die tonische Muskulatur ist verantwortlich für den Haltungshintergrund (s. Fundamente des Bobath-Konzepts, S. 12) bevor Bewegungen stattfinden. Die Stabilität eines Körperabschnittes ist immer notwenig, bevor ein anderer Teil des Körpers mobil sein kann. Wenn wir auf einem Stuhl sitzend mit dem rechten Arm in die Höhe greifen, um eine Tasse aus dem Regal zu nehmen, dann benötigen wir zunächst die tonischen Muskeln zur Stabilisierung des Rumpfes (Haltungshintergrund), bevor die phasischen Muskeln des Armes nach der Tasse greifen können. Das bedeutet, dass bei jeder Muskelaktivität die tonischen Einheiten vor den phasischen rekrutiert werden. Phasische Muskulatur. Die phasische Muskulatur ist zuständig für Bewegung. Wenn die tonischen Muskeln für die ausreichende Stabilisierung des Körpers gesorgt haben, kann die phasische Muskulatur die angestrebte Bewegung ermöglichen. Bei Schädigungen des zentralen Nervensystems können Veränderungen dieser Aufgaben bei den Muskelarten auftreten. Durch einen ständig erhöhten Tonus kann es in der phasischen Muskulatur, die ursprünglich für Bewegung zuständig ist, zu einem Umbau in tonische Muskulatur kommen (Abb. 3.11). Tonische Muskulatur hat die Aufgabe zu halten und nicht primär zu bewegen. So kann es zu einer Dysbalance zwischen den einzelnen Muskeln kommen, die Bewegungen werden gehemmt. Bei Inaktivität in verkürzter Position können Muskelfasern schrumpfen. Bei Personen, die überwiegend sitzen, oder Patienten, deren Beine kontinuierlich in der Hüfte gebeugt gelagert werden, verkürzen sich die Hüftbeuger. Die Muskelfasern passen sich der Länge an, in der sie gehalten werden. Wird der Patient hingestellt, so werden die verkürzten Muskeln (über-)dehnt, noch bevor das Stehen erreicht ist. Die Sensoren der Muskulatur senden entsprechende Signale und als Reaktion werden die Hüftbeuger kontrahiert, um die gedehnte Muskulatur zu entlasten. Gleichzeitig werden bei Patienten, die viel sitzen oder in Hüftbeugung gelagert werden die Hüftstrecker passiv verlängert. Die Muskeln „wachsen“ in Längsrichtung. Der Muskel wird zu lang, um die notwendige Kraft aufzubringen, den Körper und somit die aufrechte Haltung zu halten. Eine Kontraktion des Muskels ist deutlich erschwert. Es kommt zu einer Überdehnungsschwäche (Gjelsvik, 2002). Es entwickelt sich eine Dysbalance zwischen Agonist und Antagonist und die Bewegungsmöglichkeiten in der Hüfte sind folglich deutlich eingeschränkt. Wird auf der mehr betroffenen Seite die untere Schulter in der Seitenlage weiter herausgeholt, um die Schulter zu entlasten, so hat dies die gleichen negativen Folgen auf die Muskulatur wie oben beschrieben. Die Muskulatur des Schultergürtels wird „zu lang“ und erschwert dadurch evtl. spätere Aktivitäten des Armes. P Durch einseitige Positionierung bzw. Inaktivität in ungeeigneten Positionen verändert sich die Länge der Muskulatur. Ein permanent erhöhter Muskeltonus führt dazu, dass phasische Muskulatur in tonische umgewandelt wird. Durch beide Faktoren entstehen Funktionsbeeinträchtigungen bei Haltung und Bewegung. M Axoplasmatischer Fluss Abb. 3.11 쐍 Veränderung der Muskulatur nach einer zentralen Schädigung. Die Muskulatur der Arme hat sich verändert. Durch den ständig erhöhten Muskeltonus hat sich die phasische Muskulatur (zuständig für Bewegung) in tonische Muskulatur (zuständig für Haltung) umgewandelt. Die Bewegungsmöglichkeiten sind nur noch minimal. 26 Durch die Aktivität des Muskels kommt es zur Ausschüttung von Proteinen, Stoffwechselprodukten und neurotrophen Faktoren (NGF), die für das Bestehen der Nervenzelle bedeutsam sind. Die Ernährung der Muskel- und Nervenzelle geschieht dementsprechend nicht ausschließlich über den Blutweg und ist somit abhängig von der motorischen Aktivität. Dieser Vorgang nennt sich axoplasmatischer Fluss (Abb. 3.12). An der Nervenzelle wird durch einen Reiz elektrische Aktivität ausgelöst. Ist die Schwelle der Erregung erreicht, wird die Nervenzelle aktiv. Entlang ihrer äußeren Hülle überträgt sie den Reiz zur Muskelzelle. I Grundlagen des Bobath-Konzepts Friedhoff, Schieberle, Praxis des Bobath-Konzepts, (ISBN 9783131427816), © 2007 Georg Thieme Verlag KG