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6. Die Demokratisierung der Erziehung
Eine der ersten innovativen Schulen in den Vereinigten Staaten war die Temple School
von Amos Bronson Alcott.1 Sie hiess so, weil sie im Masonic Temple in Bosten untergebracht
war. Ihr Gründer war ein bekannter und zugleich umstrittener Lehrer, der sich auch als
Philosoph einen Namen machte. Er gehörte zu den amerikanischen Transzendentalisten. So
hiess eine Gruppe von Intellektuellen, die am 8. September 1836 in Cambridge,
Massachusetts, den Transcendental Club gründeten.2 Ihm gehörten prominente Namen der
akademischen Szene Neu-Englands an, deren Mittelpunkt Ralph Waldo Emerson3 darstellte.
Seine Essaysammlung Nature und insbesondere der Aufsatz The American Scholar4
begründete die Richtung des Clubs.
Nicht wenige der Transzendentalisten waren Lehrer und arbeiteten daneben
journalistisch. Die bekannteste Figur neben Emerson war David Henry Thoreau,5 der in
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Amos Bronson Alcott (1799-1888) war nicht nur Lehrer. Als Philosoph gehörte er zu den
amerikanischen Transzendentalisten, die eine spirituelle Naturphilosophie vertraten. Bronson
Alcott war auch einer Hauptvertreter der Abolitions-Bewegung, also des Kampfes gegen die
Sklaverei. Er gehörte schliesslich zu den Pionieren des zivilen Ungehorsams, deren
Grunddokument David Henry Thoreau verfasste.
2 Henry Hedge, George Putnam, George Ripley und Ralph Waldo Emerson trafen sich zu
einem Symposium in Willard’s Hotel in Cambridge, Massachusetts. Der Club sollte dazu
beitragen, das konservative, immer noch stark pietistisch gestimmte intellektuelle Klima der
Vereinigten Staaten zu verändern. Bronson Alcott war bereits an der zweiten Sitzung des
Club anwesend, die am 19. September 1836 im Haus von George Ripley stattfand (Myerson
1972, S. 200). Der Club traf sich bis September 184o in unregelmässigen Abständen. Die
Themen waren fas immer religiöser Natur. Auf der Zusammenkunft am 18. Oktober 1836
wurde aber auch über „Education and Humanity“ gesprochen (ebd., S. 201).
3 Ralph Waldo Emerson (1803-1882) besuchte die Lateinschule in Boston und später das
Harvard College. Nach Abschluss seines Studiums 1821 war er Hauslehrer und studierte
dann an der Harvard Divinity School. 1829 wurde er, wie sein Vater, Minister der Unitarier.
1832 gab er sein Amt auf und reiste zwei Jahre lang durch Europa. 1835 liess sich Emerson in
Concord, Massachachusetts, nieder und wurde zu einem der herausragenden Schriftsteller und
Philosophen des 19. Jahrhunderts.
4 Der Aufsatz ging auf eine Rede zurück, die Emerson 1837 vor der Phi Beta Kappa
Gesellschaft in Cambridge, Massachusetts, gehalten hatte. Die Rede begründete die
Unabhängigkeit der amerikanischen Bildung. Die Rede hatte zwei Schwerpunkte, die
solidarische Gesellschaft auf der einen, das Programm einer freien Bildung und eines
forschenden Geistes andererseits.
5 David Henry Thoreau (1817-1862) stammte aus Concord, Massachusetts. Er studierte von
1833 bis 1837 in Harvard und war anschliessend als Lehrer tätig. Danach kehrte er nach
Concord zurück und schrieb Beiträge für die Zeitschrift The Dial. Von 1841 an lebte Thoreau
im Haus von Emerson, mit dem er befreundet war. 1845 begann er sein berühmtes
Experiment des einfachen Lebens im Wald, das zwei Jahre dauerte. Thoreau lebte in einer
einsamen Hütte am Walden See. Seine Aufzeichnungen verarbeitete er zu seinem Buch
Walden; or: Life in the Woods, das 1854 erschien. Danach war er als Naturforscher tätig,
dessen Aufzeichnungen mehr als 24 Jahre umfassen und erst heute von der Literaturkritik
beachtet werden.
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verschiedenen Gemeinden unterrichtete und 1838 eine eigene Schule gründete. Auch der
junge EMERSON unterrichtete und teilte sich mit seinem Bruder eine Schule, wobei man sich
„Schule“ als privates Einraum-Unternehmen vorstellen muss. Margaret Fuller,6 die erste
Herausgeberin der Zeitschrift des Transcendental Club,7 unterrichte 1836 in der Temple
School und später dann für einige Jahre in Providence, Rhode Island. Die Malerin und
Illustratorin Sophia Peabody unterrichtete ebenfalls in der Temple School. Und ihre
Schwester, Elizabeth Palmer Peabody, war sogar wesentlich für den Erfolg der Schule
verantwortlich. Sie gründete später eine eigene Unterrichtsanstalt, ebenfalls in Boston.
Bronson Alcott wuchs in Wolcott, Connecticut, auf, im New Haven County. Sein
Vater war Flachsfarmer, der für die Bildung seines Sohnes kein Geld hatte. Bronson Alcott
war weitgehend Autodidakt, der sich Lesen und Schreiben selbst beibrachte, indem er mit
einem Kohlestift Buchstaben auf den Holzfussboden zeichnete. Seine Schulzeit endete 1812,
als er dreizehn Jahren alt war; viel gelernt hatte er nicht. Mit vierzehn Jahren arbeitete er in
einer Uhrenfabrik in Plymouth, Massachusetts. Mit sechzehn versuchte er sich als peddler,
also fussreisender Verkäufer von Büchern und anderen Handelswaren. Er wanderte jahrelang
in die Südstaaten und wollte mit eigenem Geld das Familieneinkommen aufbessern. Am Ende
schuldete er seinem Vater 600 Dollar und musste sich nach etwas Anderem umsehen.
Beeinflusst wurde seine intellektuelle Entwicklung durch John Bunyans Buch The
Pilgrim’s Progress. Bunyan8 war ein englischer Prediger, der wie Bronson Alcott nur über
eine geringe Schulbildung verfügte, aber eine starke Einbildungskraft hatte und ein grosses
Redetalent zur Geltung bringen konnte. Bunyan predigte von 1655 an mit grossem Erfolg,
6 Margaret Fuller (1810-1850) erhielt durch ihren Vater eine strenge klassische Bildung.
Nach ihren Tätigkeiten als Lehrerin und Herausgeberin war sie die erste amerikanische
Literaturkritikerin. Sie arbeitete von 1844 an für die New York Tribune. Daneben organisierte
sie Diskussionsforen für Frauen. Aus diesen Erfahrungen entstand ihr Buch Women in the
Nineteenth Century, das 1845 veröffentlicht wurde. Margaret Fuller wurde
Auslandskorrespondentin in Europa. Sie heiratete den italienischen Revolutionär Giovanni
Ossoli und unterstützte mit ihm zusammen Guiseppe Mazzinis Revolution von 1849, die eine
italienische Republik herstellen wollte. Das Paar starb zusammen ihrem Sohn Angelo auf der
Rückreise in die Vereinigten Staaten. Ihr Schiff sank vor Fire Island.
7 Die Zeitschrift hiess The Dial und erschien von 1840 bis 1844. Es war die erste
unabhängige Zeitschrift in den Vereinigten Staaten. Der Titel der Zeitschrift ging auf einen
Vorschlag von Bronson Alcott zurück. Dial heisst auf Deutsch „Ziffernblatt,“ der Titel sollte
die Assoziation Sonnenuhr (Sundial) auslösen. Von 1880 an erschien unter dem Titel Dial
eine politische Zeitschrift.
8 John Bunyan (1628-1688) stammte als Elstow in Bedfordshire. Seine Eltern waren arm,
trotzdem erhielt er eine bescheidene Elementarbildung. Er konnte als Kesselflicker arbeiten.
Bunyan nahm als junger Mann am englischen Bürgerkrieg teil, wobei unklar is, auf welcher
Seite. Nach seiner Heirat im Jahre 1647 oder 1648 folgten Jahre spiritueller
Auseinandersetzungen, die mit Erleuchtungen verbunden waren und die emotionele
Grundlage für The Pilgrim’s Progress legten. 1653 wurde Bunyan Mitglied eines
unabhängigen religiösen Zirkels und begann nicht nur zu predigen, sondern auch zu
veröffentlichen. Er schrieb ohne Unterlass und wurde zu einem der bekanntesten religiösen
Schriftsteller seiner Zeit. 1660 begann die englische Restauration, der König versprach
Toleranz und erhöhte den Druck auf die Nonkonformisten. Bunyan wurde verhaftet und
verbrachte zwölf Jahre im Gefängnis. 1672 wurde er entlassen und erhielt eine königliche
Predigtlizenz, die drei Jahre später widerrufen wurde. Er kam erneut für sechs Monate ins
Gefängnis. Hie entstanden grosse Teile von The Pilgrim’s Progress.
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obwohl er nie eine kirchliche Lizenz erhalten hatte. Viele Gemeinden beschäftigten ihn
gleichwohl, weswegen er mehrfach verhaftet wurde und insgesamt 12 Jahre in englischen
Gefängnissen verbrachte. Während dieser Zeit schrieb er ein Buch, das einen enormen
Eindruck auf das Lesepublikum machte. Das Buch erschien 1678 und 1684 in zwei Teilen,
der Titel lautete:
The Pilgrim’s Progress from This World to That which is to Come,
Delivered under the Similitude of a Dream, Wherein is Discovered, The manner
of his setting out, His Dangerous Journey; And safe Arrival at the Desired
Country.
Bronson Alcott las das Buch, als er siebzehn war. Es handelt von der Reise eines
Pilgers mit dem Namen Christian. Beladen mit der Last der Frage, wie er Erlösung finden
kann, sucht er einen Weg von der City of Destruction (Earth) zur Celestial City (Heaven). Auf
dem Weg dorthin muss er das Wicked Gate passieren, also das Tor der Sünden. Die Richtung
dorthin wird durch die innere Erleuchtung gewiesen, der Weg zum Heil ist steinig, soll der
Leser lernen, am Ende jedoch steht die Erlösung.
Das Buch war so erfolgreich, dass Bunyan sich entschloss, eine Fortsetzung zu
schreiben, in der die Pilgerreise von Christians Frau Christiana, seiner Kinder und seiner
Magd Mercy erzählt wird. Die Reise kennt nahezu die gleichen Stationen, aber sie dauert
länger und sie benötigt einen männlichen Beschützer.
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Die Fortsetzung zeigt aber, dass alle erlöst werden können, die sich auf den
Weg machen, nicht nur ein einsamer männlicher Pilger.
Und beide Teile demonstrieren, dass progress möglich ist, also die
Verbesserung der Lage durch eigenes Tun, das sich durch nichts beirren lässt
und am Ende das Ziel erreicht.
Der Progressivismus der amerikanischen Politik und Pädagogik hat diese Wurzel. Der
Weg ist steinig, aber er lohnt sich. Trotz aller Hindernisse steht am Ende der Erfolg. Das
könnte das Motto alternativer Formen von Erziehung sein, die gegen einen
Erwartungshorizont antreten und so selbst dann provozieren mussten, wenn sie dies gar nicht
wollten.
Mit nicht ganz vierundzwanzig Jahren fing Bronson Alcott an zu unterrichten - ohne
jede Ausbildung. Die Kompetenz erwarb er im Selbststudium, er las zum Beispiel Bücher
über Pestalozzi9 und veröffentlichte theoretische Artikel zur „wahren“ Erziehung. Diese
Artikel waren dem Genius des Kindes gewidmet, der durch Erziehung nur geweckt zu werden
brauche und aber als natürliche Gabe vorauszusetzen sei. Die Artikel erschienen im American
Journal of Education, das von seinem Freund William Russell10 herausgegeben wurde. Es
9 Originaltexte waren kaum übersetzt, daher konnte Broncott Alson keinen direkten Zugang
zu Pestalozzi haben. Vermutlich las er George Eduard Bibers Buch Henry Pestalozzi and his
Plan of Education. Das Buch war 1831 in John Souters School Library in London erschienen.
10 William Russell (1798-1873) stammte aus Glasgow und studierte dort an der Lateinschule
sowie an der Universität. Er kam 1819 in die Vereinigten Staaten und erhielt eine Stelle an der
Chatham Academy in Savanah, Georgia. Einige Jahre später ging er nach New Haven und
unterrichtete vor allem Rhetorik- und Ausdrucks-Klassen. 1849 gründete er das Lehrerinstitut
von New Hampshire, vier Jahre später liess er sich in Lancaster, Massachusetts nieder.
Russell gab zahlreiche Lehrmittel und Erziehungszeitschriften heraus.
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war eine der ersten amerikanischen Zeitschriften, die sich ausschliesslich pädagogischen
Fragen widmete. Die erste Ausgabe erschien 1826,11 und hier konnte Bronson Alcott auch
Artikel über Pestalozzi und andere zeitgenössische Erziehungsreformer lesen.
1827 hatte er in Bristol, Connecticut, eine eigene Schule eröffnet, die in den Zeitungen
von Boston als die beste kommunale Schule in den Vereinigten Staaten gelobt wurde. Der
Grund war, dass im Unterricht auf Auswendiglernen verzichtet wurde und das Lernen nicht
nur praktischen Zwecken diente. Was die Zeitungen lobten, missfiel den Eltern, die es als sehr
problematisch ansahen, dass ihre Kinder auch lernten, was nicht direkt nützlich war. Die
Schule wurde bald nach ihrer Eröffnung geschlossen, weil die Eltern ihre Kinder vom
Unterricht fern hielten. Für die Eltern war Bronson Alcott ein pädagogischer Scharlatan und
kein „progressiver“ Schulreformer. Sie erwarteten von den wenigen Jahren Schulzeit
sichtbaren Nutzen und nicht lediglich verständnisvollen Umgang mit Kindern, die von den
Lehrkräften abgerichtet werden sollten.
William Russell und Bronson Alcott trafen sich 1828 zum ersten Male persönlich. Sie
begeisterten sich für Erziehungsreformen, die als entscheidender Weg zur moralischen
Verbesserung der Gesellschaft angesehen wurden. Die Theorie nahm rasch die Form einer
Heilslehre an. Der Weg zur Erlösung sollte ein pädagogischer sein, mit der Schule als der
himmlischen Stadt, aber ohne die Umwege einer Pilgerreise. Russell und Bronson Alcott
gründeten 1831 in Germantown, Pennsylvania, eine eigene Schule, beide unterrichteten
gemeinsam, allerdings hatte die Schule nur bis 1833 Bestand.12 Das war nicht ungewöhnlich,
es gab im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zahllose private Schulgründungen, die auf
Nachfrage angewiesen waren und eingestellt wurden, wenn zu wenig Schüler kamen.
Die Schule in Germantown war für Bronson Alcott einer von zahlreichen Versuchen,
alternativ zu unterrichten.
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In diesen Experimenten schaffte er das Auswendiglernen ab und verzichtete
auf Körperstrafen.
Er reduzierte den Unterricht in den Elementarfächern und erweiterte den
Lehrplan durch Kunst, Musik, Naturkunde, Exkursionen und Körpererziehung.
Eine dieser neuen Formen machte ihn berühmt. Er führte freie Unterhaltungen
mit Kindern als Methode der schulischen Lernarbeit ein und schuf damit ein
Problem.
Sein Buch Conversations with Children on the Gospels (1836/1837) löste die wohl
erste Kontroverse über progressive Erziehung aus, weil Bronson Alcott den Kindern Fragen
stellte und Antworten zuliess, die als anstössig galten. Damit verstiess er gegen etablierte
Erwartungen, die in Kindern nicht Genies sahen, sondern potentielle Sünder, denen enge
Grenzen aufgezeigt werden mussten. Disziplinierung war wichtiger als Unterricht. Der
Höhepunkt des Konflikts war erreicht, als Bronson Alcott ein Mulattenmädchen aufnahm und
sich dagegen verwahrte, das Kind zu entlassen, nachdem die Eltern der anderen Kinder
wütend protestiert hatten.
11 Bis 1829 wurden vier Jahrgänge veröffentlicht. Das heutige American Journal of
Education ist die Fortsetzung der 1893 gegründeten School Review.
12 Gemeint mit Germantown ist der heutige Stadtteil von Philadelphia. Hier wurde am 29.
November 1832 Louisa May Alcott (1832-1888) geboren, die zweite Tochter von Bronson
Alcott und Abigail May (1800-1877). Ihr autobiographischer Roman Little Woman (1868), in
dem ihre Kindheit erzählt wird, machte sie berühmt.
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Die Temple School wurde 1834 eröffnet und 1839, nach dem Skandal um das
Mulattenmädchen, wieder geschlossen. Auch diese Eltern weigerten sich, ihre Kinder länger
in eine solche Schule zu schicken und bezahlten einfach kein Schulgeld mehr. Es war
Bronson Alcotts sechste Schule.13 Sie hiess offiziell School for Human Culture und ist 1835
von Elizabeth Peabody14 beschrieben worden (Peabody 1874). Der Unterricht begann mit 18
Schülerinnen und Schüler, die für die Schule angeworben werden mussten. Die Konkurrenz in
Boston war gross, es gab zahlreiche private Bildungsangebote für die gehobene Mittelschicht.
Um die Schule profitabel zu machen hätten 30 Schüler gefunden werden müssen. Diese Zahl
wurde nie erreicht. In der Folge musste Bronson Alcott am Gehalt seiner beiden
Assistentinnen, Elizabeth Peabody und Margaret Fuller, sparen (Roberts 1942).
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In seiner Erziehungstheorie, einer spirituellen Pädagogik, ging Bronson Alcott
davon aus, dass zwischen Kindern und Erwachsenen kein Unterschied bestehe,
ausgenommen dass Kinder näher zu Gott seien als Erwachsene.
Kinder können genauso tief empfinden wie Erwachsenen und sind imstande,
den vollen Gehalt der Bibel zu verstehen,
wenn man ihre eigenen Fragen und Antworten zulässt, also abrückt vom
Prinzip der Katechese (Bronson Alcott 1991, S. 317ff.).
Die Schule war koedukativ. Das Alter der Kinder reichte von sechs bis dreizehn
Jahren. Neben dem Unterricht in Fächern und Fertigkeiten konnten sie mit Bronson Alcott
freie Unterhaltungen führen, oft über Themen der Bibel, aber auch über ihre Eltern, ihre
eigene Entwicklung oder das Leben in Boston. Ohne Zensur und eigene Vorsicht äusserten
sich die Kinder sehr freimütig. Fünfzig dieser Gespräche sind von Elizabeth Peabody und
ihrer Schwester Sophia aufgezeichnet worden. Sie bildeten die Basis der Conversations with
Children on the Gospels (Bronson-Alcott 1836/1837).
13 Die erste Schule war in Bristol, Connecticut. Bronson Alcott unterrichtete hier im Jahre
1823. Von 1825 bis 1827 war in Cheshire, Connecticut, tätig, in den Jahren 1827 und 1828
wieder in Bristol, 1828 bis 1830 findet man ihn in Boston, 1831-.1833 in Germantown in
Pennsylvania, und 1833 in Philadelphia.
14 Elizabeth Palmer Peabody (1804-1894) war das älteste von sieben Kindern. Ihre Eltern
waren beide Lehrer, und auch sie unterrichtete von 1822 an, also mit achtzehn Jahren. Ihr
erste Schule hatte grossen Erfolg, nachdem 1826 William Ellery Channing (1780-1840) seine
Tochter dort einschrieb. Channing war einer der berühmtesten Prediger der Vereinigten
Staaten. Auch die Peabody School war kurzlebig, weil die Finanzen schlecht verwaltet
wurden. Danach organisierte Elizabeth Peabody als erste überhaupt „reading parties,“ auf
denen Frauen von 1832 in Philosophie und Literatur unterrichtet wurden. Nach dem Ende der
Temple School war sie die erste Verlegerin in Boston, ihr Verlag wurde unter dem Namen
„E.P. Peabody“ geführt, weil eine weibliche Verlegerin als unerhört galt. Ihr Boston Book
Shop in der 13 West Street wurde im Juli 1840 eröffnet und war schnell ein Zentrum der
Transzendentalisten. Er blieb dies mehr als zehn Jahre lang. Nach dem Ende dieses
Unternehmens arbeitete Elizabeth Peadbody für kurze Zeit wieder als Lehrerin und verkaufte
danach zehn Jahre lang selbst gemachte Lehrmittel. Während dieser Zeit entdeckte sie
Friedrich Fröbel. 1860 eröffnete sie zusammen mit ihrer Schwester Mary den ersten
englischsprachigen Kindergarten der Vereinigten Staaten. Sein Ort war die Pinckney Street in
Boston (vgl. Ronda 1999).
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Über ihre Eltern sagen die Kinder zum Beispiel: „Parents very seldom
understand what passes in their children’s mind, especially concerning spiritual
subjects and their feelings“ (Vol. I/S. 120).
Oder sie bezweifelten die Realität vom Himmel und Hölle und verstanden
darunter blosse „states of mind“ (Vol. I/S. 82; Vol. II/S. 60).
Auch bezweifelten sie die Wundertaten von Jesus, der nur aufgrund seiner
Lehren und vorbildlichen Gestalt verehrt werden solle.
Alcott Bronson brachte ihnen bei, dass die Kreuzigung von Jesus eine Art
Selbstopfer (self sacrifice) gewesen sei (Vol. I, S. 242), was der offiziellen
Lehre widersprach.
Besonders kontrovers wurden die Aussagen der Kinder zu Geburt und Sex
aufgenommen. Eines der Gespräche hiess „Marriage of Spirit.“ Der sechsjährige Josiah
Philipp Quincy,15 Sohn des Präsidenten der Harvard University, Josiah Quincy,16 antwortete
auf ALCOTTS Frage, was die Bedeutung der Geburt sei: Sie reinigt die Unanständigkeit durch
einen neuen Geist17 (Vol. I/S. 68), was bedeutete, der Sechsjährige hatte eine Vorstellung
davon, wie Kinder zustande kommen. Das war für die puritanische Gesellschaft schockierend
und konnte nicht hingenommen werden, schon gar nicht einem Schulhaus, das von der
Mehrheit der Bürger als Raum enger moralischer Überwachung erwartet wurde.
Einer der Dialoge geht so:
Mr. Alcott:
Andrew:
George and Emma:
Charles:
Do you ever feel blessed?
No.
Yes, when we have done right.
Yes; when I think of my parents, and the good house I have to
live in, and my clothes, and the good school I go to.
Mr. Alcott:
These are blessing, but go farther inward - blessedness is within
you.
Charles:
I don’t think that doing right blesses us. It is our duty to do right.
My conscience never blessed me, but sometimes lets me receive
blessings; but they come from God afterwards.
Mr. Alcott:
Is not God always ready to bless? Does not being blessed
depend on you?
Charles:
Perhaps it does; but the blessing is something else than being
prepared for it.
Mr. Alcott:
Do you carry your heart into every thing?
Charles:
I never knew any body but Jesus whose heart went into every
thing.
Mr. Alcott:
Do you never feel repose, quite, as if you were living in God?
Charles:
No; because I am always wanting something
(Bronson Alcott 1991, S. 60).
15 Josiah Philipp Quincy (1829-1910) war später Anwalt und ein bekannter Schriftsteller.
16 Josiah Quincy (1772-1864) war von 1829 bis 1845 Präsident der Harvard University. Er
war auch Bürgermeister von Boston und Senator der Staates Massachusetts.
17 „It is to take up the body from the earth. The spirit comes from heaven, and takes up the
naughtiness out of other people, which makes other people better. And these naughtinesses,
put together, make a body for the child; but the spirit is the best part of it” (Vol. I/S. 68).
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Kinder als Freidenker mit eigenen Überzeugungen waren eine Provokation.
Bronson Alcotts Conversations lösten einen Sturm der Entrüstung aus. Nathan Hale, etwa, der
Herausgeber des Boston Daily Advertiser,18 verdammte öffentlich sowohl das schlimme Buch
als auch die gottlose Schule. Hale schrieb am 21. März 1837 sehr hellsichtig:
„These conversations appear the first fruits of the new attempt to draw wisdom from
babies and sucklings. It is in our opinion, a signal failure, and we cannot recommend
any longer perseverance in the experiment” (Boston Daily Advertiser, March 21st
1837, S. 2).
Sein Konkurrent, Joseph T. Buckingham,19 Herausgeber des Boston Courier, erklärte,
dass Bronson Alcott noch gefährlicher sei als der Materialist Abner Kneeland,20 der 1834 in
Boston wegen Blasphemie vor Gericht gestanden hatte und 1838 als letzter Amerikaner
tatsächlich verurteilt wurde (French 1980). Auch Kneeland war Lehrer, er unterrichtete von
1797 im Nebenamt und wurde 1801 Mitglied der Baptist Church. 1803 wurde als Prediger der
Universalisten ordiniert und begann eine Karriere als Publizist. Er veröffentliche christliche
Lehrmittel und auch A Child’s First Book. Zudem war er Herausgeber verschiedener
Zeitschriften und bestätigte sich als Bibelübersetzer. Allerdings wurde sein christlicher
Glaube immer schwächer. 1829 wurde er wegen unüberbrückbarer Gegensätze von seiner
Kirche suspendiert.
Aus diesem Streit entstand das Buch A Review of the Evidences of Christianity (1829),
das für weitere Eskalation sorgte. Kneeland wurde Atheist unter dem Einfluss der Schriften
des englischen Naturforschers und Dissenters Joseph Priestley, der als erster eine Theorie der
öffentlichen Bildung auf naturwissenschaftlicher Grundlage entwickelt hatte. Am 31. März
1830 schrieb Kneeland in einem Brief:21
„I understand an Atheist to be one who denies the existence of god;22 and a theist, or
deist, one who affirms, or at least believes in the existence of god. I am neither one nor
the other; but acknowledge my total ignorance in relation to the subject. I have tried,
and tried very hard, to gain some knowledge about it; but have gained none. I know as
much about the bible,23 and of what it contains, as I ever expect to know; but the bible
gives me no knowledge of god.”
18 Der Daily Advertiser von Boston wurde 1813 von Nathan Hale (1784-1863) gegründet.
Hale war auch Dekan der Brattle Street Church in Boston.
19 Joseph Tinker Buckingham (1779-1861) arbeitet mit sechzehn Jahren in einem
Druckerbüro in Walpole, New Hampshire. Er war danach Journalist und Herausgeber von
diversen Zeitungen und Zeitschriften. 1803 gründete er in Boston eine kurzlebige
Monatsschrift mit Namen „Polyanthus.“ Von 1812 bis 1828 war er Mitherausgeber des New
England Galaxy and Masonic Magazine. Seine Anteile an der „Galaxy“ verkaufte er, und
widmete sich ganz dem 1824 gegründeten Courier von Boston, den Buckingham bis 1841
herausgab.
20 Abner Kneeland (1774-1844) war irischer Herkunft und stammte aus Gardner,
Massachusetts.
21 Zugänglich im American Atheists Library and Archives:
http://www.atheists.org/Atheim/roots/kneeland/
22 Kleingeschrieben im Original.
23 Kleingeschrieben im Original.
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Bronson Alcott sollte gefährlicher sein als Kneeland, weil er freie Unterhaltungen mit
Kindern zuliess. Das war allgemeine Meinung. Ein Kirchenvertreter sagte: Die Conversations
with Children on the Gospels seien zu einem Drittel absurd, zu einem Drittel blasphemisch
und zu einem Drittel obszön (Carlson 1988, S. 454).24 Aber wie kam dann die
Reformpädagogik in die Schule? Und wie konnte sich ein Demokratieideal entwickeln, das
bis heute Bestand hat?
Ein solches Ideal, das gesellschaftlich fest verankert ist, gibt es nur in den Vereinigten
Staaten. Der hauptsächliche Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und
dritte Präsident, Thomas Jefferson,25 hinterliess eine klare pädagogische Botschaft: Was in der
Unabhängigkeitserklärung „Konsens der Regierten“ genannt wird, basiert auf öffentlicher
Bildung, ein Konzept, das seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich diskutiert und in den
Vereinigten Staaten erstmalig angewandt wurde.
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Jefferson verknüpfte die Entwicklung der Demokratie mit der Entwicklung der
öffentlichen Bildung,
die in einem bestimmten Minimum allen Kindern von Bürgern der Gesellschaft
zuteil werden sollte,
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer
ethnischen Zugehörigkeit.
Das wird in einem Brief an den Richter und politischen Schriftsteller John Taylor26 aus
dem Jahre 1810 so gesagt:
„I have indeed two great measures at heart, without which no republic can maintain
itself in strength: 1. That of general education, to enable every man to judge for
himself what will secure or endanger his freedom. 2. To divide every county into
hundreds, of such size that all the children of each will be within reach of a central
school.”27
Jefferson wollte seit 1776 in seinem Heimatstaat Virginia ein Gesetz zur öffentlichen
Bildung durchbringen, das bei verschiedenen Anläufen scheiterte, vor allem weil sich
niemand vorstellen konnte, wie die Armen gebildet werden können. Erst 1819 wurde das erste
Gesetz über die öffentliche Universität verabschiedet, dem Volksschulgesetze folgten. Der
Plan des Systems öffentlicher Bildung erinnert an die Stufung in Condorcet Bildungsplan für
24 Der Satz wird Andrews Norton (1786-1853) zugeschrieben. Norton war von 1819 bis 1830
Dexter Professor of Sacred Literature an der Harvard University. Er war der hauptsächlich
theologische Gegner der amerikanischen Transzendentalisten.
25 Thomas Jefferson (1743-1826) war von 1801 bis 1809 Präsident der Vereinigten Staaten.
Jeffersons Schriften liegen in verschiedenen Ausgaben vor, darunter eine zwanzigbändigen
der gedruckten Schriften (Jefferson 1903-1905). Die elektronische Ausgabe wird von der
University of Virginia betreut: http://etext.virginia.edu/jefferson/
26 John Taylor (1753-1824) stammte wie Jefferson aus Virginia und war in verschieden
Ämtern sowohl des Staates Virginia als auch des Bundes tätig. Er opponierte Jeffersons
Haltung in der Sklavenfrage. Beide waren Sklavenhalter, aber Jefferson sah dafür keine
Zukunft, während Taylor die Sklavenhaltung aktiv verteidigte.
27 http://etext.virginia.edu/jefferson/quotations/jeff1370.htm
9
die Französische Nationalversammlung (1792) und wird von Jefferson in einem Brief an
John Adams28 aus dem Jahre 1813 wie folgt erläutert:
„A bill for the more general diffusion of learning ... proposed to divide every county
into wards29 of five or six miles square; ... to establish in each ward a free school for
reading, writing and common arithmetic; to provide for the annual selection of the best
subjects from these schools, who might receive at the public expense a higher degree
of education at a district school; and from these district schools to select a certain
number of the most promising subjects, to be completed at an University where all the
useful sciences should be taught. Worth a genius would thus have been sought out
from every condition of life, and completely prepared by education for defeating the
competition of wealth and birth for public trust.”30
Die amerikanische öffentliche Bildung beginnt also keineswegs mit einer High School
für alle. Wie bei Condorcet sollten alle Kinder ein Minimum erhalten, während danach eine
Auslese der Besten einsetzt. Die Überzeugung, dass alle gleich verschult werden müssen und
dass nur das als demokratisch angesehen werden könne, bildet sich im 19. Jahrhundert erst
allmählich aus und steht keineswegs in der Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten. Aus
ihr geht aber klar hervor, dass Demokratie und öffentliche Bildung in einem Verhältnis
wechselseitiger Abhängigkeit stehen. Wer will, dass das Volk die Regierung kontrolliert und
gegebenenfalls auch absetzt, muss die Verteilung von Wissen voraussetzen. Unwissende sind
Risiken für die Demokratie.
Die Bedingung dafür ist, dass nicht Reichtum die Bildung bestimmt, also mit dem
aristokratischen Bildungsprinzip gebrochen wird. In seiner Autobiographie sagt Jefferson das
so:
„The less wealthy people, … by the bill for a general education, would be qualified to
understand their rights, to maintain them, and to exercise with intelligence their parts
in self-government; and all this would be effected without the violation of a single
natural right of any one individual citizen” (Jefferson 1903, Vol.1/p. 73).
In Europa gibt es keine parallele Entwicklung. Die Konzepte der Volksbildung, die in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, waren auf den Staat und die
Qualifizierung der Industriearbeiterschaft bezogen, nicht auf Demokratie. Von
demokratischer Erziehung aber nimmt die amerikanische Pädagogik ihren Ausgang, was nicht
so vorgestellt werden kann, als sei zu Beginn bereits ein fertiges Konzept vorhanden gewesen.
Was genau mit dem Verhältnis von Demokratie und öffentliche Bildung gemeint war und
welche Konsequenzen damit verbunden waren, musste über Jahrzehnte herausgefunden
werden. Dabei waren starke Widerstände zu überwinden. Nachhaltig wurde das Thema
„Demokratie“ erst nach langen Diskussionen und unter der Voraussetzung von praktischen
Versuchen.
Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die demokratische Erziehungsreform zu
einem Thema der amerikanischen Öffentlichkeit. 1850 benutzte der Publizist Edward
28 John Adams (1735-1826) war von 1789 bis 1797b der zweite Präsident der Vereinigten
Staaten.
29 Bezirke.
30 http://etext.virginia.edu/jefferson/quotations/jeff1370.htm
10
Mansfield den Begriff American Education,31 der unter Berufung auf die Idee der Republik und nicht der Bildung - auf drei Prinzipien zurückgeführt wurde, nämlich die amerikanische
Verfassung, die Naturwissenschaften und so die moderne Zivilisation sowie die Idee der
Christenheit, wie sie in der Bibel niedergelegt ist (Mansfield 1850, S. 62).32 Das wird wie
folgt erläutert:
„If America has presented any thing new to the world, it is a new form of society; if
she has any thing worthy to preserve, it is the principles upon which that society is
instituted; hence it is not a Grecian or a Roman education we need - it is not one
conceived in China, Persia, or France. On the contrary, it must have all the
characteristics of the American mind, fresh, original, vigorous, enterprising;
embarrassed by no artificial barriers, and looking to a final conquest over the last
obstacles to the progress of human improvement”
(ebd., S. 60).
Lateinschulen hatten die Einwanderer mitgebracht. Eine der ersten öffentlichen
Schulen in den Vereinigten Staaten und die einzige, die bis heute existiert, ist die Boston
Latin School. Sie wurde am 16. April 1635 gegründet und erhielt von Anfang an öffentliche
Unterstützung. Der erste schoolmaster nach englischem Vorbild war Philemon Pormont, der
zunächst in seinem eigenen Haus und gegen geringes Entgelt unterrichtete. 1638 konnte die
Schule ein eigenes Gebäude beziehen, Pormont bekam einen Schulassistenten und das Gehalt
wurde auf £50 heraufgesetzt. Am 29. Dezember 1670 konnte der berühmte Ezekiel Cheever33
als Headmaster der Schule gewonnen werden. Er hatte die lateinische Grammatik
geschrieben, nach der in allen englischen Kolonien des amerikanischen Kontinents
unterrichtet wurde. Cheever blieb fast vierzig Jahre in Boston und machte die Lateinschule zu
einer angesehenen Institution.
Mitte des 19. Jahrhunderts schien die klassische Bildung nur noch ein Relikt aus der
Kolonialzeit zu sein. Ähnliche Überlegungen wie bei Mansfield finden sich in zahlreichen
Traktaten im Jahrzehnt vor dem amerikanischen Bürgerkrieg.
31 Die zweite Auflage erschien 1877. Edward Deering Mansfield (1801-1888) war unter
anderem Autor der Political Grammar of the United States (New York: Harper&Brothers
1834). Er graduierte 1818 von der Militärakademie West Point, verzichtete aber auf eine
militärische Karriere. Stattdessen studierte er in Princeton, wo er 1822 einen Abschluss
machte. 1836 wurde er Professor für Verfassungsrecht am Cincinnati College. Mansfield
verliess das akademische Amt zugunsten einer Karriere als Journalist und Herausgeber. So
gab er von 1836 bis 1849 erfolgreich den Cincinnati Chronicle heraus. Von 1859 an war er
auch als Commissioner of Statistics für den Bundesstaat Ohio tätig.
32 Die American Education wurde im Januar 1851 in dem American Whig Revew so
rezensiert: “The subject and purpose of this book should comment it to a universal attention.
A system of education truly adopted to this country, politically and morally, is the great
desideration. All contributions to a thorough discussion of the subject should be eagerly
welcomed and universally considered” (The American Whig Review 1851, S. 96).
33 Ezekiel Cheever (1614/1615-1708) stammte aus London und wuchs in ärmlichen
Verhältnisse auf. Er emigrierte vor 1837 nach Amerika und versah verschiedenen
Lehrerstellen in Connecticut. 1645 veröffentlichte Cheever das Lehrbuch Accidence: A Short
Introduction to the Latin Tongue. Bis 1785 erschienen davon 20 Auflagen und bis 1838 war
das Lehrmittel in Gebrauch. Cheever was Millenist, 1685 erschienen seine Scripture
Prophecies Explained, in denen er seine Ansichten erläuterte.
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Der Superintendent Ira Mayhew aus mahnte eine wirkliche Erziehung für
das Volk an, nicht nur für die Elite (popular education: Mayhew 1850).34
Der Anwalt und spätere Bürgerkriegsgeneral Christopher Columbus
Andrews forderte die Überwindung des gegenwärtigen Erziehungssystems
und seiner undemokratischen Operationsweise (Andrews 1853).35
Der Prediger und politische Aktivist Samuel May verlangte die umfassende
Erneuerung der Bildung angesichts des materiellen und curricularen
Zustandes der Schulen (revival of education: May 1855).36
Zu den Reformforderungen zählte auch die Erneuerung des Curriculums der Höheren
Bildung. Latein und Griechisch, sagte Horace Mann in seiner Inauguraladresse im Antioch
College 1854,37 seien Subtilitäten, die von den praktischen Aufgaben des Lebens ablenkten
und die Lernenden handlungsunfähig machten (Dedication of Antioch College 1854, S. 39f.).
Die Lehren der „ancients” seien nur nützlich, wenn sie vor dem Hintergrund der Fortschritte
der Gegenwart verstanden werden (ebd., S. 58). Sie wären so nicht Grundlage der
demokratischen Allgemeinbildung, die Horace Mann als erster Sekretär des State Board of
Education in Massachusetts von 1837 an massgeblich und für die Vereinigten Staaten
musterhaft befördert hatte.38
Horace Mann stammte aus Franklin, Massachusetts, und wuchs wie viele andere
Erzieher seiner Zeit in armen Verhältnissen auf. Er war weitgehend Autodidakt und nutzte die
von Benjamin Franklin begründete öffentliche Bibliothek seiner Heimatstadt, die sich nach
34 Um 1867 neu gedruckt unter dem Titel The Means and Ends of Universal Education
(Mayhew 1867). Ira Mayhew (1814-1894) stammte aus New York und kam 1843 nach
Michigan. Er war von 1845 bis 1849 Michigan’s State Superintendent of Public Education,
ein Amt, in das er erneut von 1854 bis 1859 innehatte. 1853 wurde er als erster Nichtkleriker
zum Leiter des Albion Seminary (seit 1861 Albion College) gewählt. Hier eröffnete er eine
Business School, die auf seinem Bestseller von 1851 basierte, Mayhew’s Practical BookKeeping, ein Buch, das bis 1873 neunzig Auflagen erzielte. 1887 ging die Schule in die
Detroit Business University auf.
35 Christopher Columbus Andrews (1829-1922) war zur Zeit der Abfassung seines Buches
über Erziehung Cousellor at Law in Boston. Nach seinem Jurastudium in Cambridge/Mass.
war er Anwalt in Newton, Mass. und gehörte hier auch dem Schoolboard an. Daher rührte
sein Interesse an Erziehung. Im Bürgerkrieg brachte es Andrews bis zum Generalmajor,
danach war als Diplomat und Forstwissenschaftler tätig. Andrews war der erste Poliker, der
gegen die Interessen der Holzindustrie Massnahmen zum Schutz des Wandels durchsetzen
konnte.
36 Samuel Joseph May (1797-1871) schloss 1817 sein Studium in Harvard ab. Er studierte
danach bis 1822 Theologie. May war einer der radikalsten Aktivisten für die Abschaffung der
Sklaverei. Von 1845 bis 1868 war er Minister an der Church of Messiah in Syracuse, zu
dieser Zeit entstand sein Buch Revival of Education (1855).
37 Das Antioch College in Yellow Springs, Ohio wurde 1852 von der Christian Church
gegründet und ein Jahr später eröffnet. Horace Mann wurde sein erster Präsident. Er setzte
sowohl eine koedukative als auch eine sektenfreie Ausbildung durch.
38 Horace Mann (1796-1859) ging 1833 nach Boston und engagierte sich in UnitarierKreisen. Von 1827 bis 1838 war er Mitglied des Senats des Bundesstaates Massachusetts, die
letzen zwei Jahre amtierte er als dessen Präsident. Das Board of Education hatte keinerlei
Macht, durchgesetzt wurden die Reformen allein durch die Beeinflussung der öffentlichen
Meinung.
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dem wohl wichtigsten Gründervater der Vereinigten Staaten benannt hatte.39 Mann schloss als
Jahrgangsbester die Brown University ab, studierte danach mit Unterbrechungen Jura, war als
Tutor für Latein und Griechisch tätig und arbeitete einige Jahre als Bibliothekar. 1823 wurde
er als Anwalt zugelassen und war 14 Jahre lang in diesem Beruf tätig. Die ersten Jahre
verbrachte er in Dedham, Massachusetts, hier war auch Mitglied des Schulkomitees. In
Dedham entstand eine der ersten öffentlichen Schulen in den Vereinigten Staaten, die für alle
Kinder frei zugänglich waren und aus dem allgemeinen Steueraufkommen bezahlt wurden.
Horace Mann sah hier das Grundmodell seiner späteren Schulpolitik. Er wurde 1837
Sekretär des neu gegründeten Board of Education im Bundesstaat Massachusetts40 und blieb
in diesem Amt bis 1853, als er Präsident des neu eröffneten Antioch College in Yellow
Springs, Ohio, wurde. Wenn er heute, obwohl Jurist, „Vater der amerikanischen Pädagogik“
genannt wird, dann hat das mit dem Erfolgen des Board of Education während seiner
Amtszeit zu tun:
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1839 eröffnete in Lexington die erste Public Normal School der Vereinigten
Staaten, also die erste staatlich finanzierte Lehrerbildungsinstitution.41
Das System der High Schools wurde entwickelt, damit zusammenhängend
wurde das Curriculum erweitert.
Der stets schwankende Schulbesuch wurde mit einem gesetzlichen
Halbjahresminimum gesichert.
Eine verbindliche Ausbildung der Lehrkräfte wurde etabliert, einhergehend mit
besserer Bezahlung.
Die Ressourcen der Schulen wurden verbessert, die Schulpflicht wurde bis
zum 16. Lebensjahr ausgedehnt.
Sekten waren vom Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ausgeschlossen.
Körperstrafen wurden verboten.
Gegen das Verbot der Körperstrafen liefen die Lehrkräfte Sturm, und die zahlreichen
Sekten wehrten sich erbittert gegen ihren Ausschluss vom Unterricht. Horace Mann war
Unitarier und musste schwere persönliche Angriffe über sich ergehen lassen. Seinen
Reformen tat das keinen Abbruch, viele Bundesstaaten folgten im 19. Jahrhundert dem Weg
der öffentlichen Schule für die Demokratie, der zunächst also gar nicht mit einer besonderen
„Reformpädagogik“ besetzt war.
Die Veränderung der amerikanischen Bildung wurde von den Universitäten forciert
und war öffentlicher Diskussion ausgesetzt. Anders als in Preussen oder Frankreich konnte
die Bildung für alle nicht einfach vom Staat einfach verordnet und durchgesetzt werden.
Entsprechend mussten sich die Anwälte der demokratischen Erziehung mit Kritik
auseinandersetzen, die bei Abstimmungen eine Rolle spielte. Einwände gegen die
Entwicklung einer öffentlichen und kostenlosen Allgemeinbildung waren immer Einwände
gegen die Macht des Staates, einhergehend mit der Weigerung, Steuern für die Ausbildung
39 Die Stadt ist am 2. März 1778 gegründet worden, zwei Jahre nach der
Unabhängigkeitserklärung.
40 Das Massachusetts Board of Education existiert bis heute. Gouverneur Edward Everett
(1794-1865) hatte 1837 in seiner Regierungserklärung die Gründung des Board angeregt. Es
besteht aus acht gewählten Mitgliedern.
41 Die erste Lehrerbildungsanstalt in den Vereinigten Staaten war die 1823 von Samuel Read
Hall (1795-1877) gegründete Concord Academy. Hall gründete 1830 auch das American
Institute of Instruction, die älteste Erziehungsorganisation Amerikas.
13
fremder Kinder zu bezahlen. Daher bezieht sich die Begründung der allgemeinen Bildung für
alle wohl auf das Gemeinwohl (public good), aber oft in subsidiärer Sicht und nicht einfach
als pauschale Begünstigung (Sears 1875, S. 6).42
So fasste der Präsident des Peabody Educational Fund, der Baptist Barnas Sears, 1875
die Diskussion für und gegen die öffentliche Bildung zusammen. Sears war Professor für
Ethik an der Brown University und seit 1855 auch deren Präsident. Der amerikanische
Unternehmer und Mäzen George Peabody43 hatte den zwei Millionen Dollar-Fond 1867
gegründet; der Zweck war die Förderung der intellektuellen, moralischen und Berufsbildung
in den ärmsten Gegenden des amerikanischen Südens.44 1869 wurde der Fond nochmals um
eine Million Dollar aufgestockt. Damit wurden die Elementarbildung gefördert und
bestehende Schulen unterstützt. Die Satzung sah vor, für eine Zeit von 30 Jahren jährlich
80.000 Dollar für diesen Zweck auszugeben, in einer Zeit, als die öffentliche Bildung auf
grossen Widerstand seitens vieler Eltern stiess, die letztlich nur die Verbesserung der Qualität
und der Verwendungsnutzen überzeugen konnten.
Bildung allein war nicht das zentrale Argument. Horace Mann hatte 1841 dargelegt,
dass und wie der wirtschaftliche Reichtum mithilfe einer gebildeten Öffentlichkeit anwachsen
werde, ein Argument, das seitdem die Diskussion sehr nachhaltig bestimmt.45 Man kann das
eine utilitaristische Pädagogik nennen, führte Mann in seinem 5. Report für das das
Massachusetts Board of Education aus, die bessere Verteilung privater Kompetenz erhöht den
nationalen Reichtum. Diese Aussage basierte auf einer Umfrage: Mann hatte mit
Unternehmern, Fabrikanten und Handwerkern aller Art korrespondiert, um deren Meinung zu
erfragen, wie produktiv aus ihrer Sicht Bildung sei. Die Antwort war überraschend eindeutig,
bei gleichen natürlichen Anlagen sei der Absolvent einer Schulausbildung weitaus
produktiver als derjenige, dem jede Bildung fehle und der bloss einfache Handgriffe
beherrsche. 1841 war dieser Zusammenhang noch hochgradig umstritten.
Die Erwartung und der Effekt produktiver legitimiert die öffentliche Schule bis heute.
Man sieht, wie alt die Humankapitaltheorie im Kern ist:
„Those who have been blessed with a good common-school education rise to a higher
and higher point in the kinds of labor performed, and also in the rate of wages paid,
while the ignorant sink like dregs,46 and are always found at the bottom”
(Life and Works of Horace Mann, Vol. III/S. 110).
42 Barnas Sears (1802-1880) studierte Theologie an der Brown University und am Newtonian
Theological Institute. 1834 lehrte er in Europa, darunter auch an der Universität Halle. Hier
gründete er die erste deutsche Baptistengemeinde. 1855 wurde er Präsident der Brown
University.
43 George Peabody (1795-1869) stammte aus Massachusetts. Er gründete zusammen mit dem
Kaufmann Elisha Riggs die Firma Peabody, Riggs, and Company, die Kurzwaren vertrieb.
Von 1816 lebte Peabody in Baltimore, wo auch der Sitz der Firma war. Von 1837 lebte
Peabody in London.
44 The most destitute portion of the Southern States. Vgl. Vinovskis (1970).
45 Fifth Annual Report of the Massachusetts Board of Education (1841) (Life and Works of
Horace Mann, Vol. III/S. 92-111).
46 Wie nichts.
14
Das war jedoch nicht die einzige Begründung. Eine öffentliche Erziehung für alle, die
auf die Zwecke der civil society eingestellt ist, hatte 1854 Francis Wayland,47 der langjährige
Präsident der Brown University, begründet. Dieses Argument sieht so aus:
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Die enormen Fortschritte der Industrie,
die Zunahme und Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums,
die Erhöhung der Mobilität
und die Erleichterung des sozialen Austausches (intercommunication)
legen eine öffentliche Form der Kommunikation nahe, die jeden erreichen
muss,
weil jeder von allen Entwicklungen direkt oder indirekt betroffen ist.
Dieses Argument findet sich also nicht erst bei John Dewey, sondern mehr als sechzig
Jahre vor Democracy and Education in der Mitte eines öffentlichen Diskurses, der über die
Zukunft der Bildung geführt wurde. Für Francis Wayland ist dabei nicht der Geist des Staates,
sondern der Geist der Öffentlichkeit massgebend, der nicht verwaltet werden kann, sondern
geformt werden muss.
„Thus the public mind is ever wakeful. Every man is continually forming judgements,
true or false, but yet judgements. Not only concerning the events of his own town or
village, but events that are occurring throughout the Republic and the world”
(Wayland 1855, S. 18).
Die Lösung für die zentralen Probleme der sich rasant entwickelnden
Industriegesellschaft ist nicht starre soziale Inklusion oder staatliche Verteilung von
Ressourcen, sondern Beweglichkeit und Bildung. Die zivile Gesellschaft benötigt gebildete
Bürger, die an den öffentlichen Geschäften teilhaben können. Die amerikanischen
Nordstaaten, so Wayland sieben Jahre vor der Sezession, hätten dabei die notwendige
Entwicklungsarbeit geleistet.
„They established a civil society on the foundation of equal rights. They well know
that equal rights could only be secured on the basis of intelligence and virtue. Here,
then, they laid the corner stone of their social edifice. They determined that every
citizen should be instructed in good learning, and be provided with the means of
religious instruction. They were well persuaded that a people nurtured under such
auspices could never be either slaves or oppressors; for he who is intelligent and just,
must love liberty, as well for his neighbor as for himself. Their first care was,
therefore, the establishment of schools for the whole country”
(ebd., S. 19).
Nach dem Bürgerkrieg, nämlich 1869, formulierte der Mathematiker und Chemiker
Charles William Eliot das Schlagwort der „new education”.48 Damit sollte eine praktische, an
47 Francis Wayland (1796-1865) war von 1827 bis 1855 Präsident der Brown University. Er
hatte erst Medizin und dann Theologie studiert. Von 1817 bis 1821 war er Tutor am Union
College, wohin er nach einigen Jahren als Pastor an der First Baptist Church of Boston 1826
zurückkehrte. 1857 wurde Wayland noch Pastor der First Baptist Church of Providence. Er
war Anhänger des Freihandels und vertrat eine liberale Theorie des Marktes (Elements of
Political Economy, 1837).
48 In: Atlantic Monthly (February, March 1869).
15
den Naturwissenschaften, den modernen Sprachen und politischer Ökonomie orientierte
Reform der Höheren Bildung in den Vereinigten Staaten bezeichnet werden.49
Die Reichweite dieses Vorschlages kann wiederum mit einem Verweis auf
Lexikalisierung erläutert werden. Ich beziehe mich nochmals auf die erste amerikanischen
Cyclopaedia of Education aus dem Jahre 1877.50 Hier findet sich wohl ein Stichwort „reform
schools” , aber nicht das Stichwort „new education”. Reformschulen sind zu diesem Zeitpunkt
sozial- und sonderpädagogische Institute, die auch reformatories genannt werden. Sie dienen
der Integration vernachlässigter oder behinderter Kinder, jugendlicher Delinquenten oder
Straftäter, die für die Gesellschaft zurück gewonnen (reclaim) werden sollen (Kiddle/Schem
1877, S. 724ff.). Vorbild ist die deutsche Innere Mission, die Erneuerung der amerikanischen
Erziehung ist noch kein lexikalisches Stichwort.
Charles Eliot hatte als langjähriger Präsident der Harvard University ein Konzept der
Bildung vor Augen, das sich von der europäischen Auffassung von „Kultiviertheit” oder
„Selbstbildung” lösen und gesellschaftliche Verwertbarkeit und Effizienz in den Mittelpunkt
stellen sollte (Eliot 1903). Dabei wurde auch der Zustand der Pädagogik kritisiert:
„The history of education if full of still-born theories; the literature of the subject is
largely made up of theorizing; whoever reads it much will turn with infinite relief to
the lessons of experience” (Eliot 1869, S. 204).
Mit einer solchen spekulativen Wissenschaft war für das Problem, wie eine
demokratische Erziehung entwickelt werden kann, nichts anzufangen. Das hatte schon
Mansfield (1850, S. 62) gesagt, Metaphysik passt nicht zur modernen Erziehung, es sei denn,
sie wird zur Wissenschaft.
Die Fortschritte dieser Entwicklung wurden genau registriert (White 1874). Das
Government Printing Office in Washington veröffentlichte 1874 einen Report über den
Zustand der öffentlichen Bildung, der direkt mit dem Fortschritt des Wohlstands und der
Sozialkultur in Verbindung gebracht wurde (A Statement 1874, S. 11/12). Die Entwicklung
der Industrie, die Verteilung des Eigentums und die Produktivität der gesellschaftlichen
Arbeit verlangten die Schulung der Intelligenz des ganzen Volkes und nicht nur der Elite. Der
Report wurde für das Erziehungsbüro des Innenministeriums verfasst von Duane Doty und
William Torrey Harris, der eine Superintendent der Stadtschulen von Detroit, der andere von
St. Louis. Ursprünglich sollte der Report für die Weltausstellung in Wien 1873 verfasst
werden, er erschien ein Jahr später mit der Intention, die Besonderheit des amerikanischen
Bildungswesens und seine spezifische Entwicklungsrichtung zu beschreiben, auch um die
Wettbewerbssituation darzustellen.
49 Ausführlich dargelegt in: What is a Liberal Education? (The Century, June 1884) (Eliot
1909a, S. 87-122).
50 The Cyclopaedia of Education: A Dictionary of Information for the Use of Teachers,
School Officers, Parents, and Others (Kiddle/Schem 1877). Henry Kiddle war Superintendent
der Public Schools of New York, Alexander J. Schem war sein Assistent. Henry Kiddle
(1824-1891) wurde im englischen Bath geboren und kam als Junge nach New York. 1843
wurde er Principal der Ward School, von 1846 bis 1866 amtierte er als Principal einer
Grammar School, 1870 wurde er zum Superintendenten gewählt. Kiddle trat 1879 von diesem
Amt zurück und widmete sich spirituellen Studien im Umkreis der 1875 in New York
gegründeten theosophischen Gesellschaft. Alexander J. Schem war von 1852 an Professor für
Hebräische Sprachen am Dickinson College.
16
Die Schlüsselsätze in dem einflussreichen Report lauteten:
„The modern industrial community cannot exist without free popular education carried
out in a system of schools ascending from the primary grade to the university. And
without a free development of productive industry, enabling the individual to
accumulate the wealth necessary for the supply of necessities of life faster than he
consumes them, there is not left the leisure requisite to that cultivation of intelligence
needed in the theoretical discussion and comprehension of public affairs; and without
such occupation of the individual with public affairs, a democracy could exist only in
name”
(ebd., S. 12).
Das dazu passende Curriculum hat zwei zentrale Kriterien, materielle Bewältigung des
Lebens und Integration in die Gemeinschaft (ebd., S. 14/15), nicht „Bildung” im Sinne der
europäischen Kultiviertheit. Die beiden Kriterien sollten einheitlich gelten. Dafür wird die
Elementarbildung (Common Schools) auf ein Kerncurriculum konzentriert und
handlungsbezogen organisiert.51 Auch die Höhere Bildung (High Schools, Academies,
Seminaries)52 wird stark auf Nutzaspekte bezogen, die direkte Auswirkungen auf das
Curriculum haben sollen. Classical studies werden marginal und erscheinen nur noch
funktionsbezogen nützlich.
Beobachtungen der europäischen Entwicklungen führten etwa dazu, die technische
Ausbildung stärker zu als die humanistische zu gewichten, einhergehend mit Vorschlägen der
Stundenverlagerung unter der Voraussetzung, mir praxisbezogener Ausbildung eine höhere
Akzeptanz bei den Eltern zu erzielen. Warum konzentrieren wir uns nicht einfach auf die
Prinzipien eines Faches und auf einige wichtige Fakten, fragte der Berufspädagoge Charles B.
Stetson (1874, S. 22/23), statt endlos Einzelheiten lernen zu lassen, nur damit die Kinder sie
unmittelbar danach wieder vergessen? Interessant ist dabei, dass Effizienz der Ausbildung
und Flexibilitiät der Organisation bereits Themen sind:
„Why … may there not be a flexible school organization as to afford each a chance to
do his best, - to finish any study at the earliest moment? Why not reduce the lessons
in arithmetic, geography, grammar, to four a week, and even drop these studies an
occasional term? Thus would time be secured for new studies without increasing the
daily lessons of the pupil. And doubtless it will be found that parents, when they
realize the great value of instruction in practical science and practical art, will send
theior children to school longer than most of them do now”
(ebd., S. 23).
Generell verschob sich das Gewicht vom Fachunterricht zu Fragen der Organisation
und der Methode (etwa: Abbott 1871 oder Kiddle/Harrison/Calkins 1877), ein Prozess, der
auch in der Entwicklung der Volksschule im deutschsprachigen Raum zu beobachten ist und
51 “The common school aims to give the pupil the great arts of receiving and communicating
intelligence. Drawing and vocal music are taught quite generally and the rudiments of natural
science are taught in most city schools. Declamation of oratorical selections is a favourite
exercise and is supposed to fit the youth for public and political life. Debating societies are
formed for the same purpose” (A Statement 1874, S. 16).
52 High Schools sind Teil des öffentlichen Bildungswesens, Akademien und Seminare sind in
privater Trägerschaft (A Statement 1874, S. 16).
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der die Verlagerung von der Eliten- zur qualitativen Allgemeinbildung anzeigt. Fraglich
wurden dabei die Drillmethoden des katechetischen Unterrichts, die ersetzt werden sollen, wie
es 1877 heisst, durch Verfahren der intelligenten Problemlösung (Becker 1877, S. 37ff.).
Auch diese Überzeugung entstand in der Mitte der öffentlichen Diskussion über die besten
Verfahren des Lehrens und Lernens, John Dewey hat 1910 in How We Think dafür nur die
Theorie nachgeliefert.
Man findet in den Manuals of Method des 19. Jahrhundert Stichworte wie
„Selbsttätigkeit” oder „intrinsisch”, die man an dieser Stelle kaum erwartet hätte. So wird der
irische Mathematiker William Hamilton53 mit dem Grundsatz der Subsidiarität zitiert:
„The primary principle of education is the determination of the pupil to self-activity the doing nothing for him which he is able to do for himself”
(Kiddle/Harrison/Calkins 1877, S. 13).
Das wird verbunden mit einer Absage an rote-learning, also Drill ohne wirkliche
Einsicht:
„When a teacher conceives that the sole end of his efforts is to enable the pupil to
recite verbatim the contents of a particular text-book, or to repeat with verbal accuracy
and fluency certain rules, definitions, and formulae, whether their true meaning is
grasped or not, it is natural that he should resort to the shortest and most direct means
of accomplishing it, that is, constant rote drill - an appeal to the law of arbitrary
association. The injury, however, done to the mind by this continued process, is
incalculable; since, finally, ideas and facts suggest each other according to no intrinsic
or philosophical relation, but only from their accidental connections, or such as this
constant repetition may have established; and thus all logical flow of thought is
necessarily precluded”
(ebd., S. 14/15).
Was also Eliot „new education” genannt hatte, löste weitgehende Diskussionen aus
und entwickelte sich auf dieser Linie:
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Vorrang pragmatischer Lernziele.
Konzentration auf Schulorganisation und Methode.
Streben nach öffentlicher Akzeptanz
unter der Voraussetzung demokratischer Allgemeinbildung,
die für alle Kinder kostenlos angeboten wurde.
Die Investitionen wurden mit gesellschaftlichem Nutzen gerechtfertigt, zweckfreie
Bildung war für die Reformer kein Thema. Nutzen war aber immer Nutzen für die
Demokratie, nicht einfach für Industrie und Arbeitswelt. Auch das lässt sich lexikalisch
prüfen. Die von Paul Monroe herausgegebene Cyclopedia of Education war die erste
pädagogische Enzyklopädie, die das Stichwort „Democracy and Education” aufnahm.
Verfasser dieses Stichwortes war John Dewey, der die amerikanische Diskussion seit Mitte
des Jahrhunderts zusammenfasste und nicht etwa neu begründete. Demnach sind Demokratie
und Erziehung auf zweifache Weise verknüpft,
53 William Rowan Hamilton (1805-1865) studierte am Trinity College in Dublin Mathematik
und wurde dort 1827 Professor für Astronomie, dies, bevor er sein Studium abgeschlossen
hatte.
18
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zum einen benötigt die Demokratie, um sich selbst perpetuieren zu können,
gebildete Bürgerinnen und Bürger,
zum anderen prägen demokratische Ideale die Bildung selbst, nämlich die
Verfassung und Verfahren der öffentlichen Schulen (Dewey 1985, S.
417/418).
Die Voraussetzung dafür ist Respekt vor Individualität und so die Überwindung
feudaler Autorität im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung.
„Democracy inevitably carries with it increased respect for the individual as
individual, greater opportunity for freedom, independence and initiative in conduct
and thought, and correspondingly increased demand for fraternal regard and for selfimposed and voluntarily borne responsibilities” (ebd., S. 418).
Dewey schrieb zahlreiche Beiträge für Monroes Cyclopedia, in denen er sich an
verschiedenen Stellen auf Charles Eliot bezog, der zentrale Themen der „neuen Erziehung”
vorgegeben hatte. Sie sollten die Unterschiede der amerikanischen zur englischen und zur
kontinentaleuropäischen Pädagogik bestimmen, etwa bezogen auf die Freiheit in der
Erziehung, die stärkere Individualisierung des Unterrichts und vor allem die Funktion der
Bildung in einer demokratischen Gesellschaft.54 Eliot ist auch einer der Gewährsmänner für
die berühmte Formel DEWEYS, wonach Erziehung (education) als kontinuierliche
Rekonstruktion der Erfahrung anzusehen sei (ebd., S. 431).55 Erziehung ist so weder begrenzt
noch spezifizierbar, sie ist einfach der unaufhörliche Prozess der intelligenten Anpassung an
je neue Situationen des Lebens.
Eliot hatte die grosse Kluft zwischen Kultivierung und gesellschaftlichem Nutzen
kritisiert. Die Gesellschaft sei der natürliche Platz (natural setting) für alle Anliegen der
Bildung (Eliot 1909, S. 39), und das verlange eine Veränderung des Konzepts, nämlich ein
Ende der Historisierung und so der Suche nach Werten in der Vergangenheit, einen
dezidierten Bezug zu den modernen Sprachen, die Spezialisierung der Ausbildung56 und
schliesslich die Anregung von innovativem Problemlöseverhalten oder „constructive
imagination” (ebd., S. 40ff., 45).57 Einhergehend damit müsse die Eigentätigkeit und
Individualität der Schüler angesprochen werden, führte ELIOT 1894 aus.58
54 Liberty in Education (Speech before the Nineteenth Century Club of New York 1886);
Undesirable and Desirable Uniformity in Schools (Address given to the National Educational
Association, Saratoga, July 12, 1892); The Function of Education in Democratic Society (An
Address delivered before the Brooklyn Institute on October 2, 1897) (Eliot 1909a, S. 123-148;
271-300; 399-418).
55 Artikel “Education” im ersten Band von Monroes Cyclopedia (Dewey 1985, S. 425-434).
56 ”Culture … can no longer imply a knowledge of everything - not even a little knowledge
of everything. It must be content with general knowledge of some things, and a real mastery
of some small portions of the human store” (Eliot 1909, S. 45).
57 ”Constructive imagination is the great power of the poet as well as of the artist; and the
nineteenth century has convinced us that it is also the great power of the man of science, the
investigator, and the natural philosopher. What gives every great naturalist or physicist his
epoch-making results is precisely the imaginative power by which he deduces from masses of
facts the guiding hypotheses or principles” (Eliot 1909, S. 48f.).
58 Charles William Eliot: The Unity of Educational Reform. In: Educational Reform
(October, 1894) (Eliot 1909a, S. 313-339).
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„In school and college alike the really effective teaching … is what is addressed to
each individual pupil” (Eliot 1909a, S. 318).
Unterricht (instruction), schrieb Dewey 1900, dürfe nicht einfach Wissen konservieren
und so tun, als gäbe es weder Zweifel und Schwierigkeiten noch die Notwendigkeit, weiter zu
denken (Dewey 1916, S. 189ff.). Solche Thesen setzen Erfahrungen voraus, konkrete
Versuche, wie Erziehung verändert und anders gestaltet werden kann.
Eines der ersten Beispiele nicht nur für legislative, sondern für strukturelle Reformen
im öffentlichen Schulwesen fand im Distrikt von Quincy südlich von Boston statt.59 Die
Reform ist mit dem Namen von Francis Wayland Parker verbunden, der wegen seines
Einsatzes im Bürgerkrieg „Colonel Parker“ genannt wurde.60 Er wurde als Superintendent der
Schulen von Quincy berufen und lancierte die erste grössere Schulreform in den Vereinigten
Staaten. Parker begann seine Tätigkeit in Quincy am 20. April 1875.
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Er schaffte das Rote-Learning ab, betonte die Bedeutung der Konzentration für
das Lernen und führte neue Methoden des Unterrichts wie die Gruppenarbeit
ein.
Grundsätzlich wurde Unterricht als object teaching verstanden, nicht als
Auswendiglernen von Wörtern und Sätzen.
Das Kind wurde gesehen als der Schöpfer seiner selbst: es lernt natürlich
aufgrund seiner eigenen Aktivitäten, und die Schule muss dieses Lernen
unterstützen.
Das führte auch zu einer Veränderung des Curriculums. Geschichte wurde nicht neben
Geographie unterrichtet, vielmehr wurden beide Fächer aufeinander bezogen. Auch
Naturgesetze wurden quer zu den Fächern gelernt, nicht Chemie hier und Geologie dort.
Zudem sollten die Schüler persönlichen Ausdruck lernen, auch um sich selbst als Lernende zu
erfahren. Die Annahme war, je höher die Motivation zum Lernen beschaffen sei, desto höher
sei auch der menschliche Ausdruck. „Creation is the moving, central power and delight of the
child”, heisst es in Parkers Talks to Pedagogics (Parker 1894, S. 7).61
Der Versuch fand grosse öffentliche Aufmerksamkeit. In drei Jahren, zwischen 1878
und 1880, wurden mehr als 30.000 Besucher gezählt, die sich für die Schulentwicklung im
Distrikt von Quincy interessierten (Colonel Parker’s Experiment 1935, S. 495). Charles F.
59 Quincy wurde als „Braintree“ 1640 gegründet.
60 Francis Wayland Parker (1837-1902) war mit sechzehn Jahren ohne grosse Ausbildung
Dorfschullehrer in New Hampshire. Mit zwanzig Jahren wählte ihn Auburn Select School in
Auburn, New Hamsphire, als Lehrkraft. Parker zeichnete sich im Bürgerkrieg besonders aus
und wurde mehrfach befördert. Im Januar 1865 wurde er Lieutenant Colonel Kommandeur
des 4th New Hampshire Regiments. hNach dem Krieg wurde er Leiter der Normal School in
Dayton, Ohio. 1872 studierte Parker in Berlin und 1875 wurde er Superintendent der Schulen
von Quincy. Der Quincy-Plan wurde berühmt, weil er das Rote-Learning beendete, den
Lehrplan erweiterte, neue Lernaktivitäten wie Gruppenarbeit einführte und auch informelle
Methoden des Unterrichts zuliess (Cassa Heffron 1934).
61 Es handelt sich um Vorträge, die Parker auf einem Teachers’ Retreat im Juli 1891 in New
York gehalten hat.
20
Adams Jr.,62 Eisenbahnmagnat und Mitglied des Schulkomitees, hat die Entwicklung
beschrieben und auch genau registriert, wie die Veränderungen erreicht und welche
Ressourcen eingesetzt wurden (Adams 1879). Der Geschäftsmann und Historiker Adams war
die treibende Kraft hinter den Reformen, deren Grund wirtschaftliches Wachstum war. Die
Stadt war ein Zentrum der Granitherstellung und später der Stahlindustrie; die Einwohnerzahl
von Quincy nahm zwischen 1870 und 1880 um ein Viertel zu.63
Die Effekte der Reform wurden 1879 getestet, mit guten Ergebnissen für Parkers
Methoden des aktiven Lernens.64 Ein Erfolg war auch, dass die Absenzen drastisch
zurückgingen, weil die Schulqualität sichtbar besser wurde. Im Schuljahr 1877/1878 besuchte
97 Prozent aller eingeschriebener Schülerinnen und Schüler die Schulen von Quincy, was in
den anderen Distrikten nicht annähernd der Fall war, zumal nicht ganzjährig (Katz 1967, S.
22). Am Ende jedoch brach der Versuch zusammen, weil zwei Ziele erreicht werden sollten,
die einander widersprachen, bessere Qualität der Schulen und ein geringeres Budget. Parker
verliess Quincy, weil die Politik der Effizienzsteigerung (ebd., S. 11), dazu führte, dass mit
den Steuern auch die Lehrergehälter gesenkt wurden. Die von Parker ausgebildeten guten
Lehrkräfte verliessen Quincy, und er selbst verdoppelte sein Gehalt, indem er Supervisor der
Schulen von Bosten wurde (ebd., S. 25).
Das Reformexperiment aber wirkte nach, umso mehr, als auch ausserhalb der
öffentlichen Schule eine Demokratisierung der Erziehung angesagt war. Einzelne Versuche
dieser Art begannen Mitte des 19. Jahrhunderts, verstärkt traten sie im letzten Jahrzehnt auf,
so dass mit der Jahrhundertwende ein Trend registriert werden konnte, der auf „neue
Erziehung“ hindeutete. Dabei spielte auch das Settlement Movement eine Rolle, also der
Beginn der Sozialpädagogik in England und den Vereinigten Staaten.65 Die „neue Erziehung“
entstand also nicht allein in den Schulen. Ein zentrales Beispiel ist das Hull-House in
Chicago, ein anderes die Ford-Republic in Michigan.
Ursprünglich war die Ford-Republic eine Auffangstelle für entlassene Strafgefangene
des Staates Michigan. Die Stelle hiess Home of Industry und wurde 1890 gegründet. Von
1906 an wandte sich das Heim verstärkt Präventivmassnahmen zu und konzentrierte sich auf
männliche Jugendliche, daher der Name Boys Republic. 1909 wurde der inoffzielle Name
„Ford Republic“ geprägt, der die Geldgeberin, Mrs. E.L. Ford, ehren sollte. Mit ihrem Geld
wurde eine Farm nordwestlich von Detroit gekauft, wo der neue Leiter des Heims, der
62 Charles Francis Adams Jr.(1835-1915) schloss 1856 sein Studium in Harvard ab und
diente als Brigadegeneral im amerikanischen Bürgerkrieg. Nach 1865 machte er sich mit
Studien zur Entwicklung der Eisenbahnen einen Namen. 1869 wurde er in die Massachusetts
Railroad Commission gewählt, die Korruptionsfälle untersuchte. Adams war von 1884 bis
1890 Präsident der Union Pacific Railroad. Danach widmete er seine Zeit ausschliesslich
historischen Studien. Seine Autobiographie erschien posthum 1916.
63 1870 betrug die Einwohnerzahl 7.442, ein Jahrzehnt später 10.529. (
http://ci.quincy,ma.us/profile,asp )
64 1916 wurde in Quincy die Francis W. Parker Elementary School gegründet, die bis heute
besteht.
65 Die Bewegung entstand in England und ging von den Universitäten aus, In so genannten
Settlement Houses wurden Kinder und Jugendliche aus den Armenvierteln sozialpädagogisch
betreut. 1889 gründeten Jane Addams und Ellen Gates Starr das Hull House in Chicago. In
New York wurde 1993 durch Lillian Wald das Henry Street Settlement gegründet.
21
Sozialpädagoge Homer T. Lane,66 seine Ideen des „self-government“ und der demokratischen
Republik verwirklichen konnte. Lane nannte die Repubik „commonwealth.“ Der Name sollte
anzeigen, dass die Jugendlichen Verantwortung für die Gemeinschaft übernahmen und die
soziale Erfahrung als Erziehungsmittel diente.67
Hull House realisierte ähnliche Prinzipien nicht auf einer Farm in Michigan, sondern
in der Grossstadt Chicago. Ursprünglich war es ein Nachbarschaftsprojekt. Jane Addams68
und Ellen Gates Starr69 mieteten 1889 ein Haus von der Charles Hull estate,70 das „residents“
aus der Nachbarschaft offen stand. Das Hull House wurde im September 1889 eröffnet. Die
„residents“ konnten hier soziale und unterrichtliche Angebote nutzen. Hull House steht an der
Ecke Halstead und Polk Street in einem Arbeiterbezirk von Chicago, in dem am Ende des 19.
Jahrhunderts viele Einwanderer lebten. Für sie wurde ein zunehmend grösser werdendes
Spektrum kostenloser Bildung entwickelt, das von Vorlesungen in Literatur bis zur
Kinderpflege reichte. Das Angebot expandierte rasch und bald umfasste der Komplex nicht
nur ein einzelnes Haus, sondern dreizehn Gebäude. Was die Charta von Hull House vorsah,
66 Homer Lane (1875-1925) begann seine Karriere als Lehrer an der Peters High School in
Southborough, Mass. Er ging dann nach Detroit und arbeitete mit delinquenten Jugendlichen.
Im März 1907 wurde Lane Superintendent der Boy’s Home and d’Arcambal Association in
Farmington Hills, Michigan, also der Ford Republic. Von 1913 bis 1917 leitete Lane ein
vergleichbares Projekt in Dorset, England. Das Projekt hiess Little Commonwealth. Hier
erfuhr Alexander Neill die Grundprinzipien seiner Schule Summerhill.
67 Ein anderes Projekt, in dem auch Homer Lane kurzfristig mitarbeitete, war die von dem
Geschäftsmann William Reuben George (1866-1936) lancierte George Junior Republic. Unter
diesem Namen wurden von 1895 an Sommerkolonien für delinquente Jugendliche aus New
York angeboten. Später entstand daraus eine permanente Kolonie, in der die Jugendlichen oft
über Jahre bleiben konnten. Die Einrichtung besteht bis heute.
68 Jane Addams (1860-1935) absolvierte von 1877 an eine Ausbildung am Rockford Female
Seminary. Sie erhielt 1882 eines der vier ersten B.A.s, die das 1847 eröffnete Seminar
überhaupt vergeben konnte. Addams stammte aus einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater war
sechzehn Jahre lang Senator des Staates Illinois und ein enger Freund von Abraham Lincoln.
Jane Addams begann nach der Ausbildung am Rockford Seminary ein Medizinstudium, das
sie aber aus gesundheitlichen Gründen nie abschloss. Sie verbrachte Jahre mit Selbststudium
in Europa. Eine ihrer Reisen unternahm sie 1888 mit ihrer Freundin Ellen Gates Starr. Auf
dieser Reise lernte sie Toynbee Hall, ein Settlement House im East End von London kennen,
das zum Nukleus für Hull House wurde. Hull House entwickelte sich zu einem Zentrum der
Sozialpolitik von Chicago. Jane Addams war eine gefragte Rednerin, die sich auch als
politische Schriftstellerin profilieren konnte. Sie erhielt 1931 den Friedensnobelpreis für ihre
Aktivitäten als Mitbegründerin und erste Präsidentin der Women’s International League für
Peace and Freedom (WILPF).
69 Ellen Gates Starr (1859-1940) studierte ebenfalls am Rockford Female Seminary,
allerdings nur ein Jahr (1877/1878), weil ihr Vater die Ausbildungskosten nicht tragen
konnte. Danach unterrichtete sie an einer Landschule in Mount Morris, Illinois. 1879
übernahm sie eine Stelle an Miss Kirkland’s School for Girls in Chicago. Nach der Gründung
von Hull House war Gates Starr an Kampagnen gegen die Kinderarbeit beteiligt und war
Aktivistin in verschiedenen Streiks der Textilarbeiter im Grossraum Chicago. Sie war
Mitglied in der Women’s Trade Union League. 1920 trat sie zum katholischen Glauben über
und wurde 1939, kurz vor ihrem Tod, noch Mitglied in einem Kloster. Von 1929 an war Gates
Starr nach einer Operation von der Hüfte an gelähmt.
70 Charles J. Hull (1829-1898) war ein reicher Grundbesitzer und ein Pionier-Bürger von
Chicago. Das Haus ist 1856 von ihm gebaut worden. Daher der Name.
22
nämlich ein Zentrum des urbanen Lebens zu entwickeln, das demokratischen Prinzipien
verpflichtet ist, wurde auf beispiellose Weise realisiert.
Die beiden Beispiele stehen für ausserschulische Reformen, die nicht zufällig in
Grossstädten realisiert wurden. Parallel dazu entwickelten sich Ansätze zur Innovation der
Schulen, die bei allen Unterschieden zwei gemeinsame Prinzipien vertraten, Revision des
Curriculums und Aktivierung der Schüler. Die Beispiele sind nie wirklich gesammelt und
dokumentiert worden, aber in allen grösseren Städten der Vereinigten Staaten gibt es
Versuche mit neuen Formen des Unterrichts, die darauf beruhten, den Kindern mehr
Freiheiten zum Lernen zu geben. Für die Lehrkräfte an staatlichen Schulen war das nicht nur
ungewohnt, sondern vielfach unvorstellbar.
Die vermutlich erste progressive Schule wurde 1878 mit acht Arbeiterkindern in New
York eröffnet. Die Schule begann mit einem Kindergarten, an den sich ab 1880
Elementarklassen anschlossen. Der Gründer war Felix Adler, Sohn einer jüdischen
Auswandererfamilie aus Deutschland. Adler hatte mit 23 Jahren eine Professur an der Cornell
University inne, die er wegen seiner „gefährlichen Neigungen“ aufgeben musste. Er hatte in
einem Vortrag über die Zukunft des Judaismus die These vertreten, dass alle Religionen in
Ethik verwandelt werden müssten, also selbst keine Berechtigung mehr hätten. Adler gründete
1876 die New York die Society for Ethical Culture, aus der eine internationale Bewegung
hervorging, die sich auch um neue Formen der Erziehung verdient machte.
Die Schule in New York hiess anfänglich Workingsman’s School, aus der 1890 die
Ethical Culture School hervorging, die als teure Privatschule bis heute existiert.71 Die
Anfänge dieser Schule werden in der Geschichte der amerikanischen Reformpädagogik selten
erwähnt, obwohl sie typische Züge trägt, etwa die Emphase des aktiven Lernens, die
Integration der Handarbeit in das Curriculum, die starke Gewichtung musischer Erziehung
und die Individualisierung des Lernens. Die Schule basierte auf der Idee, dass praktische
Arbeit und induktives Lernen bessere Medien der Erziehung seien als herkömmlicher
Unterricht. Adler, wenn er überhaupt bekannt ist, gilt in der Literatur nicht als
„Reformpädagoge“, obwohl er Lebensreform mit neuen Formen der Erziehung verband und
als Sozialreformer internationales Ansehen erlangte.
Progressive Reformen wurden aber nicht nur in einzelnen Privatschulen realisiert,
sondern erreichten auch die staatliche Schulaufsicht und die Bildungspolitik. Ein Beispiel ist
wiederum Chicago. Die Stadt, anders als New York, ist erst 1833 überhaupt gegründet
worden und konnte sich nur auf Einwandererkulturen beziehen. Das öffentliche Schulsystem
entwickelte sich weitgehend ohne historische Vorgaben, wobei angesichts des schnellen
Wachstums immer neue Lösungen gefunden werden mussten. Die Wege zur progressiven
Erziehung waren keineswegs vorgegeben, aber es sicher auch kein Zufall, dass der Ort
Chicago war. Eine durchgreifende Urbanisierung verband sich hier mit einer starken
sozialpolitischen Bewegung und einem zum Teil hochgradig philanthropischen Bürgertum.
1869 akzeptierte der Board of Education eine revidierte Fassung des Lehrplans für die
öffentlichen Schulen der Stadt Chicago. Der Lehrplan sah eine Graduierung vor, also
fortlaufende Entwicklung des Wissens und Könnens über verschiedene Stufen hin hinweg.
Begründet wird der Lehrplan mit einer Erziehung, die sich auf „life relations“ einstellen kann
(Graded Course of Instruction 1869, S. 5). Das System der zunehmenden Verbesserung der
Kompetenzen stösst allerdings auf einige Schwierigkeiten bei den Lehrkräften. Die Lernarbeit
71 Der Besuch der Ethical Cultre Fieldston School kostet heute etwas unter $30.000 jährlich.
23
wird mit dem System der Graduierung aufgeteilt und fragmentiert, ohne die Übergänge regeln
zu können (ebd., S. 7).
„The tendency of the system … is to make the teacher feel that his predecessor has
finished the work assigned him, and that he has a work to finish for his successor.
Hence each does his work without much regard to the work of others” (ebd.).
Diese Sicht ist falsch, heisst es in dem Lehrplan weiter. Die Arbeit in der Schule
Lernzeit muss ganzheitlich verstanden werden. „The work is one, and each part has its
relations to, and bearing upon, each other part“ (ebd.). Wer das System im Sinne der
Arbeitsteilung der Industrie auffasst, geht am dem Kern der Aufgabe vorbei (ebd., S. 8).
Dagegen wird ein Prinzip gesetzt, das bis heute schwer zu realisieren ist und immer wieder
Reformvorschläge provoziert hat.
„The teacher of each grade should be sure that the pupil, intrusted to his care,
understands fully the work of the previous grades, and, at the same time, he must
remember that his work is preparatory to that of higher grades. The difficulties to be
mastered, the obstacles to be surmounted, must be present to the mind of each, that the
pupils may, while receiving instruction, be gaining strength, also for future need. Let
each teacher bear in mind that his work is twofold: First - to impart knowledge; and,
Second - to develop strength, and this evil will be entirely eradicated” (ebd.).
Begründet werden die „eisernen Grenzen“ des System der Graduierung und so der
Jahrgangsklassen mit gesteuerter Chancengleichheit:
„The iron limits of the Graded Course serves as bars to some who, from lack of early
advantages, desire to go faster than their classmates are able to do, and to others who,
from limited opportunities, wish to pursue certain portions of each grade, neglecting
others that seem to them least important. The greatest good of the greatest number is
the rule” (ebd., S. 9).
Als der Lehrplan erschien, im Jahre 1869, hatte Chicago rund 300.000 Einwohner. Die
erste öffentliche Schule war 1844 in der Madison Street gebaut worden.72 1845 wurde eine
Schulsteuer eingeführt, 1854 wurde der erste Superintendent gewählt und drei Jahre später,
am 16. Februar 1857, tagte der Board of Education, der bis heute existiert. Der erste
Superintendent der Stadt war John Dore, der zwei Jahre später, 1856, von William H. Wells
abgelöst wurde. Wells blieb acht Jahre im Amt, er verfasste den Lehrplan und führte das
graduierte System ein. Das geschah vor dem Hintergrund eines noch weitgehend
unentwickelten Systems.
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Mitte des 19. Jahrhunderts unterrichteten die Lehrkräfte Klassen von oft über
hundert Schülern.
Viele ältere Kinder gingen gar nicht zur Schule, sondern verdienten Geld in
den Fabriken.
Und die erste Schule hiess im Volksmund „Miltimore’s Folly,“ nach einem
Lehrer, der die Notwendigkeit des Schulbesuchs aller Kinder begründet hatte.
Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der wachsenden
Prosperität der Stadt. Die Zahl der öffentlichen Schulen wuchs zwischen 1870 und 1900
72 Daten und Dokumente im Folgenden nach: http://www.encylopedia.chicagohistory.org/
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schneller als die Zahl der Einwanderer, die Absenzenquote wurde drastisch gesenkt, neue
Unterrichtsmethoden wurden eingeführt und 1880 wurde die körperliche Bestrafung der
Schüler verboten.73 Im Jahre 1900 unerrichteten mehr als 5.000 Lehrkräfte an den
öffentlichen Schulender Stadt Chicago, hinzukamen mehrere tausend Lehrkräfte an
Privatschulen und Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Mehr als 80 Prozent dieser Lehrkräfte
waren weiblich, die meisten unverheiratet und geboren in den Vereinigten Staaten. So wurde
die demokratische Schule etabliert und zu einem festen Bestandteil der amerikanischen
Kultur.
73 „Corporal punishment“ hatte der Lehrplan von 1869 noch für „extreme cases“ zugelassen,
wenn alle anderen Mittel versagen (Graded Course of Instruction 1869, S.13).
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