Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie Die

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Zeitschrift für Neues Testament
typoscript [AK] – 12.10.2012 – Seite 3 – 4. Korrektur
Neues Testament
aktuell
Matthias Klinghardt
Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie
Die Kultur der Geschlechtskörper im frühen
Christentum*
Die Kernfrage der Geschlechterforschung nach der kulturellen, sozialen und biologischen Konstruktion der
Geschlechter, mithin die Frage nach der Wahrnehmung
der Sexualität und den damit verbundenen Machtaspekten, ist eine zutiefst religiöse Frage. Denn sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der weiteren Fragestellung
nach dem Wesen des Menschen, die in der abendländischen Tradition immer als religiöses Problem verhandelt
wurde. Das frühe Christentum hat diese Frage durchaus
kontrovers diskutiert und mit einem erstaunlichen Aufwand an Schriftgelehrsamkeit theologisch reflektiert:
Was »männlich« oder »weiblich« eigentlich ist, war also
genauso wenig selbstverständlich wie die Tatsache, dass
es zwei unterschiedliche Geschlechter gibt.1
Die Bestimmung des Wesens des Menschen und
seiner Sexualität ist eine Transzendenzkonstruktion:
Sein »Wesen« liegt dem Menschen immer voraus und
ist ihm unverfügbar, und doch dienen die Konstruktionen dieses Wesens immer zur normativen Reglementierung des sozialen, politischen und kulturellen Miteinanders, werden also genutzt und instrumentalisiert:
Diese Transzendenzkonstruktion ist mithin ein Instrument der Macht, wie sich gerade an der Bestimmung
der Sexualität zeigt: Die Antike hat Sexualität nicht als
eigenständiges Thema wahrgenommen, sondern die
damit verbundenen Fragen durchweg in sozialen und
politischen Diskursen behandelt. Aus diesem Grund
wäre ein objektiver Zugang zur »richtigen« Konstruktion von großer Bedeutung. Aber Objektivität ist hier
nicht zu erreichen: Das Wesen des Menschen ist unverfügbar. Darum ist es sinnvoll, die Frage in einem möglichst breiten kulturellen Horizont anzugehen, zu dem
eben nicht nur die religiösen Bestimmungen seiner
»Geschöpflichkeit« gehören, sondern auch die philosophischen und (natur-)wissenschaftlichen seiner »Natur«.
Um diesen kulturellen Horizont wenigstens anzudeuten, sind im Folgenden die im engeren Sinn »religiösen«
*
Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien unter dem
Titel »Männlich – Weiblich – Mannweiblich – weder
männlich noch weiblich: Geschlechterkonstruktionen im
frühen Christentum« in: Wissenschaftliche Zeitschrift der
TU Dresden 52/3 (2003), 51–56. Abbildungen © Frieder
Klinghardt.
ZNT 30 (15. Jg. 2012)
Konzepte wenigstens andeutungsweise durch philosophische und medizinische Stimmen ergänzt.
I.
Androgyne Anthropogonie
Der Leittext und die wichtigste Grundlage für die Diskussion über menschliche »Natur« und Geschlechtlichkeit im hellenistischen Judentum und frühen Christentum sind die biblischen Schöpfungsberichte. Nach
Gen 1,27 erschuf »Gott den Menschen, nach dem Abbild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er
sie«. Nach diesem Grundtext der imago-Dei-Lehre gehört es zum Wesen des Menschen, dass er von Anfang
an »männlich und weiblich« (gr.: arsen kai thēly), also
als geschlechtlich distinktes Wesen, existiert. Daneben
steht die Schöpfungserzählung in Gen 2, der zufolge ein
(zunächst geschlechtsloser) Mensch aus dem Acker­
boden erschaffen wird (Gen 2,7), der später eine Gefährtin erhält: »Gott, der Herr, baute aus der Seite, die
er vom Menschen genommen hatte, eine Frau (gr.: gynē)
und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2,22); erst dadurch wird der »Mensch« (gr.: anthrōpos) zum »Mann«
(gr.: anēr, Gen 2,23).
Das Nebeneinander dieser beiden in mancherlei
Hinsicht sehr unterschiedlichen Texte eröffnete den
Spielraum für eine breite Palette verschiedener Interpretationen. Eine im Blick auf die christlich-abendländische Wirkungsgeschichte eher ungewöhnliche Verbindung dieser Texte findet sich in einer rabbinischen
Auslegung: »Als der Heilige, Er sei gepriesen, Adam
erschuf, erschuf er ihn als Androgyn, denn es heißt: Als
der Herr Adam erschuf, erschuf Er ihn mit einem Doppelgesicht, dann spaltete er ihn und machte ihm zwei
Rücken, einen Rücken auf der einen Seite und einen
Rücken auf der anderen Seite.«2 Dies ist eine höchst
eigenartige Deutung von Gen 2,22. Sie wird verständlich als Rezeption der religionsgeschichtlich weit verbreiteten Vorstellung einer androgynen Anthropogonie,
wie sie vor allem aus der karikierenden Darstellung in
Platos »Gastmahl« bekannt ist.3 Dort lässt Plato den
Komödiendichter Aristophanes erzählen, dass die Menschen ursprünglich zweigeschlechtliche Kugelwesen
gewesen seien, mit zwei Gesichtern, vier Armen, vier
Beinen und auch doppelten Geschlechtsteilen.
3
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Matthias Klinghardt
Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986
Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament)
in Heidelberg, 1988/89 Rice University, Houston
(Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität
Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie
an der TU Dresden.
Mensch ständig seine eigene Teilung vor Augen habe
und anständiger würde.«
Allerdings liefen die Menschen nun Gefahr auszusterben, denn sie konnten nicht mehr miteinander verkehren: Ihre Augen waren vorn, ihre Geschlechtsteile hinten. Daher erbarmte sich Zeus und verlegte den halbierten Menschen die Geschlechtsteile nach vorne, damit
sie sich auf diese Weise gezielt vermehren könnten.
Diese androgynen Kugelmenschen, in jeder Hinsicht
starke Gestalten, waren Hybride im Sinn des Wortes:
Weil sie sich in ihrer Stärke den olympischen Göttern
ebenbürtig wähnten und sich gegen sie empörten, ließ
Zeus sie zur Strafe in einer komplizierten Operation in
zwei sexuell distinkte Hälften zerlegen (»so, wie man
Eier mit einem Haar zerschneidet«), die Haut über den
Bauch zusammenziehen und über dem Nabel zusammenbinden (»wie einen geschnürten Geldbeutel«). Das
Ganze wird geglättet, nur wenige Falten blieben übrig
(»um den Bauch und den Nabel selbst herum – als
Mahnmal für das einst Erlittene«). Das pädagogische
Interesse dieser Operation zeigt sich auch darin, dass
Zeus diesen Kugelhälften das Gesicht und den halben
Hals nach dem Schnitt herumdrehen ließ, »damit der
4
»Von so langem her« folgert der platonische Aristophanes, »ist also der Eros zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen;
der Eros versucht, aus zweien eins zu machen und die
menschliche Natur zu heilen.«4
Auch wenn es auf den ersten Blick schwierig erscheint: Die erwähnte rabbinische Auslegung von Gen
1 f. impliziert eine protologische Geschlechteridentität
im Sinn dieser Überlegung. Das erforderte eine Zuordnung der beiden Schöpfungsberichte, die aus Gen 1,27
eine androgyne Anthropogonie herauslas, aus Gen 2,22
dagegen die Entstehung geschlechtlich distinkter Menschen. Es ist nur konsequent, wenn in spätantiken Beispielen für diese Auslegungstradition das Objekt des
göttlichen Schöpfungshandelns in Gen 1,27c nicht im
(kanonisch gewordenen und daher vertrauten) Plural
erscheint, sondern im Singular: »… männlich und weibZNT 30 (15. Jg. 2012)
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lich schuf er ihn.«5 Was auf den ersten Blick wie eine
textkritische Haarspalterei erscheint, ist in Wahrheit Teil
einer grundlegenden Diskussion über das Wesen des
Menschen und seine geschöpfliche Bestimmung: Ist der
Mensch in erster Linie Mensch und nur in zweiter Linie
ein Geschlechtswesen, oder macht die geschlechtliche
Distinktion von Mann und Frau den Kern der Gott­
ebenbildlichkeit aus? Dass diese Alternative weit reichende soziale Implikationen besaß, wird gleich zu zeigen sein.
Wie sich die Einheit dieser beiden Schöpfungsakte
trotz ihrer Unterscheidung denken ließ, hat exemplarisch
Philo von Alexandrien gezeigt, der die beiden Schöpfungstexte in eine umfangreiche Erklärung über die Herkunft des Bösen und der Sündhaftigkeit des Menschen
ein­bezog: Angesichts der behaupteten Gottebenbildlichkeit des Menschen lag darin in der Tat ein grundlegendes
Problem. Philo nahm eine graduelle Entfernung der
Menschenschöpfung von Gottes ursprünglichem Plan
an.6 Er sah in Gen 1,27 die Erschaffung der »Gattung
Mensch« und verstand die Aussage als eine Art göttlichen
Bauplan: Dieser gottebenbildliche Mensch war eine nur
noëtisch erfassbare Idee, ein gedachter Begriff, war »unkörperlich, weder männlich noch weiblich, von Natur aus
unvergänglich«7. Dagegen bezog Philo die Schöpfungsaussage Gen 2,22 auf die Erschaffung der konkreten
Einzelwesen, die aus Staub gemacht (Gen 2,7) und der
Veränderung unterworfen waren: Diese sinnlich wahrnehmbaren (und nicht nur »gedachten«) Menschen waren dann geschlechtlich distinkt: Mann und Frau.
Diese Überlegungen zur ursprünglichen Androgynie
des Menschen sind Teil einer umfassenden kulturellen
Prägung, zu der ganz selbstverständlich auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin und der Geschlechtsbiologie gehören. Für uns ist die Differenz der
Geschlechter aufgrund der biologischen Konstitution
gleichsam objektiv festgelegt: Die fundamentale Unterscheidung von Mann und Frau ergibt sich primär aus
den unterschiedlichen Körpern, die Differenz erweist
sich an den Geschlechtsorganen und den unterschied­
lichen physiologischen Funktionen der Geschlechter bei
der Fortpflanzung. Für die gesamte Antike (und weit
darüber hinaus, mit gravierenden Auswirkungen bis ins
18. Jh.)8 war dagegen klar, dass Männer und Frauen
einen identischen Körper besitzen. Der berühmteste
Anatom der Antike, Galen von Pergamon, fand nichts
einleuchtender, als die grundlegende physiologische
Identität von Männern und Frauen gerade anhand der
Geschlechtsorgane zu demonstrieren: »Alle Organe, die
Männer haben, haben Frauen auch; der Unterschied
liegt in einem einzigen Sachverhalt, dessen man sich
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immer vollständig bewusst sein muss, nämlich: Bei
Frauen liegen diese Organe im Inneren des Körpers,
während sie bei Männern außen liegen. Stell dir vor, was
immer du zuerst willst: Wende die (Organe) der Frau
nach außen oder wende die (Organe) des Mannes sozusagen nach innen und falte sie doppelt – du wirst in
beiden die in jeder Hinsicht identischen Organe finden.«9 Männer sind demzufolge nach außen gewendete
Frauen bzw. Frauen sind nach innen gewendete Männer: Beide haben dieselben Organe, nur an unterschiedlichen Orten. Die antike Medizin hat dementsprechend
für die unterschiedlichen Sexualorgane auch keine eigenen, geschlechtsspezifischen Bezeichnungen entwickelt – sowenig, wie für Augen, Nase, Mund.10 Die organische Gleichheit setzt sich in den physiologischen
Vorstellungen zur Fortpflanzung fort: Auch Frauen
haben wie Männer Samen, die Zeugung geschieht durch
die Mischung von männlichem und weiblichem Samen.11 Noch weiter geht die humoralpathologische
Vorstellung, dass Männer und Frauen sowohl männlichen als auch weiblichen Samen produzieren.12 Dies ist
eine geradezu bestürzende Vorstellung: Wozu bedarf es
noch des Mannes, wenn die Frau alle notwendigen Vor­
aussetzungen für die Zeugung besitzt – und darüber
hinaus in der Lage ist, ein Kind auszutragen? Gerade
angesichts dieser Implikationen ist die These der biologischen Gleichheit der Geschlechter frappierend und
nur als Teil einer gesamtkulturellen Wahrnehmung verständlich: Die Vorstellung der ursprünglichen Androgynie ist nicht eine kontingente kulturelle Zuschreibung, sondern ein integratives Element der antiken
Geschlechterkultur.
II.Protologisch-eschatologische
­Geschlechteridentität
Die Vorstellung von der androgynen Bestimmung der
menschlichen Natur ist auch im frühen Christentum
verschiedentlich bezeugt. Am bekanntesten ist die paulinische Aussage, dass diejenigen, die auf Christus getauft sind, ihn angezogen haben: »Da ist weder Jude
noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist
nicht männlich und weiblich, denn ihr seid alle einer in
Christus Jesus« (Gal 3,27 f.).13 Die Formulierung des
dritten Gegensatzpaares »nicht männlich und weiblich
(gr.: arsen kai thēly)«, die von den beiden ersten formal
abweicht, ist ein direktes Zitat aus Gen 1,27 (LXX);
Paulus kennt die Auslegungstradition, auch wenn er in
diesem Zusammenhang kein Gewicht darauf legt: Er
will begründen, warum die heilsgeschichtliche Unter5
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scheidung von »Jude und Grieche« irrelevant ist, und
führt zur Begründung die analoge Aufhebung der sozialen und geschlechtlichen Unterschiede an; deren Überwindung setzt er bei seinen Adressaten also ohne weiteres voraus.14 Ausweislich des Zitats aus Gen 1 argumentiert Paulus hier schöpfungstheologisch und postuliert
die Entsprechung zwischen der protologischen Einheit
der Geschlechter und ihrer eschatologischen Restitution: Die Unterscheidungen von Sklave und Freier, von
Jude und Grieche, von männlich und weiblich sind daher Kennzeichen einer Einheit, die in der Schöpfung
grundgelegt, danach zwischenzeitlich verloren war, jetzt
aber »in Christus« eschatologisch wiederhergestellt ist:
Christen befinden sich im Zustand der endzeitlichen
restitutio ad integrum.
Das Bild, das auf diese Weise hinsichtlich der Geschlechtlichkeit des Menschen entsteht, ist nur auf den
ersten Blick ungewohnt; tatsächlich ist es durch eine
ansehnliche Zahl frühchristlicher Texte gestützt und
ergibt zusammen mit den jüdischen Belegen (Philo,
GenR u. a.) und der argumentativen Verwendung des
Urmensch-Mythos bei Plato einen kohärenten Vorstellungszusammenhang, der sich etwa folgendermaßen
zusammenfassen lässt:
sens. Dieses Verlangen aber erzeugte auch jene Begierde [gr.: epithymia] des Körpers, die der Anfang
ungerechter und ungesetzlicher Handlungen ist, um
derentwillen die Menschen das unsterbliche und
glückselige Leben gegen das sterbliche und unglückliche vertauschen« (opif. 152).
3) Zugleich mit Sexualität und Sünde ist also auch der
Tod ein Kennzeichen der geschlechtlichen Existenz
des Menschen: In der platonischen Karikatur ist
diese Konsequenz durch die Lächerlichkeit der gnädigen Verlegung der Geschlechtsteile fast verdeckt.
Immerhin ist deutlich, dass die primäre Bestimmung dieser Operation darin besteht, einerseits die
Hybris des Menschengeschlechts zu bestrafen, andererseits sein Aussterben zu verhindern. Bei Philo
ist der Zusammenhang von geschlechtlicher Distinktion und Tod durch die Begierde vermittelt: Sie
ist die Folge des Eros und der Anfang des »sterblichen und unglücklichen Lebens«.
4) Umgekehrt bedeutet die Aufhebung der Trennung
und die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit Leben und Heil. Das Philippusevangelium
bringt diesen Gedanken auf den Punkt: »Als Eva
[noch] Adam war, gab es keinen Tod. Als sie sich von
ihm trennte, da trat der Tod ins Dasein. Erst wenn
sie wiederum in ihn hineingeht und er sie in sich
1) Am Anfang war der Mensch ungeteilt und androgyn: das ist seine grundlegende geschöpfliche Beaufnimmt, da wird kein Tod mehr sein.«15 Heil ist
stimmung, und darin ist er Ebenbild Gottes. Die
die eschatologische Wiederherstellung der protologeschlechtliche Existenz des Menschen als Mann
gischen Gleichheit der Geschlechter. In der platonischen Karikatur leistet der Eros diese Restitution: Er
und als Frau ist demgegenüber Depravation und
Entfremdung von dieser urhilft, »die ursprüngliche Natur
sprünglichen Schöpfung. Sewiederherzustellen, und ver»Sexualität – Plato und Philo
xualität – Plato und Philo
sucht, aus zweien eins zu machen
­sprechen vom Eros – gehört demnach
sprechen vom Eros – gehört
und die menschliche Natur zu
nicht zu dem von Gott intendierten
demnach nicht zu dem von
heilen« (symp. 191d). Im PhilipWesen des Menschen, sondern ist
Gott intendierten Wesen des
pusevangelium heißt es ein Stück
Ausdruck seiner konkreten, ent­
Menschen, sondern ist Ausweiter: »Hätte die Frau sich nicht
fremdeten ­Existenzweise.«
druck seiner konkreten, entvom Mann getrennt, wären sie
und der Mann nicht gestorben.
fremdeten Existenzweise.
Die Trennung von ihm ist zum Ursprung des Todes
2) Dabei erscheint Sexualität mit Sünde verbunden.
geworden. Deswegen ist Christus gekommen, um
Die platonische Karikatur des Urmensch-Mythos
lässt noch erkennen, dass die geschlechtliche Disdie Trennung, die von Anfang an bestand, zu beseitinktion eine Strafe und Folge seiner Hybris ist. Bei
tigen und sie beide wieder zu vereinigen, und um
den­jenigen, die in der Trennung gestorben sind,
Philo dagegen ist die Geschlechtlichkeit die Voraussetzung und das Einfallstor für die Sünde. Denn
Leben zu geben«16.
nachdem die beiden konkreten, sinnlich wahrnehm- 5) Nun ist die Restitution der androgynen Einheit
baren Einzelmenschen geschaffen waren, da »trat der
nicht nur einfach eine unanschauliche Chiffre für
Eros hinzu, der sie wie zwei getrennte Hälften eines
transzendentes Heil, sondern auch eine BeschreiWesens vereinigte und zusammenfügte, indem er
bung von konkreter Erfahrung. Die Frage ist natürlich: Wie sieht das konkret aus, wenn »aus zweien
den beiden das Verlangen nach inniger Gemeinschaft einflößte zur Erzeugung eines ähnlichen Weeins« wird? Der platonische Aristophanes weist die6
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Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie
se Funktion dem Eros zu und hat damit die Lacher der Geschlechter vertrat und als konkrete Umsetzung
auf seiner Seite, wenn er die complexio oppositorum der »geschöpflichen Bestimmung« des Menschen erals Symplegma von Mann und Frau vorstellt. Damit scheinen. Das hatte die Folge, dass die üblicherweise
karikiert Aristophanes offenkundig die gegenläufige durch Sexualität konstituierten Machtverhältnisse niLösung, wie sie auch die frühchristlichen Texte ver- velliert werden – oder zumindest so erscheinen.
treten: Sie verwenden dieselbe, längst technisch gebrauchte Terminologie,17 sehen die Einheit der Geschlechter aber gerade im asketischen Verzicht auf III. Sexualität und Hierarchie:
Sexualität. So heißt es in einem Text aus dem 2. Jh.,
­Ursprüngliche Geschlechtlichkeit
dass das Reich kommen werde, »wenn die Zwei eins
werden […] und das Männliche eins mit dem Weib- Tatsächlich war die Sexualaskese der konkrete Punkt, an
lichen, weder Männliches noch Weibliches [gr.: oute dem sich die Diskussionen und der heftige theologische
arsen oute thēly]. […] Mit ›Und das Männliche wie Widerstand gegen die Androgynievorstellung entzündeten. Dabei richtete sich die
das Weibliche, weder Männliches noch Weibliches‹ meint er »Wie die frühchristlichen Texte zeigen, Kritik an den allgemeinen Vorfolgendes: Ein Bruder soll
stellungen wie ihren sozialen
konnte die (weit verbreitete) Sexual­
beim Anblick einer Schwester
Konkretionen fast ausschließlich
askese in einen weiten kulturellen
in keiner Weise an sie als Frau
auf Frauen. Diese Einseitigkeit ist
­Horizont eingezeichnet werden, der
denken, noch soll sie an ihn
verständlich, da sexuelle Askese
eine Identität der Geschlechter vertrat
als Mann denken.«18 Die asgerade für Frauen in besonderer
und als konkrete Umsetzung der
ketische Realisierung der GeWeise attraktiv und höchst fol­›geschöpflichen Bestimmung‹ des
schlechteridentität ist im frügenreich war.21 Frauen, die sexu­Menschen erscheinen.«
hen Christentum weit verell asketisch lebten, entzogen sich
breitet,19 auch Paulus hat sie
dadurch demjenigen Bereich, der
vor Augen, wenn er empfiehlt »Es ist gut, eine Frau ihre bisherige soziale Rolle am nachhaltigsten geprägt
nicht zu berühren!« (1Kor 7,1), und sich wünscht, hatte: Sie waren plötzlich nicht mehr Frau und Gattin,
Mutter und Erzieherin der Kinder, Vorsteherin des
dass alle so wären, wie er – nämlich ehelos (7,7).20
Hauswesens. Es ist daher nicht überraschend, dass die
christliche, primär von Frauen geübte Sexualaskese weithin als Gefährdung der sozialen Ordnung und ihrer
Grundlagen empfunden wurde.22
Das lässt sich exemplarisch an Thecla zeigen, von
der berichtet wird, dass sie nach ihrer Konversion ihrem
Bräutigam die Ehe verweigerte und dann Apostelin wurde.23 Ihre seit dem 2. Jh. breit rezipierte, typologische
Geschichte macht deutlich, dass und warum Sexual­
askese für Frauen durchaus erstrebenswert und folgenreich sein konnte: Thecla verließ den angestammten,
eng begrenzten Frauenbereich des Hauses und wirkte in
der Öffentlichkeit, war ökonomisch von der Gunst und
Großzügigkeit eines Ehemannes unabhängig und besaß
Wenn Paulus Christen als »neue Schöpfung« (2Kor 5,17) als Missionarin und Lehrerin Autorität und soziale
bezeichnet, denkt er wohl an geschlechtslose Asketen: ­Anerkennung – kurz gesagt: Ohne die als EinschränIm neuen Äon »heiraten sie nicht und werden sie nicht kung wahrgenommene, reproduktive Sexualität drangeheiratet, sondern sie sind wie die Engel« (Mk 12,28 gen Frauen wie Thecla in Männerdomänen ein und
par.) – also geschlechtslos. Das ist die wesentliche Kon- übernahmen männliche Rollenmodelle.
sequenz, die sich aus der Annahme einer ursprünglichen
Dass sie damit durchweg Kritik hervorgerufen haAndrogynie ergibt: Männer und Frauen sind prinzipiell ben, liegt auf der Hand. Aufschlussreich ist bereits das
gleich. Wie die frühchristlichen Texte zeigen, konnte die früheste Zeugnis dafür im NT: Der 1Tim kritisiert den
(weit verbreitete) Sexualaskese in einen weiten kulturel- Zusammenhang von (weiblicher) Sexualaskese und dem
len Horizont eingezeichnet werden, der eine Identität Anspruch auf Lehrautorität (»Zu lehren erlaube ich der
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Frau nicht, auch nicht, über den Mann zu herrschen«, Stellung des Mannes (bzw. die inferiore der Frau) auch
1Tim 2,12), der sich als Konsequenz der androgynen in Anatomie und Physiologie sichtbar zu machen.
Schöpfungsvorstellung ergibt. Statt dessen setzt er eine
Diesem Nachweis dienen ganz verschiedene Begrünalternative Interpretation von Gen 2 f. dagegen, die eben dungen. Am anschaulichsten ist das anatomische Argunicht von einer ursprünglichen Androgynie des Men- ment: Die Lage der weiblichen Sexualorgane der Frau im
schen ausgeht: Mann und Frau sind von Anfang als Inneren des Körpers ist Ausweis ihrer geringeren Vollgeschlechtlich distinkte Wesen geschaffen; die zeitliche kommenheit, weil sie sich noch nicht nach außen entund sachliche Vorordnung der Erschaffung des Mannes wickelt haben und darin den berühmten »Augen des
vor der Frau (Gen 2,22 f.) beMaulwurfs« gleichen: Der Maulgründet deren Subordination
wurf hat Augen, ist also vollkom»Denn trotz der Einsicht in den
und den Verzicht auf Lehrautorimener als etwa die niederen Arten
Ein-Geschlechtskörper und die reprotät (»Denn Adam wurde zuerst
der Schalentiere, die keine Augen
haben; aber da seine Lider zusamgeschaffen, dann erst Eva«,
duktionsphysiologische Parität der
1Tim 2,13). Dementsprechend Geschlechter blieben Naturphilosophen mengewachsen und die Augen
liegt die christliche Realisierung
blind sind, ist er weniger vollund Ärzte den kulturellen und soziader geschöpflichen Bestimmung
kommen als die höheren Tiere.28
len Rahmenbedingungen ihrer Zeit
Dementsprechend sind die innen
von Frauen auch nicht in sexuelunterworfen, und diese erforderten
ler Askese, vielmehr werden sie
ganz eindeutig, die dominante soziale liegenden Sexualorgane der Frau
»durch das Kindergebären geretein Zeichen ihrer mangelnden
Stellung des Mannes (bzw. die infer­
tet« (1Tim 2,15). Zu dieser ArVollkommenheit: Die Vagina ist
iore der Frau) auch in Anatomie und
gumentation passt nahtlos die
ein ungeborener Penis, die GebärPhysiologie sichtbar zu machen.«
Warnung vor »heillosen Altweimutter ein unterentwickeltes
berfabeln« und vor »körperlichen
Scrotum, die Eierstöcke sind HoÜbungen«, also vor Askese: Der Bezug auf die mythische den, die auf dem Weg zur Entfaltung nach außen verAndrogynietradition ist mit Händen zu greifen.24
kümmert sind usw. Galen hat dieses anatomische ArguEs ist diese Deutung von Gen 1-3, die sich in der ment humoralpathologisch untersetzt: »Das Weibliche
Alten Kirche durchsetzte, diese Auffassung von der »Na- ist unvollkommener als das Männliche aus dem vorrantur« des Menschen und seiner Sexualität,25 diese soziale gigen Grund, dass es kälter ist. Denn wenn ja unter den
Rollenverteilung,26 die sich zum Ausgang der christli- Lebewesen das wärmere das aktivere ist, dann ist das
chen Antike durchgesetzt27 und ihren reflektiertesten kältere Lebewesen unvollkommener [psychroteron – ateAusdruck in der Theologie Augustins gefunden hat.
lesteron] als das wärmere.«29 Die größere Wärme des
männlichen Körpers ist natürlich nicht experimentell
(etwa durch Messung) nachgewiesen: Sie ergibt sich aus
IV. Hierarchisch strukturierte Einheit
der Übertragung des kosmologischen Modells der VierElemente-Lehre auf die Geschlechtsbiologie und beruht
So stehen bereits im NT zwei unterschiedliche Auf­ auf der Einzeichnung der Geschlechtskörper in die Elefassungen über die geschöpfliche Bestimmung des Men- mentarkoordinaten (warm-kalt; trocken-feucht), deren
schen bzw. der Geschlechter unmittelbar nebeneinander, Richtigkeit nicht begründet wird, sondern vorausgesetzt
die zwar auf dieselben Grundtexte rekurrieren (Gen 1-3), ist. Am kompliziertesten gestaltete sich der Nachweis der
aber auf verschiedene Weise auf die conditio humana re- größeren Vollkommenheit des Mannes im Zusammenagieren und zu unterschiedlichen sozialen Konkretisie- hang der physiologischen Vorstellungen zur Fortpflanrungen führen (Sexualaskese; Kindergebären). Trotz zung, wie vor allem die Samentheorien zeigen – insbedieses Widerspruchs sind beide Modelle Teil desselben sondere mit Blick auf die Ansicht, dass Männer und
kulturellen Umfelds und auch konzeptuell eng aufein- Frauen einen bisexuellen Samen produzieren: Hier mussander bezogen. Dies lässt sich wiederum sehr leicht an- te die Theoriebildung endgültig den Bereich des biolohand der medizinischen Literatur zeigen. Denn trotz der gisch Plausibilisierbaren verlassen. Ein Beispiel dafür ist
Einsicht in den Ein-Geschlechtskörper und die repro- Aristoteles’ Unterscheidung der Anteile beim Zeugungsduktionsphysiologische Parität der Geschlechter blieben vorgang in eine Wirkursache (lat.: causa efficiens) und
Naturphilosophen und Ärzte den kulturellen und sozia- eine Stoffursache (lat.: causa materialis): Das Männliche
len Rahmenbedingungen ihrer Zeit unterworfen, und ist Ursprung der Bewegung, das Weibliche Ursprung des
diese erforderten ganz eindeutig, die dominante soziale Stoffes.30 »Weil nun die erste Quelle der Bewegung in
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Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie
ihrem Wesen immer höher steht und weil sie, die den schluss daran wieder die prinzipielle Gleichheit von
Begriff und die Gestalt des Stoffes in sich enthält, gött- Mann und Frau »im Herrn« anzusprechen (11,11 f.).
Diese scheinbaren Widersprüche von Einheit und
licher ist, und weil es sich außerdem empfiehlt, das Höhere von dem Niedrigeren zu trennen, deswegen ist Differenz der Geschlechter sind vollständig systemkonüberall, wo und wie es möglich ist, vom Weiblichen das form. Die Geschlechtergrenzen sind nicht fix, sondern –
Männliche getrennt. Denn ranghöher und göttlicher ist zumindest: in gewissen Grenzen – fließend, weil das
der Bewegungsursprung, der als das Männliche in allem Modell der hierarchisch strukturierten Einheit der GeWerdenden liegt, während der Stoff das Weibliche ist.«31 schlechtskörper quantitative Abstufungen und ÜberAus diesem Grund liefert die Frau bei der Fortpflanzung gänge erlaubt: Männer können »verweiblicht«, Frauen
nur die stofflich gedachte »Nährseele«, wogegen der können »männlich« werden. Wenn, wie schon für ArisMann dem Kind die Empfindungsseele (gr.: psychē ais­ toteles angedeutet wurde, das Weibliche für das Stofflithousa) vermittelt, wie sich bei Vögeln dann doch immer- che steht, ist klar, dass etwa geistiger Fortschritt »nichts
hin sehen lässt: Windeier (wir würden sagen: unbefruch- anderes ist als das Verlassen des Weiblichen durch das
tete Eier) sind Eier, die die Weibchen ohne Zutun der Männlichwerden, da ja das Weibliche verbunden ist mit
Männchen hervorbringen; sie haben zwar für eine kurze Materie, Passivität, Körperlichkeit, Sinnenhaftigkeit,
Zeit eine Art Leben (wie daran kenntlich ist, dass sie mit während das Männliche das Aktive, Rationale, Unkörperliche darstellt und dem Geisder Zeit verfaulen), bringen aber
keine lebensfähigen Vögel hervor,
tigen ähnlicher ist.«33 Dieses
»Diese scheinbaren Widersprüche von
weil sie rein stofflich sind und ih»Männlichwerden« geschieht bei
Einheit und Differenz der Geschlechnen die lebens­notwendige Empeiner Frau, wenn die »unedlen
ter sind vollständig systemkonform.
findungsseele fehlt.32
und unmännlichen Begierden,
Die Geschlechtergrenzen sind nicht
All diese Überlegungen sind
durch die sie verweiblicht wurde
geprägt von dem Bestreben, die
[gr.: ethēlyneto], wieder aus ihr
fix, sondern – zumindest: in gewissen
biologische Priorität des Männlibeseitigt« werden.34 Diese AnnäGrenzen – fließend, weil das Modell
chen vor dem Weiblichen zu erder hierarchisch strukturierten Einheit herung der Geschlechterdifferenz
soll natürlich nicht dadurch geweisen. Dies konstituiert jedoch
der Geschlechtskörper quantitative
keinen Gegensatz zur Theorie der
schehen, dass »die männlichen
Abstufungen und Übergänge erlaubt:
grundsätzlichen Gleichheit der
Gedanken verweiblicht werden«,
Männer können ›verweiblicht‹,
Geschlechter, der sexuellen Körsondern dass »die Sinne, das
­Frauen können »männlich« werden.«
per und der Reproduktionsphyweibliche Element, männlich gesiologie. Im Gegenteil: Für Galen
macht werden, indem sie den
ist die anatomische Gleichheit der Geschlechtskörper männlichen Gedanken folgen, so dass sie Weisheit,
der logische Ausgangspunkt und die Bedingung seiner Klugheit, Gerechtigkeit, Mut, mit einem Wort: Tugend
Beweisführung für den Primat des Männlichen. Das empfangen.«35 »Tugend« bezeichnet nicht allgemein
Modell, das all diesen Überlegungen zugrunde liegt, ist moralisches Verhalten, sondern ist, ganz wörtlich,
die in sich hierarchisch strukturierte Einheit der Ge- Männlichkeit oder Mannhaftigkeit: aretē/virtus. Die
schlechter. Dabei bedingen sich beide Aspekte gegensei- Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz impliziert
tig: Die grundlegende Einheit der Geschlechter erfor- daher eine Dynamik. So kann Jesus über Maria sa­dert eine Unterscheidung, die nur quantitativ, nicht aber gen: »Ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich
qualitativ konstituiert ist, wie umgekehrt die Geschlech- mache, damit auch sie zu einem lebendigen Geist wird,
terdifferenzen nur in einem einheitlich konzipierten der euch Männern gleicht. Jede Frau, die sich männlich
Modell aufeinander bezogen werden können. Dieses macht, wird eingehen in das Königreich der Himmel«
Grundkonzept der hierarchisch gegliederten Einheit der (EvThom 114). In der Antike ist »Vermännlichung« in
Geschlechter erklärt dann beispielsweise, inwiefern Pau- erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich)36 auf sexulus auf der einen Seite die schöpfungstheologisch fun- elle Triebkontrolle bezogen. Die Eindämmung der
dierte und eschatologisch restituierte Einheit von »weiblichen Begierden« war verständlicherweise ein
»männlich und weiblich« in Christus feststellen kann Politikum ersten Ranges, und dementsprechend spie(Gal 3,27 f.), auf der anderen Seite aber ganz selbstver- geln sich die politischen und sozialen Veränderungen
ständlich davon ausgeht, dass der »Mann das Haupt der zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und der frühen Kaiserzeit in
Frau« sei (1Kor 11,4) und »die Frau wegen des Mannes den sexualdiätetischen Empfehlungen der Ärzte der jegeschaffen« wurde (11,9) – nur um unmittelbar im An- weiligen Zeit: Aufs Ganze gesehen laufen sie in dieser
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Neues Testament aktuell
Periode auf den Rat zur Enthaltsamkeit zu – zur Askese.37 Die grundsätzliche Durchlässigkeit der Grenze
zwischen den Geschlechtern und die Veränderbarkeit
der Kategorien »männlich« und »weiblich« macht dann
auch nachvollziehbar, dass als erstrebenswertes Ideal
der »vollkommene Mann« genannt werden kann
(Eph 4,13) – und zwar für Frauen wie für Männer: Beide können »männlich und vollkommen werden«38.
Insgesamt zeigen diese Bemerkungen sehr deutlich,
dass und warum die Geschlechterkategorien »männlich«
und »weiblich« nicht in erster Linie körperlich definiert
(und darin statisch) sind, sondern Haltungen bezeichnen,
die durch Einsicht und Willen gesteuert und verändert
werden können. In dieser Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz liegt der entscheidende Unterschied zu dem
modernen Modell, das sich seit dem 19. Jh. durchgesetzt
hat: Der Annahme einer antagonistischen Opposition der
Geschlechter, die sich diametral gegenüberstehen, aber
gerade darin ihre soziale, kulturelle und biologische
Gleichrangigkeit erweisen. Aus dieser Perspektive müssen
die antike (nicht nur die christliche) Geschlechterkonstruktion im Modell der hierarchischen Einheit als ärgerlich
und ihre sozialen Implikationen als anstößig erscheinen:
Auch die elitär-radikale Lösung der Sexualaskese gewährleistet keine vollkommene soziale Gleichheit, sondern
bildet im Ideal des »vollkommenen Mannes« noch die
Strukturen der Ungleichheit ab.
Immerhin lässt der Vergleich erkennen, wie eng das
moderne Oppositionsmodell konzipiert ist. Um die
Gleichheit der Geschlechter gewährleisten zu können,
müssen sie in statischer, antagonistischer Eindeutigkeit
erfasst werden – mit der Folge, dass dabei alle Phänomene, die sich diesem Modell nicht ohne weiteres fügen
(z. B. Intersexualität), aus der kulturellen Wahrnehmung
zu verschwinden und irrelevant zu werden drohen.
Wichtiger ist wohl, dass diese Eindeutigkeit ausschließlich biologisch konstituiert ist. Die Konzentration auf
das Geschlecht des Körpers suggeriert eine Objektivität,
die sie nicht besitzt: Auch diese aufgeklärte Konstruktion bleibt in die Zusammenhänge der sozialen und kulturellen Kommunikation eingebettet.
Anmerkungen
I. Stahlmann, Jenseits der Weiblichkeit. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des frühchristlichen Askeseideals, in:
C. Eifert u. a. (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer?
Geschlechterkonstruktion im historischen Wandel,
Frankfurt/M. 1996, 51–75.
 2
GenR 8,1, nach H. Freedmann/M. Simon (Hgg.), Midrash Rabba. Translated into English I, London 31961. Hier
steht das griechische Lehnwort androginos.
 1
10
Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. E. L. Dietrich, Der Urmensch als Androgyn, ZKG 58 (1939),
297–345; W.A. Meeks, The Image of the Androgyne:
Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History
of Religion 13 (1974), 165–208.
 4
Plato, symp. (189d-)191d.
 5
Z. B. bMeg 9a und ARN (Rez. B) 37; vgl. dazu die Listen
mit Übersetzungsvarianten bei A. J. Saldarini, The Fathers
According to Rabbi Nathan (Abot de Rabbi Nathan),
Version B (SJLA 11), Leiden 1975, 21.
 6
Philo, de opificio mundi 76–152.
 7
Philo, opif. 134. Die Wendung »männlich und weiblich«
(gr.: arsen kai thēly) greift erkennbar Gen 1,27 auf.
 8
Vgl. Th. Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud,
Frankfurt/a. M. – New York 1992.
 9
Galen, de usu partium XIV 6 (II 296 Helmreich).
10
So werden Hoden und Ovarien mit denselben Begriffen
(orcheis = Hoden bzw. didymoi = Zwillinge) bezeichnet.
Galen beschreibt z. B. die Eileiter der Frau als Samenleiter
(gr.: angeia spermatika), die »von den Hoden (orcheis) ausgehen« und »in der gleichen Weise wie beim Mann Samen
beinhalten« (de uteri dissect. 9,4; 48,17 ff. CMG V 2,1).
11
Vgl. z. B. W. Brunschön, Gleichheit der Geschlechter? A
­ spekte der Zweisamentheorie im Corpus Hippocraticum
und ihrer Rezeption, in: Chr. Brockmann u. a. (Hgg.), Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften (BzA 255), Berlin – New York 2009, 173–190.
12
Z. B. Hippokrates, de genitura 6 (154 ff. Giorgianni): »Es
gibt im Mann sowohl weiblichen Samen als auch männlichen [to thēly sperma kai to arsen]. Bei der Frau verhält es
sich genauso. Das Männliche ist aber stärker als das Weibliche. Es besteht nun die Notwendigkeit, dass der stärkere
Samen die Grundlage der Erzeugung ist. Das aber verhält
sich folgendermaßen: Wenn von beiden der stärkere Samen kommt, wird es ein Mann; wenn aber der schwache
Samen, eine Frau. Was von beiden sich aufgrund seiner
Menge durchsetzt, das entsteht auch.« Die These vom
bisexuellen Samen von Männern und Frauen auch in
Hipp., de diaeta I 26–29 (142–146 CMG I 2,4).
13
Aus der uferlosen und kontroversen Literatur zu Gal 3,27 f.
ist wichtig: G. Dautzenberg, »Da ist nicht männlich und
weiblich«. Zur Interpretation von Gal 3,28, Kairos 24
(1982), 181–206; H. Paulsen, Einheit und Freiheit der
Söhne Gottes – Gal 3,26-28, ZNW 71 (1980), 74-95; W.
Radl, »Männlich und weiblich, das gibt es nicht mehr«
(Gal 3,28), in: K. Kienzler/E. Reil (Hgg.), Als Mann und
Frau schuf er sie. Theologische Grundlagen und Konsequenzen, Donauwörth 1995, 127-146; G. Röhser, Mann
und Frau in Christus. Eine Verhältnisbestimmung von
Gal 3,28 und 1Kor 11,2-16, SNTU 22 (1997), 57–78;
H. Thyen, »…nicht mehr männlich und weiblich …«.
Eine Studie zu Gal 3,28, in: F. Crüsemann/H. Thyen, Als
Mann und Frau geschaffen, Gelnhausen/Berlin 1978,
107–201.
14
Die Einheit von »männlich und weiblich« ist also nicht
eine programmatische Forderung (vgl. N. Baumert, Frau
und Mann bei Paulus: Überwindung eines Mißverständnisses, Würzburg 1992, 264: »Magna Charta der Gleich 3
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Matthias Klinghardt
Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie
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berechtigung«), die erst noch einzuholen wäre, sondern
eine Zustandsbeschreibung – anders wäre die rhetorische
Funktion der Aussage auch unterlaufen.
EvPhil 71 (68,22-26 NHC II/3).
EvPhil 78 (70,9-17 NHC II/3).
Vgl. dazu M. Bouttier, Complexio Oppositorum: Sur les
Formules de I Cor. xii. 13; Gal. iii. 26-8, Col. iii. 10,11,
NTS 23 (1976/77), 1–19; P. Brown, »When You Make
the Two One«: Valentinus and Gnostic Spiritual Guidance,
in: ders., The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988,
101–121.
2Clem 12,2-6.
Als Beispiele, die ganz ähnliche Formulierungen verwenden, seien genannt: Ägypterevangelium bei Clemens
Alex., strom. III 13,92 f. (O. Stählin/L. Früchtel (Hgg.),
GCS 52, Berlin 31960); TractTripart (136,16 ff. NHC
I/5); EvThom 22 (»Wo ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, damit das Männliche
nicht männlich ist noch das Weibliche weiblich […] da
werdet ihr eingehen ins Reich!«); ActPhil 140 (74 f.
ed. R. A. Lipsius/M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocryphal II/2, Leipzig 1903,) usw. Gegen P. Brown (a. a. O.,
Anm. 17) u. a. ist ganz eindeutig, dass die so begründete
Sexualaskese nicht gnostisch, sondern gemeinchristlich ist.
Vgl. J. C. Poirier/J. Frankovic, Celibacy and Charism in
1Cor 7:5-7, HTR 89 (1996), 1–18, und die Kommen­tare.
Vgl. zum Problem V. Burrus, Chastity as Autonomy. Women in the Stories of the Apocryphal Acts (SWR 23),
Lewiston 1987; E. Castelli, Virginity and its Meaning for
Women’s Sexuality in Early Christianity, JFSR 2 (1986),
61–88; E.A. Clark, Ascetic Renunciation and Feminine
Advancement: A Paradox of Late Ancient Christianity, in:
dies., Ascetic Piety and Women’s Faith. Essays on Late
Ancient Christianity, Lewiston/Queenston 1986, 175–
208; R. Kraemer, The Conversion of Women to Ascetic
Forms of Christianity, Signs 6 (1980/81), 298–307; R.
Ruether, Mothers of the Church: Ascetic Women in the
Late Patristic Age, in: dies., Women of Spirit. Female Leaders in the Jewish and Christian Tradition, New York
1979, 71–98.
Zur Auseinandersetzung um 1Tim 2 vgl. D. MacDonald,
The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story
and Canon, Philadelphia 1983, 54–77; S.L. Davies, The
Revolt of the Widows, Carbondale 1980.
Der griech. Text der Paulus-Thecla-Akten in: Lipsius/
Bonnet I, 235-269; die auf P. Heid. 1 (kopt.) basierende
Übersetzung in: Henneke/Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 41971, 243–251.
1Tim 4,7 f. Interessanterweise verteidigt Philo seine »androgyne« Interpretation von Gen 1 f., indem er eine entsprechende Diskriminierung ausdrücklich zurückweist:
»Dies sind aber keineswegs erfundene Mythen […] sondern typische Beispiele, die zu allegorischer Deutung nach
ihrem verborgenen Sinn auffordern!« (opif. 156).
Sexualität ist nicht nur erlaubt, sondern gefordert, aber
nur zur Fortpflanzung. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich Clemens von Alexandrien: »Auch wer zum Zweck
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der Kindererzeugung geheiratet hat, muß Enthaltsamkeit
üben, damit er nicht einmal sein eigenes Weib begehre,
das er lieben sollte, indem er mit keuschen und sittsamem
Willen Kinder zeugt« (strom. III 58). Ehelicher Verkehr
ohne die Absicht der Kinderzeugung »heißt gegen die
Natur freveln« (paed. II 95). »Man darf aber auch nachts
nicht zuchtlos sein, weil es da dunkel ist; vielmehr muß
man das Schamgefühl in die Seele gleichsam als das Licht
des Verstandes hereinnehmen […] Denn selbst der durch
das Gesetz erlaubte Geschlechtsverkehr bringt leicht zu
Fall, soweit er nicht der Erzeugung von Kindern dient«
(paed. II 97 f.) usw.
Dominant ist dabei die (Bestreitung der) Lehrautorität
von Frauen, die in Texten aus asketischer Tradition anhand
der besonderen Offenbarung des Auferstandenen an Frauen diskutiert wird: Neben Salome (z. B. Clemens Alex.,
strom. III 45.63) ist vor allem Maria (Magdalena) als Tradentin geheimer Unterweisung bekannt, vgl. EvThom
114; EvPhil 55b (63,33-64,5 NHC II/3); Epiphanius,
Panar. XXVI 8,1 f. (exklusive Offenbarung an Maria);
EvMariae 10,1 ff.; 17,7 ff. (BG 8502 ed. Till); Pistis Sophia
36; 96; 146 (BG 8502 ed. Till) usw.
Vgl. E. Dassmann, »Als Mann und Frau erschuf er sie«.
Gen. 1,27c im Verständnis der Kirchenväter, in: M. Wacht
(Hg.), Panchaia (FS K. Thraede), JAC.E 22, Münster
1995, 45–60; E.A. Clark, Heresy, Asceticism, Adam, and
Eve: Interpretations of Genesis 1–3 in the Latin Fathers,
in: dies., Ascetic Piety (o. Anm. 21), 175–208; E. Pagels,
Adam, Eva und die Schlange, Hamburg 1991, 207 ff.
Galen, de usu partium XIV 6 (II 297,26-298,7 Helmreich). Vgl. Aristoteles, hist. anim. I 9 (491 b 26 ff.); IV 8
(533 a 1ff ).
Galen, de usu partium XIV 6 (II 296,8 ff. Helmreich).
Arist., generat. anim. I 2 (716 a 1 ff.).
Arist., generat. anim. II 1 (732 a 3 ff ).
Arist., generat. anim. II 5 (741 a 3 ff.).
Philo, quaest. in Ex 12,5.
Philo, cher. 50.
Philo, quaest. in Gen 2,49.
Wenn Perpetua in der Vision von ihrem bevorstehenden
Martyrium sagen kann: »Ich wurde zum Mann« (Passio
SS. Perpetuae et Felicitatis 10,7: facta sum masculus), dann
ist darin ihre Bereitschaft zum Martyrium angezeigt: Sie
hat sich, wie man noch vor nicht sehr langer Zeit gesagt
hätte, »ermannt«.
Vgl. etwa Soranus von Ephesus, gynaec. I 32,1 (22,23ff
CMG V): »Wir meinen nun, dass eine andauernde Jungfernschaft gesund ist [gr.: tēn diēnekē parthenian hygieinēn
einai], zumal der Geschlechtsverkehr an sich schon schädlich ist […] (32,4). Daher ist eine andauernde [geschlechtliche] Unberührtheit gesund [hygieinē hē diēnekēs parthenia], und zwar sowohl für das Männliche als auch für das
Weibliche.« Mit seiner generellen Empfehlung der Enthaltsamkeit avancierte Soranus zur wichtigsten medizinischen Autorität der Alten Kirche: Augustin nennt ihn den
»edelsten medizinischen Schriftsteller [lat.: medicinae
auctor nobilissimus]« (c. Iulian 5,14,51).
Clemens Alex., strom. VI 100,3.
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