Geisteswissenschaft Stefan Maschack Der Hilfe- und Kontrollauftrag der Bewährungshilfe in der Arbeit mit Sexualstraftätern Diplomarbeit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/ abrufbar. Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsschutz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Auswertungen durch Datenbanken und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe (einschließlich Mikrokopie) sowie der Auswertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen, vorbehalten. Copyright © 2005 Diplomica Verlag GmbH ISBN: 9783832490416 http://www.diplom.de/e-book/224200/der-hilfe-und-kontrollauftrag-der-bewaehrungshilfe-in-der-arbeit-mit-sexualstraftaetern Stefan Maschack Der Hilfe- und Kontrollauftrag der Bewährungshilfe in der Arbeit mit Sexualstraftätern Diplom.de Stefan Maschack Der Hilfe- und Kontrollauftrag der Bewährungshilfe in der Arbeit mit Sexualstraftätern Diplomarbeit Hochschule Bremen (FH) Fachbereich Sozialpädagogik / Sozialarbeit Abgabe Juli 2005 ID 9041 ID 9041 Maschack, Stefan: Der Hilfe- und Kontrollauftrag der Bewährungshilfe in der Arbeit mit Sexualstraftätern Hamburg: Diplomica GmbH, 2005 Zugl.: Hochschule Bremen (FH), Diplomarbeit, 2005 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. 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Bewährungshilfe: Entwicklung, institutioneller Rahmen und Aufgaben ........................................................................... 7 1.1 Die geschichtliche Entwicklung bis 1949 ........................................... 7 1.2 Die geschichtliche Entwicklung ab 1949 bis heute .....................18 1.3 Der Auftrag der Bewährungshilfe .........................................................23 1.4 Der Hilfe- und Kontrollauftrag................................................................23 1.4.1 Der Hilfe- und Betreuungsauftrag .........................................................24 1.4.2 Der Kontroll- und Überwachungsauftrag..........................................26 1.5 Die gesetzlichen Grundlagen der Bewährungshilfe und ihre organisatorische Umsetzung am Beispiel der Sozialen Dienste der Justiz im Land Bremen 2. ....................... 28 Sexueller Missbrauch: Begriffe, rechtlicher Rahmen, Ausmaß und Rückfallforschung ................................................ 37 2.1 Sexualstraftaten in verschiedenen Kontexten .................................38 2.2 Sexueller Missbrauch – Begriffe und Definitionen .....................39 2.3 Der strafrechtliche Rahmen .......................................................................46 2.4 Das Ausmaß von Sexualstraftaten und das Rückfallrisiko .....52 2.4.1 Das Hellfeld ........................................................................................................53 2.4.2 Das Dunkelfeld .................................................................................................57 2.5 Die Rückfallgefahr von Sexualstraftätern .........................................60 3. Sexualstraftaten: Erklärungsansätze und Möglichkeiten der Therapie ...................................................................................64 3.1 Die Sexualstraftäter ........................................................................................65 3.2 Die Täterstrategien..........................................................................................67 3.2.1 Die Kontaktaufnahme ...................................................................................68 3.2.2 Der Beziehungsaufbau .................................................................................69 3.2.3 Die Verpflichtung des Opfers zum Schweigen 3.3 ............................ 70 Theoretische Erklärungsansätze und -modelle für sexuellen Missbrauch ....................................................................................71 3.3.1 Der Psychoanalytische Ansatz.................................................................72 3.3.2 Der Familiendynamische Ansatz ...........................................................74 3.3.3 Der Sozialisationstheoretische Ansatz ................................................76 3.3.4 Das Modell der vier Voraussetzungen von Finkelhor ...............80 3.3.5 Das Drei-Perspektiven Modell sexueller Gewalt .........................84 3.4 Die Folgen des sexuellen Missbrauchs ...............................................87 3.4.1 Methodische Probleme der Folgenforschung .................................88 3.4.2 Einteilung der Missbrauchsfolgen .........................................................89 3.5 Therapie von Sexualstraftätern ................................................................91 3.5.1 Erfolg von Therapie .......................................................................................92 3.5.2 Divergierende Therapiekonzepte ...........................................................93 3.5.3 Ambulante Therapiemodelle für Sexualstraftäter am Beispiel des „Rotterdamer Modells“ .......................................................................96 4. Arbeit mit Sexualstraftätern: Hilfe und Kontrolle durch die Bewährungshilfe ............................................................ 100 4.1 Die Zusammenarbeit auf der Grundlage eines Arbeitskontraktes .......................................................................................................... 102 4.2 Problemlagen bei der ambulanten Behandlung von Sexualstraftätern ........................................................................................................... 110 4.2.1 Die Kostenfrage ........................................................................................... 111 4.2.2 Die Therapiemotivation ............................................................................ 113 4.2.3 Die Zusammenarbeit mit der Justiz ................................................... 115 4.3 Mögliche Lösungsansätze ....................................................................... 117 4.3.1 Die Stuttgarter Psychotherapie-Ambulanz .................................... 117 4.3.2 Die Kooperation der Beratungsstelle im Packhaus mit der Bewährungshilfe in Schleswig Holstein ......................................... 121 5. Schlussbetrachtung und Ausblick ............................................ 124 6. Literaturverzeichnis .............................................................................. 131 Abkürzungsverzeichnis.................................................................................... 136 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 137 4 Einleitung Kaum eine Verbrechensart beschäftigt die öffentliche Meinung so sehr, wie Sexualstraftaten. 1995 gingen die schrecklichen Missbrauchs- und Mordtaten von Marc Dutroux durch die Medien. Fast zeitgleich bewegten und erregten die sexuellen Gewalttaten und Morde an Natalie Astner, Kim Kerkow oder Christiane Evers in Deutschland die Öffentlichkeit. Auch die Gegenwart zeigt anhand der Straftaten von Mark Hoffmann die Aktualität dieses Themas. Als Konsequenz dieser scheinbar gestiegenen Anzahl von Sexualstraftaten hat der Gesetzgeber reagiert und am 26. Januar 1998 das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten“ (BUNDESGESETZBLATT 1998, S. 160) erlassen. In diesem Gesetz ist unter anderem bestimmt worden, dass Sexualstraftäter1, die zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden sind, auch ohne ihr Einverständnis zu einer psychotherapeutischen Behandlung mittels einer Weisung gezwungen werden können. Diese veränderte Gesetzeslage stellt die Arbeit der Bewährungshilfe vor eine Reihe neuer Herausforderungen. Probanden der Bewährungshilfe, die aufgrund von Sexualstraftaten verurteilt worden sind, benötigen oftmals wegen der besonderen Umstände der Sexualdelinquenz und einer möglichen Rückfallgefahr eine andere und unter Umständen weitaus intensivere Betreuung als andere Probanden. Hinzu kommt, dass viele Bewährungshelfer2 aufgrund unterschiedlicher Faktoren (Ausbildung, praktisches Wissen, hohe Fallbelastung oder auch Vorbehalte gegen den Täterkreis) einen erschwerten Zugang zu dieser komplexen Thematik haben. Mit dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass das System der Bewährungshilfe im Rahmen der definierten Aufgabenstellung (Hilfe anzubieten und Kontrolle auszuüben) aufgrund ihrer besonderen Einbindung in den justiziellen und sozialarbeiterischen Kontext in der Lage ist, einen entsprechenden Beitrag zur Verringerung der Sexualstraftaten zu leisten. Dabei wird von der Grundannahme 1 Dem Autor ist sehr wohl bewusst, dass die Verwendung des Begriffes Täter stigmatisierend sein kann und die Gefahr birgt, Personen nur auf ihre Tat zu reduzieren. Im Fokus der Perspektive des Autors, steht aber die Person als Klient der Sozialen Arbeit nicht seine Taten. Allerdings: Menschen die sexuelle Gewalt anwenden, begehen eine Tat, daher wird der Begriff des Sexualstraftäters gewählt, um den Personenkreis zu benennen. 2 Mit der Wahl der männlichen Schreibform wird vom Autor keinesfalls eine Diskriminierung des weiblichen Geschlechts beabsichtigt. Die männliche Form wird ausschließlich aus dem Grund der besseren Lesbarkeit verwandt. 5 ausgegangen, dass die Beschäftigung mit Sexualstraftätern im sozialarbeiterischen Kontext in erster Linie ein Beitrag ist, um weitere Sexualdelinquenz zu verhindern und zukünftige Opfer zu schützen. In dieser Arbeit wird nicht der Frage nachgegangen, ob Sozialarbeit grundsätzlich und Bewährungshilfe im Besonderen, Hilfe und Kontrolle miteinander vereinbaren kann, sondern was von Seiten der Bewährungshilfe und anderen Institutionen notwendig ist, um diesem Auftrag gerecht zu werden. Inhaltlich ist die Arbeit so aufgebaut, dass im ersten Kapitel die Entwicklung, die Grundlagen, der rechtliche Rahmen und der Auftrag des Systems Bewährungshilfe dargestellt wird. Kapitel zwei beschäftigt sich mit dem sexuellen Missbrauch und beginnt mit einer definitorischen Eingrenzung dieses Themenkomplexes. Dem folgt eine Beschreibung des strafrechtlichen Rahmens unter besonderer Berücksichtigung der historischen Komponente des Sexualstrafrechts. Das Ausmaß von Sexualstraftaten (Hell- und Dunkelfeld) sowie eine Auseinandersetzung mit dem Rückfallrisiko dieser Tätergruppe schließt dieses Kapitel ab. Das dritte Kapitel beginnt mit einer Übersicht über den Forschungsstand zur Erklärung von Sexualstraftaten und behandelt die Opferfolgen des sexuellen Missbrauchs. Die Möglichkeiten der Therapie von Sexualstraftaten insbesondere im ambulanten Rahmen werden in Kapitel 3.5 diskutiert. Im vierten Kapitel wird dargelegt, wie sich die praktische Arbeit mit Sexualstraftätern im Rahmen der Bewährungshilfe gestaltet. Dies wird anhand eines Fallbeispieles verdeutlicht. Zudem wird aufgezeigt welche Konsequenzen sich aus der aktuellen Rechtslage (Therapieweisung) für die Arbeit der Bewährungshilfe ergeben. Anschließend wird beschrieben, welche Schritte zu unternehmen sind bzw. von den Beteiligten schon unternommen worden sind, um dem Arbeitsauftrag der Bewährungshilfe gerecht zu werden. Dazu wird gezeigt, wie der Hilfe und Kontrollauftrag in Zusammenarbeit mit dem Klienten genutzt werden kann, um ihm die „erfolgreiche“ Durchführung der Bewährungszeit mit ihren Auflagen und Weisungen zu ermöglichen. 6 1. Bewährungshilfe: Entwicklung, institutioneller Rahmen und Aufgaben In diesem Kapitel wird zunächst der theoretische Bezugsrahmen der Institution Bewährungshilfe in Deutschland aufgezeigt. Daran schließt sich eine Darstellung der institutionellen Bedingungen, in dem professionelle Bewährungshilfe stattfindet, an. Um allerdings das Instrument der Bewährungshilfe besser verstehen zu können, ist es notwendig die stufenweise Veränderung der Ausgestaltung des Strafrechtssystems, zu betrachten. Das geschieht quasi als Einstieg in die Thematik in den Kapiteln 1.1 und 1.2. In den Kapiteln 1.3 und 1.4 wird die gesetzliche Verankerung des Hilfe- und Kontrollauftrags der Bewährungshilfe näher beschrieben. Kapitel 1.5 listet die aktuellen gesetzlichen Grundlagen der Bewährungshilfe auf und stellt den organisatorischen und institutionellen Aufbau einer Geschäftstelle der Bewährungshilfe am Beispiel der Sozialen Dienste der Justiz in Bremen dar. 1.1 Die geschichtliche Entwicklung bis 1949 Der Jurist und Kriminalpolitiker Franz v. Liszt (1851-1919), der als Begründer der soziologischen Strafrechtsschule und der Idee der Spezialprävention gilt, hat in einer Abhandlung über die bedingte Verurteilung und die bedingte Begnadigung darauf verwiesen, dass die Aussetzung einer verhängten Strafe und die Strafentlassenenhilfe als Teile der Rechtsgeschichte zu sehen sind (vgl. TÖGEL 1990, S. 3). Um sich die institutionellen Rahmenbedingungen eines Systems thematisch und inhaltlich zu erarbeiten, ist es sinnvoll, die geschichtliche Entwicklung, aus der dieses System hervorgegangen ist, in die Betrachtung, Untersuchung und Darstellung mit einzubeziehen. Das gilt auch für den Bereich der Strafaussetzung und der Straffälligenhilfe und insbesondere für die institutionelle Bewährungshilfe, die im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland ein relativ junges Betätigungsfeld für die Soziale Arbeit darstellt. Um aber einer geschichtlichen Entwicklung in angemessener Form gerecht zu werden, müssen bestimmte Bezüge bei der Betrachtung hergestellt, bzw. gedanklich im Hintergrund präsent sein. In diesem Kontext umfassen diese 7 Bezugnahmen die zeitweilige Staatsform, den jeweiligen Entwicklungsstand des Staatsrechts, die gesellschaftspolitische und die weltanschauliche Position einer Gesamtgesellschaft. Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Entwicklung der Strafaussetzung zur Bewährung muss notwendigerweise auch der Stand und die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft berücksichtigt werden. Die Anfänge der Bewährungshilfe sind eng mit der Entwicklung der Reststrafenaussetzung verbunden. Die Möglichkeit der Reststrafenaussetzung stellt nach SPEIERMANN als „Kernstück der modernen Kriminalpolitik, ein wesentliches Element im System der Strafen und Maßregeln dar“ (SPEIERMANN 1995, S. 1). Doch bis dieser Zustand erreicht war, musste ein langer Weg gegangen werden, der hier in seinen wesentlichen Zügen nachgezeichnet werden soll: Eine Strafaussetzung aus Gnadengründen gibt es fast genauso lange, wie das System der Bestrafung durch Leibstrafen als Mittel der Unrechtssühne existiert. So erwähnt Franz v. Liszt in der vorher genannten Abhandlung das Augsburger Stadtrecht von 1276, in dem bereits Begnadigungen vorgesehen waren (vgl. TÖGEL 1990, S. 3). TÖGEL weist aber auch darauf hin, dass die Entscheidungen zur Strafaussetzung tatsächlich reine Ermessensentscheidungen der Herrschenden waren und nicht nach bestimmten kodifizierten Rechtsnormen praktiziert wurden. Die Anfänge der Entwicklung des Rechtsinstituts der nachträglichen Strafaussetzung liegen im englischsprachigen Rechtsraum. Unter König Eduard III. (1327-1377) wurde erstmals die Möglichkeit geschaffen, eine verhängte Todesstrafe durch eine Deportation in überseeische Gebiete zu ersetzen. Um eine Rückkehr der Straftäter nach England zu verhindern, wurde erst 1791 die Möglichkeit geschaffen, die Reststrafe zu erlassen, wenn die Verurteilten die Verpflichtung eingingen, sich in Australien dauerhaft niederzulassen. Es war allerdings nicht vorgesehen, dass die gute Führung oder sogar Besserung des Gefangenen beurteilt wurden. Dieses sog. Conditional Pardon diente in erster Linie dazu, die Kolonialisierung Australiens voranzutreiben und ist nicht als ein Versuch zu werten, ein den Strafzwecken entsprechendes Strafvollzugssystem zu errichten (vgl. SPEIERMANN 1995, S. 4). 8 Etwa zeitgleich zu der Einführung des Conditional Pardon, entwickelte sich eine andere Art der Strafaussetzung. Es wurde die Möglichkeit geschaffen, als Gefangener eine Art „Urlaubsschein“ zu erhalten. Diese, als ticket of leave during good conduct bezeichnete Maßnahme, erlaubte den Verurteilten, sich in einem vorher festgelegten Distrikt unter polizeilicher Aufsicht aufzuhalten. Die Erlaubnis zu diesem Aufenthalt außerhalb der Gefängnismauern konnte jedoch bei Missbrauch jederzeit widerrufen werden und stellt laut SPEIERMANN eine Vorstufe der späteren Begnadigung aufgrund guter Führung dar. In der Weiterentwicklung der Strafaussetzung führte man ein sog. probation system (Bewährungssystem) ein, durch welches die einzelnen Stufen des Strafvollzuges genauer definiert und ausgestaltet wurden. Dieses, zunächst nur in Australien praktizierte Bewährungssytem wurde 1847 dahingehend reformiert, das die Strafgefangenen erst nach guter Führung im Strafvollzug entlassen wurden. Als Gründe für den Widerruf der Strafaussetzung wurden genannt: Der Strafentlassene entzog sich der angeordneten Polizeiaufsicht. Der Strafentlassene beging neue Straftaten. Der Strafentlassene hatte Umgang mit „übel beleumdeten Personen“ (SPEIERMANN 1995, S. 7) oder Der Strafentlassene führte ein „unordentliches und arbeitsscheues Leben“ (SPEIERMANN 1995, S. 7). In Deutschland sind diese Reformierungen des Strafrechtssystems durch die Berichte von Julius, Tellkamp und Mittermaier bekannt geworden. Allerdings gab es in Deutschland, explizit hier im Königreich Preußen unter König Friedrich I. mit den Edikten von 1710 und 1716, auch schon erste Versuche, die Wiedereingliederung von entlassenen Strafgefangenen in die Gesellschaft zu erleichtern. Eng verbunden mit dieser Entwicklung ist der Wandel der Gefängnisse im Rahmen der stärkeren Hinwendung von den Leibes- und Lebensstrafen hin zu den Freiheitsstrafen im beginnenden 17. Jahrhundert. Wichtige Einflussfaktoren waren hier die immer stärker um sich greifende Erkenntnis, dass Strafgefangene als Arbeitskräfte benutzt werden konnten und 9 dadurch der Erziehungsgedanke im Strafrecht sich immer weiter durchsetzte. Dabei standen zunächst weniger humanitäre Aspekte im Vordergrund als vielmehr die Feststellung, das die Kriminalität durch die bettelnd und stehlend durch das Land ziehenden, und aufgrund der Leibstrafen häufig verstümmelten Ex-Sträflinge anstieg. So kam es 1552 zuerst in England (House Bridewell), 1595 in Amsterdam und 1608 in Bremen zur Gründung der ersten Zuchthäuser in Europa, die nach TÖGEL den Beginn dieser oben beschriebenen Entwicklung markierten (vgl. TÖGEL 1990, S. 3). Allein schon die Bezeichnung Zuchthaus – Haus der Zucht – machte diesen Wechsel im Strafzweck deutlich. Dabei ist allerdings anzumerken, dass die Zuchthäuser sich durch den Verkauf ihrer von den Häftlingen hergestellten Waren und Güter selber tragen sollten und primär auf Gewinnerwirtschaftung ausgelegt waren. Beginnend mit den Idealen der Aufklärung, zu deren Wegbereitern der Sohn Friedrichs I., König Friedrich II (Friedrich der Große, 1712-1786) gehörte, setzte sich Preußen an die Spitze der Reformbewegung des Rechtssystems in Deutschland. Die Ideen der Aufklärung verlangten unter anderem eine „vernünftige Proportionalität von Verbrechen und Strafe“ (TÖGEL 1990, S. 5) und stellten die Verhütung des Verbrechens, und nicht die Vergeltung in den Mittelpunkt der rechtsphilosophischen Überlegungen. Dies ebnete den Weg für die Gedanken der Spezialprävention, die die Resozialisierung der Straftäter als Aufgabe von Strafe sieht, und nicht mehr primär die Vergeltung begangenen Unrechts bzw. die Abschreckung durch Strafe, wie die Theorie der Generalprävention es tut. In der Ausgestaltung von Zucht- und Arbeitshäusern wurde unter der Regentschaft von Friedrich dem Großen die Trennung von „besserungsfähigen“ und „schandbaren“ Häftlingen eingeführt, die ebenfalls die Einwirkungsmöglichkeiten bzgl. der Besserung auf die Strafgefangenen erhöhen sollten. Es ist aber im Sinne der historischen Einordnung dieser juristischen Maßnahmen notwendig, darauf hinzuweisen, dass das Königreich Preußen auch unter der Regentschaft Friedrich des Großen über „gute Vorsätze im Bereich der Strafanstalten und der Gefangenen- und Entlassenenfürsorge nicht hinaus kam“ (TÖGEL 1990, S. 6). So fehlte 10