Jürgen Hermann Ein Leben für soziale Gerechtigkeit: Der amerikanische Gewerkschaftsführer Walter Reuther Über das Leben und Wirken von Walter, Victor und Roy Reuther sowie ihre Bedeutung für die amerikanische und die internationale Gewerkschaftsbewegung ___________________________________________________________________ Amerika. An Bord des Schiffes Hermann machte sich die Familie 1892 auf den Weg in die Neue Welt und ließ sich in Effingham (Illinois) nieder, wohin bereits zuvor ein Bruder Jakobs ausgewandert war. Dieses Manuskript ist zum privaten Gebrauch sowie für wissenschaftliche Arbeiten bestimmt. Vervielfältigung und Verbreitung zu kommerziellen Zwecken, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Autors. © Jürgen Hermann 2010. Alle Rechte vorbehalten. www.juehermann.de Jakob (nunmehr: Jacob) Reuther arbeitete auch in Illinois als Landwirt, während sein Sohn Jacob jr. (Jake) nach Wheeling ging und dessen 1881 geborener Bruder Valentine (Val) ihm nachfolgte, als im Herbst 1899 die Ernte eingebracht war. Rasch fand dieser Arbeit in einer der vielen Fabriken, denn der dortige Industriegürtel boomte angesichts der fortschreitenden Industrialisierung, und Arbeitskräfte waren dringend gesucht. Valentine, der kurz zuvor noch den Beruf des Priesters in Erwägung gezogen hatte, wurde Facharbeiter und organisierte sich zugleich in der Gewerkschaft. „A man should always fight for freedom and brotherhood“, hatte im sein Vater Jacob auf den Weg mitgegeben.2 Aus der Pfalz nach Illinois In den 1880er-Jahren lebte im pfälzischen Edigheim – einem kleinen Ort, der später in die Stadt Ludwigshafen integriert wurde – der Landwirt Jakob Reuther. Als Gewerkschafter, Sozialist, Pazifist und Vegetarier war er für seine Mitbürger sicherlich ein wunderlicher, von den geltenden Konventionen stark abweichender Mann. Er war gläubiger Protestant und sah sich als „christlichen Sozialisten“, der seine Weltanschauung sowohl aus der Bibel als auch aus den Schriften von Karl Marx ableitete. Jakob ging selten in die Kirche, und von ihm ist die Aussage überliefert, die Kirche tue genug für Gott, aber beileibe nicht genug für die Menschen. Philip Reuther, ein Cousin aus dem bereits zuvor nach Illinois emigrierten Familienzweig, machte den knapp 20-jährigen Val mit den Ideen der sozialistischen Bewegung in Amerika vertraut. „For Val Reuther, the heart of socialism was its promise of equal opportunity for all and freedom from arbitrary power and human exploitation. His goal was a just society democratically through persuasion and votes, not the proletarian dictatorship of revolutionary Marxism.“3 Viele Arbeiter sympathisierten damals im Industriegürtel der USA mit linken, ja teils mit radikalen und marxistischen Ideen, und ihre Leitfigur war der sozialistische Politiker Eugene V. Debs. Als Am 9. September 1850 geboren, hatte Jakob Reuther am 20. März 1872 Christina Fuchs geheiratet1. Da für Kleinbauern die wirtschaftliche Lage in der Region mit ihrer rasch wachsenden Bevölkerungszahl schwierig war, Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ Gültigkeit besaß und den Söhnen die Zwangsrekrutierung durch die preußische Armee drohte, entschloss sich Jakob Reuther wie viele andere Pfälzer zur Emigration nach Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 14. 3 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S. 3. 2 1 Jakob Reuther starb am 15. Januar 1935 in Effingham. Christina Reuthers Lebensdaten sind: geb. am 17. Oktober 1844, gest. am 29. März 1929 in Effingham. 1 1902 in Valentine Reuthers Fabrik ein wilder Streik ausbrach, wurde er auch prompt auf die Straße gesetzt. lebte die Familie eine harte Zeit, wobei Anna Reuther mit schwäbischer Sparsamkeit den Haushalt am Laufen hielt; so wurde Bettwäsche aus alten Mehlsäcken genäht und Seife selbst hergestellt. Aus einem kaputten Regenschirm entstand für den jungen Walter ein Hemd, das er in der Schule stolz als besonders gut, da wasserabweisend, präsentierte. Anna Stocker und Valentine Reuther In Wheeling hatten sich zahlreiche europäische Einwanderer niedergelassen, so auch Polen, Iren und Skandinavier, und die Deutschen gründeten zur Fortführung ihres angestammten Lebensstils Einrichtungen wie den Beethoven Gesangverein und den Turnverein. Durch einen Bekannten im Gesangverein erhielt Valentine nach der Kündigung eine neue Stelle und arbeitete fortan in der Schmulbach Brewing Company. Keine ungewöhnliche Entwicklung, waren doch die Brauereien in Wheeling, sowohl als Besitzer wie auch bezüglich der Belegschaft, von Deutschen dominiert. Gegenüber dem Werksgelände gab es ein Gasthaus, welches die Arbeiter regelmäßig zum Mittagessen aufsuchten. Der älteste Sohn Theodore verließ die High School, begann eine Ausbildung zum Buchhalter und trug schon bald zum Familieneinkommen bei. Auch Walter brach die Schule ab, um bereits als Heranwachsender zu arbeiten. Erst in den 1920er-Jahren entspannte sich die finanzielle Situation, als Valentine als selbständiger Versicherungsvertreter bzw., nach anderen Quellen, mit dem Verkauf und der Vermietung von Immobilien wieder ein regelmäßiges Einkommen hatte. Leidenschaftliche Diskussionsrunden im Wohnzimmer Dort arbeitete als Küchenhilfe eine junge Deutsche, die im September 1902 an Bord der Vaterland nach Amerika gekommen war und kaum ein Wort Englisch sprach: Anna Stocker.4 Sie war vom Jahrgang 1882 und hatte ihren Heimatort Scharnhausen bei Stuttgart (heute ein Stadtteil von Ostfildern) verlassen, da die früh verwitwete Mutter Agathe ihren Freund und voraussichtlichen Ehemann Fritz strikt ablehnte. Anna machte ihre Drohung wahr und verließ die Heimat, musste dann allerdings erfahren, dass Fritz – anstatt, wie versprochen, nachzukommen – auf den Fildern blieb und kurz danach eine andere heiratete. Sie ließ sich in Wheeling nieder, weil dort bereits ein Bruder und eine Schwester von ihr lebten. Bis dahin war für Valentine Reuther genügend Zeit, sich um die Erziehung und die Bildung seiner Söhne zu kümmern. So lehrte er sie, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und jede Form von Weiterbildung zu nutzen. Hierzu zählten auch Rhetorik und aktuelle gesellschaftliche Themen, und regelmäßig kam der Vater an den Sonntagen, nach dem Mittagessen, mit Walter, Roy und Victor zu Diskussionsrunden zusammen. Das Thema hatte er eine Woche zuvor vorgegeben, wobei jeder der Jungen einen bestimmten Standpunkt zu vertreten hatte. Victor Reuther erzählte: „An einem Sonntag, bevor die Debatte begann, sagte mein Vater: ,Heute werdet Ihr die Seiten wechseln!’, worauf ich erwiderte: ,Das ist nicht fair! Du hast mich beauftragt, gegen Kinderarbeit zu plädieren und entsprechende Gesetze vorzuschlagen, und nun verlangst Du, dass ich die Arbeitgeberseite vertreten soll – und das, nachdem ich mich eine Woche extra vorbereitet habe!’ Da sagte mein Vater etwas, das ich niemals vergessen werde: ,Wenn Du dich gut vorbereitet hast, wirst Du die Argumente beider Seiten kennen, und Du kannst Deinem Gegenüber wirksam begegnen. Du bist also offensichtlich schlecht vorbereitet!’ Er war ein guter Lehrer. Jeder von uns erhielt so eine gute Schulung in der Redetechnik.“ 6 Anna Stocker, „the attractive, red-haired Swabian girl“5, und Valentine Reuther wurden ein Paar, und 1904 fand die Hochzeit statt. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, zunächst Sohn Theodore (1905 – 1986) und zuletzt die wesentlich jüngere Tochter Christine (geb. 1923). Ihr Leben verlief ganz anders als jenes ihrer drei Brüder Walter (1907 – 1970), Roy (1909 – 1968) und Victor (1912 – 2004). 1914 kam per Gesetz die Prohibition nach West Virginia, die Schmulbach Brewing Company wurde geschlossen, und Valentine verlor erneut seinen Job. In den Folgejahren durch- Bald schon galten die Reuther-Söhne als „radikal“, und selbst in der deutschen Ge- 4 Anna Stocker ist die Urgroßtante des Verfassers dieses Textes. 5 Reuther, Victor G.: The Brothers Reuther and the Story of the UAW, a.a.O., S. 15. 6 2 zitiert nach Überhorst, Horst: Brot und Freiheit, a.a.O. meinde von Wheeling untersagte man den Kindern den Umgang mit ihnen. 1923 nahm der knapp 16-jährige Walter seinen ersten Job an; der Teenager übte verschiedene Hilfstätigkeiten aus und trug zum Familieneinkommen bei, ehe er eine Lehre zum Werkzeugmacher begann. Da auch der Vater wieder einen regelmäßigen Verdienst hatte und zudem von Theodore Geld kam, konnten die beiden jüngeren Söhne Roy und Victor die High School bis zum Abitur besuchen. ten sich unter die Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten und in diesen Hoovervilles unter einfachsten Bedingungen lebten. „Detroit war von der Depression besonders hart betroffen. Die Menschenschlangen an den Suppenküchen waren länger als jemals zuvor. Fast 750 000 Arbeitslose gab es in Michigan, und diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz hatten, mussten Lohnkürzungen bis zu 40 Prozent in Kauf nehmen. 1932 waren in Detroit 18 Prozent aller Kinder stark unterernährt.“10 Arbeit und Studium in Detroit Ideologisch näherten sich die Brüder der Socialist Party an, für welche Norman Thomas 1928 erstmals für die Präsidentschaft der USA kandidierte. Seit dem Tod von Eugene Debs war er der Hoffnungsträger der amerikanischen Linken. Im Präsidentschaftswahlkampf 1932 engagierten sich Walter und Victor Reuther stark für Thomas, und spätestens zu diesem Zeitpunkt wurden sie sowie ihr Bruder Roy Mitglieder der Socialist Party. Als Walter im Zentrum von Dearborn auf sein Fahrzeug stieg, von dort aus zu arbeitslosen Männern sprach und sie von den Vorteilen der Stimmabgabe für Thomas zu überzeugen versuchte, eilten Polizisten herbei und ermahnten ihn, er befinde sich auf Privatgelände und dürfe hier nicht öffentlich sprechen. Walter zog den Kaufvertrag für seinen Wagen aus der Tasche und erwiderte: „Das weiß ich, Officer. Ich bin der Besitzer dieses Fahrzeugs.“ Unter scharfer Aufsicht der Polizei konnte er daraufhin seine Rede fortsetzen. Aber Walter Reuther hielt es nicht mehr lange im Upper Ohio Valley, und so ging er 1927 mit einem Freund in eine der Boomtowns der damaligen Zeit, nach Detroit. Als qualifizierter und deutschstämmiger Facharbeiter bekam der junge Bursche eine gut bezahlte Stelle beim Autobauer Ford. „Werkzeugmacher sind die Aristokraten des Fließbandes, sie fertigen die Maschinen, die die Autos produzieren. Die Vorarbeiter unter ihnen sind echte Fürsten im Produktionsprozess – die Elite der Elite.“7 Der gerade einmal 20-jährige Walter wurde am Werkstor von Ford zunächst als zu jung und zu unerfahren abgewiesen, dann aber nach zwei Probetagen als Vorarbeiter zu einem Stundenlohn von 1,05 Dollar eingestellt. „During the first half of the twentieth century, skilled metal workers, in both North America and Europe, were the aristocrats of labor, almost exclusively northern European white males whose strategic position in the production process won them the highest wages and the most privileged status in the blue-collar workforce.“8 Parallel zu dieser Tätigkeit holte Walter an der Abendschule seinen Schulabschluss nach und begann dann, am Detroit City College9 zu studieren. Walter Reuther war inzwischen gesellschaftlich und politisch sehr aktiv und zudem Mitglied der Auto Workers Union (AWU) geworden, einer kleinen, aber radikalen und von Kommunisten stark beeinflussten Gruppe. Die Brüder empfanden auch viel Sympathie für den aus der Ferne attraktiv erscheinenden sowjetischen Weg zum Sozialismus, in dem sie – wie viele europäische Arbeiter und Intellektuelle – ein überaus interessantes Gesellschaftsmodell sahen. Ob das Ende von Walters Tätigkeit bei Ford im Herbst 1932 freiwillig geschah oder es wegen der politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten zur Kündigung kam, bleibt ungeklärt, doch ist der Hinauswurf wahrscheinlich. Zum Studium kam 1929 auch Victor Reuther nach Detroit; in einer Vierer-Wohngemeinschaft mit Walter und zwei Kommilitonen besorgte er den Haushalt, während die drei anderen jungen Männer in der Fabrik arbeiteten. Doch der Boom flaute bereits ab, die Weltwirtschaftskrise brach aus, und schon bald bildeten sich Armenviertel am Rande der Motor City. Reise nach Europa und die Zeit in Gorki An Wochenenden unternahmen Walter und Victor „soziologische Feldstudien“ und misch- Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Wheeling begann für Walter und Victor Reuther im Februar 1933 ein von Neugier, 7 Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie, a.a.O., S. 229. 8 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 20. 9 Heute die Wayne State University. 10 Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie, a.a.O., S. 200. 3 Fernweh und Entdeckungslust geprägter Lebensabschnitt: Ein langer Aufenthalt in Europa, der vor allem der Arbeit in einem Automobilwerk in der UdSSR diente; dort wurden qualifizierte Arbeiter dringend gesucht. Die Brüder kamen zunächst nach Berlin und gehörten zu den ersten Besuchern, welche man im März 1933 durch die Trümmer des ausgebrannten Reichstagsgebäudes führte. Anschließend verbrachten sie einige Zeit bei der Verwandtschaft in Ruit und Scharnhausen bei Stuttgart und wurden dort Zeugen, wie es nicht nur Dorfgemeinschaften, sondern auch die eigene Verwandtschaft zwischen engagierten Sozialdemokraten und nicht weniger überzeugten Nationalsozialisten zerriss. ausländischen Arbeitern.12 Mehrfach war es morgens im Frühstücksraum so, dass andere Familien ohne den Ehemann oder Vater eintraten, mit vom Weinen geröteten Augen und angstvollen Blicken. Niemand sprach sie an, denn jeder wusste, dass der verschwundene Angehörige irgendwann in der Nacht zuvor von der Geheimpolizei abgeholt worden war. Jede Form der Anteilnahme, ja bereits die Frage nach dem Verbleib des Verschwundenen konnte als Sympathie mit diesem ausgelegt werden und schlimme Folgen nach sich ziehen. Auf Fahrrädern reisten Walter und Victor Reuther ein halbes Jahr lang durch verschiedene europäische Länder, besuchten Gewerkschaftsvertreter, besichtigten Fabriken und übernahmen auch die riskante Aufgabe, geheime Nachrichten für untergetauchte Sozialisten in Deutschland zu befördern. Dann erhielten sie Visa für die UdSSR und machten sich auf den Weg nach Gorki. Von Ende 1933 bis ins Frühjahr 1935 lebten und arbeiteten die Reuther-Brüder im sowjetischen Automobilwerk von Gorki (Gorkovsky Avtomobilny Zavod/GAZ), einer Form von Joint-venture mit Ford. Sie nahmen am Betriebsaufbau teil und schulten die Arbeiter in handwerklichen Dingen sowie in organisatorischen Abläufen. „As valued foreign workers, Walter and Victor Reuther were privileged witnesses to a second revolution in the Soviet Union.“ 11 Vom Sozialismus enttäuscht und mit der Erkenntnis, dass in der Sowjetunion eine Entwicklung zu Freiheit und Demokratie nicht erkennbar war, kehrten die Brüder in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 über Asien nach Detroit zurück. Doch stand dort Walter Reuthers Name auf einer schwarzen Liste, und es war ihm unmöglich, Arbeit zu finden – auch nicht, als er seinen zweiten Vornamen zum Familiennamen machte und sich als Walter Philips bewarb. UAW Local 174, Detroit West Side Gemeinsam mit ihrem Bruder Roy, der in der Zwischenzeit vor Ort gewerkschaftlich aktiv und als Dozent am Brookwood Labor College in Katonah (New York) tätig gewesen war, traten Walter und Victor der neuen Organisation United Auto Workers (UAW) bei13. In dieser Gruppierung waren die Kommunisten stark vertreten, während die Reuthers gerade erst die dunkle Seite des real existierenden Sozialismus aus direkter Nähe erlebt hatten. Walter Reuther wurde rasch, im Alter von 28 Jahren, Chef des UAW-Büros 174 in Detroit West Side, organisierte Arbeitskämpfe und begann dort seinen Aufstieg in der amerikanischen Arbeiterbewegung. Doch die anfängliche Begeisterung wich bald Ernüchterung, denn es herrschten auf dem Arbeits- und Wohngelände nicht nur einfache Lebensverhältnisse, sondern es belastete auch die völlige staatliche Kontrolle jedes Bereichs durch das stalinistische System. Dabei hatten die Reuther-Brüder – wie viele europäische Facharbeiter, die ihre von autoritären Regierungen kontrollierten Heimatländer verlassen hatten und in die UdSSR gekommen waren – gehofft, dort ein „Paradies der Werktätigen“ vorzufinden und Zeugen zu werden, wie man den theoretischen Sozialismus zum Wohle der Werktätigen in die Realität umsetzte. Als Aktivisten der UAW beteiligten sich die Reuther-Brüder ab 1936 an Streikaktionen, die nur allzu oft in Gewalt umschlugen, für die Gewerkschaftsbewegung in den USA aber wegweisend waren und bis heute historische Bedeutung besitzen. Nicht selten wandten sie 12 ausführlich in Reuther, Victor G., Verraten in Gorki, a.a.O. 13 Die UAW (offiziell: The International Union, United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America) wurde 1935 in Detroit gegründet, schloss sich jedoch einer Faktion innerhalb der American Federation of Labor (AFL) an, obwohl diese die Gründung der UAW angeregt hatte. Als die AFL die abtrünnige Faktion wegen Illoyalität ausschloss, konstituierte sich aus ihr der Congress of Industrial Organizations (CIO). Erst 1955 und nach Jahren bitterer Rivalität vereinigten sich beide Organisationen wieder. Stattdessen erlebten sie die Säuberungswelle nach der Ermordung von Sergej Kirow (1934) sowie die Verhaftung und Deportation vieler Freunde, sowohl von Russen als auch von Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 38. 11 4 dabei die Methode des Sitzstreiks an, welche sie in Europa kennen gelernt hatten. Man erreichte nicht nur Lohnerhöhungen, sondern mit der Zeit auch die Anerkennung der UAW als Verhandlungspartner, einen verbesserten Kündigungsschutz und das Recht der Arbeiter, sich innerhalb der Betriebe zu organisieren. Streikaktion in Flint erheblich. Aber zugleich erhöhte sich die persönliche Gefahr für die Reuther-Brüder, und sie bekamen angesichts der offenen Androhung von Gewalt Leibwächter zur Seite gestellt. Kurze Zeit nach GM erkannte auch Chrysler die UAW als Kooperationspartner an, so dass schließlich nur noch der Ford-Konzern, als letzter der Big Three, die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft verweigerte. Zur gleichen Zeit richteten die Arbeitgeber ein gut funktionierendes Spitzelsystem in ihren Betrieben ein. Sobald ein Beschäftigter seinen Aufnahmeantrag in der Gewerkschaft unterzeichnet hatte oder auch nur Interesse an der Mitgliedschaft zeigte, verlor er seinen Job. Vorarbeiter, die ohnehin völlig willkürlich handeln konnten und von ihren Untergebenen auch schon einmal die sexuelle Gefügigkeit der Ehefrau erzwangen, gingen durch die Hallen und boten Arbeitern Lohnerhöhungen als Gegenleistung für die Aufgabe ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit an.14 Am 26. Mai 1937 ereignete sich in Dearborn (Michigan) der legendäre Battle of the Overpass, als auf einer Fußgängerbrücke Flugblätter verteilende UAW-Aktivisten, unter ihn Walter Reuther, von einer Schlägertruppe, die zum Werksschutz des Ford River Rouge Complex gehörte, angegriffen und brutal geschlagen wurden. Die Brücke führte zum River-Rouge-Werk von Ford, dem damals größten Industriekomplex der Welt, „einem der Altäre des Kapitalismus, einer riesigen, satanischen Kathedrale des privaten Unternehmertums“.15 Selbst ihr Privatleben richteten die ReutherBrüder auf die Gewerkschaft aus. Walter heiratete im März 1936 May Wolf, die einer jüdischen Familie entstammte, welche wegen des wachsenden Antisemitismus das zaristische Russland verlassen hatte. Im Juli desselben Jahres fand die Hochzeit statt zwischen Victor und Sophia Goodlavich; ihre Eltern waren aus Polen eingewandert. Beide Ehefrauen waren in der amerikanischen Arbeiterbewegung aktiv und standen fortan ihren Ehemännern zur Seite. Erst 1944 heiratete auch Roy Reuther, und zwar die aus Weißrussland stammende Fania Sasonkin. Unternehmensgründer Henry Ford hatte zuvor gesagt, dass es zur gewerkschaftlichen Organisierung seiner Arbeiter „nur über meine Leiche“ kommen werde. („The UAW would organize Ford over my dead body!") Der von Harry Bennett aufgebaute berüchtigte Werksschutz von Ford war, so Victor Reuther, „eine Privatarmee aus Raubmördern und Gangstern”16, und in den Werkshallen herrschten despotische Zustände. Nun fanden die Bilder der blutigen Übergriffe ihren Weg in die großen amerikanischen Zeitungen und machten die Reuther-Brüder noch bekannter. Walter entging einige Monate nach diesen Ereignissen, im April 1938, nur knapp der Entführung durch bewaffnete Männer, die an der Tür auftauchten und mit Sicherheit den Auftrag hatten, ihn zu töten. Meilensteine: Der Streik in Flint und der Battle of the Overpass In den ersten Wochen des Jahres 1937 kam es bei General Motors in Flint (Michigan) zu einem langen Konflikt, bei dem vor allem die Strategie des Sitzstreiks – d.h. der Arbeitsverweigerung der Beschäftigten am Arbeitsplatz – angewandt wurde und der mit einem Sieg der Gewerkschaft endete. Die UAW wurde als Verhandlungspartner anerkannt; die Mitglieder behielten ihre Jobs und durften sich auf dem Betriebsgelände in den Pausen beraten. Praktisch über Nacht wurde die Automobilarbeitergewerkschaft eine mitgliederstarke und mächtige Organisation. „,Wir haben keine Sympathien für die Angriffe auf Henry Ford’, schrieben viele Kleinstadtzeitungen. Die Angriffe sollten sich gegen diejenigen richten, die nicht soviel für die arbeitende Bevölkerung getan hatten wie er. Ford habe sein Geld immer dazu verwandt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, anstatt es anzuhäufen, was er auch hätte tun können. 15 Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie, a.a.O., S. 10. 16 Appelius, Stefan: Victor Reuther, a.a.O. „Anfang der zwanziger Jahre übernahm Harry Bennett den Werkschutz, und er baute sich daraus seine eigene Privatarmee – ehemalige Boxer, Footballspieler, Schlägertypen und Kriminelle, die mit allen Wassern gewaschen waren … Sicherlich setzte Harry Bennett Gewalt und Bestechung bis zur Perfektion ein, aber seine Machtposition hatte er ausschließlich von Henry Ford erhalten.” (Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie, a.a.O., S. 242.) Obwohl er in diesen Arbeitskampf weit weniger eingebunden war als Victor und Roy, wuchs Walter Reuthers Ansehen durch die 14 vgl. Appelius, Stefan: Victor Reuther, a.a.O.; Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 44. 5 Sehr viele Durchschnittsamerikaner waren der Überzeugung, dass Gewerkschaftsmitglieder bösartige Drahtzieher seien, die den normalen, ehrlichen amerikanischen Arbeiter vom rechten Weg abbringen wollten – und dieser Überzeugung war auch Henry Ford.“17 Ronald Jay (R.J.) Thomas löste 1938 Homer Martin als UAW-Präsident ab. 1940 errang die Gewerkschaft einen Erfolg, als sie nach einem Streik bei General Motors als Verhandlungspartner der Automobilindustrie anerkannt wurde, und 1941 kam es angesichts des drohenden Kriegseintritts der USA zu einem richtungsweisenden Vertrag mit dem FordKonzern, der damit seinen langen und erbitterten Widerstand gegen die Gewerkschaften aufgab. Interne Flügelkämpfe Die Erfolg der Streikaktionen führte dazu, dass sich die Mitgliederzahl der UAW rasch vervielfachte und die Gewerkschaft stetig an Einfluss gewann. Gleichzeitig verschärfte sich aber auch der Machtkampf innerhalb der Organisation, und ihrem vergleichsweise schwachen Präsidenten Homer Martin gelang es nicht, ausgleichend zu wirken und den zunehmenden Machtanspruch der Kommunisten zurückzudrängen. Diese Vorgänge sowie die Auswirkungen der „Roosevelt-Rezession“ schwächten Ende der 1930er-Jahre vorübergehend die Glaubwürdigkeit der UAW und führten die Gewerkschaft an den Rand des Auseinanderbrechens. „500 planes a day!“ Die Reuthers plädierten nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die Unterstützung Englands, da das nationalsozialistische Deutschland eine Gefahr für Amerika darstelle. Mit seinem im Dezember 1940 vorgestellten Plan, Präsident Franklin D. Roosevelt zu unterstützen, Autofabriken zur Produktion von Flugzeugen zu nutzen („500 planes a day“) und für die Dauer des Krieges auf umfangreiche Streikaktionen zu verzichten, sorgte Walter Reuther für Aufsehen; er stieg auf zu einer nationalen Persönlichkeit mit erheblich vergrößertem Ansehen und Einfluss. Der Plan, so Finanzminister Henry Morgenthau, sei gut, habe jedoch einen Fehler: Er komme „aus der falschen Quelle“. Gegen die drei Reuther-Brüder – von ihren internen Gegnern „Royal Family“ genannt – wurde schon bald der Vorwurf persönlichen Machtstrebens laut, und Homer Martin sah in ihnen Rivalen um die Führung der UAW. Walter Reuther pflegte trotz seiner Erfahrungen in der UdSSR lange Zeit gute Beziehungen zu den amerikanischen Kommunisten und war möglicherweise auch für kurze Zeit Mitglied in ihrer Partei.18 Diese Strategie dürfte in der Vorstellung begründet gewesen sein, in den USA könne sich ähnlich wie in Europa eine Volksfront unter Beteiligung aller fortschrittlichen Kräfte herausbilden. Kritiker sehen diese Haltung indes als Beweis dafür, wie stark opportunistisches Taktieren das Handeln dieses auf seine Karriere bedachten Mannes geprägt habe.19 Roosevelt wurde auf Walter Reuther aufmerksam und beriet sich mit ihm mehrmals im Weißen Haus, während die First Lady Eleanor Roosevelt ohnehin ein offenes Ohr für soziale Probleme und die Belange der Gewerkschaften hatte und in vielen Fragen Walters Standpunkt einnahm. Eines Tages begrüßte der Präsident Reuther im Oval Office mit den Worten: „Hier kommt mein junger, rothaariger Ingenieur!“ Daraufhin rief UAW-Präsident R.J. Thomas aus: „Er ist doch gar kein Ingenieur, sondern nur ein Werkzeugmacher!“20 Dabei war die Haltung unter den drei Brüdern keinesfalls immer einheitlich. Walter Reuther war längst zu einem profilierten „Vollzeitgewerkschafter“ und einem der führenden Köpfe in den Reihen der UAW geworden. Als der Richtungskampf erbitterter wurde, distanzierte sich Walter von den Kommunisten und verließ die Socialist Party, während ihr Victor und Roy weiterhin angehörten. Die meisten Teile des Reuther-Plans wurden in Kooperation mit den großen amerikanischen Automobilkonzernen umgesetzt. Aber die Nähe zur Regierung sowie das Engagement für die amerikanischen Kriegsanstrengungen waren für die Gewerkschaft auch nachteilig, denn darunter litt ihre Glaubwürdigkeit. „This is a war against … all brands of fascists, foreign and domestic”21, sagte Victor Reuther 1943, aber auch: “It is common knowledge that enthusiasm for the union has bogged down considerably in a great many 17 Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie, a.a.O., S. 247. 18 vgl. Lichtenstein, Nelson: Reuther the Red? a.a.O. 19 vgl. hierzu Hansen, Beatrice: Political Biography of Walter Reuther – The Record of an Opportunist, a.a.O. 20 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S.80. 21 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 194. 6 circles because we have not continued to win economic gains for our members.”22 Populär waren auch Reuthers Housing Program und sein Vorschlag, zur Bekämpfung der Wohnungsnot sollten nach Kriegsende rasch preisgünstige Fertighäuser produziert werden. Sein Ziel war ein komfortables, sicheres und hinreichend geräumiges Wohnumfeld für alle arbeitenden Familien. „Walter Reuther ging es keineswegs nur um Lohnverhandlungen, sondern auch um neue, zukunftsweisende, sozialpolitische Konzeptionen. Dies zeigen seine Entwürfe familiengerechter und preiswerter Wohnungen für Arbeiter, die Beseitigung von großstädtischen Slums, Pläne einer Entwicklungshilfe für Lateinamerika und Schwarzafrika sowie die Bewältigung der Probleme der Automation. Erziehung und Zukunftsplanung waren für Walter Reuther zwei wichtige nationale Aufgaben.“25 Nach und nach entwickelte sich Walter Reuther zum Hoffnungsträger der nichtkommunistischen Linken in Amerika. „He was the most polarizing figure in the UAW, the most ideological of the top union leaders, a man who instinctively clothed his ambitions in the programmatic language of the labor-left. Reuther lived and breathed the union.”23 FBIDirektor J. Edgar Hoover indes traute den Brüdern nicht: „Indeed, Victor and Walter Reuther had been given prominent places on the FBI’s new ,custodial detention’ list of dangerous individuals slated for arrest should the president declare a national emergency.“24 Walter, der in der UdSSR gearbeitet habe, sei ein “subversiver Kommunist” und dürfe keinesfalls in die Landesverteidigung eingebunden werden. Dennoch standen Walter, Victor und Roy Reuther bald in verantwortlichen Positionen in der amerikanischen Kriegswirtschaft, wobei der Einfluss von Gewerkschaftern auf die industrielle Planung in vielen Führungsetagen mit großem Argwohn beobachtet wurde. Walter Reuthers Werdegang war auch während des Krieges durch interne Machtkämpfe beeinflusst, doch als die USA 1945 zum Frieden zurückkehrten, waren 15 Millionen amerikanische Arbeiter in Gewerkschaften organisiert – weit mehr als zu Kriegsbeginn. Aus einem Streik bei General Motors (Ende 1945/Anfang 1946) ging Reuther wiederum gestärkt hervor. Es gelang der UAW in dem 113 Tage währenden und harten, aber gewaltfreien Arbeitskampf, erstmals alle GMFabriken lahmzulegen; der Slogan lautete: „We fight today for a better tomorrow.“ Der Weg an die Spitze der UAW Eine Reihe weiterer erfolgreicher Streikaktionen, bei denen zunehmend auch die Rassenfrage sowie die soziale Integration und die Gleichbehandlung der Afroamerikaner eine Rolle spielten, stärkten die Position Walter Reuthers. Nach und nach setzte die UAW das Prinzip der Closed Shops durch, d.h. die Zwangsmitgliedschaft der Belegschaft eines Unternehmens in der Gewerkschaft. Wer dies ablehnte, verlor seinen Arbeitsplatz, denn nichtorganisierte Arbeitnehmer sollten nicht von Lohnerhöhungen und anderen sozialen Verbesserungen profitieren, welche die Gewerkschaften durchsetzten. Darüber hinaus organisierten sich immer mehr Schwarze und wurden engagierte Mitglieder – mit dem Resultat, dass sich zunehmend auch der KuKlux-Klan gegen die Gewerkschaften wandte. Und dies selbst in Detroit, wohin sowohl schwarze auch als weiße Amerikaner auf der Suche nach Arbeit kamen. Es war zugleich der letzte der großen Arbeitskämpfe in der langen Geschichte der Industrialisierung Nordamerikas. Für viele Mitglieder war Reuther danach schlicht „unser Held“. Einem Ford-Manager, der ihm einen sozialistischen Standpunkt vorwarf, entgegnete der Gewerkschaftsführer: „If fighting for equal and equitable distribution of the wealth of this country is socialistic, I stand guilty of being a Socialist.“26 Im März 1946 wurde Reuther, der vier Jahre zuvor zum Vizechef aufgestiegen war, auf dem Konvent in Atlantic City mit knapper Mehrheit zum Präsidenten der UAW gewählt – in ein Amt, welches er bis zu seinem Lebensende ausübte. „We won the war. The task now is to win the peace”, betonte er vor den Delegierten. Doch viele seiner Anhänger erlitten bei Wahlen zu den zu vergebenden Ämtern Niederlagen, und Reuther sah sich als Folge mit großem Widerstand konfrontiert. Er hatte mit einem kommunistisch beherrschten Vorstand zu kooperieren, dessen Macht er 22 ebd., S. 203. ebd., S. 184f. 24 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 167. („Later, First Lady Eleanor Roosevelt would complain to her husband about Hoover and the FBI: ,We are developing a Gestapo in this country, and it frightens me.’“ Über praktisch alle Mitglieder der großen Reuther-Familie legte das FBI Karteikarten bzw. Dossiers an. Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 68, S. 265.) 23 25 Überhorst, Horst: Brot und Freiheit, a.a.O. Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S.103. 26 7 zunächst nicht brechen konnte, und der Richtungskampf setzte sich fort. Aktivisten in der Gewerkschaft kommen als Drahtzieher in Frage.27 Erst als Victor Reuther als neuer Leiter des Education Department der UAW Führungskräfte in leitende Positionen brachte, welche auf Walters Richtung eingeschworen waren, endete dieser Konflikt zugunsten der ReutherBrüder. Mit dem Slogan „Teamwork in the Leadership, Solidarity in the Ranks“ warb man für das Ende der Fraktionskämpfe, welche von einem Teil der Gegner der Reuthers aber durchaus auch als Zeichen einer lebhaften internen Demokratie gewertet worden waren. Als Walter Reuther im Krankenhaus von seiner Mutter Anna mit allem Nachdruck gebeten wurde, sein gewerkschaftliches Engagement aufzugeben und in seinen Beruf als Werkzeugmacher zurückzukehren, erklärte er ihr, dass er längst zu sehr „in diese Sache“ involviert sei, um sich noch ändern zu können oder zu wollen: „I’m all tied up in this work. It’s much bigger than I am, and I can’t run away from it.“28 Später betonte er: „Gewehrschüsse können unsere neue Art von Arbeiterbewegung weder stoppen noch zurückwerfen.“ Und in seinem berühmtesten Glaubensbekenntnis: „There is no greater calling than to serve your fellow men. There is no greater contribution than to help the weak. There is no greater satisfaction than to have done it well.“ In der amerikanischen Politik errangen die Republikaner bei den Zwischenwahlen im November 1946 erstmals seit 1930 die Kontrolle über den Kongress. 1947 brachten sie das Taft-Hartley-Gesetz ein, welches von der Legislative gegen das Veto Präsident Trumans verabschiedet und von Walter Reuther als „ein bösartiges Stück faschistischer Gesetzgebung“ bezeichnet wurde. Es regelte das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern zuungunsten der Gewerkschaften. Closed Shops wurden verboten, womit die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zur Voraussetzung für die Einstellung entfiel; Union Shops blieben hingegen in den meisten Bundesstaaten erlaubt, d.h. die Verpflichtung des Arbeitnehmers, nach der Einstellung der Gewerkschaft beizutreten. Das Streikrecht wurde eingeschränkt. Als Folge des Attentats wurde Walter Reuthers Position in der UAW über Jahre hinweg nahezu unangreifbar, war er doch beinahe zu einem Märtyrer für die Arbeiterbewegung geworden. Ein neues Haus wurde zur Festung umgebaut und ein gepanzerter Dienstwagen angeschafft, Leibwächter waren rund um die Uhr präsent, und nicht zuletzt die Töchter Linda und Lisa litten unter dieser Situation. „Growing up with May and Walter Reuther had never been easy, but it had always been an education. They not only believed in the dignity and kinship of all people, they lived it. As with any life worth living, that brought great risks. The assassination attempts, the extreme security measures, the utter loss of privacy, all left their mark on my psyche. But they also taught me a lesson. Something was terribly wrong with the world, and it was my duty to help make it right.”29 Im Visier von Attentätern Walter und Victor Reuther zahlten einen hohen Preis für ihr Engagement in der Gewerkschaftsbewegung: Bei Schusswaffenattentaten, die im April 1948 bzw. Mai 1949 auf sie verübt wurden, überlebten sie nur knapp und mit schwersten Verletzungen. Im Dezember 1949 misslang der Versuch, mit einem Sprengsatz aus 39 Dynamitstangen die UAWCIO-Zentrale zu zerstören. Die Hintermänner dieser Anschläge wurden nie ermittelt, gegen niemanden wurde jemals Anklage erhoben, und Victor Reuther wies nach, dass die Polizei ebenso wie das FBI nur halbherzig nach den Tätern fahndeten. Es müssen in jedem Fall auch die fatalen Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und dem organisierten Verbrechen – von Victor als Unholy Alliance bezeichnet – berücksichtigt werden, zumal sicher scheint, dass die Attentäter auf Walter und Victor Reuther von dem Mafiaboss Santo Perrone gedungen wurden, in wessen Auftrag auch immer. Auch von den Reuther-Brüdern aus ihren Ämtern gedrängte kommunistische 27 Zu diesem Themenkomplex: Reuther, Victor G.: The Brothers Reuther and the Story of the UAW, a.a.O., S. 269ff.; Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 272ff.; Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 11f. 28 Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 6. 29 ebd., Prologue. Die Autorin beschreibt auch das ständige Eindringen der Berufstätigkeit ihres Vaters in das Familienleben, etwa das unvermutete Aufeinandertreffen mit dem Politiker Stuart Udall bei einer Wanderung in Colorado, die Ansprache durch Autogrammjäger oder eine Szene, als die Familie eine Gondelfahrt in Venedig unternahm. Ein amerikanischer Tourist rief ihnen von einer entgegenkommenden Gondel aus zu: „Hey, Mr. Reuther, could I see you in the morning at your hotel?“ 8 fünf Jahre angelegten „Vertrag von Detroit“, der allgemein als richtungsweisend, ja historisch gesehen und als ein Meilenstein bezeichnet wurde, von dem es kein Zurück gebe. Plädoyer für den Marshall-Plan Der Gewerkschaftsverband CIO trat 1949 wegen ideologischer Differenzen aus dem kommunistisch dominierten Weltgewerkschaftsbund (WGB; engl.: World Federation of Free Trade Unions/WFTU) aus – eine Folge des beginnenden Kalten Krieges und heftiger Streitigkeiten über den Marshall-Plan. Als wichtigstes Organ der nunmehr antikommunistischen amerikanischen Arbeiterbewegung gründeten AFL, CIO sowie weitere westliche und westeuropäische Arbeitnehmerverbände noch im gleichen Jahr den Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG; engl.: International Confederation of Free Trade Unions/ICFTU). Die Arbeiter erhielten die Zusage, dass sich in den folgenden fünf Jahren ihr Lebensstandard um 20 Prozent verbessern, man die Lohnsteigerungen am jährlichen Lebenshaltungsindex orientieren und sich der Arbeitgeber zur Hälfte an Arzt- und Krankenhauskosten beteiligen werde; im Gegenzug verzichtete die Gewerkschaft für diesen Zeitraum auf Arbeitskämpfe sowie auf Forderungen über weitergehende soziale Vergünstigungen. Der Koreakrieg und die damit verbundene Inflation führten aber dann doch zu vorgezogenen Neuverhandlungen. Später setzte Reuther einen garantierten Jahreslohn (Guaranteed Annual Wage/GAW) für die Arbeiter durch. Für das Zustandekommen des Marshall-Plans setzte sich Walter Reuther mit allem Nachdruck ein. Nach Gesprächen mit dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter in WestBerlin warb er im Weißen Haus bei Präsident Harry S. Truman dafür, dieses Konzept dem Morgenthau-Plan vorzuziehen. Nur mit knapper Mehrheit verabschiedete der Kongress schließlich den Marshall-Plan. In den Tagen um sein Ausscheiden aus dem Amt, im Januar 1953, erschien Truman in der Gewerkschaftszentrale, um sich zu verabschieden, und „mit einem Zwinkern in den Augen erinnerte er daran, dass Walter sehr großen Anteil daran hatte, dass er [Truman] sich für den MarshallPlan entschieden und ihn unterstützt habe“. 30 The Merger Als Philip Murphy im Dezember 1952 einem Herzversagen erlag, trat Walter Reuther seine Nachfolge als CIO-Präsident an. 1955 kam es zum Merger, der Vereinigung der beiden großen amerikanischen Gewerkschaftsverbände zur AFL-CIO. Ihr Präsident wurde George Meany, ein entschiedener Antikommunist mit patriarchalischem Führungsstil; Walter übernahm die Vizepräsidentschaft. Eine „Liebesheirat“ stellte dieser Merger nicht dar, eher eine Vernunftentscheidung. Walter Reuther, der die Vereinigungsgespräche recht lustlos geführt hatte, sich aber gewiss die stärkere Schlagkraft der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung versprach, kleidete diesen Umstand in die Worte: „We merged, but we did not unite.“ Zwischen Truman und CIO-Präsident Philip Murray ergab sich einmal im Weißen Haus folgender Dialog: „Truman: ,Phil, that young man [Walter Reuther] is after your job!’ Murray: ,No, Mr. President, he’s really after your job!’”31 Reuther pflegte bis zu seinem Tod den Kontakt zu dem demokratischen Nachkriegspräsidenten und kam immer wieder zu einem Besuch und auf ein Gespräch mit Harry S. Truman nach Independence (Missouri). Reuther erreichte 1948 in Verhandlungen mit General Motors für die Arbeiter Lohnerhöhungen, welche an die Steigerung der Lebenshaltungskosten gekoppelt waren (Escalator Clause), und 1949 von Ford die Zusage, den Beschäftigten erweiterte Sozialleistungen zu gewähren und nach einer 30-jährigen Betriebszugehörigkeit eine Rente zu bezahlen (Thirty and Out). Im Mai 1950 unterzeichneten die UAW und die drei großen amerikanischen Automobilkonzerne den auf Zur gleichen Zeit breiteten sich Spekulationen aus, Reuther habe politische Ambitionen und möglicherweise – sicherlich eine übertriebene Sichtweise – das Weiße Haus im Visier32, wolle sogar, wie Eisenhowers Stabschef Sherman Adams formulierte, „der erste sozialistische Präsident der USA“ werden33. Reuther sprach aber viele Male von seiner Vision einer sozialdemokratischen Gesellschaft in Amerika, wie sie in Europa – vor allem in Schweden – entstanden war. Möglicherweise müsse hierzu eine neue, eine dritte einflussreiche amerikanische Partei gegründet werden. Diese Idee vertrat vor allem Victor Reuther, wobei er die 30 32 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 299f. 33 Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 145. Victor Reuther erwähnte dies mehrfach im persönlichen Gespräch mit dem Autor. 31 Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 95. 9 europäischen sozialdemokratischen und Arbeiterparteien als Vorbilder beschrieb. „Walter P. Reuther, the extraordinarily able and intelligent leader of the UAW, may well become in another decade the most powerful man in American politics“, schrieb 1955 der Harvard-Historiker Arthur Schlesinger. Walter Reuthers Kontakte zur Regierung nicht allzu gut. „He had little respect for Eisenhower and his fellow Republicans, whom he considered indifferent to the needs of ordinary Americans.“37 Für Reuther betrachtete die Regierung Eisenhower das Land „durch den Rückspiegel“. Scharf protestierte er 1956, als ein Mitarbeiter Eisenhowers unter Bezugnahme auf eine kurze Rezession mit deutlich steigender Arbeitslosigkeit davon sprach, „das Recht zu leiden” gehöre „zu den Freuden der freien Marktwirtschaft“. In den 1940er-Jahre schien in Nordamerika die Nachfrage nach Automobilen unstillbar. Nur jeder zweite Haushalt hatte einen Pkw, „the industry was a bonanza for owners, executives, and employees“.34 Doch bereits im Verlauf der 1950er-Jahre gab es erste Anzeichen, dass sowohl die zunehmende Automatisierung als auch – nach Jahren des Booms – eine allmählich einsetzende Marktsättigung die amerikanische Automobilbranche hart treffen und auch nachhaltig verändern würden. Dies führte ebenso zu verstärkter Enttäuschung vieler Arbeiter über die Gewerkschaften wie Berichte über Korruption und Günstlingswirtschaft in deren Reihen. Am Ende des Jahrzehnts gab es in den von der Fahrzeugproduktion dominierten Industriestädten wieder höhere Arbeitslosigkeit. „Reuther knew he needed new ideas as well as new organizers … Whatever Reuthers fervent hope, UAW money and manpower could not simply reproduce the excitement and dynamism of the 1930s on cue.“35 Eng gestalteten sich indes die Beziehungen der Reuthers zu den Kennedy-Brüdern, und Walter unterstützte John F. Kennedy bei der Präsidentschaftskandidatur 1960.38 Enttäuscht war er über dessen Entscheidung, mit Lyndon B. Johnson einen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft zu wählen, der – obwohl mit Walter seit langem persönlich befreundet – die Vorstellungen nach tiefgreifenden Reformen nur bedingt zu vertreten schien. Kennedys republikanischer Rivale Richard Nixon nannte Reuther „einen Arbeiterführer, der zu einem radikalen Politiker geworden ist“, und warnte vor dessen Einfluss im Weißen Haus, sollte Kennedy zum Präsidenten gewählt werden39: „I can think of nothing more detrimental to this nation than for any president to owe his election to, and therefore be a captive of, a political boss like Walter Reuther.”40 Der Streit zwischen Walter Reuther und George Meany wurde zum Dauerkonflikt und nahm mit den Jahren den Charakter offener Gegnerschaft, ja von Feindschaft an. Reuther widersetzte sich auch dem Weltbild des entschiedenen Antikommunisten Jay Lovestone, des außenpolitischen Chefstrategen und Vertrauten Meanys. Die Republikaner kritisierten scharf die „Machtgier der Gewerkschaftsbosse, der dritten Partei Amerikas“, und eine Gruppe um Senator Barry Goldwater bezeichnete Reuther sowie die UAW als „eine gefährlichere Bedrohung als den Sputnik oder irgendetwas, das Sowjetrussland in Amerika anrichten könnte … [Reuther] ist ein gerissener, selbstgefälliger, arroganter Gewerkschaftsboss, ein verwegener, verschlagener, unflätiger Agitator, ein bösartiges Genie.“36 Reuthers Wahlempfehlung hatte enormes Gewicht, denn er beeinflusste auf diese Weise das Stimmverhalten von vielen Millionen Gewerkschaftsmitgliedern. Nicht wenige Amerikaner sahen daher in ihm einen Akteur, der bezüglich des Sieges oder der Niederlage demokratischer Präsidentschaftskandidaten ein gewichtiges Wort mitredete. „You are the man who makes or breaks aspirants in the 37 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S. 150. 38 Beim Nominierungskonvent der Demokraten 1956, als für Präsidentschaftskandidat Adlai Stevenson ein Running Mate (Kandidat für die Vizepräsidentschaft) gesucht wurde, kam Senator John F. Kennedy auf Reuther zu und bat um Unterstützung für sein Vorhaben, mit Stevenson ein Ticket zu bilden. Reuther antwortete: „Junger Mann, ich werde Sie dann unterstützen, wenn Sie ihr Abstimmungsverhalten ändern.“ (Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 145.) Vizepräsidentschaftskandidat wurde 1956 Estes Kefauver. 39 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S. 172. 40 Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 205. Walter Reuther revanchierte sich im November 1969 in einem Schreiben an Senator Edmund Muskie für die Angriffe: “The Nixon Administration, with Spiro Agnew leading the pack, continues to sow the seeds of division and polarize America at the very time there is a desparate need for a deeper sense of national unity and national purpose.” (Dickmeyer, Elisabeth Reuther, a.a.O., S. 329.) Gemeinsam mit Kennedy und Johnson Während der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower, d.h. in den 1950er-Jahren, waren 34 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S.135. 35 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 368. 36 Reuther, Victor G.: The Brothers Reuther and the Story of the UAW, a.a.O., S. 437. 10 Democratic Party“, hatte ihm der republikanische Senator Carl T. Curtis einst zugerufen. Einsatz für die weltweite Arbeiterund Gewerkschaftsbewegung In den 1950er- und 1960er-Jahren engagierte sich Walter Reuther auch international sehr stark. Zahlreiche Reisen führten ihn sowie seinen Bruder Victor – nunmehr der Verantwortliche für die Außenbeziehungen der UAW und Repräsentant des CIO in Europa – in die „Alte Welt“, wo er den Wiederaufbau der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte. Victor, der wohl in vielen Fragen „stärker links“ dachte als sein Bruder, leitete von 1951 bis 1953 das CIO-Büro in Paris. Das Konzept des Friedenskorps stammte nicht von Reuther, doch überzeugte er John F. Kennedy in mehreren Gesprächen in Hyannis Port davon, dass es sinnvoll sei und umgesetzt werden sollte. Kennedys Wirtschaftspolitik betrachtete Reuther aber als zu konservativ, und entsprechend offen formulierte Kritik fand sich in einer Resolution, welche der AFL-CIO-Vorstand im Februar 1963 verabschiedete. Im gleichen Jahr sagte der Präsident zu Walter Reuther, dass er ihn in seiner zweiten Amtszeit zu einem Mitglied der US-Delegation bei den Vereinten Nationen berufen werde, da er das Team um einen Vertreter der Gewerkschaften ergänzen und Reuthers Verhandlungsgeschick nutzen wolle. Die sofortige Ernennung in diese Delegation war zuvor am entschiedenen Widerstand von George Meany gescheitert. Beide Brüder pflegten Freundschaften u.a. mit Willy Brandt, Bruno Kreisky, Tage Erlander und Olof Palme. Walter Reuther sprach davon, man könne „die Außenpolitik nicht dem State Department überlassen“, und manch eine Auslandsreise des populären und weltbekannten amerikanischen Gewerkschaftsführers nahm den Charakter eines Staatsbesuchs an. Bei den Harpsund-Konferenzen in Schweden tauschten sich die ReutherBrüder sowie Hubert H. Humphrey ab 1963 regelmäßig in der Abgeschiedenheit von Tage Erlanders Sommerresidenz mit führenden europäischen Sozialdemokraten über gesellschaftliche Visionen und ökonomische Herausforderungen aus. Mit Lyndon B. Johnson ergab sich die intensivste Zusammenarbeit, die Reuther mit einem US-Präsidenten hatte. Beide Männer kannten sich bereits seit den 1940er-Jahren, und Reuther schätzte Johnsons Vision der Great Society sowie sein entschlossenes Eintreten für die Bürgerrechte und die Gleichstellung der Schwarzen. „My friend, I need your friendship and support now more than ever before“, betonte Johnson kurz nach Kennedys Beisetzung in einem Telefonat mit Reuther. Vor allem 1964, im Jahr des wegweisenden Civil Rights Act, und 1965 war das Verhältnis von Vertrauen geprägt, ehe sich aus den Ereignissen in Vietnam ein gewisser Grad der Distanzierung ergab. Am 1. Mai 1959 sprach Walter Reuther am Brandenburger Tor in West-Berlin zu 600 000 Menschen, die dort zum Tag der Arbeit zusammengekommen waren, und versicherte sie der Solidarität der amerikanischen Gewerkschaften. Nachdem er wochenlang mit einem Tonbandgerät geübt und die Sprache seiner Vorfahren aufgefrischt hatte, führte er in Deutsch aus: „Dies ist unser Ziel: Eine Welt des Friedens, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit für alle Völker dieser Welt … Das amerikanische Volk, die Völker der freien Welt, stehen Euch entschlossen zur Seite – in Freundschaft und Solidarität. Zusammen werden wir eine Welt des Friedens, der Freiheit, der Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit aufbauen.41 Wir werden Euch hier in Berlin zur Seite stehen, ganz gleich, wie stark und kalt die sowjetischen Stürme sind, die vom Osten herüberwehen.“42 Eine enge Zusammenarbeit bestand auch mit Robert Kennedy, der zu einem persönlichen Freund der Reuthers wurde. In ihm sahen Walter, Victor und Roy einen überzeugten Aktivisten für soziale Gerechtigkeit, und sie waren intensiv in die Gestaltung seiner Wahlkampagnen eingebunden. Erfolglos blieben die Bemühungen Reuthers, den Sieg der Demokraten bei der Präsidentschaftswahl im November 1968 herbeizuführen. Nach Johnsons Verzicht auf eine erneute Kandidatur und Robert Kennedys Ermordung hatten die Demokraten Hubert H. Humphrey nominiert, einen langjährigen Freund und politischen Verbündeten Reuthers, der jedoch dem Republikaner Richard Nixon unterlag. Auslandsbesuche führten Reuther auch nach Asien, so eine legendäre Reise nach Indien, wo er 1956 mit Jawaharlal Nehru zusammen- 41 zitiert nach Überhorst, Horst: Brot und Freiheit, a.a.O. Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 191. 1961 erhielt Walter Reuther von Bundeskanzler Konrad Adenauer das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. 42 11 traf und von der Bevölkerung begeistert begrüßt wurde. Dieser Aufenthalt sowie die spätere Verstärkung des amerikanischen Militärengagements in Indochina veranlassten Reuther zu der Stellungnahme, die Armut in weniger entwickelten Staaten müsse entschlossen bekämpft werden, um die Menschen dort vor dem Einfluss der Kommunisten zu schützen, denn diese nutzten die sozialen und ökonomischen Gegebenheiten für ihre Ziele aus. Reisfelder seien wichtiger als Schlachtfelder, und allein mit militärischen Mitteln sei das Vordringen des Kommunismus in Asien nicht zu verhindern. Francisco angesprochen wurde, entgegnete der sowjetische Parteichef: „Leute wie Reuther haben wir 1917 aufgehängt!“ „Der weiße Martin Luther King“ Walter Reuther engagierte sich nicht zuletzt in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Schwarzen, die immer öfter als Facharbeiter auftraten, forderten entschlossene Maßnahmen der Gewerkschaften, um ihre fortbestehende Diskriminierung am Arbeitsplatz zu beenden und die hierarchischen Strukturen zu beseitigen. Als es nicht gelang, einen Schwarzen in den 22-köpfigen Vorstand der UAW zu wählen, trat eine unabhängige Protestbewegung innerhalb der Gewerkschaft mit zunehmender Militanz auf. Sie übte Druck auf Reuther aus, während einzelne weiße Mitglieder des Vorstands weiterhin kaum verhüllte Vorbehalte gegen die Schwarzen zeigten. 1961 lud Reuther den Bürgerrechtler Martin Luther King zur Teilnahme am UAWKonvent ein und machte Maßnahmen gegen die Rassendiskriminierung zu einem Teil der Tarifverhandlungen mit den großen Autokonzernen. Mit Nelson „Jack“ Edwards wurde 1962 erstmals ein Schwarzer Mitglied des UAW-Vorstands. Reuther wandte sich aber auch gegen den doktrinären Antikommunismus von George Meany und lehnte kategorisch die Zusammenarbeit der USA mit despotischen Regimen ab; den Kommunismus könne man nicht bekämpfen, indem man die Reaktion unterstütze. Nehru wurde von Meany als Helfer und Verbündeter der Kommunisten bezeichnet, von Reuther hingegen als „einer der größten Staatsmänner unserer Zeit“ gewürdigt. So diente die Indienreise auch dazu, die Irritationen zu beseitigen, welche Meanys Äußerungen verursacht hatten. Reuther: „Both our nations were conceived and dedicated to the proposition that all men are created equal. They contributed to the world and to the ages two moral giants, Gandhi and Lincoln … In the world in which we live, peace and freedom cannot endure with the world half fed and half starving.”43 Am 28. August 1963 nahm Walter Reuther auf persönlichen Wunsch Martin Luther Kings an dessen Marsch auf Washington teil, als dieser seine berühmte “I-have-a-Dream”-Rede hielt, und führte aus: “The job question is crucial because we will not solve [anything] … as long as millions of Americans … are treated as second class economic citizens … We cannot defend freedom in Berlin as long as we deny freedom in Birmingham … We must search for answers in the light of reason through rational and responsible action. If we fail, the vacuum of our failure will be filled by the apostles of hatred, who will search for answers in the dark of night, and reason will yield to riots, and brotherhood will yield to bitterness and bloodshed. We will tear asunder the fabric of American democracy.”44 In der Menge antwortete eine Frau auf die Frage, wer Walter Reuther sei, mit der Bemerkung, bei ihm handle es sich um “den weißen Martin Luther King”. Ein legendärer verbaler Schlagabtausch ergab sich im September 1959, als Nikita Chruschtschow in die USA kam und die Gewerkschaften in San Francisco einen Empfang für den sowjetischen Partei- und Regierungschef ausrichteten. Walter und Victor Reuther erinnerten Chruschtschow an ihren Aufenthalt in der UdSSR in den 1930er-Jahren und kritisierten mit deutlichen Worten, dass der Bevölkerung in der Sowjetunion und in ihren europäischen Satellitenstaaten nach wie vor fundamentale Menschen- und Arbeiterrechte vorenthalten würden. Chruschtschow reagierte empört, wies die Kritik zurück und forderte die Reuther-Brüder auf, sich nicht in Dinge einzumischen, welche sie nichts angingen. Der Vorfall führte unverzüglich zu einer gegen Walter Reuther gerichteten und mit Schärfe geführten Kampagne in den staatlich gelenkten Medien der Sowjetunion. Als Chruschtschow 1961 in Wien mit Präsident Kennedy zusammentraf und von diesem auf die Begegnung in San AFL-CIO-Präsident George Meany widersetzte sich dem Vorhaben Reuthers, den Gewerkschaftsdachverband zur Speerspitze der Bürgerrechtsbewegung zu machen. Ungeachtet dessen entwickelte sich eine zunehmend enge Zusammenarbeit zwischen Walter 44 43 zitiert nach Kutzmark, Rev. Tim: The Life and Labor Legacy of Walter Reuther, a.a.O. ebd., S. 138. 12 Reuther und King; es kam zu einer regelmäßigen Korrespondenz. In einem Brief an den Gewerkschafter schrieb der Bürgerrechtler im Mai 1961: „More than anyone else in America, you stand out as the shining symbol of democratic trade unionism … You have demonstrated over the years that you can stand up in moments of challenge and controversy. One day all of America will be proud of your achievements, and will record your work as one of the glowing epics of our heritage.”45 Reuther seinen Kreuzzug zur Beseitigung der Armut in Amerika (Citizens Crusade Against Poverty/CCAP), ein Programm, dem er vorstand und für welches die UAW 1,1 Millionen Dollar bereitstellte. Schicksalsjahre 1968 bis 1970 Gegen Ende der 1960er-Jahre ergab sich für Walter Reuther dann eine von neuen Herausforderungen sowie von Schicksalsschlägen geprägte Situation. Schwere Rassenunruhen erschütterten im Sommer 1967 nicht nur Detroit, sondern auch sein Weltbild von einer modernen und liberalen Stadt ohne Rassenschranken. Denn Detroit sollte die Modellstadt sein für die Great Society und für das Gesellschaftsmodell der UAW. Kurz vor seinem Tod betonte Reuther: „There are no white answers to the problems. There are no black answers. There are only common answers that we must plan together in the solidarity of our common humanity.”49 Jüngere und besser qualifizierte Arbeiter fühlten sich zudem in immer geringerer Zahl von den Gewerkschaften vertreten, wodurch sich der Organisationsgrad in den Betrieben rückläufig entwickelte.50 Innerhalb der Gewerkschaft wurde Reuther ab Mitte der 1960er-Jahre mit zunehmender Deutlichkeit kritisiert, da er an seiner für viele Mitstreiter nicht nachvollziehbaren Loyalität zu Präsident Johnson festhielt und nur maßvoll Kritik äußerte, obwohl die Situation in Indochina immer mehr Menschen gegen die Regierung aufbrachte und sich Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg häuften. Selbst mit seinen Töchtern ergaben sich heftige und unangenehme Diskussionen zu diesem Thema. „He remained clearly in Johnson’s camp even as the nation’s polarization over Vietnam made such an alliance one of dubious remuneration.”46 Allerdings war er mit seiner Haltung in Einklang mit der politischen Richtung seiner ärgsten internen Widersacher: „To Meany and Jay Lovestone, the U.S. fight against the Vietnamese Communists required the same passion and commitment as that devoted to the defense of Western Europe two decades before.”47 Walters Vater Valentine Reuther starb im November 1967, umgeben von seiner Familie, die an seinem Bett stand und deutsche Volkslieder sang. Im Januar 1968 erlag Roy Reuther einem Herzversagen. Wenngleich stärker im Hintergrund agierend als die Brüder, hatte Roy als erfahrener Organisator maßgeblichen Anteil am Aufbau der UAW sowie an der Gewerkschaftsarbeit und fand als einziger zu einer guten Zusammenarbeit mit George Meany. An der Seite von Robert Kennedy hatte Roy eng mit dem Senator zusammengearbeitet, seine Wahlkampfstrategien erarbeitet und Kampagnen für Bürgerrechte entworfen. Mit Martin Luther King und Robert Kennedy verloren Walter und Victor Reuther im April bzw. im Juni 1968 ihnen auch persönlich verbundene Mitstreiter durch Mordanschläge. Die „Neue Linke“, an deren Spitze sich Reuther gerne gestellt hätte, zeigte wenig Bereitschaft, sich von der dem Establishment zugerechneten Gewerkschaft und ihrem nicht mehr jugendlichen Präsidenten führen zu lassen. Ein Streik bei General Motors, den die UAW 1964 organisierte, erreichte bei weitem nicht die nationale Aufmerksamkeit wie vergleichbare Aktionen in den 1940er-Jahren. Dennoch lehnte Reuther 1966 das Angebot Präsident Johnsons ab, als Chef des neuen Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtentwicklung in die Regierung in Washington einzutreten.48 In der gleichen Zeit startete Im Juli 1968 entschieden sich Walter Reuther und der Vorstand der Automobilarbeiter- Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 190. 46 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 404. Vor diesem Hintergrund erscheint es seltsam, dass Johnson in seiner ausführlichen Autobiographie Walter Reuther nur zweimal kurz erwähnt (Lyndon B. Johnson: Meine Jahre im Weißen Haus. Edition Praeger, München 1971). 47 ebd., S. 406. 48 Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 297. Nelson Lichtenstein erwähnt im Gegensatz hierzu kein konkretes Angebot Johnsons, 45 sondern spricht davon, dass Reuther seine Bereitschaft signalisiert habe, ein solches Angebot ggf. anzunehmen (a.a.O., S. 403). 49 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S. 210. 50 Die Zahl der berufstätigen UAW-Mitglieder fiel 2007 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg unter die Marke von 500 000. Nach einer sehr uneinheitlichen Entwicklung hatte sie 1979 mit rund 1,5 Millionen ihren Höhepunkt erreicht. 13 gewerkschaft aufgrund der unüberbrückbaren persönlichen und inhaltlichen Gegensätze zu George Meany, die UAW aus dem AFL-CIO herauszuführen. Victor Reuther hatte zuvor öffentlich über die Zusammenarbeit des Gewerkschaftsdachverbandes mit CIA und State Department bei außenpolitischen Aktivitäten berichtet, wobei es um die Bekämpfung linker Regierungen in Ländern wie Brasilien und der Dominikanischen Republik ging.51 Mit anderen Gewerkschaftern gründete Walter Reuther die Alliance for Labor Action (ALA), die jedoch bereits kurz nach seinem Tod zerbrach. Es gelang ihm nicht, weitere Organisationen innerhalb der CIO zu bewegen, gemeinsam mit der UAW aus dem Dachverband auszuscheiden. Ursache des Absturzes wurde nie befriedigend geklärt. Die New York Times beklagte in ihrem Nachruf den Verlust eines „Kreuzzüglers für eine bessere Welt“. Viele Gewerkschaftsmitglieder verneigten sich vor den Särgen von Walter und May Reuther und betonten die enorme Verbesserung ihres Lebensstandards, welche sich für sie in den Jahrzehnten zuvor ergeben habe. „He left all of us a better world“, sagte ein Arbeiter. Auch Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus dem In- und Ausland nahmen an der Trauerfeier in Detroit teil. Parallel zu ihrem Beginn standen für drei Schweigeminuten die Maschinen und Laufbänder in allen amerikanischen Automobilfabriken still, und die Beschäftigten gedachten der Verstorbenen. „Walter was the man to first offer the hand of reconciliation to a former adversary and help smooth the path to a democratic and peaceful partnership with the peoples of the world”, so Willy Brandt in seinem Kondolenzschreiben. Victor Reuther verabschiedete sich von Bruder und Schwägerin mit einem europäischen Wort, welches die Brüdern so geliebt und so häufig benutzt hatten: „Servus, Walter, Servus, May.“ In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Reuther dem Aufbau des Black Lake Centers, eines Bildungs- und Erholungszentrums im nördlichen Michigan, das für Arbeiter und ihre Familien bestimmt war. Er dachte wohl auch daran, dort als Ruheständler tätig zu sein und Vorträge zu halten. Black Lake, „a thing of beauty where man and nature can live in harmony“52, stand für den Schutz der Umwelt und einen ökologischen Ansatz, den Walter Reuther – ein früher „Grüner“ – mit Nachdruck vertrat. Er plädierte aber auch mit Entschiedenheit für die friedliche Nutzung der Kernenergie in weit von den Städten angesiedelten Meilern53, nicht ohne vor den verheerenden Folgen eines atomaren Krieges zu warnen. Es stellte sich heraus, dass ein defekter Höhenmesser den Unfall verursacht hatte. Da auch dieses Mal die staatlichen Stellen offensichtlich nur unzureichend ermittelten, veranlasste die UAW eine eigene Untersuchung. Sie ergab, dass der Höhenmesser aufgrund einer defekten Schraube ausgefallen war. Es liegen ausreichend Indizien vor, dass an dieser Stelle manipuliert und eine unpassende oder defekte Schraube eingesetzt wurde. Victor und Theodore Reuther zeigten sich daher – wie viele andere Personen innerhalb und außerhalb der Familie – zeit Lebens überzeugt, dass Walters Tod auf Sabotage zurückzuführen war. Bis heute verweigert das FBI die Veröffentlichung seiner Unterlagen zu dem Flugzeugunglück. Bereits im Oktober 1968 hatten Walter und Victor Reuther die Notlandung eines von ihnen benutzten Privatflugzeugs in Washington überlebt, und auch damals war der Höhenmesser ausgefallen. Innerhalb der UAW-Führung wuchs die Kritik an dem Black-Lake-Projekt, da es mit völlig außer Kontrolle geratenen Ausgaben verbunden war und mehr und mehr als persönliches Prestigeprojekt betrachtet wurde. In der Gewerkschaftsarbeit agierte Reuther zunehmend glücklos, die Dinge entglitten ihm, langjährige Mitstreiter gingen auf Distanz, und das Ende seiner Präsidentschaft zeichnete sich ab. Auf dem Weg zu dem entstehenden Black Lake Center kam es am Abend des 9. Mai 1970 auf dem Flughafen von Pellston (Michigan) zum Absturz eines privat gecharterten Kleinflugzeugs beim Landeanflug. Walter Reuther, zum Zeitpunkt seines Todes 62 Jahre alt, seine Frau May sowie alle übrigen Personen an Bord fanden den Tod. Die „Walter Reuthers historische Leistung gründet sich darauf, dass er – unterstützt von seinen Brüdern Victor und Roy – die amerikanische Automobilarbeitergewerkschaft dem kommunistischen Einfluss entzog und sie geeint zur stärksten Gewerkschaft der USA machte; dass er zukunftsweisende Tarifverträge durchsetzte, für die amerikanische Hilfe beim Aufbau Europas plädierte und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Deutschen 51 1981 schloss sich die UAW wieder dem Dachverband AFL-CIO an. 52 Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit, a.a.O., S. 437. 53 Am Weizmann Institute for Science im israelischen Rehovot wurde 1969 ein nach Walter Reuther benannter Lehrstuhl für die friedliche Nutzung der Atomenergie eingerichtet. 14 Gewerkschaftsbund und der deutschen Sozialdemokratie einleitete. Als Baumeister der Gewerkschaftseinheit in den USA hatte er darüber hinaus eine politische Vision, die er unbeirrt verfolgte und in kühnen Aktionen zu verwirklichen suchte. Vornehmlich ging es ihm aber darum, die amerikanische Arbeiterbewegung auf den breiten Weg einer Einflussnahme auf die Gestaltung aller sozialen Fragen zu führen.“54 wurde Victor 2001 im Namen von König Carl XVI. Gustaf die höchste Auszeichnung verliehen, welche das skandinavische Land an Ausländer vergibt. Auf die Frage, welcher der amerikanischen Präsidenten, mit denen er zusammenarbeitete, bei ihm den stärksten Eindruck hinterlassen habe, antwortete Victor ohne zu zögern: Franklin D. Roosevelt. Um gleich hinzuzufügen, dass das soziale Engagement von Eleanor Roosevelt höchste Achtung verdiene und bei den Reuther-Brüdern großen Respekt hervorgerufen habe.55 Victor Reuthers Aktivitäten nach 1970 Die Asche des 2004 verstorbenen Victor Reuther, seiner Brüder Walter und Roy sowie der Ehefrauen wurden auf einem besonders gekennzeichneten Teil des Geländes des Walter and May Reuther Family Education Center in Black Lake im nördlichen Michigan beigesetzt. Victor Reuther zog sich 1972 in den Ruhestand zurück und schrieb seine Memoiren, welche auch die Geschichte der UAW sind. Damit setzte er ein Vorhaben um, das bereits zu Walters Plänen gezählt hatte. Im gleichen Jahr starb Mutterchen Anna Reuther im Alter von 90 Jahren. In den folgenden Jahrzehnten wurde Victor zu einem entschiedenen Kritiker der Strategie der Verantwortlichen in der UAW, einen „Kuschelkurs“ mit der Industrie zu verfolgen und sich damit recht deutlich von der Leitlinie der Reuther-Brüder zu entfernen. Den Niedergang der amerikanischen Automobilindustrie, der 1973 mit der Erdölkrise einsetzte, hat Walter Reuther nicht mehr erlebt. *** Ein früher Mahner: Walter Reuthers sozioökonomisches Denken Das US-Nachrichtenmagazin TIME nahm Walter Reuther 1998 in seine Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts auf und würdigte seine Person und seine Verdienste: „One of labor’s most dynamic and innovative leaders, as well as a humanitarian whose impact ranged well beyond his field. His achievements were guided by his oft expressed philosophy of human endeavor.”56 2006 wurde in Wheeling (West Virginia) das Walter P. Reuther Memorial eröffnet, mit dem des Sohnes der Stadt gedacht und auch sein soziales Engagement in Erinnerung gehalten wird.57 Viel Akzeptanz fand Victor Reuther bei der kanadischen Automobilarbeitergewerkschaft CAW. Sie weigerte sich im Gegensatz zu ihrer amerikanischen Schwesterorganisation, zu weitgehende Konzessionen an die Industrie zu machen. Als General Motors 1985 in Tennessee eine neue Fabrik eröffnete und das Management sowie die Gewerkschaft zu einer kollegialen Form der Zusammenarbeit fanden, bezeichnete Victor Reuther dieses aus Japan übernommene Konzept von Team production als Abwendung von allem, wofür sein Bruder Walter gearbeitet habe. So blieb es nicht aus, dass Victor von der Führung der UAW jahrelang geschnitten wurde. Er stärkte der Bewegung New Directions innerhalb der Automobilarbeitergewerkschaft den Rücken, welche dann, in den 1990er-Jahren, wieder das Management der UAW übernahm und einen härteren Kurs verfolgt. In einem Nachruf hatte Otto Brenner, der damalige Vorsitzende der deutschen IG Metall, im Jahr 1970 formuliert: „Was Walter Reuther als Gewerkschafter besonders auszeichnete, war der dynamische Charakter seiner Politik und seiner gewerkschaftlichen Konzeption. Er 55 Victor Reuther im persönlichen Gespräch mit dem Autor. Walter Reuther besuchte Eleanor Roosevelt (1884 – 1962) nach 1945 oft mit May und den Töchtern in Hyde Park (New York), so dass die ehemalige First Lady eine enge Freundschaft zu allen Mitgliedern der Familie Reuther entwickelte, welche sie als Mrs. R bezeichneten. Als sie 1957 von einem Journalisten gefragt wurde, ob Walter Reuther einen guten Präsidenten der USA abgäbe, antwortete Eleanor Roosevelt: „He might.“ (Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes, a.a.O., S. 144.) 56 TIME 100 – The Most Important People of the Century: Walter Reuther, a.a.O. 57 vgl.: http://www.uawregion8.net/2006/RM/RM.htm. Noch im hohen Alter mahnte Victor Reuther mit nachdrücklichen, ja leidenschaftlichen Worten die Beachtung des Grundsatzes von international labor solidarity. 1995 nahmen er und seine Ehefrau Sophia im Weißen Haus aus der Hand von Präsident Bill Clinton die Presidential Medal of Freedom entgegen, welche Walter Reuther posthum erhielt. Vom schwedischen Botschafter in Washington 54 Überhorst, Horst: Brot und Freiheit, a.a.O. 15 schrieb Der Spiegel im Juli 195559. „Trotz klassenkämpferischen Fanfaren ist Reuther eigentlich kein ,wilder Mann’. Er ähnelt in seinem Habitus eher dem Typ des gemäßigten deutschen Sozialdemokraten, jedoch mit einem gehörigen Schuss amerikanischer Dynamik und gesalbt mit den Ingredienzien einer opportunistischen Brot-und-Butter-Gewerkschaftspolitik … Die menschenleere, vollautomatische Fabrik, in der ein kleiner Stab von Ingenieuren und Technikern – über das zwischengeschaltete Elektronengehirn – den ganzen Betrieb beherrscht, ist keine Utopie mehr. Sie existiert – zumindert in Teilobjekten – bereits in den USA, in England und in der Sowjetunion.“ war sich stets der Tatsache bewusst, dass Gewerkschaftspolitik mehr bedeutete als eine Tarifpolitik, … und hat auch gesehen, dass in der modernen Industriegesellschaft die Gewerkschaften aufgerufen sind, zu den großen gesellschaftspolitischen Themen der Zeit, national wie international, Stellung zu nehmen und sich für gesellschaftliche Reformen mit ihrer ganzen Kraft einzusetzen.“ Schon früh erkannte Reuther die Probleme, welche sich aus der fortschreitenden Automatisierung der Arbeitswelt ergeben würden. Als er 1952 das im Jahr zuvor eröffnete Werk von Ford in Brook Park bei Cleveland besichtigte, bekam er aus dem Mund eines ihn begleitenden Ford-Managers zu hören: „You know, Walter, not one of these machines pays union dues.“ Reuther entgegnete: „And not one of them buys new Ford cars, either!“58 „Die technische Umwälzung, die wir erleben, ist nicht das Ergebnis einer einzigen Erfindung oder Entdeckung. Es ist eine fortdauernde Revolution, und ihre weitere Entwicklung wird wahrscheinlich noch beschleunigt werden“, führte Reuther 1965 in Oberhausen (Deutschland) aus60. 1950 sei ihm vorgeführt worden, wie in einem Ford-Werk in etwas mehr als 14 Minuten ein fertiger Motorblock entstehe, während er 1927 als Arbeiter bei Ford eine Zeit erlebt habe, als man für einen weit einfacheren Motorblock drei Wochen und zahlreiche Arbeiter benötigte. Grundsätzlich war Reuther von der Wirksamkeit keynesianischen Handelns überzeugt, wenn es um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und die Überwindung ökonomischer Schwächeperioden ging. Das Problem lag in seinen Augen im Zaudern und dem mangelnden Mut der Politiker, diesen makroökonomischen Ansatz zu wählen. Für das Funktionieren eines marktwirtschaftlichen Systems war für ihn die Ausgeglichenheit der drei wichtigsten Faktoren – Kapital, Arbeit und Konsum – von entscheidender Bedeutung, und der Demokratie prophezeite er schwere Zeiten, sollte es zum sozialen Abrutschen der Mittelklasse kommen. Die Maschinen, so Reuther weiter, würden immer leistungsfähiger. „Im wesentlichen ist das Bild für fast alle Industriezweige das gleiche. In einer Industrie nach der anderen kann der Elektronenrechner Arbeiten von Facharbeitern und ungelernten Arbeitnehmern in der Produktion übernehmen, aber auch von Angestellten und sogar von Leuten in leitenden Stellungen … Keine Nation, die heute dem Risiko und der Chance der Automation gegenübersteht, wird imstande sein, dieser Herausforderung auf irgendeiner anderen Grundlage zu begegnen als der einer geplanten und wohl überlegten Koordinierung der öffentlichen und privaten Bemühungen innerhalb der Nation.“ In der Automatisierung, einem Kernthema der 1950er-Jahre, sah Reuther grundsätzlich einen enormen Fortschritt, solange sie vernünftig und maßvoll eingesetzt werde. Es wäre töricht, so sagte er, den Versuch zu unternehmen, sich dem technologischen Fortschritt zu verschließen. Vor allem entlasteten neue Technologien Arbeiter von monotoner Beschäftigung, und insgesamt gesehen könne sich der Lebensstandard aller Bürger erhöhen. Gefahren ergäben sich aber nicht nur für Arbeiter, deren Jobs durch Maschinen ersetzt würden, sondern auch für Unternehmer, denen das Kapital für die Automatisierung fehle und die dadurch einen existenzbedrohenden Nachteil gegenüber ihren kapitalkräftigeren Mitbewerbern erleiden könnten. Reuther bezeichnete die Automatisierung als „zweite industrielle Revolution“ und warnte mit Nachdruck vor Fehlern, die man rund hundert Jahre zuvor bei der Industrialisierung Nordamerikas gemacht habe. Es drohe der Verlust von Arbeit für ungelernte oder angelernte Arbeiter, deren Tätigkeit von Maschinen übernommen werden könne; andererseits entstün- „Reuther hat sich in den vergangenen Monaten zum Verteidiger der Manpower – der menschlichen Arbeitskraft – gegen die Massentechnokratie der Roboterhirne aufgeschwungen“, „Die Roboter sind unter uns. Gewerkschaftsmacht gegen Denkmaschinen: Walter Reuther.“ Titelstory in Der Spiegel Nr. 31 (27. Juli 1955), S. 20ff. 60 in: Freie Gewerkschaftswelt (offizielles Organ des IBFG), Nr. 179 (Mai 1965). 59 58 Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers, a.a.O., S. 154. 16 den neue Arbeitsplätze für Mitarbeiter mit gehobener Qualifikation. Die Aus- und Weiterbildung weniger qualifizierter Arbeiter, berufsbegleitend und bei voller Bezahlung, sei folglich von großer Bedeutung. Bei älteren Beschäftigten müsse man Vorruhestandsregelungen in Betracht ziehen. sei dringend notwendig, amerikanische Autos zu bauen, die qualitativ und bezüglich des Verkaufspreises den Wettbewerb mit Volkswagen und anderen Importmarken bestehen könnten. „The great tragedy in the world is that just when science and technology have given Man the capability of solving his ancient problems of poverty and hunger and ignorance and disease, Man has failed to create the political and social instruments necessary to insure that this new power will be used to uplift Mankind … Science and technology have expanded Man's wealth, but not his wisdom. They have given Man great power, but have not given him a sense of deeper human purpose, nor a greater sense of human solidarity.”61 Das Retraining des manuell Arbeitenden zum Facharbeiter oder zum Ingenieur müsse erreicht werden, und dies sei nur mit einem für ganz Amerika geltenden und solide finanzierten Konzept zu schaffen. Steuermittel müssten in dieses Programm fließen, da die Vorteile der Automatisierung der ganzen Nation zugute kämen. Vor allem in der Regierung Eisenhower (1953 – 1961), die Reuther als „rückwärtsgerichtet“ einstufte, würden diese Aspekte nicht erkannt und entsprechende Maßnahmen nicht in Angriff genommen. *** Die zweite Herausforderung für den amerikanischen Automobilsektor ergab sich, wie Reuther früh betonte, aus der Globalisierung, d.h. aus dem Wiedererstarken Deutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide Länder exportierten in zunehmendem Maß kleinere und preisgünstige Fahrzeuge in die USA. Die Zeit des geschlossenen amerikanischen Automobilmarktes, so der UAWPräsident, sei vorüber, doch biete dieser Umstand auch Chancen, da die großen USKonzerne ihre Produktionskapazitäten in Europa und Asien ausbauten. „Der Profit kennt keinen Patriotismus“, sagte er, die Technologie sei überall dieselbe, und die weltweite Solidarität der Arbeiter müsse erreicht werden. Das Ziel müsse es sein, den freien Handel und gleichwertige Lebensbedingungen für alle Beschäftigten – am besten mit Hilfe von Weltgewerkschaftsverbänden – zu erreichen. Literaturverzeichnis / Quellen Appelius, Stefan: Victor Reuther – Ein unverdrossener Kämpfer für soziale Reformen; in: Der Tagesspiegel (Berlin), 23. 11. 1997, Seite W3. http://www.appelius.de/victor_reuther.html Barnard, John: Walter Reuther and the Rise of the Auto Workers. Little, Brown and Company, Boston und Toronto 1983. Barnard, John: American Vanguard – The United Auto Workers During the Reuther Years, 1935 – 1970. Wayne State University Press, Detroit 2004. Carew, Anthony: Walter Reuther (Lives of the Left), Manchester University Press 1993. Diese Gedanken fanden in Europa weit mehr Gehör als in den Managementetagen der Big Three in Detroit. Als Reuther 1957 auf der Jahrestagung des britischen Gewerkschaftsdachverbandes TUC in Blackpool über die aktuellen ökonomischen und sozialen Herausforderungen sprach, bescheinigte man ihm, dass niemals zuvor ein ausländischer Redner das TUC-Auditorium mit Inhalt und leidenschaftlicher Rhetorik derart beeindruckt habe. Es sei „Reuthers Tag“ gewesen. Dickmeyer, Elisabeth Reuther: Reuther – A Daughter Strikes. Spelman Publishers Division, Southfield (Michigan) 1989. – Die Autobiographie von Walter Reuthers Tochter, mit zahlreichen Anekdoten und Beschreibungen von Szenen aus dem Familienalltag. Kurz vor seinem Tod 1970 betonte Reuther, dass die amerikanischen Automobilarbeiter ihr Monopol auf dem nationalen Arbeitsmarkt verloren hätten. Immer stärker werde der Konkurrenzdruck aus Europa und vor allem aus Japan, wo man Fahrzeuge weitaus günstiger produziere und in die USA exportiere. Es Hansen, Beatrice: Political Biography of Walter Reuther – The Record of an Opportunist. Goode, Bill: Infighting in the UAW – The 1946 Election and the Ascendancy of Walter Reuther. Greenwood Publishing Group, Santa Barbara 1994. 61 Walter Reuther auf der UAW-Jahrestagung im April 1970. http://www.uawregion8.net/UAW-HistoryReuther.htm 17 junge Leser, konzentriert sich dieses in einfachem Englisch geschriebene Buch des Direktors der Walter P. Reuther Library an der Wayne State University in Detroit auf die Kindheit und Jugend der Reuther-Brüder. Pathfinder Publishing of California, Oxnard 2001. Kutzmark, Rev. Tim: The Life and Labor Legacy of Walter Reuther; in: Unitarian Universalist Church of Reading 2009. http://www.uureading.org/sermons/sermon090 906.htm TIME 100 – The Most Important People of the Century: Walter Reuther. http://205.188.238.181/time/time100/builder/pr ofile/reuther.html Lacey, Robert: Ford. Eine amerikanische Dynastie. Econ Verlag, Düsseldorf/Wien/New York 1987. – Die Geschichte der Ford-Familie und ein aufschlussreicher Einblick in die Entwicklung der amerikanischen Automobilindustrie. Überhorst, Horst: Brot und Freiheit. Aus dem Leben des deutsch-amerikanischen Gewerkschaftsführers Walter P. Reuther. Feature im Deutschlandfunk, August 1982. Lichtenstein, Nelson: Walter Reuther – The Most Dangerous Man in Detroit. University of Illinois Press, Urbana und Chicago 1997. – Ein Standardwerk der Sekundärliteratur zu den Reuther-Brüdern und zur Entwicklung der UAW. Wayne State University/Walter P. Reuther Library: No Greater Calling: The Life of Walter P. Reuther. http://reuther100.wayne.edu/index.php Lichtenstein, Nelson: Reuther the Red? In Labour/Le Travail, Ausgabe 51 (2003). http://www.historycooperative.org/journals/llt/5 1/lichtenstein.html Fotodokumente über die Reuther-Brüder unter http://reuther100.wayne.edu/viewgallery.php * * Reuther, Sasha: How the UAW Can Get Its Horsepower Back. In TIME Magazine, 14. Juni 2010. Filmprojekt Brothers on the Entstehen). http://www.brothersontheline.com/ Reuther, Victor G.: The Brothers Reuther and the Story of the UAW. A Memoir. Houghton Mifflin Company, Boston 1976. Dt.: Die Brüder Reuther. Eine Autobiographie und die Geschichte der amerikanischen Automobilarbeitergewerkschaft UAW. Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung Band 30. Bund-Verlag, Köln 1989. – Standardwerk über die Tätigkeit der Reuther-Brüder, die Streikaktionen und politischen Aktivitäten sowie die persönlichen Memoiren von VGR. Line (im Sasha Reuther, der Enkel von Victor Reuther, arbeitet an einem Film über das Leben der Reuther-Brüder. „Comprised of never-beforeseen footage from the UAW internal archive, stirring first-hand accounts, and narration by award-winning actor Martin Sheen, this film takes an in-depth look at a contentious history.“ * Tondokument Reuther, Victor G.: Verraten in Gorki. Die Tragödie der ausländischen Arbeiter in den sowjetischen Autowerken in Gorki. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Paul T. Christensen. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn 2002. – VGR berichtet über die Realität während des Aufenthalts in der Sowjetunion und die Konfrontation mit dem stalinistischen System. Walter Reuther, interviewt von Mike Wallace am 25. Januar 1958. http://www.hrc.utexas.edu/multimedia/video/20 08/wallace/reuther_walter.html Reuther, Walter Philip, Biographie: http://www.germanheritage.com/biographies/m toz/reuther.html Smith, Mike and Pam: The Reuther Brothers – Walter, Roy, and Victor. Detroit Biography Series for Young Readers. Wayne State University Press, Detroit 2001. – Gerichtet an 18