Michael Zeuske/Venezuela Seite 1 13.05.2016 publicado: Zeuske, Michael, Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich: Rotpunktverlag, 2008 (620 S., mit zahlreichen Karten; ISBN 3-85869-313-8) [From Bolívar to Chávez. The History of Venezuela/ De Bolívar á Chávez. La historia de Venezuela]. Für Elfriede Zeuske, 1925-2006 Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas Michael Zeuske EINLEITUNG 3 MENSCHENJAGD AN DER PARIAKÜSTE, KAKAO UND RINDER – DIE GESCHICHTE EINER KOLONIALEN PERIPHERIE (1500-1750) 21 DIE INDIO-VÖLKER VENEZUELAS 21 KLEIN-VENEDIG 46 LOS BELZARES: SCHWABEN, SCHWEIZER UND EIN PAAR SACHSEN KOMMEN 58 TERRITORIEN, PROVINZEN UND HÄFEN 68 STÄDTE UND RÄUME 89 RINDER, PFERDE UND LLANOS 109 BURIA, COCOROTE, AROA UND ARAYA: FRÜHER BERGBAU UND SALZ 114 REPARTIMIENTO, ENCOMIENDA, SKLAVEREI UND ZWANGSARBEIT IN VENEZUELA 118 KREOLISIERUNG, ATLANTIK UND CIMARRONAJE 140 KAKAO, ZUCKER UND TABAK 146 DIE KRONE MAG SCHMUGGEL NICHT LEIDEN: BOURBONISCHE REFORMEN (1750-1800) UND IMPERIALE NATION 158 REFORMEN IN AMERIKA UND VENEZUELA 158 KASTENORDNUNG, INFORMELLE HERRSCHAFT, GRENZKRIEGE UND REVOLUTION 191 ALEXANDER VON HUMBOLDT IM KOLONIALEN VENEZUELA, 1799-1800 226 MYTHOS INDEPENDENCIA: FRANCISCO DE MIRANDA, SIMÓN BOLÍVAR UND DER KAMPF FÜR EINE NATION MIT DEM VORNAMEN VENEZUELA (1800-1859) 226 DER ZUSAMMENBRUCH DES IMPERIUMS UND DIE AUTONOMIE VENEZUELAS 226 LLANEROS UND UNABHÄNGIGKEIT 280 DER KONGREß VON ANGOSTURA, DIE ANDENÜBERQUERUNG UND DIE GRÜNDUNG GROßKOLUMBIENS 293 ELITEN, SKLAVEREI UND LAND: DAS DEPARTEMENT VENEZUELA IN GROß-KOLUMBIEN 309 DIE BEGRÜNDUNG DES INFORMELLEN MACHTSYSTEMS DER REPUBLIK 333 DIE ZERSTÖRUNG DES BOLIVARIANISCHEN PROJEKTS UND DIE ENDGÜLTIGE GRÜNDUNG VENEZUELAS 342 DER FALL PÁEZ 360 DIE LETZTE DIKTATUR BOLÍVARS 383 PÁEZ UND DER “GOBIERNO DELIBERATIVO” 388 EIN EXKURS: VENEZUELA, DIE ATLANTISCHE WELT UND EUROPA 434 DAS TURBULENTE JAHRZEHNT DER MONAGAS (1848-1858) 459 LLANEROS, LIBERALE UND FEDERALES 481 CAUDILLOS, CAMPESINOS UND DIE GUERRA FEDERAL (1859-1870) 494 DEM NEUEN VENEZUELA BRICHT DAS ZENTRUM WEG 494 EZEQUIEL ZAMORA UND DAS ARGUMENT DER SOZIALREVOLUTION 503 Michael Zeuske/Venezuela Seite 2 13.05.2016 DER AUFGEKLÄRTE AUTOKRAT GUZMÁN BLANCO, DIE LETZTEN CAUDILLOS UND DIE ENTSTEHUNG DES MODERNEN VENEZUELA (1870-1908) 522 VENEZUELA WIRD ZUR FAST-KOLONIE DER DRITTEN GLOBALISIERUNG 537 DIE „CARACAISIERUNG“ VENEZUELAS 547 „WEIßE“ IMMIGRATION, INFRASTRUKTUR- UND EISENBAHNPOLITIK 559 FASZINATION BÜRGERKRIEG, SEZESSIONEN, DIKTATUR UND „ORDNUNG“ AM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS 579 CIPRIANO CASTRO, DIE BLOCKADE VENEZUELAS 1902 UND DIE FESTIGUNG DER ANDINOS 585 EIN LIBERALER CAUDILLO, DER DIE CAUDILLOS BESIEGT – DIE LANGE HERRSCHAFT DES JUAN VICENTE GÓMEZ (1908-1935) 593 FÜNF VENEZUELAS (UM 1900) 593 CASTRO GEHT, GÓMEZ KOMMT 604 PETROLEUM STATT KAFFEE, RINDER UND MAIS 626 ERDÖLSTAAT, PUTSCHE, TECHNOKRATEN UND DER VERSUCH, DEMOKRATIE ZU KAUFEN (1936-1989) 646 DIE ANDINEN MILITÄRS UND DIE MODERNISIERUNG (1936-1945) 646 ZIVILISTEN UND MILITÄRS UND DAS PROBLEM DER LEGITIMITÄT (1945-1948) 673 DIE QUASIDIKTATUR DES MARCOS PEREZ JIMENEZ (1948-1958) 681 DER PUNTOFIJO-PAKT (OKTOBER 1958) 700 RÓMULO BETANCOURT, DAS MYTHOS VOM „VATER DER VENEZOLANISCHEN DEMOKRATIE“ UND DIE AD (1959-1969). 706 GUANÁBANA-POLITIK UND ‘4.30 ÄRA’ (1969-1989) 718 ZUSAMMENBRUCH, VOLKSREBELLION UND PUTSCHE : DER ABGANG DER ALTEN ELITEN UND DER KAMPF UM DIE NEUE HEGEMONIE (1989-1998) 733 CAP II: KRISE, MASSAKER UND ABSETZUNG IM SCHATTEN DER WELTGESCHICHTE (1989-1994) 733 DER NEUNTE PUTSCH 743 STABILISIERUNGSVERSUCHE UND NIEDERLAGE DER ALTEN ELITEN (1994-1998) 746 HUGO CHÁVEZ FRÍAS 749 DIE BOLIVARIANISCHE REPUBLIK (1999-2008) 787 DIE ANFÄNGE DES CHAVISMO AN DER MACHT (1999-2002) 805 KONTERREVOLUTION MIT PUTSCH, ABER OHNE REVOLUTION (2002-2004) 823 DIE GEGENWART DER GESCHICHTE (2005-2007) 857 3D – DIE PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IM DEZEMBER 2006 UND DIE NEUE HEGEMONIE 881 BRÜCKENBAUEN, SKILIFTE ALS MASSENVERKEHRSMITTEL UND SCHOTTISCHER WHISKY FÜR ALLE - KONSOLIDIERUNG DES CHAVISMUS (SEIT 2007) 887 ANHANG 898 QUELLEN 898 LITERATUR 899 ANHANG (NICHT PUBLIZIERT IN AUSGABE 2008; GESAMMELT 2007-2013) 904 DOKUMENTE 904 WIDERSPRUCH/021: CHÁVISMO UND PARTIZIPATORISCHEN DEMOKRATIE IN VENEZUELA 906 ENDE 915 Michael Zeuske/Venezuela Seite 3 13.05.2016 Einleitung „Es war eine liebliche, Sternhelle Nacht, in der wir unsere Reise antraten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber der Nebel des Schützen goß eine milde Lichtmasse in die dunkelblauen Lüfte. Unaussprechlich ist die Anmuth einer Tropennacht“1 Venezuela ist in aller Munde.2 Und in vielen Bildern. In deutschsprachigen Medien überwiegen Erklärungen aus dem Fundus der Populismus-Theorien. 40 Jahre lang gehörte die Erdöl- und PetrodollarDemokratie Venezuela, 1955 bis 1980 das reichste Land Lateinamerikas, zu den „stabilen Demokratien“ des Subkontinents (von denen es zwischen 1964 und 1980 nicht sehr viele gab). Die Eliten Venezuelas entwickelten sogar ein kontinentweites politisch-theoretisches Modell der Verteidigung und Promotion der repräsentativen Demokratie (Betancourt-Doktrin). Venezuela ist aber auch ein Beispiel dafür, wie neue Eliten und traditionelle Oligarchien vor dem Hintergrund ungelöster kolonialer Problemeà la longue repräsentative „Demokratie“ gestalten, Modernisierung und „Nation“ predigen, aber sich im Grunde kontinuierlich aus sozialer Verantwortung und allgemeineren Aufgaben (Armut, Bildung, Gesundheit, Sicherheit) verabschieden und in Realität Klientelismus einer Generationskohorte („Generation von 1928“) zum Machterhalt pflegen. Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse eines 1 Alexander von Humboldt am 18. November 1799 bei der Abreise von Cumaná, siehe: Humboldt, Alexander von, „Von Cumaná nach Caracas“ (18.-21.11. 1799), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 164-172, hier S. 168 (Originalorthographie). 2 Die besten Publikationen in Deutsch sind: Burchardt, Hans-Jürgen, „Die bolivarianische Revolution in Venezuela: Alternative zum Neoliberalismus?“, in: Burchardt, Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag GmbH, 2004, S. 193-221; Sevilla, Rafael; Boeckh, Andreas (eds.), Venezuela. Die Bolivarische Republik, Tübingen: Horlemann Verlag, 2005; Diehl, Oliver; Muno, Wolfgang (eds.), Venezuela unter Chávez – Aufbruch oder Niedergang?, Frankfurt am Main: Vervuert Verlag, 2005 (unterschätzt Mainz nicht); Zelik, Raul; Bitter, Sabine; Weber, Helmut, Made in Venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“, Berlin: Assoziation A, ²2005; Azzelini, Dario, Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts?, Köln: Neuer ISP Verlag, Juni 2006; in Bezug auf die französische Historiographie will ich hier nur auf zwei synthetische Arbeiten verweisen: Humbert, Jules, Los orígenes venezolanos (Ensayo sobre la colonización española en Venezuela. Traducción Casas, Feliciana; corrección y revisión Francia, Claudine, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1976 (Biblioteca de la Agademia Nacional de la Historia; 127) (Erstausgabe: Bordeaux: Feret & fils, 1905) sowie: Langue, Frédérique, Histoire du Venezuela. De la conquête à nos jours, Paris: L’Harmattan, 1999 (Collection Horizons Amériques Latines); international gibt es eine wahre Flut der Venezuela-Literatur, siehe vor allem: Coronil, Fernando, The Magic State. Nature, Money, and Modernity in Venezuela, Chicago and London: The University of Chicago Press, 1997 sowie: Ellner, Steve; Hellinger, Daniel (eds.), Venezuelan Politics in the Chávez Era. Class, Polarization & Conflict, Boulder; London: Lynne Rienner Publishers, 2004; Wilpert, Gregory, Changing Venezuela by Taking Power. The History and Politics of the Chávez Government, London; New York: Verso, 2007. Michael Zeuske/Venezuela Seite 4 13.05.2016 bestimmten Typs können auch „brechen“ und abbrechen, wenn nicht immer wieder im Rahmen des Sozialen justiert wird. Venezuela ist ein Exempel dafür, dass fortgesetzte Modernisierung unter Globalisierungsbedingungen nicht mit viel oder sogar sehr viel Geld zu schaffen ist; und dass das ganze Konzept der „westlichen Modernisierung“ in ehemaligen Kolonialgebieten fraglich war und ist; ebenso wie seine Erweiterung in der einseitigen Kapital- und Handelsglobalisierung. 1983 kam der Staatsbankrott; 1989 eine spontane Volkserhebung gegen Teuerung sowie Sozialabbau und 1992 Rebellionen von Truppen-Offizieren gegen die alten politischen Klassen unter einem comandante rebelde namens Hugo Chávez Frías. Chávez wurde nach der Niederlage der Rebellion - schon während seiner Gefängnishaft - zum Medienstar. Er scheute sich nicht, im Trash-Fernsehen der Telenovelas, Ratesendungen und Schönheitskonkurrenzen aufzutreten. Über das populäre Medium schien er der Parteienverdrossenheit des Volkes aus dem Munde zu sprechen. Seit 1999 ist dieser als „Linkspopulist“ definierte Hugo Chávez Frías (geb. 1954) Präsident des wegen der hohen Erdölpreise immer noch sehr reichen Landes. Er hat bisher große Streiks, mehrere Putsche und ein großes Amtenthebungsreferendum sowie neun Wahlen auf nationaler Ebene (erfolgreich) überstanden und dem Land einen neuen Namen, einen Stern mehr auf der Nationalflagge, eine neue Verfassung, neues politisches Personal und eine ganze Latte modernster Sozialund Armutsprogramme verschafft. Und eine martialische Rhetorik – auch international. Im Grunde wurde unter Chávez die Souveränität der Nation erst einmal wieder hergestellt – vor allem in die Tiefe (Mobilisierung der marginalisierten Bevölkerung), nach außen und im Nachvollzug grundlegender Vorstellungen Bolívars (zum Beispiel über lateinamerikanische Integration); im Kern durch die Verweigerung des Kompromisses zwischen Chávez und den alten Eliten sowie Übernahme der Extraktionsmaschine (heute Öl). Solange irgendwie eine Realität anerkannt wird, muss jedes neue Programm aber mit den „alten“ Menschen und den vorher geschaffenen bürokratischen Strukturen Michael Zeuske/Venezuela Seite 5 13.05.2016 (sowie den sozio-strukturellen Strukturen) umgehen, in dem Sinne, dass die Mehrheit der Venezolaner im Wahlalter ihre Sozialisierung im „alten System“ erfahren hat und die Apparate nicht eben sehr effizient arbeiten und nach Jahrzehnten der Korruption wohl auch noch ziemlich korrupt sind. Die „Freiheit“ der Medien schafft zudem andauernd Gespenster. Seit Ende 2004 hat sich die Lage etwas beruhigt. Aber das Land bleibt tief polarisiert, etwa 60% der Bevölkerung sind bedingungslose „Chavistas“ und ca. 40% sind ebenso bedingungslos „Anti-Chavistas“, ohne dass es wirklich eine Opposition (und schon gar keinen Oppositionsführer oder ein Programm) gäbe. Opposition bedeutet in Venezuela heute: gegen Chávez sein. Das ist ein bisschen wenig. Es gibt viel Unmut und zwischen den beiden Gruppen existieren keine gemeinsame Erinnerung, kaum eine gemeinsame Geschichte und fast keine gemeinsame Sprache. Gemeinsame Territorien gibt es schon gar nicht, da auch die Städte, vor allem Caracas nach der politischen Geographie von Chavistas und Antichavistas segmentiert sind.Die Unentschiedenheit der Situation und die fast vollständige Freiheit aller Medien und der Meinungen führen dazu, dass überall Gespenster beschworen werden. Auf Seiten der Chavistas ist außer Sozialprogrammen, Rhetorik und der Wiederherstellung der Kontrolle des Staates über einige Staatsfirmen noch nicht viel passiert – aber Venezuela hat schon den Versuch einer Konterrevolution vor der Revolution erlebt.Nach knapp einem Dutzend Wahlen, einem Putsch, einem Absetzungsreferendum und einem Generalstreik in sieben Jahren, die Chávez alle gewonnen beziehungsweise überstanden hat, dürfte sich die neue Macht an der Spitze des Staates etabliert haben. Innerhalb der beiden Lager, vielleicht eher sogar noch im Lager der Chavistas, finden sehr kleinflächige Prozesse sozialer Organisation statt, die sich bisher allen Parteien verweigern, zum Teil auch dem Patriarchalismus der Regierung (und des Regierungschefs). Das ist das Ambiente großer historischer Wandlungsprozesse; für Antiglobalisierer (das sind Menschen, die gegen eine nahezu ausschließliche Globalisierung von Michael Zeuske/Venezuela Seite 6 13.05.2016 Kapital, Technologien und Dienstleistungen, manchmal aber für eine Globalisierung der Menschen sind) und ein Teil der traditionellen Linken ist Venezuela die Option für die Zukunft. Der historische Raum Venezuela und die Nation mit dem Vornamen Venezuela haben allerdings mit exotischen Sehnsuchtsprojekten europäischer Linker wenig zu tun.3 Folgerichtig zeichnen sich alle jetzt schnell geschriebenen Arbeiten neben vielen Positiva vor allem durch ein Manko aus, das man an einem Detail fest machen kann – keines der Bücher und Pamphlete greift auf eine Karte Venezuelas zurück – die Utopie hat also, wie immer, keinen richtigen Ort. Im Venezuela des Hugo Chávez sind es vor allem Arme, Marginalisierte, Bewohner von Barrios, arme Campesinos, Soldaten, junge Menschen ohne Arbeit und im Allgemeinen Unterschichten ohne Kenntnisse internationaler Szenerien, die den proceso („Prozeß“ als Synonym für die von Chávez gepredigte Veränderung des Gesellschaft) unterstützen. Im Lande sind durch neue Geschäfte mit den Sozialprogrammen neue mittelständische Gruppen und Managertypen entstanden, die die Zukunft in einem rhetorisch linken, aber marktwirtschaftlichen, Venezuela sehen. Nicht einmal internationale Banken, IWF und im Grunde auch die USA (trotz gelegentlichen Säbelrasselns von Bush Jr.) können wirklich etwas gegen die „Fünfte Republik“ Venezuelas (seit 2000 eine „Bolivarianische Republik“, im Gegensatz zur „Vierten Republik“ bis 2000) haben, denn Chávez hält alle Verpflichtungen peinlich genau ein. Das größte innere Problem besteht wohl, wegen der Polarisierung, im Staatszerfall, dem normalen Chaos und Konsumismus sowie sich ausbreitender Kriminalität. Diese Probleme könnten wirklich dazu führen, dass ein bis jetzt vor allem rhetorisch radikaler Präsident wirklich die Macht mit allen Mitteln einer populistischen Diktatur übernehmen muss. Meschkat, Klaus, “Wie halten wir es mit Hugo Chávez?“, in: Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, ed. Gabbert, Karin et al., Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005, S. 62-73 (=Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte 29). 3 Michael Zeuske/Venezuela Seite 7 13.05.2016 Große Wandlungsprozesse verlangen nach historischen Erklärungen. Beginnen muss eine solche Erklärung mit der Feststellung, dass Venezuela schon immer Peripherie war und immer unterschätzt worden ist. Bis 1870 bestand „Venezuela“ im Wesentlichen aus sieben bis acht atlantischen Dependancen, genannt Städte, an den Küsten riesiger kontinentaler Hinterländer. Die lokalen Eliten dieser Städte kämpften mit Eliten des atlantischen Raumes um die Vorherrschaft über die Möglichkeit, die Naturressourcen der Küstentäler, Savannen, Urwälder und Flussregionen auszubeuten. 1498 bei der „Entdeckung“ durch Kolumbus, wurde die „Tierra Firme“ (Festland im Gegensatz zu den Insel, die die Spanier bis dahin besetzten) zunächst mit dem „irdischen Paradies“ verwechselt, weil der Genuese den großen Fluss an der Paria-Küste (Orinoco) für einen der Flüsse Edens hielt. Dann fanden sich Perlenbänke in der Nähe der Isla Margarita (heute sozusagen das „Mallorca“ Venezuelas) und die Küste in der Nähe des heutigen Maracaibo wurde wegen der Pfahlbauten der Indios4 „kleine Venezia“ (veneciuela) genannt. Die Indios, die man auf den karibischen Inseln als Sklaven zum Goldgraben oder als Perlentaucher brauchte, wurden zu Tausenden aus ihren Dörfern von Küsten, Flussufern und Inseln des heutigen Venezuelas verschleppt. Damit bildeten sich Grundstrukturen, die Venezuela in der Kolonialzeit (1498-1821), im 19. Jahrhundert und im Grunde bis zur Diktatur von Juan Vicente Gómez Chacón (1908-1935) prägten. Die Unabhängigkeitskriege 1811-1826 und der kontinentale Protagonismus der liberalen Unabhängigkeitskämpfer um Simón Bolívar konnte diese Strukturen nicht aufbrechen. Venezuelas Eliten wandten sich gegen Bolívar; das Land versank, von kurzen Aufschwungphasen abgesehen, zwischen 1830 und 1936 in Caudillokriegen, Rebellionen und Diktaturen – so als wolle es Hegels Diktum „Indio“ (Inder) geht auf den Glauben Kolumbus’ zurück, in Indien gelandet zu sein: Indio und Indianer ist also ein generischer kolonialer Begriff, der heute als Schimpfwort für bäuerliche Bevölkerungen empfunden wird. Politisch korrekter (aber genauso konstruiert) wird heute eher indígena (Eingeborener) benutzt. Ich benutze aus Sprachökonomie, weil es im Deutschen noch üblich ist und weil kein anderer genereller und generischer Begriff zur Verfügung steht, Indio, Indianer und Indígena. 4 Michael Zeuske/Venezuela Seite 8 13.05.2016 von den Sternbildern der Anarchie in Lateinamerika in besonders knalligen Farben verbildlichen. Seit 1921 wurde Venezuela zu einem der weltweit wichtigsten Erdölexporteure; seit 1959 wurde es im Grunde als „Modell“ gegen Kuba ausgebaut, trotz oder gerade weil sich beide Länder sehr ähneln und die Bevölkerungen ihre Länder für karibische Schwestern halten. Venezuela besteht aus einem relativ schmalen tropischen Küstenstreifen im Norden, hinter dem Andenkordilleren die Täler zwischen Caracas und Valencia sowie die Orinokoebenen wie eine Festung gegen die Karibik abgrenzen. Das Land verfügt über einen der größten Süsswasserseen der Welt und wird durch mehr als 1000 Flüsse entwässert, darunter dem Apure, dem Caroní und dem Orinoko. Der Orinoko wiederum bildet die Grenze zu den Guayanas, einer Wasser-Urwald-Welt, ein eigenständiges Territorium, das die Orinoquía mit der Amazonía verbindet [ Übersichtskarte5]. An den Küstenstreifen und in den Küstentälern entstand seit dem 16. Jahrhundert eine Kolonialgesellschaft aus 6-8 größeren Städten, die im Grunde unverbunden an den Ufern des karibischen Meeres aufgereiht waren. Die in Nord-Südrichtung schwer passierbaren Anden sicherten mit drei bis vier Städten in Ost-Westtälern die Verbindung in das Vizekönigreich Neu Granada (Nuevo Reino de Granada, heute etwa Kolumbien), dessen koloniales Zentrum Bogotá rund 1000 km von Caracas entfernt liegt. Der Einfluss der Vizekönige in den Provinzen des heutigen Venezuela war dementsprechend sehr gering. 1777 wurde eine Generalkapitanie zum Schutz gegen Engländer und karibische Piratenüberfälle in Caracas gegründet. Sie sollte zum historischen Schwerkraftzentrum der Entwicklung des Landes werden, obwohl die nebeneinander an den karibischen Küsten entstandenen Provinzen Maracaibo, Coro und Cumaná sowie das Hinterland der Llanos und Guayana immer ein beträchtliches Eigenleben führten. Caracas stand dabei immer in Konkurrenz gegen das Handelszentrum Maracaibo im Westen und Cumaná im Osten. Die 5 Rubio Recio, José Manuel, El Orinoco y los llanos, Madrid: Ediciones Anaya, 1988 (Biblioteca Iberoamericana), S. 14-15. Michael Zeuske/Venezuela Seite 9 13.05.2016 Eliten des Landes kämpften zwischen 1850 und 1870 unter den Fahnenworten „Zentralismus versus Förderalismus“ in blutigen Caudillokriegen quasi um die Kontrolle des Zentrums Caracas (oder die Separation eines der großen Zentren, wie Maracaibo), das zum bürokratischen Schnittpunkt zwischen interner Monopolproduktion (Kakao, Häute, Vieh, Fleisch, Kaffee oder – später Erdöl) geworden war. Zwischen 1880 und 1902 drohte Venezuela zu einem „Kongo Deutschlands“ zu werden. Eine diktatorische Einigung des Landes kam durch die Repression der Elitenkonflikte unter Cipriano Castro und Juan Vicente Gómez zustande – das Land versank für knapp vierzig Jahre in Friedhofsruhe. Hinter den Küsten und den Anden liegt die Flusswelt des Orinoco, inmitten einer der paradigmatischen Grassebenen Amerikas (wie Prärien und Pampas), den Llanos – von Alexander von Humboldt in seinem Essai historique über die Äquinoktialgegenden der Neuen Welt verewigt (unter anderem auch in dem paradigmatischen Artikel „Über Steppen und Wüsten“, der beweist, dass Humboldt eigentlich schon wie im Computerzeitalter mit Haupttext, Links und Hyperlinks gearbeitet hat; 16 Seiten Haupttext und 112 Seiten Anmerkungen).6 Seit Humboldt waren Venezuela, Deutschland, die Schweiz und Österreich in der Globalisierungsdebatte verbunden. In den Llanos sammelten sich seit der Conquista gigantische Herden von wilden Rindern, Maultieren und Pferden. Aus geflüchteten Indio-Völkern, geflohenen Sklaven und iberischen Abenteurern oder Verbrechern entstand hier eine koloniale Frontier-Gesellschaft der mestizisierten Llaneros (Bewohner der Llanos), die immer in starken Spannungen zum kolonialen Norden stand (Chávez stammt aus den Llanos und ist Mestize). Südlich hinter dem Orinoco beginnt das Urwald- und Bergland Guayanas, voller Indígenavölker, Bodenschätze, Savannen und gigantischer Berge (Tepuis) sowie großer Ströme und kleiner Flüsse. Ein Randgebiet der Amazonía, in dem nicht nur die Yanomamis leben. Da weder Spanien noch 6 Humboldt, Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des Autors, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), S. 13-168. Michael Zeuske/Venezuela Seite 10 13.05.2016 Portugal dieses Territorium zwischen Amazonas- und Orinocomündungen je kontrollieren konnten, hielt sich mit englischer, portugiesisch-brasilianischer und niederländischer Hilfe (und Waffen) bis in das 18. Jahrhundert im Osten ein Reich der Kariben-Indianer (Caribana). Die Kariben gingen Allianzen mit anderen Kolonialmächten ein, woraus sich bis um 1700 die fünf Guayanas Venezuelas, Englands, Hollands, Frankreichs und Brasiliens bildeten7 – und aus der Cimarrón-Grenze später die heute noch umstrittene Reklamationszone Venezuelas. Bis weit in das 18. Jahrhundert „exportierte“ der Osten Venezuelas Sklaven für Surinam und die Antillen. Im westlichsten Guayana, einem zwischen England (Guiana) und Venezuela umstrittenen Gebiet, wurde im 19. Jahrhundert im Essequibogebiet Gold gefunden, bestätigt von den Forschungen Robert Herrmann Schomburgks (Freyburg 1804-1865).8 Es kam zu einer neuen Runde von Territorialstreitigkeiten, die im Grunde bis heute anhalten. Die Konflikte, die aus diesen Strukturen und Interessenlagen ergaben, prägten die Kolonialzeit, wobei wichtig ist, dass die Eliten der peripheren Provinzen Venezuelas auf Grundlage indianischer Erfahrungen eine eigene Monopolexportwirtschaft, die des Kakaos, schufen, die vom Schmuggel in die Karibik und nach Mexiko lebte und von der Krone erst durch regelrechte Wirtschaftskriege und königliche Monopolgesellschaften zwischen 1730 und 1750 unter Kontrolle gebracht werden konnte. Seit dem existierte unter den Eliten Venezuelas ein sehr starkes antizentralistisches Bewusstsein. Aber seitdem existiert auch die Hispanic extractive engine (grob: die hispanische Extraktionsmaschine, John V. Lombardi) in Venezuela, die auf billiger 7 Williamson, James A. English colonies in Guiana and on the Amazon (1604-1668), Oxford: Clarendon Press, 1923; Goslinga, Cornelis Ch., The Dutch in the Caribbean and on the Wild Coast (1580-1680), Gainesville: University of Florida Press, 1971; Goslinga, The Dutch in the Caribbean and in the Guianas, 1680-1791, Assen: Van Gorcum, 1985; Goslinga, The Dutch in the Caribbean and in Surinam, 1791/5-1942, Assen: Van Gorcum, 1990; zusammengefasst für das Amazonasgebiet in: Chambouleyron, Rafael, “Plantações, sesmarias e vilas. Uma reflexão sobre a ocupação da Amazônia seiscentista”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 6 - 2006, mis en ligne le 14 mai 2006 (18. Oktober 2006), unter: http://nuevomundo.revues.org/document2260.html. 8 Robert Hermann Schomburgk’s Reisen in Guiana und am Orinoko während der Jahre 1835-1839. Nach seinen Berichten und Mittheilungen an die geographische Gesellschaft in London herausgegeben von O.A. Schomburgk. Mit einem Vorwort von Alexander von Humboldt und dessen Abhandlung über einige wichtige astronomische Positionen Guiana’s, Leipzig: Verlag von G. Wigand, 1841; Williams, Eric, „The Historical Background of British Guiana’s Problems“, in: The Journal of Negro History Vol. 30:4 (October 1945), S. 357-381. Michael Zeuske/Venezuela Seite 11 13.05.2016 Produktion im Innern und Export eines Monopolproduktes sowie Export- und Importabgaben (Renten) beruht, aus der sich die Eliten (vor allem die Staatseliten und Kaufleuteeliten) bedienen und - wenn die Geschäfte gut laufen unter politischen Druck etwas an die breitere Gesellschaft abgeben. Aus der kolonialen Logik der Extraktionsmaschine entwickelte sich - das ebenso koloniale - Bewusstsein, dass „die Natur“ in Venezuela Reichtum produziere, der Wohlstand für alle ohne große Anstrengungen schaffen könne, wenn nur der „richtige“ Anführer die „richtige“ Verteilung bewerkstelligte. Bewusstsein John V. Lombardi, einer profundesten Kenner Venezuelas und der venezolanischen Geschichte, hält diese Extraktionsmaschine (Kakao, Kaffee, Häute, Trockenfleisch, später auch Medizinalpflanzen, Gold und Öl) für den wichtigsten lang wirkenden und strukturellen Zwang (constraint) unter all den Zwängen, die Wechsel und Fortschritt in Venezuela begrenzen.9 Die Küsteneliten suchten neue Gewinnmöglichkeiten und fanden sie im Export (meist als Schmuggel) von Tabak, Vieh, Talg, Häuten und Fleisch. Allerdings brachte sie die wirtschaftliche Expansion nach Süden in schwere Konflikte mit den freien Llaneros, die auch die riesigen Viehherden als „frei“ betrachteten und ihre Subsistenz mit ihnen verbanden, während die Eliten sie durch Markierung (marca, hierra) und Rodeos in Privateigentum umzuwandeln versuchte. Küsteneliten und Llaneros führten im Grunde einen mehr als 100jährigen Krieg (1760-1900), der sich einpasst in eine gigantische „Chronik der angekündigten Gewalt“. Einer der Höhepunkte dieses Konflikts, zugleich ein antikolonialer Krieg der Eliten gegen das spanische Offiziere und loyale Kreolen, war der Unabhängigkeitskrieg gegen das spanische Imperium (18111821). Im Laufe dieses Krieges gelang es dem Angehörigen der kreolischen Kolonialelite, Simón Bolívar (1783-1830) durch Charisma und Geschick, einen Teil der Llaneros unter José Antonio Páez auf die Seite der „Patrioten“ zu ziehen, die es sich zum Programm gemacht hatten, in Venezuela einen Lombardi, John V., „Prologue: Venezuela’s Permanent Dilemma“, in: Ellner; Hellinger (eds.), Venezuelan Politics …, S. 1-6. 9 Michael Zeuske/Venezuela Seite 12 13.05.2016 eigenständigen Staat nach den Maßgaben der Moderne zu gründen. Ein anderer Angehöriger der Elite von Caracas, Francisco de Miranda (1750-1816), versuchte sein Glück als Offizier in Spanien und Europa. Er floh von dort wegen Anklagen der Inquisition und reiste von 1783 bis 1789 durch den gesamten damaligen „Westen“ (USA, England, Frankreich, Holland, Heiliges Römisches Reich, Schweiz, Italien, Griechenland, Konstantinopel bis in das Russland Katharinas II.). Seine Tagebücher stellen im Grunde einen recht utopischen Staats-Schnittmusterbogen der aufziehenden Moderne aus der Sicht dieser kolonialen Elite dar. Mehr oder weniger parallel dazu konstruierte Alexander von Humboldt eine neue Weltsicht: vor allem am Beispiel Venezuelas, aber auch Mexikos und Kubas entwickelte er nach seiner Amerika-Reise (17991804) eine neues Bild Amerikas für Europa.10 Ab 1810 versuchte Francisco de Miranda, der „erste Kreole von Weltbedeutung“, zugleich eine Art früher Berufsrevolutionär, seine Erfahrungen als Offizier der französischen Revolutionsarmeen in Venezuela umzusetzen. Miranda fand aber nicht die Armeen, die ihm vorschwebten, sondern musste sich mit Elite-Kolonialmilizen, aufständischen Sklaven und wilden Llanero-Reitern herumschlagen. Sein Konzept einer „französischen Revolution“ in Venezuela scheiterte grandios.11 Erst die amerikanischen Utopien eines Simón Bolívar brachten urbane Kreolen, freie Farbige, Indiobauern und ehemalige Sklaven auf die Seite der Patrioten; einige von ihnen waren sogar bereit, sich als „Kolumbianer“ zu fühlen. Von 1821 bis 1830 gehörten die Provinzen Venezuelas zu einem aus den Utopien Bolívars und seiner engsten Vertrauten geborenen Großstaat an – Kolumbien Paradigmatisch steht dafür Humboldts Relation historique; genau übersetzt ein „historischer Bericht“ über Venezuela, siehe: Humboldt; Bonpland, Aimé Goujaud, Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804 par A. de Humboldt et A. Bonpland, réd. par A. de Humboldt, 3 Bde., Paris: (Bd. I) Schoell, 1814 -1817; Paris: (Bd. II) Maze 1819 -1822; Paris: (Bd. III) Smith et Gide fils 1825 (in Wirklichkeit 1831); die beste deutsche Ausgabe ist: Humboldt, Reise in die ÄquinoktialGegenden des Neuen Kontinents, ed. Ottmar Ette, 2 Bde., Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 1991 (2. Auflage 1999). Noch viel spannender als die publizierten Schriften sind die Reisetagebücher Humboldts. Das Tagebuch über den Aufenthalt in Venezuela ist: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12). 11 Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas. Eine Biographie, Hamburg/Münster: LIT Verlag 1995; Zeuske, Francisco de Miranda y la modernidad en América, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Secretaría de Cooperación Iberoaméricana, 2004 (Viejos documentos, Nuevas lecturas; Velhos Documentos, Novas Leituras). 10 Michael Zeuske/Venezuela Seite 13 13.05.2016 (Colombia), das unter Historikern, um es vom heutigen Kolumbien (das damals el Nuevo Reino de Granada hieß) zu unterscheiden, „Groß“-Kolumbien (la gran Colombia) genannt wird. Aus diesen Ereignisse und ihrer Mythologisierung speisst sich bis heute Glaube venezolanischen Eliten an den Exzeptionalismus ihrer eigenen Kultur und an der Möglichkeit, einen Staat nach europäischem Vorbild in Amerika zu schaffen. Erst 1830 gelang es den Resten der konservativen Elite von Caracas (und einigen Mitkämpfern Bolívars), ihr altes Einflussgebiet, jetzt als „Republik Venezuela“ vom „Groß“-Kolumbien Bolívars abzuspalten. Dieser Verrat der Oligarchien am Befreier (Libertador) Bolívar ist heute noch Teil des Bolívarmythos, wenn Chávez seine Übergriffe auf die alten politischen Klassen mit dem Kampf gegen die „Oligarcas“ legitimiert. Die politischen Führer der zukünftigen „Vierten Republik“ mussten sich dazu des Anführes der Llanero-Truppen, José Antonio Páez, bedienen, der von 1830 bis 1848 Präsident und starker Mann einer oligarchischen Republik war, einem Staat, der vorwiegend aus autonomen Inseln der Herrschaft von Caudillos und Hacendados (Großgrundbesitzer) bestand. Die hispanische Extraktionsmaschine (jetzt mit Kaffee und Vieh im Zentrum) wurde wieder hergestellt, zunächst unter Bewahrung der Sklaverei und unter Abweisung jedes Versuchs einer Agrarreform. Eine nationale Armee entstand nicht, aber fast jeder große Landbesitzer konnte eine eigene Miliz bewaffnen und wurde damit zum Akteur der Politik. Von 1858 bis 1870 brach diese Ansammlung von inselartigen Städten mit Hinterländern, die Provinzen hiessen, mit einer eurokreolischen Staatsutopie im Zentrum unter eben der Last dieser Utopie, aber auch unter handfesten Landkonflikten, Auslandsverschuldung, Monowirtschaften, sozialen Problemen der mehrheitlich ruralen Bevölkerung, Elitenkonflikten (Föderalisten-Zentralisten oder „Blaue gegen Gelbe“, von Friedrich Gerstäcker literarisch verarbeitet12) um die Kontrolle des Zentrums Caracas in mehreren kleinen Kriegen und einem großen Konflikt (guerra larga =Föderationskrieg 12 Gerstäcker, Friedrich, Die Blauen und die Gelben. Venezolanisches Charakterbild aus der letzten Revolution von 1868, Jena: Hermann Costenoble, 1870. Michael Zeuske/Venezuela Seite 14 13.05.2016 1859-1863) fast zusammen. Erst einem föderalen Politiker, Antonio Guzmán Blanco, gelang durch die Besetzung des Zentrums, bei gleichzeitiger Beibehaltung des föderalen Diskurses und einer über Schulden (vor allem bei Deutschland) finanzierten Modernisierung vor allem durch Eisenbahnbau, der Beginn einer neuen Etappe. Um die Jahrhundertwende allerdings erschütterten wieder Bürgerkriege und Konflikte um ausländische Interventionen (u.a. das Deutsche Reich zusammen mit Großbritannien und Italien, 1902) das Land – nicht zuletzt hervorgerufen durch die massive Auslandsverschuldung (oft bei deutschen Firmen) aufgrund des Eisenbahnbaus. So wurde eine bäuerliche Diktatur, die einer der vielen Caudillos 1908 etablierte (und damit die alten Strukturen wieder stabilisierte), zunächst von fast allen als Ende der blutigen Bürgerkriege gefeiert. Laureano Vallenilla Lanz sen. (Barcelona, 11. Oktober 1870 – Paris, 16. November 1936), einer der großen Soziologen und Historiker Lateinamerikas, entwickelte sogar die Theorien eines „demokratischen Caesarentums“ (cesarimo democrático) und des „notwendigen Gendarmen“ wegen der Schwäche der demokratischen Institutitonen in Venezuela.13 Unter Juan Vicente Gómez, weniger Charismatiker und mehr Militär, aber auch Militär, wie heute Chávez (für den die Jahre 1908-1935 zu den erfolgreicheren Jahren Venezuelas zählen), wurde Venezuela der wichtigste Erdölexporteur der Welt, zahlte all seine Schulden zurück und erhielt eine moderne Infrastruktur – allerdings nur in der Küstenzone und in den Andengebieten. Die Extraktionsmaschine warf in guten Zeiten soviel Rente ab, dass die Gesellschaft dauerhaft auf einen Modernisierungspfad einzuschwenken schien. Die Frage war bis 1958 nur (und ab 1998 wieder) – sollen Militärs den Staat beherrschen oder konnte Venezuela aus den Geldern der Extraktionsmaschine auch eine moderne politische Kultur sowie Institutionen (und die dazu gehörigen Bildungseinrichtungen) entwickeln und finanzieren. Gigantische Großprojekte wurden konzipiert und zum Teil gebaut: größtes 13 Valenilla Lanz, Laureano. Cesarismo democrático y otros textos; prólogo, notas, cronología y bibliografía de Nikita Harwich Vallenilla, Caracas, Venezuela : Biblioteca Ayachucho, 1991. Michael Zeuske/Venezuela Seite 15 13.05.2016 Wasserkaftwerk (Gurí), längste frei tragende Brücke (Brücke über den Maracaibosee), höchste Seilbahn (Mérida), höchstes und modernstes Hotel (Hotel Humboldt auf dem Monte Ávila), größte bewohnte Hochhäuser (Residencia Hilton an der Plaza Venezuela), größte Aluhütte, etc. Diese Megalomanie war aber nicht nur Ausdruck des „Venezuela-única“-Denkens, sondern auch ein Resultat der weit verbreiteten Korruption. Wenn schon keine flächendeckenden wirklichen Sozialprogramme, etwa im Wohnungsbau, umgesetzt wurden weil die Mittel versickerten, musste wenigstens ein mit Pomp eingeweihtes Prestigeobjekt als Beweis dafür her, dass die Mittel für „das Modernste“ ausgegeben worden seien. Eine Mittelklasse entstand, Tochter der Erdölrente, in der unter anderem die gesellschaftliche Utopie gepflegt wurde, Venezuela könne sich mit Erdölgeld, Schönheitskonkurrenzen und Juzpe faktisch in die Moderne der „ersten Welt“ einkaufen. Die Llanos, Guayana und Süden des Landes blieben nun zu einer Art innerer Kolonie. Dort schlummerten ungeahnte Rohstoffe und Ressourcen. Venezuela wurde wieder zu einem Einwanderungsland („achte kanarische Insel“, Korsika, Azoren, Madeira, Portugal, Italien). Zwischen 1960 und 1970 stampfte Venezuela ein mächtiges, hochorganisiertes und weitreichendes System von Massenparteien und demokratischen Wahlen aus dem Boden, dessen schneller Erfolg die starke Repression, die bei seiner Etablierung aufgewandet wurde, zumindest für äußere Beobachter weit gehend verdeckte. Das System wies kaum Parallelen in ganz Lateinamerika auf.14 Die sozialen Utopien konzentrierten sich in den Städten – auch wenn uns heute die Architektur eines Carlos R. Villanueva, etwa an der Plaza Venezuela, als Albtraum in Beton erscheinen mag. In der Extraktionsmaschine war (und ist) Korruption sozusagen eine zusätzlicher Motor. Zusammen mit neuen Entdeckungseuphorien und wirtschaftlicher Expansion zerstörten Modernisierungsutopien und korrupte Eliten endgültig die selbsttragende Landwirtschaft sowie nach und nach auch die sozialen 14 3. Levine, Daniel H., Conflict and Political Change in Venezuela, New Jersey: Princeton University Press, 1973, S. Michael Zeuske/Venezuela Seite 16 13.05.2016 Errungenschaften des Landes. Die Eliten machten seit 1978 Politik nach dem Motto „Augen zu und durch“, denn eine Reihe neuer Bodenschätze (Aluminium, Stahl, weitere Erdölfelder) zeigten, dass unter der Oberfläche des Landes noch gigantische Reichtümer für die Ausweitung der Extraktionsmaschine schlummerten – der Bolívar, die Landeswährung, schien stabil. Er wurde aber wegen des Ressourcenreichtums (und der Spekulationen darüber) im Ausland immer überbewertet. Venezuela gelang es aber außer im Erdöl- und Ressourcenextraktionsbereich nicht, eine eigene industrielle Basis aufzubauen. Die Strukturen der alten Extraktionsmaschine waren zu stark. Mit dem Versprechen der Beteiligung an den Gewinnen der ausländischen Erölfirmen (vor allem Shell und Rockefeller) kam eine Art sozialdemokratischer Bewegung unter Rómulo Gallegos (Caracas, 02. August 1884 – 07. April 1969) und Rómulo Betancourt (Guatire, 22. Februar 1908 – 28. September 1981, New York) 1945 gegen die Generalsnachfolger von Juan Vicente Gómez zur Macht – durch einen Militärputsch linker Offiziere. Einem dieser Offiziere, Marcos Pérez Jiménez, gelang es in alter Caudillomanier, 1952 die ganze Macht an sich zu reißen und eine neuerliche Modernisierungsdiktatur zu etablieren. Als er im Februar 1958 gestürzt worden war, schlossen die wichtigsten Parteien (vor allem die eher sozialdemokratische AD – Acción Democrática – und die christdemokratische COPEI sowie eine kleinere Partei URD – Unión Republicana-Democrática) den sogenannten Pakt von Puntofijo. Die unterzeichnenden Parteien verpflichteten sich, den demokratischen Wahlprozess (und vor allem seine Ergebnisse) zu respektieren, Kommunisten sowie linke Sozis auszuschliessen und keine „hegemonische“ Position einzunehmen (das bedeutet vor allem: nicht die eigenen Mitglieder und Anhänger zu – eventuell bewaffneten – Protesten gegen die Ergebnisse einer Wahl aufzurufen). Nach und nach entwickelte sich aus dem unpublizierten Pakt ein informelles Regierungssystem der „nationalen Einheit“ – es wurden auch andere soziale und institutionelle Akteure, wie die Unternehmer (Fedecámaras, gegründet 1944), die Arbeiter Michael Zeuske/Venezuela Seite 17 13.05.2016 (Confederación de los Trabajadores Venezolanos, CTV, 1935), die Streitkräfte und die Kirche einbezogen. Eine wirkliche Opposition allerdings gab es nie. Das war die Grundlage für die „Demokratie“ in Venezuela, die sich vor allem auf Basis der Rohstoffe und der 1975 verstaatlichten Erdölwirtschaft, sprich den modernen und zwischen 1970 und 1980 modernisierten Formen der Extraktionsmaschine, ständigen Geldsegens erfreute. Anfangs der fünfziger Jahre, als Hugo Chávez geboren wurde, hatte Venezuela etwa 5 Millionen Einwohner; 1964 lag die Zahl der Einwohner bei 7 Millionen und 8 Milliarden Dollar Einnahmen aus Erdölexporten – die Modernisierung der Betonburgen und Wolkenkratzer, Autos und Autobahnen, Bettenburgen und Maximärkte verwandelte die großen Städte – und machte sie immer mehr zum Ziel der inneren (Bauern) und äußeren Migration (vor allem aus Kolumbien, Brasilien, atlantische Inseln und aus der Karibik). Die Bevölkerung des Landes verdrei- bis vervierfachte sich von 1960 bis 2000 (heute etwa 28 Millionen, davon ca. 10% inoffizielle Immigranten vor allem aus Kolumbien). Zwischen 1959 und 1983 versuchte sich Venezuela mit Erdölgeldern Modernität und Demokratie quasi zu kaufen. Trotz oder gerade wegen des Reichtums wuchsen die Barrios (Elendsviertel) in den Großstädten, die in einzelne schwerbewachte urbanizaciones der Wohlhabenderen und riesige Barrios der Armen zerfielen (so entstand und wächst bis heute der Albtraum der gated communities). Die venezolanischen Eliten kauften mit dem starken Bolívar im Ausland, nicht nur Luxusgüter und Immobilien, sondern auch Bildung und Gesundheit (sowie im Innern Vertreter für den Armeedienst ihrer Söhne), so dass die gespaltete Gesellschaft der „zwei Venezuelas“ niemals abgeschafft wurde (das Bildungssystem für die Unterschichten war katastrophal), sondern sich unter der Decke von „Demokratie“ und „Wirtschaftsboom“ eigentlich erst richtig ausbreitete und ein „drittes und viertes Venezuela“ – das der afrovenezolanischen Landbevölkerung und der Mestizenbauern so weit verdeckte, dass nur noch wenige Anthropologen und Ethnographen es überhaupt zur Kenntnis nahmen. Rassismus galt als abgeschafft; in Wirklichkeit florierte die Exklusion umso Michael Zeuske/Venezuela Seite 18 13.05.2016 besser.15 Ähnliches gilt für das „fünfte“ Venezuela der Indígenavölker und – stämme. Daneben existiert ein mythisches Venezuela der Llanos und der Llaneros, die ähnlich wie Gauchos oder Cowboys in den Plains Nordamerikas Basis der Nationallegende des Rebellen wurde – das kann jeder nachvollziehen, wenn er sich fragt, warum Präsident Chávez bei vielen Auftritten singt. In Abwandlung eines großen Wortes könnte man – wenn man von der modischen Kulturalisierung ethnischer Unterschiede einmal absieht – sagen: das „unterentwickelte“ Land Lateinamerikas zeigt dem entwickelten Land Europas die Zukunft in der Globalisierung. Zwischen 1958 und 1988 wechselten sich die beiden großen Parteien COPEI und AD an der Macht ab. Dieses System und die hohen Staatseinnahmen brachten eine nach außen relativ stabiles, aber im Innern tief zerfressenes System der institutionalisierten Korruption, des Personalismus und des Wahlpopulismus hervor, in dem man versuchte, alles mit Geld zu regeln - auch Produktionsfragen und politische Probleme. Ein neuer Akt des alte Dramas der venezolanischen Geschichte begann: die Eliten waren kosmopolitisch und fühlten sich den Eliten des Nordens zugehörig und zum Teil weit überlegen; außerhalb der großen Städte im Innern ihres Landes aber herrschten Chaos, Ignoranz, Regionalismus, Gewalt und bitterste Armut – keinerlei Grundkonsens (ein völlig überdrehter positivistischer Nationalismus und eine ebenso überdrehter Bolívarkult sollten diesen Konsens ersetzen). Dabei blieben nachhaltige Entwicklungen ausgespart, weder wurde ein einheitliches nationales Bildungswesen geschaffen, noch eine starke mittelständische oder gar industrielle Basis, die das Geld im Lande halten konnte – im Gegenteil, die Staats-und Wirtschaftseliten nahmen gigantische Schulden auf zukünftige Gewinne des Erdölexports auf und reichten einen Teil der Gelder als Kredite an Dritte weiter - um international als Kreditgeber zu glänzen. Für die Bevölkerung wurde im Umfeld des Bildungswesen auf sehr niedrigem 15 Pollak-Eltz, Angelina, La familia negra en Venezuela, Caracas: Monte Ávila, 1976; Chacón, Alfredo, Poblaciones y culturas negras en Venezuela, Caracas: Instituto Autónomo Biblioteca Nacional de Venezuela, 1983; Montañez, Ligia, El racismo oculto en una sociedad no racista, Caracas: Fondo Editorial Tropykos, 1993. Michael Zeuske/Venezuela Seite 19 13.05.2016 Niveau eine Art Ersatzreligion geschaffen – der Bolívarkult (der sich fast unauflöslich mit einer Art venezolanischer Santería verwoben hat – dem María Lionza-Kult: eine arme Indianerin mit magischen Käften ist die Himmelskönigin María, zu ihrem „Hof“ gehören eine ganze Reihe von „Heiligen“, u.a. ein stark mestizisierter General Bolívar, all dies findet sich in auf Altären in vielen Privathäusern; institutionalisierte Kirche ist eine Angelegenheit des weißen Oberschichten, seit 1980 verbreitet sich der María-Lionza-Kult allerdings auch unter den Oberschichten16). Dazu kamen zwei Besonderheiten der politischen Kultur Venezuelas – die Armee wird seit den Tagen des Unabhängigkeitskrieges von Unterschichten vor allem von farbigen Llaneros und Afromestizen gestellt. In den fünfziger Jahren sowie 1962-1969 wurde zusätzlich eine Reihe von linken Guerillaführern (die nach kubanischen Vorbild und mit kubanischer Unterstützung die karibische Schwesternation zur Revolution führen wollten) in das Offizierskorps aufgenommen. In der Führung der Streitkräfte hielt sich immer eine linke, zum Teil populistische, zum Teil orthodox marxistische Gruppierung von erheblichem Einfluss (vor allem im Heer). Die Utopien dieser Gruppe verbinden sich mit einem eschatologischen Glauben unter einfachen Venezolanern, dass das Land so reich sei, dass alle Menschen ohne viel Arbeit in Wohlstand leben könnten und dass dieser Wohlstand für alle seit dem Verrat der venezolanischen Oligarchien an Simón Bolívar immer nur von den Oberschichten oder den Aufsteigern aus den Reihen der Caudillos verhindert worden sei. Alle traditionellen Parteien und alle Politiker in Venezuela galten spätestens 1985 als vollständig korrupt. In der repräsentativen Demokratie repräsentierten die die Spitzenpolitiker schließlich niemanden mehr – außer sich selbst. Das erlaubte es Chávez, nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis 1994 in einem 16 Pollak-Eltz, María Lionza: mito y culto venezolano, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1985; PollakEltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, in: Anales del Caribe: Centro de Estudios del Caribe 19-20, La Habana (1999-2000), S. 187-191; Antolínez, Gilberto, Los ciclos de los dioses, San Felipe: Ediciones La Oruga Luminosa, 1995; Bracho, Edmundo, María Lionza en Venezuela, Caracas: Fundación Bigott, 2004. Michael Zeuske/Venezuela Seite 20 13.05.2016 Antiparteienwahlkampf 1998 haushoch zu gewinnen. Dabei wurde er von den Medien, die normalerweise in vielen Kanälen Casting-Shows für Schönheitskonkurrenzen zeigen oder Ratesendungen für Unterschichten in seinem postlateinischen Charisma unterstützt. Es heißt, dass Chávez der erste hohe Politiker in Venezuela ist, dem, wenn es in den Spiegel schaut, der „normale“ Venezolaner einer transrassialen Mischung aus Indio, Schwarzem und Spanier entgegenschaut. Obwohl vorliegendes Buch den Namen einer Nation im Titel hat, werde ich natürlich nicht den Fehler machen, eine Nationalgeschichte zu schreiben. Sicherlich müssen sich auch Historiker an den politischen Vorgaben heutiger Staaten – Grenzen und Staatsbürgerschaft, Gesetze etc., politische Kultur zum Beispiel – orientieren (und ihre Entstehung und Wirkung aufzeigen), aber sie müssen sich nicht auf nationale Mythen einlassen oder die Scheuklappen des Konzepts der Nation für die wahre Geschichte halten. Insofern ist diese nicht nationale Geschichte Venezuelas auch eine karibische Geschichte (deren Einzugsgebiet von der Mosquitoküste über Panamá und die kolumbianische Costa atlántica bis zu den Guayanas und zur Amazonasmündung im heutigen Brasilien reicht, die Antillen und Bahamas eingeschlossen), eine oder mehrere atlantische Geschichten (atlantischer Sklavenhandel und europäischer Handel, Seekriege, kalter Krieg), eine andine Geschichte (bis in die Hochanden Kolumbiens), eine Geschichte von Flusswelten und Urwäldern (die Orinoquía bis hin zur Amazonaswelt) und insgesamt eine Summe südamerikanischer Geschichten eher als peripher geltender Territorien, die nicht in der Tradition so genannter „Hoch“Kulturen (Azteken, Inkas, Mayas). Die Schicksale der Menschen, die die Seiten dieses Buches bevölkern, sind Teil der Globalgeschichte und der Geschichte Lateinamerikas im Rahmen der Weltgeschichte. Eventuell erleben wir ja gerade einen neuen globalhistorischen Protagonismus dieses Landes. Das wäre eine doch ziemlich feine Ironie – nach so vielen Jahren des Versuchs der venezolanischen Eliten, sich in Weltgeschichte und Modernität einzukaufen, kommt ein Michael Zeuske/Venezuela Seite 21 13.05.2016 Oberstleutnant der Fallschirmjäger und gibt den einfachen Menschen seines Landes in ihrer eigenen Sprache Stimme und Stolz – auch auf die tiefere Geschichte Venezuelas im Rahmen einer neuen Globalgeschichte als Summe vieler Geschichten. Das wäre schon ein Resultat wirklichen weltgeschichtlichen Ranges, denn gerade die Unterschichten der Barrios, der Regionen und des flachen Landes haben die Eliten Venezuelas eigentlich nur ganz selten auf ihren Rechnungen gehabt. Menschenjagd an der Pariaküste, Kakao und Rinder – die Geschichte einer kolonialen Peripherie (1500-1750) Die Indio-Völker Venezuelas “La literatura americanista producida por los jesuítas en el siglo XVIII es sencillamente monumental [Die durch Jesuiten produzierte amerikanistische Literatur im 18. Jahrhundert ist schlicht monumental]“17 Im Gebiet des heutigen Venezuela, zwischen der langen Atlantikfassade des heutigen Südamerika und dem Fuss der Anden und ihren Hinterländern, lebten seit Jahrtausenden Menschen. Sie gaben den Landschaften, Küsten, Flüssen, Wäldern und Bergen, die heute meist als Kolonialterritorien beschrieben werden, eigene Namen, die oftmals noch in den kolonialen Landschafts- und Siedlungs- und Gewässernamen enthalten sind. Sie versahen sie auch mit ihren Symbolen.18 Missionare, vor allem Jesuiten, Kapuziner, Anthropologen, Historiker und Ethnologen versuchen mit Bezeichnungen wie Caribana, Guayana, Orinoquía und Amazonía sowie Omagua die ursprünglichen Bedeutungen der Landschaften für die Indígenas in Begriffe zu Rey, S.J., José del, “Notas biográficas”, in: Cassani, S.J., P. Joseph, Historia de la Provincia de la Compañía de Jesús del Nuevo Reyno de Granada en la América. Estudio preliminar y anotaciones al texto por Rey, S.J., Academia Nacional de la Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 85), S. IX-XCIX, hier S. XI. Zu dieser jesuitischen Literatur gehörten auch die wichtigsten Arbeiten über den Orinoko und die Indiovölker Venezuelas (Gilij, Gumilla), wie auch über die Kontinentalität Amerikas – vielen Siedlern und Conquistadoren viel es schwer, diese monumentale Kontinentalität Amerikas zu begreifen. 18 Thiemer-Sachse, Ursula; Wolf, Monika, “Die Petroglyphen von Guri, Venezuela”, in: EthnographischArchäologische Zeitschrift (EAZ) 37 (1996), S. 217-236; Thiemer-Sachse, „Petroglifos en rocas de la Cordillera de la Costa así como en los raudales de los ríos de la selva virgen venezolana. – La interpretación por Alejandro de Humboldt y observaciones actuales“, in: Humboldt im Netz (HiN): International review for Humboldtian Studies / Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien / Revista Internacional de Estudios Humboldtianos 6 (IV), S. 2-12. 17 Michael Zeuske/Venezuela Seite 22 13.05.2016 giessen, die sich an die alten Worte anlehnen.19 Ob sich auch die Bezeichnung für die Sprachgruppen, die die meisten heute auch als Kulturgruppen verstehen, an indianische Begriffe angelehnen, ist umstritten. Jedenfalls werden die meisten venezolanischen Indígena-Völker den Sprachgruppen der Arahuaca (aruacos, aruak oder arawak), Caribes (Kariben), Chibcha und Tupí-Guaraní zugeordnet [4 Karten aus Atlas 1979, Sprachgruppen]. Brian Ferguson, der Yanomami-Forscher, hat darauf hingewiesen, dass im Tal des Orinoco schon um 2100 v.u.Z. die ersten kleinen Siedlungen mit Maniocanbau entstanden. Um 800 v.u. Z. kamen Dörfer mit Maisbauern hinzu. Das Bevölkerungswachstum stabilisierte sich. An einem Nabenarm des Apure lassen sich seit 550 Anzeichen für Militär- und Herrschaftsstrukturen von Kaziken nachweisen. Am Nebenarm des Apure begegneten sich Bewohner der Llanos und Bewohner der Berge. Die Vermischung der Kulturen dauerte etwa 500 Jahre. Als die Spanier um 1530 erschienen, konnten die Kaziken der befestigten Dörfer bis zu tausend Mann starke Heere aufbieten.20 Unterscheidet man eher Kulturen auf Grund der Nahrungsmittelerzeugung und Ressourcennutzung, fanden sich zur Kontaktzeit mit Conquistadoren und Missionaren folgende große Kulturen: Die relativ junge Kultur der Guajiros und Cocinas (westliche Sammlerinnen und Wildbeuter), Fischer des Maracaibosees (vor allem Onotos und Bobures), westliche Kariben am Andenfuss, TimotoCuicas der Anden, westlichen Aruak, Ayamanes und Jirajaras, Küstenkariben (gesamtes zentrales nördliches und östliches Küstengebiet Venezuelas, einschließlich Araya- und Pariahalbinseln bis zum Pariagolf sowie Orinoko- und Guayanaregion21; die Hauptvölker und -regionen waren im área cultural „desde la península de Paria hasta las cercanías del Lago de Valencia“ .22 Diese „Kariben-Kulturzone“ teilte sich in drei Subzonen auf: die der Caracas, Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 163. Ferguson, Brian, „Prähistorische Kriege“, in: Souza, Philip de (ed.), Die Kriege des Altertums. Von Ägypten bis zum Inkareich, Leipzig: Koehler & Amelang, 2008, S. 15-27, hier S. 23. 21 Biord, Horacio, “El caso de los antiguos kari’ñas”, in: Biord, Horacio, Los aborígenes de la región centro-norte de Venezuela (1550-1600): una ponderación etnográfica de la obra de José Oviedo y Baños, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2001, S. 136-137; Biord, “Los caribes de la costa”, in: Ebd., S. 138-142. 22 Nach: Acosta Saignes, Los caribes de la costa venezolana, México: Acta Antropológica, 1946, S. 21. 19 20 Michael Zeuske/Venezuela Seite 23 13.05.2016 zwischen Chuspa und Borburata (Acosta Saignes, 1946, S. 21); die der Palenques oder Guarinos, im Osten und Süden der Tomuzas und in der Region des Río Unare (Acosta Saignes, 1946, S. 31) sowie die nordöstliche Küste, vom Río Unare bis Paria, wo verschiedene Gruppen, unter ihnen Cumanagotos und Chaimas, lebten (Acosta Saignes, 1946, S. 39); die Sammlerinnen-, Jäger- und Fischervölker der Llanos centrales sowie Llanos del Maturín, Otomacas zwischen zentralen Llanos und Orinokoknie sowie die gigantischen Mischkulturen der Guayanas [Karten].23 Als fremde Menschen vor den Küsten auftauchten, mögen die Indios über deren Tun zunächst gelächelt oder sich gewundert haben. Sie verhielten sich den Neulingen keineswegs einheitlich oder nur - wie Koloniallegenden gerne kolportieren und auch heutige Wissenschaft - archaisch-religiös. Im Gegenteil, da fast alle Indiovölker an Handel und Austausch sowie Sklavenhandel24 gewöhnt waren, nahmen die ziemlich schnell Verbindungen zu den iberischen Schiffen und Seeleuten auf. 25 Diejemigen Kaziken oder Anführer, die sich zuerst mit den fremden Menschen auf den Schiffen verbündeten, hatten zunächst durchaus Vorteile gegenüber ihren traditionellen Feinden. Auf dem Gebiet, das heute Venezuela formt, mögen etwa eine halbe Million Menschen gelebt haben. 26 Es ist auch keineswegs sicher, dass die Menschen der Gegenden „mit eigenem Namen“, die die Spanier dann NeuAndalusien oder Klein-Venedig nannten, die neuen Fremden für „Götter“ hielten. Die ersten europäischen Kapitäne und Abenteurer fanden im heutigen Venezuela eine überwiegend von Aruak und den so genannten Kariben geprägte Jiménez G., Morella A., “La población prehispánica de Venezuela”, in: Jiménez G., La esclavitud indígena en Venezuela (siglo XVI), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1986 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, Vol. 185), S. 19-68; Karten: “Áreas de producción prehispánicas” (Ebd., S. 21) und “Áreas culturales prehispánicas” (Ebd., S. 59). 24 Ebd., S. 67f. 25 Ebd., S. 19-68, hier S. 63f. 26 Caballero, Manuel, „El despoblamiento“, in: Caballero, De la „Pequeña Venecia” a la “Gran Venezuela”. Una historia de cinco siglos, Caracas, Monte Ávila Editores, 2005, S. 7-9, hier S. 7 (nach Pedro Cunill Grau). 23 Michael Zeuske/Venezuela Seite 24 13.05.2016 Kultur kleiner Stammesgruppen, Kazikenherrschaften und Völker vor.27 Das Zentrum der Karibenkultur lag in den Tälern der Caracas-, Aragua- und Valenciaregion bis hin in die heutigen Staaten Sucre sowie Monágas im Westen – eine Gegend, die auch heute noch das Zentrum des Landes bildet. Da sie alle anderen menschlichen Geschöpfe für ihre Feinde hielten, kam es seitens der Schiffe meist zu Razzien, bei denen die Besatzungen versuchten, Gefangene zu machen und diese als Sklaven zu verkaufen oder als Matrosen auszubeuten. Die Karibenkrieger überschütteten die Schiffe mit Pfeilen ihrer gefürcheten Langbögen, so dass die Spanier ihnen oft den Namen indios flecheros gaben. Nach ersten Siedlungs- und Missionierungsversuchen der Dominikaner in diesen Razzien- und Kriegsgebieten unter Las Casas bei Cumaná fegte ein großer Aufstand der Kariben zunächst die wenigen Europäer aus diesen Zentralgebieten fort, so dass dort fast nur noch wenige Sklavenjäger operierten und später vor allem im Osten Feinde der Spanier eindringen konnten (Engländer und Niederländer). Erst in einer Art Sekundärconquista ab etwa 1560 konnten Söhne von Spaniern und Indias zusammen mit Missionaren überhaupt Erfolge in der Eroberung der Zentraltäler und des Westens aufweisen. Die kriegerischen Kariben hatten eine ältere Gartenbauer-Kultur, die so genannten aruacos (Aruak) zum Teil verdrängt, zum Teil überlagert. Im Westen, in den Anden, existierte die Chibcha-Bauernkultur der Timotocuicas. In den trockenern Gebieten der Kordillerentäler und -hochflächen beruhten diese Kulturen auf sechs Arten Mais (blanco, negro, rojo, colorado, amarillo und „de arroz“), dazu Kartoffeln, Quinoa (aus dem Samen wurde ein Erfrischungsgetränk gegoren), cubios, ibias, chuguas, yuca, arracacha, batatas, sie aßen auch Hirschfleisch, curí, aves und Fisch, alles mit Salz aus dem Handel mit Küstenvölkern gewürzt.28 Im regenreichen Osten, in Guayana und im Orinokogebiet hatte sich die Saison-Überschwemmungskultur der süssen und Amodio, Emanuele, “Los caníbales mutantes. Etapas de la transformación étnica de los Caribes durante la época colonial”, in : Boletín Americanista 49, Año IL, Barcelona (1999), S. 9-29. 28 Simón, P., Segunda Parte, 7. Notiz, Kap. XX. 27 Michael Zeuske/Venezuela Seite 25 13.05.2016 bitteren Yuca (mandioca) entwickelt; aus dem unter tropischen Bedingungen sehr haltbaren Mehl (mañoco) der sehr ergiebigen Yuca-Pflanzen stellten die Indios casabe (kassava) her, ein Art großer und auch unter tropisch-feuchten Bedingungen sehr haltbarer Cracker.29 Aus den Früchten einer Urwaldliane entwickelten die Indígenas der Amazonía/Orinoquía durch Züchtung eines der wichtigsten Nahrungsmittel der Welt – die Bohne. Über die frühesten Spuren menschlicher Siedlungen der so genannten Paleo-Indios in Südamerika liegen archäologische Spuren seit ca. 13000 vor unserer Zeitrechnung vor. Die Menschen ernährten sich vor allem von Sammeln und von der Jagd auf Großwild. Zwischen 10000 und 5000 v.u.Z. änderten sich die Klimaverhältnisse, viel Eis schmolz ab, der Wasserspiegel der Meere stieg und es formierten sich etwa die heutigen Küstenkonturen. Die Etappe der MesoIndios begann. Die Indiovölker spezialisierten sich: eine große Gruppe lebten quasi auf Kanus und überquerte mit Leichtigkeit Meere und Flüsse. Die Indios befuhren die Küsten der Inseln, des Maracaibosees und des Festlandes sowie die Urwaldströme; ihre Pfahlbausiedlungen, sozusagen zwischen Wasser und Küsten, entsprachen genau dieser Siedlungsweise (ähnlich der Lebensweise der frühmittelalterlichen Sachsen an den Nordseeküsten). Andere Gruppen spezialisierten sich auf nomadisches Leben in dichten wasserdurchflossenen Wäldern (omaguas30). Wieder andere gewöhnten sich an das Leben in Bergregionen (wie die Tairona in der Sierra Nevada des heutigen Nordostkolumbien). In Venezuela mischten sich verschiedene Migrationsströme. Die großen Migrations- und Siedlungswellen der „Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela, edición y estudio preliminar preparados por Rey, José del, S.J., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 79), S. 21-23. 30 Es handelt sich ursprünglich um den Aruak-Namen (Omagua oder Umaua = “die Kröten“) für eine Karib-Kultur, die sich selbst wohl Karijona nannten und in der heutigen kolumbianischen Provinz Amazonas, weit im Süden und fern vom heutigen Venezuela lebten (und die die Leute des Philipp von Hutten 1544 besiegt hatten). Mit dieser Kultur steht möglicherweise der historische Kern des Amazonen-Mythos in Verbindung. Das scheint mir ein guter generischer Name für die Wald-Fluss-Kulturen im Umfeld der heutigen Amazonia und Guayanas, siehe: Denzer, Jörg, „Eine neue archäologische Entdeckung: Die Chiribiquete-Kultur“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556. Historische Rekonstruktion, Historiographie und Lokale Erinnerungskultur in Kolumbien und Venezuela, München: C.H. Beck, 2005 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 15), S. 178-180. 29 Michael Zeuske/Venezuela Seite 26 13.05.2016 verschiedenen Völker, Sprachgruppen, Clans, Häuptlingstümer, Kulturen und Überlagerungen hatten schon in vorkolumbinischer Zeit zu einem wahren Flickenteppich von Jäger-, Fischer- und Sammlerinnenkulturen in Venezuela geführt, ähnlich wie es für die Indianerkulturen Nordamerikas gilt, zumal große Migrationsbewegungen vorwiegend vom Meer aus die Küsten des Venezuela erreichten. Andere Migrationen kamen über Flüsse vorwiegend aus den Tiefen der Urwälder Südamerikas.31 Einige wenige trieben regelmässig Landwirtschaft, einige kannten saisonalen Gartenbau, andere nur unregelmässige Felder in Sichtweite ihrer Jagdpfade.32 Grundsätzlich werden zwei große Neo-IndioKulturen, die wohl ältere der Aruak (oder Taínos) und die jüngere der Kariben, unterschieden, in europäischer Perzeption schon seit Kolumbus (und viele kleinere Kulturen und so genannte Stämme). Eigentlich handelt es sich um Sprachgruppen, die sich so, wie es der Begriff suggeriert, nie als eine Kultur oder „Wir-Gruppe“ begriffen haben, sondern in eine Vielzahl von Gruppen, Clans, Dörfern und Völkern (naciones) zerfielen. Die Aruakisch sprechenden Gruppen wanderten 1000-500 v.u.Z. aus dem Innern der Orinoquia und Amazonia den Orinoco entlang (eventuell auch den Amazonas), bis sie sein Delta erreichten. Die Aruak waren Erfinder des frühen südamerikanischen Gartenbaus und Züchter von Getreidegras (Mais, Teosinte), Giftlianen (Bohnen), Wolfsmilchsgewächsen (Yuca/Manioc)33 und Nachtschattengewächsen (Tomate, Paprika, Kartoffel), Süßkartoffel/Batate, Erdnuss sowie alle Sorten der Paprika (ají), wie Chili-Pfeffer34; ihr Hauptnahrungsmittel waren Mais oder Yuca/Manioc. Möglicherweise gab es Dyckerhoff, Ursula unter Mitarbeit von Barbara Göbel, “Geschichte der Indianer bis zur Conquista”, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, 3 Bde., ed. Bernecker, Walther L.; Buve, Raymond Th.; Fisher, John R.; Pietschmann, Horst, Tobler, Hans Werner, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994-1996, Bd. I: Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760, ed. Pietschmann unter Mitarbeit von Carmagnani, Marcello, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 101203 (im Folgenden: Handbuch der Geschichte Lateinamerika, Bd.). 32 Jiménez G., “La población prehispánica de Venezuela”, S. 19-68; Reyes Cardero, Juan Manuel, “Modos de vida y tradición alimentaria en grupos apropiadores ceramistas del Caribe”, in: El Caribe Arqueológico 8, Santiago de Cuba (2004), S. 39-49. 33 Delgado, Lelia, “Manioc, Basis der traditionellen Wirtschaft”, in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften aus Venezuela. Die Sammlung Cisneros, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, 1999, S. 75-77. 34 Storl, Wolf-Dieter; Pfyl, Paul Silas, Bekannte und vergessene Gemüse. Geschichte, Rezepte, Heilkunde, München; Zürich: Piper, 2006. 31 Michael Zeuske/Venezuela Seite 27 13.05.2016 auch schon Rituale mit Drogen.35 Über die See breiteten sich die Aruak zwischen dem ersten Jahrhundert bis ca. 1200 von Venezuela über Trinidad bis zu den Karibischen Inseln aus, gefolgt von den Kariben, die um 1500 Puerto Rico und einige Regionen der Dominikanischen Republik erreicht hatten.36 Wo und wann genau die großen Domestikationsleistungen der Erfindung der spezifischen Wald-, Garten- und Agrikulturen (vor allem auf Mais – aus Mesoamerika, Verbreitung über die Karibikküsten sowie Yuca/Manioc, Süßkartoffel/Batate, Kartoffeln aus den Anden, Erdnuss und Chili-Pfeffer aus dem Amazonasgebieten), des Webens und Töpferns gemacht wurden, ist nicht genau zu bestimmen. Jedenfalls begann mit dem Saisongartenbau (conucos) und der nach und nach immer sesshafteren Lebensweise einiger Stämme und Völker (wie der Aruak) die Phase der Neo-Indios (1000 v.u.Z. bis 1500). Die Kariben kamen eventuell entlang der Karibikküsten aus Westen oder ebenfalls aus den Tiefen der Amazonía. Weil sie später kamen, waren sie aggressiver und hatten eine Kosmologie magischer Anthropophagie37 entwickelt, durchaus auch, um Schrecken zu verbreiten. Aruak oder Taíno und Kariben waren Wildbeuter des Waldes und Gartenbauern der Flussufer. Sie betrieben Brandrodungs- und Hügelbeet-Anbau vor allem der Yuca (Maniok, Kassava). Sie kultivierten auch andere Knollenfrüchte (bei Kolumbus Mames oder Niames, Ñame [Boniato]), Mais, Bohnen, Erdnuss, Boniato, Tabak, verschiedene Pfefferarten (Ajíes) und ernteten wilde Baumwolle sowie verschienene Früchte (Anón, Mamey, Guayaba, Ananas, Papaya). In den Anden existierte ein ausgeklügelter Terrassenfeldbau mit Stauseen. Aus Früchten wie Ananas wie auch aus dem Saft der Yuca wurden auch schon alkoholische Getränke gewonnen. Gonzalo Fernández de Oviedo, Kaye, Quetta, „Uso de drogas alucinógenas en rituales del Nuevo Mundo: revisión de evidencias de la etnohistoria, la antropología y la arqueología”, in: El Caribe Arqueológico 8, Santiago de Cuba (2004), S. 74-85. 36 Sanoja Obediente, Mario; Vargas Arenas, Iraida, Gente de la Canoa. Economía política de la antigua sociedad apropiadora del noreste de Venezuela, Caracas: Fondo Editorial Tropykos/Comisión Estudios de Postgrado UCV, 1995. 37 Fray Pedro Simón beschreibt eine Anthropophagie-Szene bei einem Kariben-Überfall auf Puerto Rico, siehe: Simón, fray Pedro, Noticias Historiales de Venezuela, 2 Bde., Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 66 und 67) (erste Auflage 1627), Bd. I, S. 133-135 sowie, noch allgemeiner, Bd. II, S. 106-107. 35 Michael Zeuske/Venezuela Seite 28 13.05.2016 der wichtigste spanische Chronist der Antillenkolonisation, ordnete die Nahrungspflanzen Amerikas in jeweils einem gesonderten Kapitel seines Werkes: Mais, Yuca, Aje (Malanga), Batatas (Süßkartoffel), Maní (Erdnuss), Ají (Paprika), Calabaza (Kürbis), Lirén, Yayama (Ananas), die Oviedo sehr lobt und der er ein großes Kapitel widmet (die Aruak von Borinquén-Puerto Rico sollen in vorkolumbinischen Zeiten sogar Ananas exportiert haben). Der Text listet viele Arten von Bohnen auf, das amerikanische Nahrungsmittel par excellence. Oviedo nennt sie Fésoles.38 Er listet auch die Medizinalpflanzen und Fruchtbäume auf, es sind sehr viele. Oviedo bestätigt indirekt den Eindruck des Kolumbus: wenige Tiere, überquellende Flora. Die Indios kannten eine Menge dieser Pflanzen; so galten die Piaroas des oberen Oriniko als Fachleute der Curaregiftherstellung aus einer Pflanze namens curare oder mavacura (Strychnos guianensis), das auch andere Völker der amerikanischen Flusswelten als über das Blut wirkendes Pfeilgift benutzten. Humboldt schreibt über Curare: „Je weiter südlich und östlich, desto stärker der Curare“. 39 Als planzliche Medikamente waren die cuspa (Cusparia trifoliata) bekannt, auch unter dem Namen quina (China) aus Neu-Andalusien (ein Malaria- und Fiebermittel); in Gebirgsregionen auch der Quinabaum (Cinchona officialis). Der rote pflanzliche Farbstoff onoto (Bixa orellana) fand, mit Fett gemischt, als Hautschutzmittel und als Kosmetik Verwendung. Als Süßungsmittel wurde das weiße Fruchtfleisch des wilden Kakaos (Theobroma mariae) benutzt; Tabak und andere halluzigene Stoffe wurden in religiösen Zeremonien und zur Heilung benutzt, ebenso wie eine Reihe von Heil-, Abführ- und Purgiermitteln, die den Europäern wegen ihrer medizischen Haupttheorie, der Säftelehre Galens, oft als sehr wertvoll galten (wie etwa Röhrenkassie) und deshalb gesuchte Handelsgüter darstellten. 38 Fernández de Oviedo [y Valdés], Gonzalo, Historia General y natural de las Indias, 5 Bde., edición y estudio preliminar de Pérez de la Tudela Bueso, Juan, Madrid 1959 (Biblioteca de Autores españoles desde la formación del lenguaje hasta nuestros días), Bd. I: Lib. VII, Caps. I-XIX, S. 225–244. 39 Humboldt, “Curare”, in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 335-338. Michael Zeuske/Venezuela Seite 29 13.05.2016 Die materiellen Grundlagen der Aruak- und Karibengesellschaften waren sehr effiziente und dynamische Gartenkulturen und Wildbeuterei. Jagd auf Meeresgroßsäuger, Schildkröten, Sammeln von Mollusken, Muscheln, Krustentieren und Wurzeln, trugen zur Subsistenz bei. Die Indios kannten verschiedene Arten von Fischfang, beispielsweise mit Betäubungsgiften. Die Hauptdiät bestand der Küstensammler und -Jäger bestand aus Meeresprodukten und pflanzlichen Nahrungsmitteln. Die Indios hatten Hunde, die berühmten stummen Hunde. Kolumbus beschrieb sie als „nicht sehr groß und sehr hässlich, mit Fisch aufgezogen, nicht bellend […] ich erfuhr, dass die Indios sie essen, und sogar unsere Christen haben sie probiert, und sie sagen, dass sie besser als ein Zicklein schmecken“.40 Humboldt fand die stummen Hunde noch um 1800 im Hinterland Venezuelas. Die gesamte Kultur der Kariben und Aruak ruhte auf den Eckpfeilern ihrer zwei wohl genialsten Schöpfungen – dem durch Brandfeldrodung gewonnenen Conuco und dem System der Montones de tierra auf diesen Kleinfeldern oder Gärten (labranzas)41, eine Art an Rändern erhöhter, runder Beete (das unter anderem mit menschlichen Exkrementen und Abfällen gedüngt wurde). Oviedo sagt zum Conuco: „Diese Tagewerke oder Felder, die so mit Yuca besät oder bepflanzt sind, nennen die Indios Conuco, was bebaute oder kultivierte Erbschaft [ev. Familienbesitz] bedeuten soll […] dabei muss man den Conuco von Unkraut befreien […] bis die Pflanze das Unkraut beherrscht“.42 Bodenbau war intensiver Gartenbau auf unterschiedlichen Ebenen dieser relativ kleinen Landstücke. Auf diesen Conucos und Montones wuchsen unterirdisch ertragreiche Wurzeln wie Yuca, Boniato, Erdnüsse (Maní) oder Malanga. Ihre Blätter spendeten den jungen oberirdischen Pflänzchen Schatten [siehe „The 40 Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen aus den Reisetagebüchern. Zusgest. und erl. durch Margot Faak. Mit einer einl. Studie von Manfred Kossok. Berlin: Akademie-Verlag 1982 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 5), S. 299 (im Folgenden: Humboldt, Vorabend). 41 “Capítulo XII: De las labrazas de los indios“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 23-24. 42 Fernández de Oviedo, Historia General …, Bd. I: Lib. VII, Cap. II, S. 230f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 30 13.05.2016 manioc-sweet potato complex“43]. In der Caribana war Yuca die Basis der Ernährung; die Missionare erklärten den Indios, dass der heilige Thomas die Yuca nach Amerika gebracht habe (und knüpften damit an indianische Kulturbringerlegenden an: „es tradición y sentir muy común que la plantó en estas Indias el apóstol Santo Tomé“).44 Mais und Bohnen, sehr produktive Pflanzen, bildeten das nächste Niveau. Dazu kamen auf einer dritten Ebene sowie Fruchtbäume wie Guayaba, Mamey und Avocado in größeren Höhen; später (nach Einführung aus Afrika) eventuell auch Platanus-Pflanzen. Noch Humboldt hat sich über die Effizienz dieser Subsistenzlandwirtschaft gewundert: „Wirklich fällt einem Europäer bei seiner Ankunft in der heißen Zone nichts so stark auf wie der geringe Umfang des angebauten Landes um eine Hütte herum, welche eine zahlreiche Familie von Eingeborenen ernährt“. 45 Zum Montón de tierra (Erdhügel) schreibt Oviedo: „Sie machen Montones de tierra, rund […] jeder acht oder neun Fuß im Umfang und die Ränder des einen berühren, mit nur wenig Zwischenraum, den anderen Erdhügel; und der Gipfel ist nicht spitz, sondern fast flach und das Höchste von ihm ist am Rand oder etwas mehr [nach innen]“.46 Mit dieser ausgeklügelten Brandrodung in Flussnähe konnten die Taínos den Hauptteil ihrer Zeit anderen Tätigkeiten oder Lebensbereichen zuwenden: Es war möglicherweise (was sehr von den Bevölkerungszahlen und anderen demographischen Faktoren abhängt) eine Zivilisation der Muße – was von den Spaniern als unchristliche Faulheit bewertet wurde. Aber es gibt noch eine weitere Folge dieser Dynamik der kleinen Flächen. Da weder Kariben noch Aruak Großflächenanbau betrieben, hatten sie auch keine Massen von ruralen Sklaven nötig. Dazu kam, dass sie Geburtenkontrolle betrieben. „Sklaven“ und Kriegsgefangene (Naborías, Itotos, Macos, Poitos) in dieser Gesellschaft müssen eher - wenn sie nicht in rituellen 43 Watts, David, The West Indies: Patterns of Development, Culture and Environmental Change since 1492, Cambridge: Cambridge University Press, 1987, S. 56 [Fig. 2.6]. 44 „Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 21-23, hier S. 21. 45 Humboldt, Mexiko-Werk. Politische Ideen zu Mexico. Mexicanische Landeskunde, ed. Hanno Beck in Verbindung mit Grün, Wolf-Dieter u.a. (Studienausgabe in sieben Bden., Bd. IV), Darmstadt 1991, S. 354. 46 Fernández de Oviedo, Historia General …, Bd. I: Lib. VIII, S. 244–262. Michael Zeuske/Venezuela Seite 31 13.05.2016 Anthropophagieritualen geopfert wurden - als eine vom jeweiligen Kaziken oder Priester abhängige Klientel betrachtet werden, die nur relativ wenig oder nur zeitweilig Arbeit leisten musste.47 Indios lebten zur Zeit der Ankunft der Spanier in Siedlungen mit manchmal 2000 –bis 3000 Menschen. Sie waren wohlgenährt und gesund und erreichten ein relativ hohes Alter, auch aufgrund herborragender Kenntnisse von Medizinalpflanzen. Las Casas hebt immer wieder den Überfluß an Nahrung in den Dörfern hervor. An epidemischen Krankheiten existierte wahrscheinlich nur eine endemische (und sehr milde) Form der Syphilis. Das Grundnahrungsmittel in den feuchten Gegenden der Caribana war eine Art Fladen aus dem Mehl der Yuca, Casabe; „ihr Brot, dass sie caçabi nennen“, schreibt Kolumbus.48 Aus Yucasaft und Yukastücken, die Schimmel ausbildeten, wurden auch bestimmte Arten von Würzsoßen präpariert.49 In trockeneren und höheren Gegenden waren Mais und die in Amerika unentbehrlichen Bohnen, aber auch Kartoffeln in Terrassenfeldbau, die wichtigsten Subsistenzkulturen. Mais ist im größten Teil Venezuelas noch heute absolut unentbehrlich (arepas). Die Menschen Amerika „ohne den Namen Amerika“ hatten eine Methode entwickelt, dem Saft der bitteren Yuca das Gift zu entziehen. Die Wurzeln beider Yuca-Formen wurden auf einer Holz-Steinreibe (Guayo) bearbeitet; die Masse in einem langen Netz (Cibucán) durch ihr Eigengewicht gepresst, bis der giftige Saft abgeflossen war; das Gift konnte auch durch Kochen beseitigt werden. Das Mehl wurde zu Fladen geformt und auf großen heißen Tonplatten (Burén oder Budare-Scheiben, spezielle tönerne Bratplatten) ausgebacken.50 Die geflochtene Hängematte der Indios, Hamaca, stellte für die spanischen Seeleute eine technologische Neuerung ersten Ranges dar. Selbst Gilij, Felipe Salvador, “De los esclavos llamados poitos (Capítulo XXXII)”, in: Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 71-73), Bd. II, S. 287-290; Jiménez G., “La población prehispánica de Venezuela”, S. 19-68, hier S. 67f. 48 Colón, Textos y documentos …, S. 179 (26. Dezember 1492). 49 „Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 21-23, hier S. 22. 50 Ebd. 47 Michael Zeuske/Venezuela Seite 32 13.05.2016 Humboldt spricht in seinem Tagebuch um 1800 nur von Hamake. Aruak und Kariben kannten die Stein-, Muschel- und Tonverarbeitung, zudem Weberei und Flechtkunst. Aus diesen Materialien stellten sie Gegenstände des täglichen Gebrauchs, aus den Universalwerkstoffen Ton und Holz auch Götterbildnisse her. Die Gemeinschaften siedelten in einem oder mehreren Dörfern, meist in runden Hütten nach Abstammungslinien. Die Behausung der Kaziken und anderer Anführer wurde Canasí genannt. Die Taínos hatten aber auch rechteckige Hütten, Bohios, die noch heute in der Karibik üblich sind, und „Häusern, die riesigen Zelten“ ähnelten (Caneyes).51 Aruak und Kariben waren exzellente Kenner des Meeres und der angrenzenden Omaguas, der süßwasserüberschwemmten Waldflächen (wie der Guayanas zwischen Orinoco und Amazonas), die sozusagen das Meer in die großen Landmassen hinein verlängerten. Sie stellten hochseegängige Einbäume her, canoas, curiaras oder piraguas (Pirogen). Mit ihnen großen Kanus bewegten sie sich von Insel zu Insel, von Cayo zu Cayo oder von Fluss zu Fluss. Es sind sogar Vermutungen angestellt worden, Aruak-Seefahrer hätten lange vor Kolumbus Europa erreicht.52 Die Niederländer gründeten auf den Kanurouten später ein respektables amerikanisches Handelssystem, das zum Teil noch mit Kanus, Piraguas, Bongos, Curiaras, Lanchas (Langbooten) und Goletas (Schoonern) funktionierte.53 Dieses Handelssystem wird in den meisten Handelsgeschichten „europäisch“ genannt; auf den spanischen Inseln wurde es als „Schmuggel“ denunziert.54 Als sich Spaniern an den Küsten um Caracas festgesetzt hatten, verbreitete sich unter nicht unterworfenen Völkern der Guayana und der Insel Trinidad auch eine Art Geld (quiripas) aus Perlmutt in “Capitulo XV: Qué son caneyes y lo que hacen los giraras en ellos“, in: Ebd., S. 28-30. Sertima, Ivan van, They came before Columbus: The African Presence in Ancient America, New York: Random House, 1976, S. 253–256. 53 Humboldt gibt interessante Beschreibungen dieser flachen Schiffe mit Segel (lanchas), siehe: Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 167f.; zu den Niederländern siehe: Crespo Solana, Ana, “Guerra en el Caribe y conflictos hispano-holandeses”, in: Crespo Solana, América desde otra frontera. La Guayana Holandesa (Surinam): 16801795, Madrid: CSIC, 2006 (Colección América: 3), S. 125-142. 54 Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit. A History of the Caribs in Colonial Venezuela and Guayana 1498– 1820, Dordrecht/Providence: Foris Publications, 1988; Aizpurua, Ramón, Curazao y la costa de Caracas. Introducción al estudio de la Provincia de Venezuela en tiempos de la Compañía Guipuzcoana, 1730–1780, Caracas: Academia Nacional de Historia, 1993. 51 52 Michael Zeuske/Venezuela Seite 33 13.05.2016 Form von Reales de Plata (Silbergeld) oder Moneda de Vellón (Kupfergeld), das als Statussymbol, Schmuck und Tauschäquivalent benutzt wurde.55 Aus den durchbohrten, runden Perlmuttplättchen wurden eine Art Kette gemacht (sarta), deren Maß es war, um den Leib einer erwachsenen Person herumzureichen; eine Art Schmuckgürtel. In Puerto de Casanare galt eine Sarta zwei Reales de Plata, in Ciudad Guayana vier Reales und auf der Insel Trinidad acht Reales de Plata (= ein Silberpeso, peso de a ocho). Auf Märkten tauschten indianische Händler gegen Sartas de quiripas eiserne Äxte, Macheten, Messer, Lanzenspitzen (puyas oder púas), Harpunen und andere europäische Waren, wie Töpfe, ein.56 Kariben glichen Wikingern des Südens – zunächst natürlich ohne Eisenwaffen. Die Eisenwaffen, vor allem Macheten, tauschten oder raubten sie von europäischen Kaufleuten und Kreolen. Ihre Kriegermannschaften suchten mit ihren Kanus andere Inseln in Form von Razzien heim und sollen Frauen geraubt haben. Letzteres dient zur Erklärung, warum die Kariben keine andere materielle Kultur als die Taínos hatten, denn die Taínofrauen waren für die Töpferei zuständig und betrieben ihre Künste auch in karibischer Gefangenschaft weiter. Im Frauenraub würde auch der Mythos von Matinino, der Fraueninsel, den Kolumbus immer wieder kolportierte, eine gewisse Erklärung finden. Viel wichtiger aber sind Quellen, die auf einen – wie auch immer benannten – Naboríastatus auch unter den Kariben hindeuten (poitos), der der Stärkung der eigenen Gruppe diente (und nicht so sehr dem von den Kariben gezielt als Kriegs-Milonga gestreuten Männerfresser-Mythos).57 KaribSprecher sind noch heute die Ye’kuana (Leute des Einbaumes).58 Alle „Capitulo XXVI: ¿Qué cosa son las quiripas?“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 46-47. 56 Ebd. 57 Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit …; Whitehead, “El Dorado, Cannibalism and the Amazonas. European Myth and Amerindian Praxis in the Conquist of South America”, in: Pansters, W.; Weerdenburg, J. (eds.), Beeld and Verheelding van Amerika, Vol. I, Utrecht: Rijksuniversiteit Utrecht, 1993, S. 53-70. Whitehead (ed.), The Discoverie of Large, Rich and Bewtiful Empyre of Guiana by Sir Walter Ralegh, Norman: Oklahoma University Press, 1997 (American Exploration & Travel Series, Vol. 71); Whitehead, „Native Society and the European Occupation of the Caribbean Islands and Coastal Tierra Firme, 1492-1650“, in: General History of the Caribbean, 6 Bde., Bd. II: New Societies: The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing, 1999, S. 180-200. 58 Delgado, Lelia, “Ye’kuana. Die Leute des Einbaumes”, in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften aus 55 Michael Zeuske/Venezuela Seite 34 13.05.2016 vorspanischen Gesellschaften Amerikas führten Kriege. „Sklaven“ und Kriegsgefangene (naborías) in diesen Gesellschaften - sofern sie nicht Opferritualen anheimfielen - müssen aber eher als eine vom jeweiligen Kaziken oder Priester abhängige Klientel betrachtet werden. Im Grunde wird deutlich, dass die scharfe typologische Entgegensetzung zweier völlig unterschiedlicher Kulturen – Taíno und Kariben – zur Beschreibung dieser frühen karibischen Zivilisation gar nicht notwendig ist: es gab wahrscheinlich sieben Sprachgemeinschaften im Antillengebiet (Klassisches Taíno, Ciboney Taíno, Guanahatabey, Macoris, Ciguayo, Eyeri [oder Kaliphuna] und Karina-Karibisch)59 sowie verschiedene kleinere politische Einheiten unter der Führung von Kaziken, die in Allianzen oder Konflikten, meist wohl eher in letzteren, zueinander standen. Konflikte und Handel sicherten die Verbindungen zwischen den einzelnen Kulturen, aber auch eine Reihe von Feindschaften (vor allem Salz-, Kakao-, Onoto- und Sklavenhandel).60 Die Grundlage bildete aber immer kultureller Austausch sowie Transfer von Erfahrungen, Ideen, Worten und Technologien. Der Austausch existierte vor der europäisch-afrikanischen Invasion61 und setzte auch sofort nach Ankunft zwischen Europäern und Taínos ein. Zum Austausch gehörten auch Menschen, Waffen, Werkzeuge, Worte sowie Begriffe und Erfahrungen, auch über unfreie Arbeit. Wie sich die Bewohner Venezuelas 1498 selbst, vor der Ankunft der Schiffe des Kolumbus auf seiner dritten Reise, in ihrer Gesamtheit nannten, wissen wir nicht. Eines ist trotzdem klar: Die Tausende von Jahren indianischer Geschichte haben die rund 300 Jahre Kolonialgeschichte (1530-1830), auch die Venezuela. Die Sammlung Cisneros, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, 1999, S. 74-85. 59 Granberry, Julian; Vescelius, Gary S., Languages of the Pre-Columbian Antilles, Tuscaloosa: University of Alabama Press, 2004, passim; für die Verteilung in der Karibik siehe: Watts, The West Indies …, S. 42 [Fig. 2.1]. 60 Gilij, Ensayo de Historia Americana ..., passim; Thiemer-Sachse, “Primer encuentro y actitud de Alexander von Humboldt con los indígenas de Venezuela”, S. 88-100; Deive, Carlos E., “Etnías, desarraigo y transculturación”, in: Anales del Caribe. Centro de Estudios del Caribe 19-20 (1999-2000), S. 221-238. 61 Allaire, Louis, “Archaeology of the Caribbean Region”, in: Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Vol. III South America”, Part I und II, ed. by Salomon, Frank; Schwartz, Stuart B., Cambridge: Cambridge University Press, 1999, I, S. 668-733, hier S. 670. Michael Zeuske/Venezuela Seite 35 13.05.2016 Geschichte des Atlantik und die heutige Globalgeschichte, viel stärker geprägt, als das die gängigen Geschichten Venezuelas bis heute vermitteln. Siedlungsplätze, alltägliche Lebensformen, lokaler Glauben, Essen, Pflanzenkenntnisse Geschichten und Lieder sind tief in der indianischen Geschichte verwurzelt – bis heute. Im 20. Jahrhundert hat sich der ethnische Begriff taíno für die AruakKultur der Insel-Indígenas eingebürgert. Die Amerikanerin Irene Aloha Wright, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine Synthese zur Frühgeschichte Kubas geschrieben hat, war der Meinung, taíno sei ein Begrüßungsruf der Aruak-Indios von Kuba gewesen. Es habe „Frieden“ oder „Wir sind Freunde“ bedeutet. Aruaco, Aruak (ursprünglich: Arawaks) meint die Sprachgruppe. Das Wort ist im Grunde eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts (Daniel G. Brinton), auch wenn Sprachstudien, Reisende und Verweise auf „die universelle Sprache“ der Indios (Las Casas, López de Velazco) gelegentlich die Bezeichnung Aruac oder Aruaca verwandten.62 Der portoricanische Archäologe Ricardo Alegría verweist darauf, dass aruaksprechende Völker der Guayanas, die sich selbst Lukkumi („Menschen“) genannt hätten, von ihren Nachbarn Aruac in der Bedeutung Casabemehlesser genannt worden seien. Das würde auf ihre wichtigste Kulturleistung verweisen, auf die Züchtung der Yuca. Ein heutiger Anthropologe, Dave D. Davis, hat deutlich gemacht, dass der Völkername „Taíno“ niemals von irgendeinem Volk oder einem der Aruak-Chiefdoms zur Selbstbezeichnung benutzt worden ist; Ähnliches gilt für „Aruak“ oder „Kariben“.63 Taíno, Aruak oder Caribe ist heute eine Benennung von Archäologen für einen bestimmten Typ von Kultur. Doch der Begriff taíno „Corografía de la Gobernación de Venezuela y (de la) Nueva Andalucía, (años de) 1571-1574, por Juan López de Velazco“, in: Relaciones Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno, Antonio, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 70), S. 97-109; “Noticia de los Indios Aruacas”, in: Ebd., S. 106-107; siehe auch: Gilij, “Extractos de varias lenguas americanas, in: Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 7173), Bd. III, S. 185-224. 63 Davis, Dave D.; Goodwin, R. Christopher, “Island Carib Origins: Evidence and Non-Evidence”, in: American Antiquity 55 (January 1990), S. 37-48; Hulme, Peter, Colonial Encounters: Europe and the Native Caribbean, 14921797, London: Methuen, 1986. 62 Michael Zeuske/Venezuela Seite 36 13.05.2016 existiert schon viel länger, allerdings nicht in Bezug auf das gesamte Volk. Kolumbus vermerkte bereits unter dem Datum 23. Dezember 1492 in seinem Bordbuch, als er sich über die Bedeutung des Wortes Kazike unter der Aruak der großen Antillen klar zu werden versuchte: „Sie haben noch ein anderes Wort für einen großen Herrn, und zwar Nitayno“64. In den Taíno-Gemeinschaften hatte sich ein erbliches Kazikentum von Vorstehern einzelner Dörfer und Territorialherrschern aus dieser Oberschicht der Nitainos herausgebildet. Die Kaziken, deren erblicher Status eine Besonderheit in Amerika darstellt, herrschten über die große Gruppe der gewöhnlichen Mitglieder der Gesellschaft. Am unteren Ende der Gesellschaft stand eine Art Tributpflichtige oder Abhängige des jeweiligen Kaziken (deren Status die Spanier als spezielle „Sklaven“ definierten), Naborías. Sie rekrutierten sich aus Gefangenen oder Ausgestoßenen anderen Völker oder Clans. Möglicherweise war ihr Status, wie in anderen Gesellschaften, durch das Fehlen jeglicher Verwandtschaftsbeziehungen geprägt, so dass sie dem Kaziken als „Vater“ oder in anderen Formen ritueller Verwandtschaft untergeordnet waren. Einige Forscher meinen, die Taíno-Gemeinschaften seien politisch anders gegliedert gewesen: Für sie gibt es erbliche Anführer, Chiefs, und zwei Gruppen freier Taínos: Nitaínos und Naborías; erstere wurden von den spanischen Chronisten mit dem Adel gleichgesetzt, die letzte Gruppe mit den gewöhnlichen Menschen. Sklaven gab es nach dieser Auffassung nicht. Der spanische Historiker Esteban Mira Caballos definiert präkolombinische Naborías als „Indios, die einem Kaziken verbunden waren, dem sie Tribut leisteten“.65 Sie seien in einer legalen Situation gewesen, die der Sklaverei sehr ähnelte; unter Kolonialverhältnissen sei der Naboría-Status zu einer juristischen Variante der mittelmeerischeuropäischen Sklaverei geworden. Der Unterschied zwischen Sklaverei und Naboría bestand darin, dass Naborías legal nicht verkauft werden durften, weil 64 Kolumbus, Christoph, Schiffstagebuch. Aus dem Spanischen von Roland Erb, Leipzig: Reclam Verlag, 2001, S. 109. 65 Mira Caballos, Esteban, “Indios naborías y encomieda”, in: Ders., Las Antillas Mayores 1492–1550 (Ensayos y documentos), Madrid: Iberoamericana; Frankfurt am Main: Vervuert, 2000, S. 27–30. Michael Zeuske/Venezuela Seite 37 13.05.2016 der indianische Ursprung dieses Sklavereitypus eben kein sachliches Eigentumsverhältnis war, sondern ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Über die Gefangenen derjenigen, die schließlich als »Kariben« ikonisiert worden sind, und über ihre Sklavinnen, wissen wir in dieser Frühzeit noch weniger. Spätere Quellen berichten davon, dass alle Karibenvölker, vor allem unter dem Einfluss der Engländer, Franzosen, Niederländer und Portugiesen in Suriname, Sklaven, Poítos, hielten sowie Sklaverei und Sklavenhandel betrieben.66 Aber für 1492 findet sich bei Petrus Martyr nur die Bemerkung: „Alte Frauen aber halten sie als Sklavinnen und nutzen ihre Dienste aus“. Während sie Jungen und Männer fett fütterten, um sie zu fressen [Androphagie], gebrauchten sie junge Frauen«wie Hennen, Mutterschafe, Rinder und andere Nutztiere zur Zucht«.67 Die karibischen Indios kannten also einen Gefangenen- und Outsiderstatus für Fremde, möglicherweise eine Art Sklaverei. Es war aber keine Massensklaverei. Die karibische Sklaverei war verbunden mit grausamen, religiös begründeten Opferritualen. Für die großen Antillen allerdings schließt Las Casas Menschenfresserei aus (was nicht stimmt)68; für Venezuela ist klar nachgewiesen, dass rituelle Anthropophagie existierte.69 Die Spanier schlossen mit ihrem Konzept der Sklaverei an die traditionelle Form der karibischen Kriegsgefangenen- und Tributabhängigkeit an. Die Opferrituale der »Anderen« nutzten sie, um die neue Sklaverei zu legitimieren (zudem gab es auch unter den Spaniern Menschenfresserei70). Die Aruak oder Taínos, vor allem die Inselbewohner und Küstenbewohner der Karibik waren die ersten Menschen Gilij, “De los esclavos llamados poitos (Capítulo XXXII)”, S. 287-290. Anghiera, Petrus Martyr von, Acht Dekaden über die Neue Welt, übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen Klingelhöfer, Hans, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972/1973 (Reihe: Texte zur Forschung), Bd. I, S. 29. 68 Las Casas, “Viaje de pacificación y poblamiento de Cuba por Diego Velázquez; y descripción de la isla y sus gentes”, in: Ders., Obras Completas …, Bd. V: Historia de las Indias, S. 1841–1894, hier S. 1855. 69 Sanoja Obediente; Vargas Arenas, Gente de la canoa …, S. 318f. 70 Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor allem S. 346: „… zur Zeit der Velzer und im Dorado-suchen (Expedit[ion] des Hernán Pérez de Quesada, Pedro de Ursúa, Juan de Galina, D[on] García de Gerpa) die Span[ier] aus Hunger oft die Indianischen Lastträger aßen. Das gewöhnlich; ja in einer von Coro ausgehenden Expedition [die] Spanier, als alle Ind[ianer] schon gegessen waren, unter sich losten“. 66 67 Michael Zeuske/Venezuela Seite 38 13.05.2016 Amerikas, die in Massen nach europäischen Konzepten versklavt wurden. Zuerst und nahezu vollständig die Taínos und andere Völker von den Bahamas, von Jamaika und La Hispaniola, die Küstenethnien des heutigen Mittelamerika und Venezuela, Puerto Rico und Kuba. Die indo-spanische, in gewissem Sinne lateinische Epoche der Geschichte der ersten Bewohner Amerikas begann um 1500 und dauert bis heute an. In Venezuela wird es keine postlateinische Phase politisch erneuerter, quasi „wieder erfundener“ Indiokulturen geben, wie etwa in Bolivien oder in Peru, aber vielleicht eine mestizische postlateinische Kultur (etwa an dem ersten Satz eines Interviews mit Hugo Chávez abzulesen: „¡Viva el mestizaje, abajo los puros!).71 Am Ende der neo-indianischen Phase, mit dem Beginn der europäischen Conquista um 1500, gehörten die meisten Indios auf dem Territorium des heutigen Venezuela den Kulturen der Kariben72 und – allerdings weit zerstreuter – der Aruak an. Die einzelnen Völker und Gruppen selbst hatten ethnische Eigennamen, die meist die eigene Gruppe als „Leute“ oder „Menschen“ bezeichneten. Karibenstämme lebten im 16. Jahrhundert an den venezolanischen Küsten zwischen Paria und Borburata, um den Maracaibosee herum sowie an den Ufern des Orinoko und seiner Zuflüsse, wie auch auf den Inseln der kleinen Antillen im Norden der großen Insel Trinidad (heute Trinidad and Tobago)73. Die Krieger der Kariben, der Otomaken und der Guahibos (die sich nach 1600 in die Llanos zwischen Kolumbien und Venezuela zurückzogen) waren wegen ihrer Aggressivität gefürchtet, aber auch wegen des rituellen Kannibalismus und weil sie schon vor der Ankunft der Spanier Sklavenhandel und Sklaverei betrieben; sie überfielen mit ihren Kriegskanus vor allem sesshafte AruakVölker und trieben diese von den Ufern weg in das Innere der Insel und Wälder. 71 Dietrich, Heinz, Hugo Chávez: Un nuevo proyecto latinoamericano, La Habana: Editorial de Ciencias Sociales, 2001, S. 5. 72 Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit. A History of the Caribs in Colonial Venezuela and Guayana 14981820, Dordrecht/Providence: Foris Publications, 1988. 73 Watts, The West Indies …, S. 42. Michael Zeuske/Venezuela Seite 39 13.05.2016 Kariben waren, wie alle Gruppen auch, ethnozentrisch; sie hielten nur sich selbst für „Menschen“.74 Nur nach Sprachen (nicht einmal nach Stämmen, Hauptlingstümern und Clans) getrennt, bildeten sie die Gruppen der akawaio, mapoyo, yabarana, yekupana, eñepa (panare), pemón, kariña und yukpa. All diesen Gruppen umfassen heute nur noch wenige Tausend Menschen75; die größten Gruppen der Kariben sind die Kariña, Híwis (Guajibos) und die Pemón [siehe die Karte in Morón, Guillermo, Breve Historia de Venezuela, México: Fondo de Cultura Económica, 1994, zwischen S. 16 und 17: „Mapa etnográfico de Venezuela y regiones adyacentes“].76 Die historischen Kariben Venezuela und Guayanas, noch von Humboldt um 1800 ausführlich beschrieben77, waren mutige und tüchtige Menschen. Alle anderen, nicht zu ihren Abstammungsgemeinschaften gehörigen Menschen, bezeichneten sie mit dem Begriff itoto. Itotos waren zu bekämpfende Feinde, die nach dem Sieg getötet oder geopfert wurden (in ausgeklügelten rituellen Opferzeremonien die bedeutendsten Feinde); männliche Kinder wurden meist auch getötet und Frauen sowie Mädchen wurden in die Gruppe integriert. Die jungen Männer der Kariben waren furchtbare Krieger mit Kanu, Langbogen und Keule. Keulen sind reine Tötungswaffen, was Rückschlüsse auf die Härte der Konflikte zulässt. Völker, die den Karibenkriegern leichte Beute boten, wurden mit dem Namen macos benannt, sozusagen schwache und dumme Itotos. Nach und nach setze sich bei den Kariben auch der Begriff des poito (Kriegsgefangener; Sklave) durch, vor allem seit sie Spaniern, Niederländern oder Engländern Kriegsgefangene gegen Eisen- und Feuerwaffen verkaufen konnten – oder seit sie fremde Männer wegen der vielen Kriege mit Vernichtungscharakter in der Kolonialzeit (die Kariben hatten traditionellerweise nur wenige Männer 74 Siehe den Beitrag über Kultur und Ideologie in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New Societies: The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing, 1999, S. 246ff. 75 Heinen, H. Dietrich; Pérez, Antonio, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung Venezuelas”, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276. 76 Siehe die innere Umschlagkarte in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften aus Venezuela. Die Sammlung Cisneros, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, 1999. 77 Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 340-348. Michael Zeuske/Venezuela Seite 40 13.05.2016 geopfert) über Heirat in Gruppe aufnehmen mussten. Deshalb bezeichnet das Wort Poito sowohl Sklave wie auch Schwiegersohn.78 Die Aruak lebten im Osten Venezuelas am Golf von Paria und auf den großen Antillen, ihr Zentrum dort war Bohio, von den Spaniern auf La Española umgetauft; vom Süden des Orinokodeltas erstreckten sich ihre Siedlungsgebiete bis zum Amazonas. Im Westen gehörten die Guajiros (Wajúu) zur Gruppe der Aruak. Sie lebten in den Küstenwüsten der Halbinsel Goajira (Guajira).79 Im Westen des Maracaibosees, am Río Catatumbo und in der Sierra de Perijá, siedelten die Motilones (Barí), eine Chibchagruppe von Indios. Ein Teil von ihnen, der sich nicht den Missionaren unterwarf, wurde auch „wilde Motilones“ genannt. Sie siedelten in den Sümpfen und Bergen zwischen Maracaibosee und Kolumbien, in der Sierra de Perijá, nördlich von ihnen die westlichen Kariben sowie die ebenfalls sehr kriegerischen Guajiro/Wayúu und Cocinas[Karte80]. Humboldt notiert noch 1800, dass es ohne die Zustimmung der Kaziken für Europäer nicht möglich sei, durch die Gebiete der Guajiros oder Motilones zu reisen: „Wilde. [Die] Spanier sind noch nicht einmal Herren der Küste. Man kann nur unter [dem] Schutz der Kaziken und wenn der regierende Herr gerade [ein] Freund der Spanier ist, von Maracaibo nach Cartagena reisen. Dort zwischen Río La Hacha und dem Cabo Chichibacoa leben nomadisch die Indian[ischen] Nazionen Guajiros und Motilones, von denen die Engländer Perlen, Vieh [Hornvieh] und Pferde einhandeln. [Die] Engländer geben ihnen Flinten, um sie den Spaniern furchtbar zu erhalten. Der Kazike der Guajiros [ein] Freund und Beförderer der Astronomie. Er erlaubte Fidalgo, in seinem Lande die Küste aufzunehmen!“.81 Acosta Saignes, Miguel, „Macos e Itotos“, in: Acosta Saignes, Estudios de etnología antigua de Venezuela, La Habana: Casa de las Américas, 1983, S. 89-114. 79 Ojer, Pablo, “Situación de facto de la Guajira como territorio inconquistable hasta 1810”, in : Ojer, El Golfo de Venezuela. Una síntesis histórica, Caracas: Instituto de Derecho Público de la U.C.V., 1983, S. 89-115; zu den klimatischen Bedingungen siehe: Watts, The West Indies …, S. 23 [“West Indian Climates”, Fig. 1.8]. 80 „Áreas culturales prehispánicas“, in: República de Venezuela, Atlas de Venezuela 1979, Caracas: Ministerio del Ambiente y de los Recursos Naturales Renovables; Dirección de Cartografía Nacional, ²1979, S. 318. 81 Humboldt, Alexander von, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot 78 Michael Zeuske/Venezuela Seite 41 13.05.2016 Die von den Spanier und den Welserleuten als „friedlich“ bezeichneten aruakischen Kaquetíos (caquetíos) lebten zwischen Coro und dem Ostufer des Maracaibosees; sie unterstützten die ersten Siedler und waren eines der ersten Völker, das ausstarb. Die Herren des Maracaibosees waren die Onotos; sie lebten auf dem See und in ihren Kanus und Piraguas. In den venezolanischen Anden gab es 20 oder mehr Gruppen, deren Bezeichnung mit dem Toponym mucu begann: mucuchíes, mucurubaes, mucaquetaes, mucusquis …, etc. Eventuell handelt es sich alles um Außerbezeichnungen, die ausdrücken sollen, dass all die friedlichen Bergbewohner Macos waren. Andere Gruppen, vor allem am Orinoko, waren die Sálivas, Maipures, Guamos, Otomacos, Guahíbos, Yaruros und Guaraúnos sowie Achaguas, Atabacas, Guaybas, Jiraras, Mapoyes und Tunebos; einige ihrer Sprachen und Kulturen wurden im 18. Jahrhundert durch Mönche, vor allem durch die Jesuiten Francisco Salvador Gilij und José Gumilla, aufgezeichnet.82 Ganz im Süden, im Parimegebiet lebten (und leben) die Yanomamis (guahibos), bis in das 20. Jahrhundert nur selten von Missionaren besucht.83 Die MissionareChronisten waren allerdings nicht über die Stromschnellen (raudales) des oberen Orinoko hinausgekommen; auch wenn Caulín schon eine Skizze des Casiquiare für José Solano y Bote (Zurita; Spanien, 6. März 1726 – Madrid, 1806) angefertigt hatte, der mit der Comisión de Límites entre los dominios Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 311-389, hier S. 348. 82 Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 71-73); Humboldt zitiert Gumilla (Humboldt, Vorabend ..., S. 185) und Gilij hatte Verbindungen zu Humboldt und zu deutschen Philologen, siehe: Giraldo Jaramillo, Gabriel, „Notas Bio-Bibliográficas sobre el P.F.S. Gilij y su ‚Saggio di Storia Americana’“, in: Boletín de Historia y Antigüedades XXXVIII, Bogotá (1951), S. 696-708; siehe auch: Rey, José del, S.J., “Estudio preliminar”, in : Pelleprat, P. Pierre, S.J., Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional. Estudio preliminar por Rey, José del, S. J., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 77), S. XIXLVII, hier S. XXI. 83 Ferguson, Brian, Yanomami warfare. A political history, Santa Fe: School of American Research Press, 1995. Michael Zeuske/Venezuela Seite 42 13.05.2016 españoles y portugueses (1753). Humboldt bezeichnete die Gegend hinter den Stromschnelles von Atures als im “freien Südamerika” liegend.84 Grundsätzlich muss zwischen den Wayúu-Nomaden der Trockengebiete (wie besonders im Norden der Halbinsel Goajira und der Halbinsel de Paraguaná rund um den Eingang zum Maracaibosee), sesshaften Bauern vor allem in Gebirgen und Hochländern, Jäger-Wildbeutern und saisonalen Gartenbauern, wie Yanomami, Warao-Sammlern/Fischern des Orinokodeltas (Karte zum Delta85) und Jotis sowie mestizisierten Viehjägern und Reitern auf Basis zerstörter und neu gebildeter Stämme (llaneros) unterschieden werden. Im Grunde könnte die Geschichte Venezuelas auch als der drei- bis vierhundertjährige Prozeß der Zerstörung kommunaler indianischer Siedlungsformen sowie Familienstrukturen und ihre gewaltsame Integration als Individuen niederen Status’ in die sich selbst als „zivilisiert“ darstellende Kolonialgesellschaft geschrieben werden. Eine gewisse objektive Grundlage hatte die „Zivilisation“ der Spanier in der Tatsache, dass die Siedlungsweise eben städtisch und nicht rural oder dörflich wie die der Indiovölker war. Dabei wurde ein einem komplizierten Prozeß versucht, das „indianische“ Erbe als unzivilisiert und barbarisch herunterzuspielen oder diskursiv völlig zu verschweigen. Kreolen, die vor allem auf das gute Land (oder andere Ressourcen) unter Kontrolle von Indios aus waren, bestritten lange, dass es überhaupt Indios in Venezuela gäbe. Missionare und Missionen spielten bei diesen Prozessen eine extrem sehr wichtige Rolle – indem sie kommunale Strukturen und Erinnerungen erhielten und bewahrten, auch wenn ihr Christianisierungsauftrag die Perspektiven verdrehte und ihr zeitgenössischer politischer Auftrag in der Kolonialzeit eher in der Vorbereitung der Conquista lag, wie eine Quelle von 1761 zum Ausdruck bringt: „La mayor parte de las 84 Alexander von Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, Havanna, den 21. Februar 1801, in: Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung; 16), S. 122-131, hier S. 126. 85 Heinen, H. Dieter, “Der kanobo-Kult bei den Warao des Orinoco Deltas und seine ethnohistorische Bedeutung”, in: Dürr, Eveline; Seitz, Stefan (eds.), Religionsethnologische Beiträge zur Amerikanistik, Münster [etc.]: LIT Verlag, 1997 (Ethnologische Studien; Bd. 31), S. 121-145, hier S. 123 (Karte 1: Das Orinoco Delta). Michael Zeuske/Venezuela Seite 43 13.05.2016 Provincias del Virreinato [de la Nueva Granada; Cumaná, Margarita, Trinidad, Guayana und Maracaibo gehörten bis 1777 formell zu Bogotá – M.Z.] sufre graves incomodidades, que causan los indios bárbaros que habitan en los montes inmediatos y tierras incultas, insultando los vecinos y poblaciones; impediendo el comercio; y privando a los vasallos de su cultivo y frutos. Y para su reducción y educación cristiana ... tiene Su Majestad destinados Misioneros Apostólicos ... auxiliándoles con escoltas de soldados donde son necesarios [Der größte Teil der Provinzen des Vizekönigreiches erleidet große Unbequemlichkeiten, die die barbarischen Indios verursachen, die in den nahen Wäldern und auf den unbebauten Feldern leben, die die Vecinos und Siedlungen beleidigen, indem sie den Handel behindern und sie behindern die Vasallen am Landbau und am Ernten. Und für ihre Unterwerfung und christliche Erziehung ... hat Seine Majestät apostolische Missionare bestimmt ... denen er, wenn es notwendig ist, mit Soldatenwachen hilft“.86 So kamen Missionare verschiedener Orden und Vereinigungen ins Land. Sie gründeten Missionen entweder in der Nähe der Küsten und in den Anden, aber auch in den Llanos, im Osten und am Meta, Apure und Orinoko sowie in Guayana (Dominikaner, Franziskaner, Augustiner87 sowie Säkularkleriker von Puerto Rico) – paradigmatisch sind vor allem die Franzikaner, Dominikaner und Jesuiten sowie später Kapuziner geworden.88 Moreno Escandon, Antonio, “Notas relativas al Plano geográfico del Virreinato de Santa Fe, que formón el doctor don Francisco Antonio Moereno Esacandon” (1761), in: Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes, selección y estudio preliminar de Arellano Moreno, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1970 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 93), S. 323-361, hier S. 332. 87 La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas. Cuerpo de Documentos para su historia (1513-1837), selección, estudio preliminar, introducciones especiales, edición y notas por Lino Gómez Canedo, 3 Bde., Caracas: Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 1974 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 121123); Campo del Pozo, P. Fernando, Historia Documentada de los Augustinos en Venezuela durante la época colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 91). 88 Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., passim; Cassani, S.J., P. Joseph, Historia de la Provincia de la Compañía de Jesús del Nuevo Reyno de Granada en la América. Estudio preliminar y anotaciones al texto por Rey, S.J., Academia Nacional de la Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 85); Rey Fajardo, S.J. Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela, 3Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1974 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 117-119); Carrocera, P. Buenaventura de, Misión de los Capuchinos en Cumaná. Documentos, 3 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 88-90); Carrocera, Misión de los capuchinos en los llanos de Caracas. Documentos, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1972 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 111 und 112). 86 Michael Zeuske/Venezuela Seite 44 13.05.2016 Grundsätzlich gilt für Venezuela, wie für viele andere Peripherien des entstehenden spanischen Reiches in Amerika in denen die Conquista erst nach 1560 wirklich einsetzte, dass die Ideologie, Spiritualität und Religiosität der Conquista auf nachtridentischen Grundlagen beruhte.89 Nachdem die Bettelmönche der Franziskaner und die Dominikaner gescheitert waren, prägten vor allem der neue Orden der Jesuiten und die reformierten Bettelorden der Kapuziner die Religiosität und Spiritualität von Conquista und Mission in dem Gebiet der Tierra Firme. Bei Widerstand der Indio-Völker organisierten Mönche und Soldaten Entradas. Die Franziskaner expandierten nach den anfänglichen Misserfolgen vor allem im Oriente.90 Die Missionen von Neu-Granada aus entlang der Flüsse Casanare, Meta und Orinoko bildeten die zweitgrößte Unternehmung des Jesuitenordens in Amerika; die Kapuziner in ihren andalusischen, katalanischen sowie aragonesischen Abteilungen als Unterorden der minderen Brüder erschlossen die westlichen Llanos de Caracas (heute vor allem Cojedes) sowie Gebiete im Westen des Maracaibosees und am Río Caroní.91 Es gab erste „vortridentinische“ Versuche der Missionierung 1514 bis 1521, dann folgten erste nachtridentinische Wellen zwischen 1575 und 1630, die meist scheiterten.92 Zwischen 1700 und 1770 setzte eine neue Etappe der Expansion der Mission ein, die jetzt vor allem auch die Llanos bis zum Orinoko erfasst. Pietschmann, Horst, “’Kulturtransfer’ im kolonialen Mexiko. Das Beispiel von Malerei und Bildlichkeit im Dienste indigener Konstruktionen neuer Identitäten“, in: North, Michael (ed.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln Weimar Wien: Böhlau, 2009, S. 369-390. 90 Gómez Canedo, “Los conventos del Oriente (siglos XVI-XVII)”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 87-96. 91 Siehe die Chronologie der Jesuiten-Missionen in Venezuela und in den Llanos: Rey, “Estudio preliminar”, in : Pelleprat, Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional ..., S. XI-XLVII, besonders S. XI-XIV; sowie: Carrocera, “Etapas y pueblos fundados”, in: Carrocera, Misión de los capuchinos en los llanos de Caracas ..., S. XXIX-XXXIII; Loy, Jane M., “Rebellion in the Colombian Llanos: The Arauca Affair of 1917”, The Americas Vol. XXXIV,4 (April 1974), S. 502-531; zum Hintergrund siehe: Hausberger, Bernd, “Die Mission der Jesuiten im kolonialen Lateinamerika” in: Hausberger (ed.), Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtrasfer seit dem Mittelalter, Wien: Mandelbaum Verlag, 2004 (Expansion, Interaktion, Akkulturatio. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt; 7), S. 79-102. 92 Las Misiones del Piritú. Documentos para su historia, selección y estudio preliminar por Lino Gómez Canedo, O.F.M., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 83 und 84). 89 Michael Zeuske/Venezuela Seite 45 13.05.2016 Ankunft der Kapuziner und interner Migration von Kanariern nach Amerika [Karte in Dokumente, Bd. III, S. 444].93 Um 1800 war die Mission in vielen Gebieten Spanisch-Amerikas verbunden mit der Grenzsicherung des spanischen Imperiums. In Venezuela war die Expansion in die Llanos im vollen Gange. Die Unabhängigkeit ändert in gewisser Weise die Frontstellungen, vor allem als José Tomás Boves, Tomás Morales oder Anführer von Pardo-Milizen, wie Manuel Piar, und Mantuano-Kreolen wie Bolívar, in die Llanos kamen und den LlaneroWiderstand für ihre Zwecke instrumentalisierten. Konflikte zwischen Republik sowie dem Heiligen Stuhl in Rom führten zum Abbruch der Missionierung zwischen 1810 und 1830. Die antirömische Position der postindependentistischen Regierungen bring es mit sich, dass erst um 1890 neue Missionversuche einsetzen.94 Bis in das 19. Jahrhunderts galten selbst einige der venezolanischen Städte in Küstennähe, die inmitten großer Massierungen indianischer Bevölkerung gegründet worden waren, als pueblos de indios, wie La Victoria, San Mateo, Cagua, Turmero und Maracay95, aber auch Trujillo und Maracaibo. Beim Übergang zur Unabhängigkeit existierten noch große Reste indianischer Völker in der Nähe der Städte.96 Erst die Konsolidierung eurokreolischer Staatlichkeit im 19. Jahrhundert, in der die Indios in keiner der Verfassungen berücksichtigt wurden97, vernichtete vor allem durch die liberale Landgesetzgebung 93 Caulín, Antonio, Historia de la Nueva Andalucía. Estudio preliminar y edición crítica de Pablo Ojer, S.J., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de Academia Nacional de la Historia, Bde., 81 und 82); Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, ed. Schmitt, Eberhard, 5 Bde., München: Verlag C.H. Beck, 1986-1888 (Bde. I-IV); ed. Schmitt; Beck, Thomas, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Bd. V) (im Folgenden: Dokumente, Bd.), Bd. III: Der Aufbau der Kolonialreiche, ed. Meyn, Matthias [et.al], 1987, S. 444: “Karte 12: Mission und Kirchenorganisation inSüdamerika im 18. Jahrhundert“;Hernández González, Manuel, Los canarios en la Venezuela colonial (1670-1810), La Laguna: Centro de la Cultura Popular Canaria, 1999. 94 Siehe den Artikel: “Lingüística”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4 Bde., Caracas: Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 962-971; Gómez Canedo, “Destrucción y extinción”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 171-176. 95 Cisneros, Joseph Luis de, Descripción exacta de la Provincia de Venezuela, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1981 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 149), S. 130 (Original 1764). 96 Sanoja, Mario, “La Sociedad indígena venezolana entre los siglos XVII y XVIII”, in: Párraga Villamarín, Eloy et al. (eds.), Venezuela en los años del general Rafael Urdaneta (1788-1845), Maracaibo, Venezuela : Universidad Rafael Urdaneta, Comité Ejecutivo de la Junta Organizadora del Bicentenario del Natalicio del General Rafael Urdaneta, 1988, S. 89-111. 97 Biord, Horacio, “La consagración de la irrealidad. Silencio constitucional en materia indígena en Venezuela (1830-1900)”, in: BANH, Nr. 350, Caracas (abril-junio de 2005), S. 85-110. Michael Zeuske/Venezuela Seite 46 13.05.2016 (Umwandlung von kommunalem indianischem Land in tierras baldías und Privatbesitz) ( zitieren Samudio aus Cardozo-Band 2007)98 sowie staatliche Erziehungsprogramme viele lokale Kulturen und drängte andere ab, auch weil Waraos und andere Völker Angst hatten, etwa von kreolischen Kautschuksammlern versklavt zu werden.99 Die lokalen Kulturen Venezuelas, das, was man für gewöhnlich als traditionelle Feste, Gastronomie, Musik, Handwerk, Architektur und allgemein als traditionelle Volkskunst bezeichnet, sind zutiefst von den lokalen Traditionen der Indio-Kulturen geprägt worden sowie von Afrovenezolanern [Karte].100 Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen neue Missionare ins Land. Venezuela erkannte unter Schwierigkeiten sein indianisches Erbe (u.a. die etwa drei Dutzend indianischer Sprachen) offiziell erst 1946 mit der Gründung des Instituto Indigenista Interamericano und dem Anschluss Venezuelas an das Abkommen von Pátzcuaro an.101 Bis heute sind die Indígena-Völker Venezuelas Gegenstand der Missionstätigkeit vieler Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie der Katholischen Kirche, aber auch von Lutheranern, Adventisten, Baptisten, Pfingstler sowie Mormonen. Klein-Venedig Venezuela hat eine Geschichte vor Miranda, Bolívar und Chávez. Venezuela hat auch Geschichten der Indiovölker und eine Kolonialgeschichte „vor der Nation“. Es ist die Geschichte einer entvölkerten Peripherie, deren Provinzen, wie sich schon vor dem 20. Jahrhundert (als deutlich wurde, dass Venezuela faktisch auf Öl schwimmt) herausstellte, unermessliche Heinen; Coppens, Walter, „Indian Affairs“, in: Martz, John D.; Myers, David, Venezuela: the democratic experience (revised edition), New York, Praeger, 1986, S. 364-383; Llambí, Luis, “Latin American Peasantries and Regimes of Accumulation”, in: European Review of Latin American and Caribbean Studies 51 (1991), S. 27-50. 99 Siehe die „Erinnerungen an die Sklaverei” älterer Waraos bei: Heinen, Oko Warao: Marshland People of the Orinoco Delta, Münster: LIT Verlag, 1988, S. 40f. 100 López Ortega, Antonio (ed.), Atlas de Tradiciones Venezolanas, Bogotá: C.A. Editora El Nacional; Fundación Bigott, 2005; Karte: “Fiestas y Danzas Folklóricas”, in: República de Venezuela, Atlas de Venezuela 1979, S. 319. 101 Heinen, H. Dietrich; Pérez, Antonio, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung Venezuelas”, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276, hier S. 269. 98 Michael Zeuske/Venezuela Seite 47 13.05.2016 Naturreichtümer bargen. Eine der wichtigsten Quellengattungen für Landschaften, Ressourcen, Orte, Menschen und Strukturen der Kolonialzeit sind die relaciones geográficas. Das waren umfangreiche Antworten auf Fragebögen, die vom Consejo de Indias den regionalen und lokalen Autoritäten (corregidores, alcaldes mayores, párrocos, curas de aldeas usw.) zugeschickt worden waren. Für Venezuela sind für das 16. Jahrhundert 11 Relaciones (1530, 1533, 1548, 1563, 1572, 1573, 1577, 1581, 1584 und 1592) bekannt, für das 17. Jahrhundert 4 (1604, 1621, 1635 und 1648), für das 18. Jahrhundert 10 (1730?, 1741, 1751, 1754, 1755, 1765, 1768, 1777, 1784 und 1791) und drei für das 19. Jahrhundert (eine 1807 und zwei 1812).102 Die Landschaften Venezuelas zeigen die Geschichte der Atlantikfassade Südamerikas und ihrer Hinterländer, einer gigantischen Region mit Andenbergen, riesigen Flüssen, insgesamt mehr als 1000, und Seen (Orinoko, Amazonas, Maracaibo- und Valenciasee), unendlichen Savannen (Llanos am Orinoco, am Apure und Meta, Llanos und Gran Sabana in Guayana103) und bergigen Urwald-Wassergebieten (Guayanas, Omaguas), die sich bis ins heutige Kolumbien und Brasilien sowie nach Guiana und Suriname hinziehen.104 In die riesigen Hinterländer einzudringen gelang den Spaniern und ihren Nachkommen, den Mestizen und criollos (Kreolen), in der Kolonialzeit nur ganz sporadisch. Insofern blieben die Kolonialstädte an der Küste eigentlich Agenturen einer atlantisch-kapitalistischen Meereskultur. Zwar finden sich indianische und Caboclo-Sklavenjäger schon im 17. Jahrhundert in der Orinoquía und Amazonía, aber erst im 19. und 20. Jahrhundert drangen Menschen der atlantischen Kultur massiv und direkt in die weiten Gebiete der Orinoquía und Amazonía vor. Vorher waren dort nur Indios, Missionare und Sklavenjäger sowie Schmuggler zu finden [Karte105]. Chacón Rodríguez, David R., “Prólogo”, in: María, Nectario, Hno., Historia de la conquista y fundación de Caracas. Semblanza biográfica y prólogo de Chacón Rodríguez, Caracas: Fundación para la cultura urbana, 2004, S. IX-XXIV, hier S. Xf. 103 Schubert, Carlos, La Gran Sabana: panorámica de una región, Caracas: Lagoven, 1989. 104 Relaciones Geográficas de Venezuela ..., passim. 105 Nördliche Atlantikfassade Südamerikas, siehe Karte in KolonialbilderKarten. 102 Michael Zeuske/Venezuela Seite 48 13.05.2016 Trotz der Naturschönheiten des Landes ist das Schicksal Venezuelas, auch bevor zum ersten Mal das Wort „kleines Venedig“ aus dem Munde von Amerigo Vespucci ertönte, keine schöne Geschichte. Es ist auch keine Karibikgeschichte à la Ferieninseln mit weißem Strand am türkisen Meer, Pampero-Rum und Trommelrythmen, obwohl es all dies in Venezuela zur Genüge gibt. Die Geschichte Venezuelas ist grausam, blutvoll, zerrissen, aber auch kreativ, spannend und interessant – und es ist eine fast paradigmatische Geschichte gescheiterter Utopien (im Schnelldurchgang 1500-2000: Mehrere Dorados, Perlenparadiese und grünes Gold des Kakaos, Freiheit „Amerikas“ und kontinentaler Bolivarismus, „lateinische“ Republik, „notwendige Diktatur“, Guerrilla-Revolution, „westliche“ Modernisierung und „stabile Demokratie“). Erstaunlich ist aber auch, dass sich Venezuela durch Rückgriff auf lokale Wurzeln und globale Ideen sowie Theorien immer wieder selbst erfunden hat – im Grunde wie ein Titan der griechischen Mythologie: immer wenn das Land den Boden berührte und am Tiefpunkt angekommen (oder verschwunden) war oder schien, erstand es quasi neu. Bis 1777 war „Venezuela“ eine Provinz neben den Provinzen Cumaná, Margarita, Trinidad, Guayana und Maracaibo mit einem gewissen Sonderstatus, da die anderen Provinzen außer Nueva Andalucia/Cumaná zwischen 1739 und 1777 formell zu Bogotá gehörten. Auf die Geschichte „vor Bolívar“ in dieser Abfolge von Venezuelas zu verweisen106, ist deshalb wichtig, weil die Kraft und viele Wurzeln der venezolanischen Historie, Memoria und Identität in die tieferen Schichten der Kolonialgeschichte oder sogar in die Geschichte der präkolonialen Zeiten (15000 v.u.Z. – 1500) hinabreichen – vor allem betrifft das die Bereiche des lokalen Geschichtsbewusstseins, der in der offiziellen Geschichte und in den Medien wenig repäsentierten Unterschichten der farbigen Venezolaner und der Venezolaner indianischer Abstammung.107 Das Problem Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, in: Revista de Indias (RI), Vol. LXI, Núm. 222 (MayoAgosto, 2001), S. 247-265. 107 Koselleck, Reinhard, “Über die Verfügbarkeit von Geschichte”, in: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur 106 Michael Zeuske/Venezuela Seite 49 13.05.2016 für den heutigen Geschichtsdiskurs ist, dass die vorkolonialen und kolonialen Epochen eine Geschichte „ohne Nation“ darstellen. Die historische Erinnerung und vieles im Verhalten sowie im Diskurs sind durch das Trauma der Eroberung und die nachfolgenden Territorialkonflikte der kreolischen Nachkommen der Conquistadoren und städtischen Eliten geprägt – bis heute. Kolonialismus ist nie nur Wirtschaft, Ausbeutung, Unterdrückung oder Strukturbildung und moderne Verwaltung (aber auch). Die Eroberung Venezuelas verharrte bis um 1560 im Zustand einer punktuellen Küstensiedlung, die kaum noch Beachtung fand. Die Gründung von El Tocuyo war der Neuorientierung geschuldet, die darauf beruhte, dass die Siedler sich nach Neu-Granada orientierten und nicht mehr auf die Karibik.108 Erst nach 1560 setzte ein neues Interesse ein, aus dem Zentrum El Tocuyo wieder zur Küste durchzustoßen. Von den Küstenpunkten brachen die Eroberer dann in neuen Conquistazügen (entradas) auf und gelangten tief ins Innere des nordöstlichen Südamerika, einer Gegend, in der erst seit 1952 die Quellen des Orinoco kartographiert worden sind. 109 Conquista und Entradas in Venezuela bedeuteten zunächst vor allem Eines: Razzien, Raubbau und Plünderungen. Gold wurde an den Küsten nur wenig gefunden. Aber es gab riesige Austernbänke. Nur dort, wo es auch Perlen gab, kam es zu frühen Siedlungsversuchen, so seit 1510 auf den Inseln Margarita und Cubagua.110 Kolumbus glaubte um 1498, auf seiner dritten Reise111, dem irdischen Paradies nahe zu sein – weil er die Süsswasserfluten des Orinoco im Golf von Paria für einen der großen Flüsse des Paradieses hielt. Der Admiral glaubte bis Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, 1989, S. 260-277. 108 Denzer, „Venezuela im Sog Neu Granadas: Desertion und Abwanderung“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft …, S. 164-165. 109 Vila, Pablo, “Etapas históricas de los descubrimientos del Orinoco“, in : Vila, Visiones geohistóricas de Venezuela, Caracas : Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1991, S. 51-80; Cunill Grau, “Leopoldo III y el ‘Alto Orinoco en dos tiempos’”, in: BANH, Tomo LXXXVIII, Nr. 352 (Oct.-Dic. 2005), S. 227-230. 110 Otte, Enrique, Las perlas del Caribe: Nueva Cádiz de Cubagua, Caracas: Fundación John Boulton, 1977. 111 Zur Debatte um eine mögliche Ankunft von Kolumbus an den Küsten Venezuelas schon Ende 1494, Anfang 1495 (wegen der Perlen geheimgehalten), siehe: Varela Marcos, Jesús; León Guerrero, María Montserrat, El Itinerario de Cristóbal Colón (1451-1506), Vallodolid: Diputación de Valladolid [etc.], 2003, S. 197. Michael Zeuske/Venezuela Seite 50 13.05.2016 an sein Lebensende, Asien erreicht zu haben. Aber in einer Art Eingebung sprach er angesichts der Paria-Küste von „neuen Himmeln und neuem Land, so wie es in der Offenbarung des Johannes heißt“.112 Auf einen anderen Entdecker, Alonso de Ojeda (oder Hojeda; Cuenca c. 1466 – Santo Domingo c. 1516) 1499-1500, bei dem sich Amerigo Vespucci (1451-1512) aus Florenz befand (der lange als Schiffsausrüster und Sklavenhändler in Sevilla wirkte113), geht die Bezeichnung „Venezuela“ (kleines Venedig) zurück. Angesichts der Pfahlbauten der Indios an den Küsten des Maracaibosees fühlten sich Ojeda, Juan de la Cosa und Amerigo Vespucci entfernt an Venedig erinnert.114 Jedenfalls findet sich der Name Venezuela zum ersten Mal auf der berühmten Karte von Juan de la Cosa (1500). Ojeda hatte Erfahrungen bei der Eroberung von Granada (in Spanien), er war seit der zweiten Fahrt von Kolumbus (1493) in der Karibik. Während der Überfahrt nach Venezuela landete Ojeda 1499 auch an der afrikanischen Küste. Es kann also durchaus sein, dass sich unter seinen Leuten schon zeitig schwarze Sklaven, Seeleute oder Lançados befanden. Männer des Schlages von Ojeda wurden in Amerika bald baquianos genannt, „alte Hasen“; sie waren Sklavenjäger und kannten das Territorium. Ojeda repräsentiert sehr gut den Übergang zwischen Kapitän, Entdecker, Sklavenjäger-Kaufmann und frühen Siedlern, denen die Indígenas den generischen Namen catire (Blonder) gaben. Ojeda hatte bei der Eroberung von La Española und Santo Domingo sehr aktiv mitgewirkt. Er Milhou, Alain, „Die neue Welt als geistiges und moralisches Problem (1492-1609)“, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S. 274-296, hier S. 275. 113 Arcila Farias, Eduardo, Economía colonial de Venezuela, México: Fondo de Cultura Económica, 1946 (Colección Tierra Firme; 24), S. 41; Ezquerra Abadia, Ramón, “Los primeros contactos entre Colón y Vespucio”, in: Revista de Indias (RI) Vol. XXXVI, Nos. 143-144 (1976), S. 19-47; Varela, Consuelo, Colón y los florentinos, Madrid: Alianza Editorial, 1988, S. 44-68; Varela, “Una compañía comercial”, in: Varela, Cristóbal Colón. Retrato de un hombre, Madrid: Alianza Editorial, 1992, S. 126-129; Mira Caballos, Esteban, „El proyecto esclavista de Cristóbal Colón“, in: Mira Caballos, Indios y mestizos americanos en la España del siglo XVI, prólogo de Domínguez Ortiz, Antonio, Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert-Iberoamericana, 2000, S. 46-48; Mira Caballos, Nicolás de Ovando y los orígenes del sistema colonial español,1502-1509, Santo Domingo, República Dominicana : Patronato de la Ciudad Colonial de Santo Domingo, Centro de Altos Estudios Humanisticos y del Idioma Español, 2000. 114 Caballero, Manuel, De la ‚pequeña Venecia’ a la ‚Gran Venezuela’, Caracas: Monte Ávila/UCV, 1997; Parra Grazzina, Ileana, „De pueblo de agua a ciudad-puerto, siglos XVI-XVII”, in: Memorias. Revista Digital de Historia y Arqueología desde el Caribe 4,4 Barranquilla (2006), S. 1-16 (www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias) (22. Januar 2006). 112 Michael Zeuske/Venezuela Seite 51 13.05.2016 beschaffte sich eine vertragliche Erlaubnis und das königliche Privileg (capitulación=Kapitulation, asiento=Kronvertrag115), nach Venezuela zurück zu kehren. 1501 wurde er zum Gouverneur von Coquibacoa ernannt. Das indianische Wort „Coquibacoa“ kann als der erste offizielle Name Venezuelas gelten. Wichtig an den Fahrten und Eroberungen Ojedas sowie an den nachfolgenden Fahrten und Taten der so genannten „andalusischen Entdecker“ an der im Gegensatz zu den Inseln der Antillen Tierra firme (festes Land) genannten Küsten des heutigen Venezuelas war die Tatsache, dass die KapitäneBaquianos sofort massive Sklavenrazzien betrieben. Die Sklavenjäger legten keine Dauersiedlungen an, wie Kolumbus seit seiner zweiten Fahrt, sondern begannen, zeitweilige Siedlungs- und Sklavensammlungssorte (rancherías) anzulegen.116 Nur Peralonso Niño und der Schiffszwiebackhändler Cristobál Guerra sollen eher friedlichen Handel mit Perlen, Kakao und Salz betrieben haben. Auch Kolumbus hatte wohl schon 1498 in der Nähe der Insel Cubagua Perlen eingetauscht. Auf der Insel Margarita war Kolumbus auf einen friedlichen Stamm getroffen, den die Spanier nach einem der vielen Sprachmissverständnisse guayqueríes (oder guaiqueríes; wohl Teil der guaraúnos, die später im Orinokodelta siedelten) nannten, der den Salzhandel der Region monopolisierte und sich schnell hispanisierte – zur Zeit Humboldt um 1800 galt die Bezeichnung Guayqueríes für Spanisch sprechende Indios und ihre Nachkommen.117 Rodrigo de Bastidas (1501/02) gelangte bis zum Golf von Darién zwischen dem heutigen Kolumbien und Panama. Er brachte Gold und Perlen mit Denzer, Jörg, „Die ‚Asientos’ – Kronverträge zur Eroberung Amerikas“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556. Historische Rekonstruktion, Historiographie und Lokale Erinnerungskultur in Kolumbien und Venezuela, München: C.H. Beck, 2005 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 15), S. 40-42. 116 Ramos [Pérez], Demetrio, “Alonso de Ojeda, en el gran proyecto de 1501 y en el transito del sistema de descubrimiento al de población”, in: Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 126), S. 29-112. 117 Thiemer-Sachse, “Primer encuentro y actitud de Alexander von Humboldt con los indígenas de Venezuela”, in: Rodríguez, José Angel (comp.), Alemanes en las regiones equinocciales. Libro Homenaje al bicentenario de la llegada de Alexander von Humboldt a Venezuela 1799-1999, Caracas: Alfadil Ediciones; UCV; AvH-Stiftung, 1999, S. 88-100; Acosta Saignes, Miguel, Estudios de etnología antigua de Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1954, S. 221-242. 115 Michael Zeuske/Venezuela Seite 52 13.05.2016 (aus der Gegend, in der er später Santa Marta gründete) sowie Informationen über das Gold der Andenbewohner. Juan de la Cosa wiederum, genialer Navigator und Kartograph der frühen Fahrten, erlangte auf seiner letzten Fahrt, die er zusammen mit Diego de Nicuesa und Martín Enciso unternahm, viele neue Informationen. Unter anderem die über einen guten Landeplatz in der Gegend des heutigen Cartagena. Die wichtigste Nachricht aber war sein toter Körper – von Giftpfeilen durchbohrt. Wo die anderen etwa siebzig getöteten Spanier begraben sind, wissen wir nicht. Schon 1499 war Ojeda bei Chichiviriche auf ein pueblo flechero getroffen; spätestens seit der Fahrt von Bastidas und de la Cosa wussten die Spanier, dass es an der Tierrafirme starken Widerstand einer kaleidoskopartigen Vielfalt von Indiovölkern gab. Und dass einige von ihnen Giftpfeile benutzten. Den Giftpfeilen der indios flecheros hatten die Spanier kaum etwas entgegen zu setzen.118 [Karte in: Handbuch119] Die Spanier schlossen „Freundschaft“ mit Stämmen, die sich nicht gegen sie wehrten oder mit denen sie auf den langen Märschen verhandeln konnten. Alle anderen Stämme und Völker – und das war die Mehrheit, vor allem die so genannten Kariben - wurden zu erbitterten Feinden. So leisteten beispielsweise die karibischen Caracas- und Tequesindígenas in der Gegend des heutigen Caracas unter dem Kaziquen Guaicaipuro (Guacaipuro) zwischen 1560 und 1570 so harten Widerstand, dass sich das Vordringen der Conquistadoren zwischen El Tocuyo und dem Ort unter dem Monte Ávila lange verzögerte.120 Die Folge war, dass Venezuela, ebenso wie die Inseln in der Karibik (vor allem die Lucayas/Bahamas und die kleinen Antillen) und vor den Küsten Mittelamerikas und Südamerikas sowie Yucatáns zum Sklavenjagdgebiet wurde Zeuske, Max, „Die andalusischen Fahrten und die vierte Reise des Kolumbus“, in: Zeuske, Die Conquista, Leipzig: Edition Leipzig, 1992, S. 38f.; Bitterli, Urs, „Die Erkundung der Küsten“, in: Bitterli, Urs, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe), S. 93-96. 119 Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, 3 Bde., ed. Bernecker, Walther L.; Buve, Raymond Th.; Fisher, John R.; Pietschmann, Horst, Tobler, Hans Werner, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994-1996, Bd. I: Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760, ed. Pietschmann unter Mitarbeit von Carmagnani, Marcello, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 246 (im Folgenden: Handbuch der Geschichte Lateinamerika, Bd.). 120 Nectario María, Hno., El cacique Guacaipuro, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1975; María, Historia de la conquista y fundación de Caracas. Semblanza biográfica y prólogo de Chacón Rodríguez, Caracas: Fundación para la cultura urbana, 2004. 118 Michael Zeuske/Venezuela Seite 53 13.05.2016 für die armadores, mercaderes und baquianos (Schiffsbesitzer, Kaufleute und Sklavenjäger) von Santo Domingo auf der Insel La Española (heute DomRep und Haiti). Seit 1508 kamen als Schwerpunkte spanischer Conquista und Kolonisierung noch Puerto Rico hinzu und, mit starken Abstrichen, Jamaika (ein Feudum der Familie Kolumbus) sowie schließlich Kuba.121 Auf all diese Inseln wurden massiv Indiosklaven aus dem Gebiet des heutigen Venezuela verschleppt. In einer der ersten Geschichten Venezuelas, in den Noticias Historiales des Franziskaners fray Pedro Simón (1627) heisst es: „De aqui ... salió la fama de la esclavitud de los indios [de Venezuela], la tomaron muchos por granjería, haciéndola así de los indios pacíficos como de los que resistían y defendían sus tierras ... Con esta codicia cada día salían navíos armados de la isla Española, y llegaban a toda la Tierrafirme que hay desdes Maracapana y Paria hasta el cabo de la Vela, andando todos a más coger de toda suerte de indios que podían haber a las manos, pacíficos y guerreros, y los llevaban a vender por esclavos a las partes donde hallaban de sus ventas mayores granjerías“.122 An anderer Stelle hebt Pedro Simón hervor: “Fueron increíbles los daños que en estos tiempos y los de antes, después de que se descubrieron estas tierras, se siguieron ... de haberse dado licencia para que se tuviesen por esclavos los indios. La cual tormenta y trabajos corrió más fuerte que en otras partes de la Indias, en la de esta Tierrafirme...”.123 Die Razzientrupps der Sklavenjäger zerstörten alles, was sie nicht mitschleppen konnten. Die Grundregel lautet: auf einen versklavten Indio kamen zwei getötete Indios. Viele der Sklaven starben beim Transport über See. Das scheint der wirtschaftlichen Logik des Sklavenhandels zu widersprechen. Allerdings nahmen die Spanier bis etwa 1515 an, es gäbe unzählige feindliche Indios. Je mehr sie davon außerhalb ihres direkten Herrschaftsbereiches auf La Española töteten, desto besser wäre das für ihre Sicherheit. Und gottgefällig natürlich, denn der Karibenmythos vom 121 Zeuske, Michael, Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich: Rotpunktverlag, 2004. Simón, Noticias Historiales de Venezuela …, Bd. I, S. 93. 123 Ebd., Bd. II. S. 9. 122 Michael Zeuske/Venezuela Seite 54 13.05.2016 blasphemischen Menschenfresser, von Kolumbus aufgebracht, hatte sich schon längst verbreitet. Dieser Mythos wurde zur Legitimationsikone europäischer Conquista in der Karibik.124 So wurden die venezolanischen Küste zum „natürlichen Hinterland“ der spanischen großen Antillen, vor allem Santo Domingos auf La Española, zum Zwecke des Sklavenfangs für Landwirtschaft und Goldwäscherei.125 Europäer und Afrikaner schleppten bei ihren Razzien Alte-Welt-Krankheiten ein; es kam zu Pandemien der Grippe, Schweinepest, Pocken, Pest, Typhus, Masern, Mumps und Diphtherie. Inwieweit Malaria und Gelbfieber schon in ganz Amerika verbreitet waren, ist umstritten. Im Gegensatz zu Europäern und Afrikanern waren die Indios nicht immun gegen die meisten dieser Krankheiten. Auf der Flucht vor den Sklavenjägern verbreiteten sie die Krankheiten, die sich in dicht besiedelten Gebieten zu schnell auflodernden Pandemien auswuchsen.126 Trotz oder gerade wegen dichter Vor-ConquistaBesiedlung wurde Venezuela so zeitig auch in demographischer Hinsicht zur Peripherie. Neue Siedlungen der Sklavenjäger und Perlenfischer (rancherías) entstanden nur auf Margarita und auf der wasserlosen Insel Cubagua (15101521).127 Die erste städtische Siedlung auf Cubagua wurde Nueva Cádiz genannt. Die Guayqueríes von Margarita (und vom Río Cumaná) freundeten sich als guatiaos (Indios, die ungeschriebene Verträge mit den Spaniern durch Namens- und Frauentausch abschlossen) mit den Spaniern an, andere KaribenVölker leisteten starken Widerstand. Wegen des Raubbaus begannen sich die Perlenbänke schon 1528 zu erschöpfen.128 Franziskaner und Dominikaner versuchten frühe Missionsprojekte einer (relativ) friedlichen Kolonisierung Venezuelas bei Hof durchzusetzen Zeuske, „Conquista und Sklaverei“, in: Zeuske, Schwarze Karibik …, S. 43-68; Zeuske, Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks, 1400-1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliografien, Münster/Hamburg/London: LIT Verlag, 2006 (Sklaverei und Postemanzipation, ed. Michael Zeuske, Bd. 1) 125 Friede, Juan, Los Welser en la conquista de Venezuela, Caracas, 1961, S. 91; Denzer, Jörg, “Die Welser in Venezuela – Das Scheitern ihrer wirtschaftlichen Ziele”, in: Häberlein, Mark; Burkhardt, Johannes (eds.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Berlin: Akademie Verlag, 2002 (Colloquia Augustana, Bd. 16), S. 285-319. 126 Pieper, Renate, “Die demographische Entwicklung”, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S. 313-328, hier S. 318ff. 127 Otte, Las perlas del Caribe ..., passim. 128 Zeuske, „Cubagua und die Perlenküste“, in: Zeuske, Die Conquista …, S. 122124 Michael Zeuske/Venezuela Seite 55 13.05.2016 (gobernación espiritual).129 Seit 1514 kamen Franziskaner-Mönche in die Gegend zwischen Río Cumaná, Piritú und Chichiriviche – um die Fehler der Conquista auf den großen Inseln der Karibik nicht zu wiederholen. Sie brachten unter anderem Heiligenbilder und die kastellanische Grammatik von Nebrija ins Land.130 Wegen Sklavenrazzien der Perlenhändler wurden einige der ersten Missionare zu getötet.131 Eine Kapitulation Karls V. vom 19. Mai 1520 übertrug den Dominikanern dann 300 Leguas zwischen Paria und Santa Marta, rund 50% der Küstenlinie des heutigen Venezuela. Auch dieses Unternehmen der „friedlichen Conquista“ scheiterte, weil Kariben-Indios bei einer Ansiedlung namens Nueva Toledo (später Cumaná) Missionare aus Rache für eine Sklavereirazzia töteten. Die Spanier von La Española und Cubagua waren auch nicht bereit, auf ihre Sklavenzüge an den Küsten des späteren Venezuela und auf den so genannten islas inútiles („unnütze Inseln“, weil kein Gold gefunden wurde) vor diesen Küsten zu verzichten. Nueva Toledo wurde zerstört und erst seit 1523 schleppend wieder bevölkert (zumal die Gegenschläge der Indios in vielen Gebieten bis in das 17. oder sogar 18. und 19. Jahrhundert anhielten).132 Bis 1525 waren die Spanier auf den Antillen und in Mittelamerika fasziniert von der Eroberung Mexikos (und danach von der Perus). Seit 1525, mit den Berichten über Gold in den Anden und Gerüchten über das „Land Birú“ (Peru)133, kam es zu einem neuen Interesse an den westlichen Teilen des heutigen Venezuela, vor allem am Gebiet zwischen Maracaibosee, Halbinsel Goajira und dem Golf von Urabá. Dort tummelten sich zunächst noch die „Alten“ unter Ojeda, bald ersetzt durch einen gewissen Francisco Pizarro und einen gewissen Vasco Núñez de Balboa. Im Juli 1513 hatte die Krone unter Ojer, “Intensificación de los contactos antillanos. La ‘Gobernación espiritual”, in : Ojer, El Golfo de Venezuela …, S. 55-58. 130 “Real cédula mandando a proveer a los catorce franciscanos que iban a las Indias (Madrid, 8 de noviembre 1516) y lista de las provisiones compradas para ellos, con el pago de las mismas (Diciembre 22, 1516)”, in: Gómez Canedo, “Los conventos del Oriente (siglos XVI-XVII)”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 349-354. 131 “Los martires de Paria (1534)”, in: Ebd., S. 383-390. 132 Ramos [Pérez], Demetrio, „El P. Córdoba y de Las Casas en el plan de conquista pacífica de Tierra Firme“, in: Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 126), S. 113-165. 133 Zeuske, „‘Birú’ und Tierra Firme“, in: Zeuske, Die Conquista …, S. 100129 Michael Zeuske/Venezuela Seite 56 13.05.2016 Pedrarías Dávila direkt aus Spanien eine von spanischen Adligen geführte Expedition in der Stärke von 1500 Mann nach Gold-Kastilien geschickt, um Conquistadoren wie Balboa und Pizarro zu Raison zu bringen. Auf dem Landweg von Panamá und Darién (diese Gebiete bezeichnete der Name „GoldKastilien“) nach Süden war aber kein Durchkommen nach dem Land „Birú“. Die Indios des Chocó, wo auch Gold abgebaut wurde, leisteten erbittert und erfolgreich Widerstand.134 Die Spanier fürchteten sie wegen ihrer Giftpfeile. Die Conquistadoren etablierten sich in Panamá. Sie suchten den Seeweg nach Peru. Als weitere Basis für den Vormarsch nach Peru wurde 1524/25 Santa Marta im Nordosten des heutigen Kolumbien, auf der Halbinsel Goajira, durch Rodrigo de Bastidas gegründet.135 In Santa Marta herrschten bald Chaos, Hunger und Konflikt unter den Conquistadoren, auch wegen des erbitterten Widerstands der Indios. An Juan de Ampiés dem Jüngeren, einer der ersten Vecinos von Santo Domingo auf La Española, wurde 1526 eine weitere Kapitulation über die Inseln der Giganten (Aruba, Bonaire, Curaçao) vergeben. Antonio Herrera y Tordesillas überliefert eine Aussage über Juan de Ampiés, die uns über die Mechanismen und Legitimationen des karibischen Slaving aufklärt: “Juan de Ampués, Factor Real en la isla de Española, hizo relación al Rey que habiendo el año mil quinientos y trece, teniendo los Reyes Católicos información que, por no haber forma para adoctrinar los indios de las islas inútiles, convenía que los llevasen a la Española, y que fueron declaradas por islas inútiles las de Curaba, Curaco y Buynare...”.136 Der Legende nach soll Ampiés sie Stadt Santa Ana de Coro gegründet haben im Siedlungsgebiet der friedlichen Paraguaná-Indios, 134 Williams, Carolina A., Between Resistance and Adaptation. Indigenous Peoples and Colonisation of the Chocó, 1510-1753, Liverpool: Liverpool University Press, 2004. 135 Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada, por Fray Pedro de Aguado, con prólogo, notas y comentarios por Becker, Jerónimo, 2 Bde., Madrid: Establecimiento tipográfico de Jaime Ratés, 1916-1917; Aguado, Fray Pedro de, Recopilación Historial de Venezuela; estudio preliminar de Guillermo Morón, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 62 und 63); siehe auch: Fals-Borda, Orlando, “Fray Pedro de Aguado, the Forgotten Chronicler of Colombia and Venezuela”, in: The Americas 11:4 (April 1955): S. 539-573. 136 Herrera [y Tordesillas], Antonio, Historia general de los hechos de los castellanos en las islas y tierra firme del mar océano [1601-1615], 17 Bde., Madrid : Academia Real de la Historia, 1934-1957, Bd. VII (1947), Dec. III, lib. IX, cap. II, S. 361-365, hier S. 362f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 57 13.05.2016 Kaquetíos unter der Führung des spanienfreundlichen Häuptlings Manaure.137 In Wirklichkeit fand er Handelspartner im Sklavengeschäft in der Indiosiedlung Todarequiba. Die Siedlung wurde als „Coro“ Ausgangspunkt der Goldsuche nach dem „Dorado“ in den Provinzen Venezuela und Santa Marta, aber auch darüber hinaus bis zum Amazonasbecken. Grundlegend war zunächst für alle Unternehmungen dieser frühen Zeit, dass die Spanier „Freundschaft“ mit Indio-Völkern schließen konnten. Die Spanier (und unter den Welsern auch die Deutschen) nutzten diese „Freundschaften“, wie auch die Feindschaft zwischen Aruak und Kariben aus, um ungeschriebene Verträge mit den Kaziken zu schließen, ihre Vornamen mit den Eliten der Indios zu tauschen sowie Nachkommen mit den Töchter von Kaziken zu zeugen und damit Kontrolle über die Clans der Indios zu gewinnen.138 Wirklicher Gründer der Stadt Coro wurde der Ulmer Ambrosius Alfinger. Der spanische Chronist López de Velasco schrieb: „Die Stadt Coro, die man gewöhnlich Venezuela nennt …“.139 Coro wurde die erste Hauptstadt und die erste einigermaßen stabile Siedlung Venezuelas. Der Hafen der Stadt Coro, etwa 12 Kilometer entfernt, hieß La Vela de Coro (seit 1555 kartographisch nachgewiesen). Lange konnte sich Ampiés, der vor allem im Auftrag der Kaufleute140 und Siedler von Santo Domingo als Sklavenhändler handelte, der Neugründung nicht erfreuen: die Deutschen rückten an. Der Kaiser selbst griff wieder ein. Zur etwas bemühten Debatte um „Ampiés oder Alfinger“, siehe: Denzer, „Santa Ana de Coro“, in: Ebd., S. 290294; siehe auch: Ramos, La fundación de Venezuela (Ampiés y Coro: una singularidad histórica), Valladolid: Ed. Demetrio Ramos, 1978; ob Ampiés wirklich Gründer war, ist nicht ganz klar, siehe: Denzer, Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika …, S. 70. 138 Szászdi León-Borja, István, „Guatiao, los primeros Tratados de Indias“, in: Actas y Estudios del IX Congreso del Instituto Internacional de Historia del Derecho Indiano, Madrid 1991, Bd. I, S. 405-438; Szászdi León-Borja, „Las élites de los cristianos nuevos: Alianza y vasallaje en la expansión atlántica (1485-1520)“, in: JbLA 36 (1999), S. 7-31; Denzer, „’Freundschaft’: Das Verhältnis zwischen Konquistadoren und Eingeborenen auf den Entradas“, in: Denzer, Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika …, S. 82-84. 139 „Corografía de la Gobernación de Venezuela y (de la) Nueva Andalucía, (años de) 1571-1574, por Juan López de Velazco“, in: Relaciones Geográficas de Venezuela ..., S. 97-109, hier S. 99. 140 Zu den Verbindungen zwischen Santo Domingo und Sevilla, siehe: Otte, “Los mercaderes transatlánticos bajo Carlos V”, in: AEA Vol. XLVII (1990), S. 95-121. 137 Michael Zeuske/Venezuela Seite 58 13.05.2016 Los Belzares: Schwaben, Schweizer und ein paar Sachsen kommen „Ya con hambre, ya con alimentos / todos con Federman iban contentos [Mit Hunger oder mit Essen / mit Federmann zogen alle selbstvergessen]“141 Um 1528 war das Gebiet des heutigen Venezuela, ähnlich wie das heutige Nicaragua und Costa Rica zwischen 1527 und 1650, ein Grenz- und Sklavenfanggebiet, eine „wilde Küste“ – entweder zur Belieferung von La Española und Kuba oder zur Belieferung der Perlenfangzentren um Cubagua, Margarita oder Cumaná mit Sklaven. Daran änderte sich auch nach 1528 nichts. Las Casa beschreibt eine solche Sklavenfangrazzia entlang des Río Yuyaparí (ev. der Río Yaruarí, der über den Río Cuyuní ins Innere Ostvenezuelas führt) für 1529: „Por la provincia de Paria sube un río que se llama Yuyaparí, más de doscientas leguas la tierra arriba; por él subió untriste tirano michas leguas al año de mil e quinientos e veinte y nueva con cuatrocuientos o más hombres, e hizo matanzas grandísimas, quemando vivos y metiendo a espada infinitos innocentes que estaban en sus tierras y casas sin hacer mal a nadie, descuidados, e dejó abrasada e asombrada y ahuyentada muy gran cantidad de tierra” [In der Provinz Paria steigt ein Fluss auf, der sich Yuyaparí nennt, mehr als zweihundert Leguas aufwärts; auf ihm fuhr ein trauriger Tyrann [Sklavenjäger – M.Z.] herauf im Jahr 1529 mit vierhundert oder mehr Männern und machte größte Abschlachtungen, er verbrannte Lebendige und metzelte durch das Schwert Unzählige, die in ihrer Heimat und in ihren Häusern waren und keinem ein Leid taten, ungeschützt, und er liess einen großen Landstrich zerstört und verbrannt zurück, aus dem die Leute geflohen waren].142 Die Augsburger Welser bekamen in einer Reihe von Verträgen 1528143 die Gobernación („Herrschaft“ im Sinne von Regiment) über „Provinz 141 Joan de Castellanos, zit. nach: Campo del Pozo, P. Fernando, Historia Documentada de los Augustinos en Venezuela durante la época colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 91), S. 9. 142 Las Casas, “Del río Yuyaparí”, in: Las Casas, Bartolomé, Obra indigenista, Alcina Franch, José (ed.), Madrid: Alianza Editorial, 1985 (El libro del bolsillo), S. 42 (aus: “Brevíssima relación de la destruyción de las Indias”, in: Ebd., S. 61-151). 143 Cédulas reales relativas a Venezuela, compilación y estudio preliminar por Otte, Caracas: Fundación John Boulton : La Fundación Eugenio Mendoza, 1963; „Der Vertrag zwischen der Krone einerseits und Heinrich Ehinger sowie Hieronymus Sailer andererseits. 27. März 1528“, in: Simmer, Götz, Gold und Sklaven: Die Provinz Michael Zeuske/Venezuela Seite 59 13.05.2016 Venezuela und Cabo de la Vela“ vom Kaiser zugesprochen.144 Die Welser schienen in ihren Kolonialengagement in diesem Teil des heutigen Venezuela145 (sowie auf den Kanaren, Kuba und Santo Domingo) ein eher - heutig gesprochen - Gewinn- und Modernisierungsinteresse nach dem damaligen Stand der Globalisierung zu haben: Kaufleute und Finanziers investieren in hoch spekulative Edelmetallsuche und Jagd nach Spezereien – ausgelöst durch die Nachrichten über die Eroberung Mexikos des Hernán Cortés und in Konkurrenz zum portugiesischen Gewürzmonopol. Den Verträgen mit der Krone146 nach wollten und sollten die Welser auch Städte und Schifffahrtslinien gründen, Siedler und europäische Bergwerkspezialisten sowie Sklaven aus Afrika nach Amerika bringen. 147 Die Welser führten weder Encomiendas ein noch machten sie Landverteilungen (mercedes, composiciones). Beim Welser-Unternehmen in Venezuela wurde besonders deutlich, dass in der Conquista Amerikas sich seit der Ablösung von Kolumbus durch einen von der Krone gesandten Vertreter um 1500 zwei entgegen gesetzte Kräftegruppierungen gegenüber standen, die allerdings durch eine Vielzahl von Querverbindungen und Interessen in Gemengelage nicht immer einfach zu unterscheiden sind. Lokale Kräfte von Conquistadoren, Schiffsausrüstern (armadores), Kaufleuten und Siedlern sowie compañas von Conquistadoren, die aus dem común (eine Gruppe von Soldaten) und ihren Anführern, den capitanes Venezuela während der Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag, 2000, S. 757770. 144 Archivo General de Indias, Sevilla, Audiencia de Caracas, Registros de Oficio y Partes. Reales Ordenes, Resoluciones, etc., para las autoridades y particulares de la provincia de Venezuela (1533-1604), Legajo 1, Documento 4 : Bestätigung, dass die Welser durante la vida de los dichos Bartolomé und Antonio Belzar [während des Lebens der besagten Bartolomäus und Anton Welser] das Recht haben Gouverneure zu ernennen, abzusetzen und zu versetzen ; das Recht bezieht sich auf die „provincia de Venezuela y Cabo de la Vela“ (Karl V., Madrid, 5. Oktober 1535, an Bartolomé und Antonio Belzar). 145 Entspricht etwa der westlichen Hälfte des heutigen Venezuela und dem nordöstlichen Teil des heutigen Kolumbien, ohne Begrenzung in Richtung Inneres des Kontinents. 146 Großhaupt, Walter, „Der Venezuela-Vertrag der Welser“, in: Scripta Mercaturae 24, Heft 1/2 (1990), S. 1-35. 147 Simmer, Gold und Sklaven …, passim; Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, in: Otte, Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, Vollmer, Günter; Pietschmann (eds.), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 58), S. 117-159; Otte, „Jakob und Hans Cromberger und Lazarus Nürnberger. Die Begründer des deutschen Amerikahandels“, in: Ebd., S. 161-197; Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod. Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und Finanzinteressen bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in : Ebd., S. 199-233. Michael Zeuske/Venezuela Seite 60 13.05.2016 oder adelantados148 bestanden sowie stärker zentralistisch orientierte Kräfte, die direkter mit der Krone in Spanien verbunden waren. Die Konflikte, Intrigen und Kämpfe, die daraus resultieren, zeigten sich auch in der Geschichte des frühen Venezuelas. Kompliziert war das Konfliktgeflecht oft auch deswegen, weil in den neu endeckten Gebieten Stellvertreterkämpfe ausgefochten wurden. Die Entdeckung, Conquista und Besiedlung de las Indias149 war ein Privileg der Kastilier gewesen und so sollte es laut Testament von Königin Isabella (gest. 1504) bleiben, auch als nach 1502 von einem Mundus Novus150, von einer Neuen Welt, gesprochen wurde. Ferdinand der Katholische machte es sich nun zur Aufgabe, einerseits die Konflikte zwischen Aragonesen und Katalanen sowie Basken (deren König er war) sowie Kastiliern durch Betonung des Spaniertums abzubauen und andererseits die Unterschiede zwischen Spaniern und „Fremden“ zu betonen. „Fremde“, extrajeros, waren damals vor allem „Flamen“ (Niederländer, im englischen Wort Dutch = Deutsche) – der Sohn der Tochter des Königs Ferdinand, Juana, mit Philipp von Habsburg, Karl (1500 in Gent geboren), später Karl V. kam aus Flandern - und alemanes (worin der Begriff Alemannen=Deutsche leicht zu erkennen ist; für die die Engländer erst im 16. Jahrhundert ein neue, sozusagen „humanistisches“ Wort, Germans, erfinden mussten). Und Franzosen sowieso, aber auch Schweizer, die ja durchaus auch, zumindest in der Nordschweiz, unter Alemannen gefasst werden 148 Góngora, Mario, Los grupos de conquistadores en Tierra Firme (1509-1530). Fisonomía histórico-social de un tipo de conquista, Santiago de Chile: Universidad de Chile, Centro de Historia Colonial, 1962. 149 Las Indias, die Indien, wurde Amerika in dieser frühen Zeit in Spanien genannt; der Name „America“ wurde erst 1507 von dem lothringischen Kosmographen Martin Waldseemüller in Auswertung der Reisen des Amerigo Vespucci mit Ojeda nach Venezuela und nach Brasilien (nach dem Vornamen Amerigo) „Land des Amerigo“ (Americe) und, wegen des Wohlklanges, America genannt. Genauer gesagt war dieser Name auf der berühmten Weltkarte (in der Cosmographiae Introductio, 1507) dem nördlichen Südamerika (also auch Venezuela) vorbehalten, während Nordamerika noch wie eine große Insel erscheint (siehe: „Der Ursprung des Namens „Amerika“: Auszug aus der „Cosmographiae introductio“ des Martin Ringmann und Martin Waldseemüller (1507)“, in: Dokumente, Bd. II: Die großen Entdeckungen, ed. Schmitt, Eberhard, München: Verlag C.H. Beck, 1984, S. 13-17). In Spanien wurde bis in das 18. Jahrhundert die Bezeichnung las Indias de Castilla (die Indien Kastiliens) oder los reinos ultramarinos (die überseeischen Königreiche) – nach formaler Rechtslage waren sie keine Kolonien – benutzt. Erst seit 1750 setzte sich Amerika als Bezeichnung breitflächig durch, siehe: Milhou, „Die neue Welt als geistiges und moralisches Problem (1492-1609)“, in: Handbuch, Bd. I, S. 274-296. 150 “Amerigo Vespucci berichtet Lorenzo di Pier Francesco de’ Medici über die Bewohner der Neuen Welt (1502)”, in: Dokumente, Bd. 2, S. 174-181; zum gedruckten Text des Mundus Novus (erstmals 1503/04 in Paris), siehe: Die Neue Welt: Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, ed. und mit einer Einleitung versehen von Rodríguez Monegal, mit zeitgenössischen Illustrationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 81-88. Michael Zeuske/Venezuela Seite 61 13.05.2016 können. Genuesen, Florentiner und Neapolitaner hatten es dagegen leichter, weil italische Kaufleute schon seit langem in den großen Küstenstädten der iberischen Halbinsel wirkten. Die unbeliebten „Fremden“ galt es, von Amerika fern zu halten, denn sie drängten mit dem Ehemann von Juana „der Wahnsinnigen“, Philipp I., „dem Schönen“ in die iberische Politik und Wirtschaft. Juana war die Tochter von Isabella und Ferdinand. Die Fremden drängten auch in das sagenumwobene Indien, die „Neue Welt“. Ferdinand ließ eine Expertengruppe bilden, die am Hof, angeführt von Schatzmeister Miguel de Pasamonte, und in der Karibik um Diego Colón, den Sohn des Entdeckers, im Namen und Auftrag des Königs operieren sollte. Dabei kam es innerhalb dieser Gruppe vor allem „on the spot“, also in der Karibik, immer wieder zu starken Friktionen. Diego Colón war eben Vizekönig. Und er übte vor Ort in La Española die Macht aus. Das führte dazu, dass Ferdinand von Aragón, angesichts der – aus seiner Sicht – Selbstherrlichkeiten von Diego Colón (dazu kam ein für Colón positives Gerichtsurteil 1511) die Anstrengungen in und um die ausländerfeindliche Gruppe der Fernandinos verstärkte. Eines der ersten Ergebnisse dieser Anstrengungen war 1511 die Ernennung von Juan de Ampiés zum königlichen Faktor auf der Insel Española, den anderen Inseln Indiens und der Tierra Firme. Als König Ferdinand 1516 starb, trat eine Regentschaft unter Kardinalprimas Cisneros ihr Amt in Spanien an (bis 1517, als der spätere Karl V. als Carlos I die Macht im Namen seiner Mutter Juana antrat). Cisneros schickte eine Kommission von Hieronymiten-Mönchen nach Amerika.151 Diese machten Ampiés zum Faktor für alle Indios, die nicht auf La Española residierten. Das bedeutete, je nach Interpretation, Ampiés konnte als „Schützer der Indios“ agieren oder er wurde zum Bestimmer darüber, ob sie als „Kariben“ angesehen wurden und versklavt werden durften. Ampiés tendierte zu Letzterem. Besonders insistierte Ampiés darauf, dass man ihm zwei Gebiete zu direkten Otte, „Los Jeronimos y el tráfico humano en el Caribe : una rectificación”, in: Anuario de Estudios Americanos (AEA) Vol. XXXII (1975), S. 187-204. 151 Michael Zeuske/Venezuela Seite 62 13.05.2016 Kontrolle überließe (woher offensichtlich damals die Masse der Indiosklaven nach La Española, Kuba und Puerto Rico kam): die von Anderen als ziemlich gering bewerteten islas inútiles („unnütze Inseln“ - vor allem Bahamas, kleine Antillen und die der venezolanischen Westküste vorgelagerten ABC-Inseln Aruba, Bonaire und Curaçao) sowie die trockene tierra caquetía an der Tierra Firme, der Küstenstreifen von Coro bis zum Maracaibosee (den man in dieser Zeit, seit 1530 samt Barquisimeto-Tal, noch für einen Zugang zum „Südmeer“ (Südsee, Pazifik) hielt. Die Landung Ampiés in Coro 1527 war ein Ergebnis seiner Indio-Aktivitäten – das Ziel hieß einerseits immer noch verschärfter Sklavenhandel sowie mehr Perlen. Strategisch sollten der Ort an den Küsten der Tierra Caquetía Ausgangspunkt für die Suche nach „Birú“ (Peru) oder ein anderes „Goldreich“ oder die Inseln der Spezereien im Südmeer sein.152 Diesen Plänen kamen die Geldnöte des Kaisers und Königs Karl in die Quere.153 Karl stammte aus Flandern. Er war der Sohn von Juana „der Wahnsinnigen“ (Tochter Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragón) und Philipps I., „des Schönen“ (Sohn Kaiser Maximilians von Habsburg); geboren in Gent im Jahr 1500. Im Grunde zeigte sich damit schon am Beginn der Entwicklung monarchischer Nationen in Europa, dass an ihrer Wiege Kapital (im Sinne von angehäuftem und auf Investition drängenden Kaufleute-Gewinnen) und Globalisierungstendenzen standen. Die Erschließung der Provinz Venezuela [Karte 154] öffnete den Welsern potenziell eine Reihe wirtschaftlicher Optionen, einschließlich des Abbaus von Bodenschätzen, der Ausbeutung von Perlenvorkommen, der Produktion von 152 Gil, Juan, Mitos y utopías del descubrimiento (Colón y su tiempo), 3 Bde., Madrid: Alianza Editorial, 1992 (vor allem Bd. III); Edelmayer, Friedrich, “Hispanoamerika im 16. Jahrhundert”, in: Edelmayer; Grandner, Margarete; Hausberger, Bernd (eds.), Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien: 2001, S. 61-82; Lima, Blanca de, „Presencia y actuación de los Welser en la provincia de Coro“, in: Rodríguez (comp.), Alemanes en las regiones equinocciales ..., S. 14-34. 153 Tracy, James D., „Der Preis der Ehre: Die Finanzierung der Feldzüge Kaiser Karls V.“, in: Kohler, Alfred; Haider, Barbara; Ottner, Christine (eds.), Karl V. 1500-1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Wien: Verlag der Österreich. Akademie der Wissenschaften, 2002 (Zentraleuropa-Studien Bd.6), S. 153164. 154 Arellano Moreno, Antonio, Origenes de la economía venezolana, Caracas: Universidad Central de Venezuela; Ediciones de la Biblioteca, 1973, S. 78. Michael Zeuske/Venezuela Seite 63 13.05.2016 Agrargütern, der Teilnahme am Sklavenhandel und der Utopie einer via corta zu den Molukken (der „Inseln der Spezereien“ im Südmeer).155 Die Firma bezog Anfangs alle Optionen ernsthaft in ihre Kalkulationen ein. Zudem hatten die Welser große Erfahrungen im Handel mit Gewürzen, damals Spezereien (especerías) genannt, worunter man alle möglichen Gewürze und Gerüche, wie Pfeffer, aber Muskat oder Muskatblüte, auch Zucker, verstand. Die Faktoren (führende Angestellte) des Welser-Unternehmens in Venezuela, vor allem die erste Generation ihrer Gouverneure, alcaldes mayores (Oberrichter) und wirtschaftlich Verantwortlichen, stammten aus dem oberschwäbischschweizerischen Raum (Konstanz, Ulm, Memmingen, St. Gallen, Bern und Lindau) – fast alle mit Erfahrungen in Spanien- und Mittelmeerhandel.156 In Amerika hatten die Welserangestellten beträchtliche Entscheidungsfreiräume, mussten aber für die Ausrüstung von Expeditionen auf eigenes Risiko Kredite beim Stammhaus in Europa aufnehmen. Deshalb hatten sie an nachhaltigen Projekten wenig Interesse. Zudem bekamen sie nur Zeitverträge und verhielten sich von Anfang an illoyal. Ob die Welserchefs in Augsburg, ähnlich wie Anton Fugger (1493-1560) gleichen Orts, parapsychologische Fähigkeiten hatten und ihre Angestellten in Venezuela in einer Kristallkugel zu beobachten suchten, ist nicht bekannt.157 Bereits Anfang der dreißiger Jahre wurde das Montanprojekt der Welser – vor allem durch die Faktoren Nikolaus Federmann (aus Ulm) und Ambrosius Alfinger (wahrscheinlich aus Ulm) – torpediert. Die Faktoren waren mehr an Plünderungen indianischer Schätze, Grabraub und an Sklavenjagd interessiert, als an langfristigen Prospektionen, kostspieligen Montananlagen und Bergbau. Ramos, „Diego Caballero y su capitulación para el Maracaibo – como via hacia la Especería – y la posible atracción de los Welser”, in: Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bd. 126), S. 167-178. 156 Eitel, Peter, Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft, Ravensburg: Ulmer Volksbank, Filiale Ravensburg, 1984; Widmann, Werner, Die Bodenseehanse: aus der Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, München: Bayerische Vereinsbank, Zentralbereich ÖAV, 1988; Denzer, „Die Welser-Faktoren in Übersee. Ihre Herkunft und die Auswirkungen ihrer Stellung in der Gesellschaft auf das Übersee-Unternehmen“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S., 59-68. 157 Roper, Lydal, „Bedrohte Männlichkeit. Kapitalismus und Magie in der frühen Neuzeit“, in: Roper, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt: Fischer, 1995, S. 127-133. 155 Michael Zeuske/Venezuela Seite 64 13.05.2016 Ob das auch für die Mannschaften zutrifft, ist unbekannt, aber wahrscheinlich. Die Bergleute, die die Welser etwa aus dem Erzgebirge, aus Tirol oder aus dem Harz nach Amerika geschickt hatten, wurden unter diesen Umständen in die Mannschaften der Conquista-Züge eingereiht.158 Übrig blieben Plünderungen und heldenhafte Märsche der Conquistazüge, entradas (Razzien) genannt, die auf Suche nach Mythen, Gold und Sklaven in Indianergebiete führte und dort oftmals - um bei ihrer geringen Anzahl maximalen Schrecken gegen kriegerische Indios zu verbreiten - alle Männer als Träger verschleppten, den Rest umbrachten und alles in Schutt und Asche legten. Wenn die Indios nicht „Freundschaft“ mit den Conquistadoren schlossen und ihnen friedlich Nahrungsmittel, Träger und Frauen stellten. Das war übliche Praxis aller Conquistadoren, auch wenn Las Casas einige der deutschen Entrada-Anführer, speziell Ambrosius Alfinger, als besonders grausam darstellte und als Lutheraner verteufelte.159 Ganz abgesehen davon holten sich die oberdeutschen und Schweizer Konquistadoren bei vielen Kämpfen mit Indios blutige Köpfe und konnten oftmals nur überleben, weil sie sich Kulturvermittlern bedienten, die bei den Indios gelebt und deren Sitten angenommen hatten.160 Aber nicht nur Las Casas war gegen die Deutschen, als wichtiger erwies sich die Rebellion der spanischen Siedler von Coro und ihrer Aruak-Frauen gegen die Reste der Welser-Verwaltung nach dem Bekanntwerden des Todes von Ambrosius Alfinger. Die Krone erfüllte die meisten Forderungen der Rebellen. Schon nach zwölf Jahren war die frühe Globalisierungs-Utopie dahin. Schicksalhaft gestaltete sich die Entscheidung der Augsburger Herren 1540161, die meisten der Anfangs-Optionen endgültig fallen zu lassen und sich auf die Suche nach Gold und die Eroberung von Indianer-„Gold“-Reichen zu Denzer, „Die Sabotierung des Montanprojektes“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger WelserGesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 79-81. 159 Casas, Bartolomé de las, Brevísima Relación de la Destruición de las Indias, Madrid, 1999, S. 147; der Rücktransport des Goldes der Alfinger-Entrada (1531-1533) ist eines der bestdokumentierten Beispiele für Kannibalismus unter den Conquistadoren, siehe: Friede, Juan, „La extraordinaria experiencia de Francisco Martín (1531-1533), con nota preliminar de Juan Friede“, in: Boletín Histórico 7 (Enero de 1965), S. 33-46. 160 Ebd. 161 Nachdem sie von der Entscheidung erfahren hatten, Cundinamarca und Venezuela zu trennen, siehe unten. 158 Michael Zeuske/Venezuela Seite 65 13.05.2016 konzentrieren. Viele dieser Reiche waren schlicht erfunden und existierten nur als Mythos (griechisch: Erzählung). Da aber zugleich einige eroberte Reiche (wie die der Azteken und Inkas) wirklich viel Gold und Schätze eingebracht hatten, wirkten die Mythen. Von 1541 bis 1546 zogen 100 KonquistaVeteranen, alle beritten, unter den deutschen Ritter Philipp von Hutten durch die feuchten Urwälder Südvenezuelas und der Amazonía, die bis heute nicht vollständig erforscht sind.162 Die letzte Entrada Huttens brachte die Firma zusätzlich in finanzielle Schwierigkeiten. Als Philipp von Hutten weit im Süden bei den „Amazonen“ war und dort mehrere Niederlagen einstecken musste, glaubten die Siedler von Coro einerseits, er und seine Leute seien tot, andererseits brach in Coro Chaos aus, weil auch einer der letzten oberdeutschen Faktoren, Heinrich Rembold, 1544 gestorben war. Andererseits deutlich wurde, dass die Welser in Augsburg, die damals als die „reichste Stadt der Welt“163 galt, nicht mehr gewillt waren, frische Gelder in das Venezuelaunternehmen zu stecken. Krone und Indienrat in Spanien mussten reagieren, zumal auch immer mehr Klagen der Spanier in Venezuela über die Deutschen kamen. Als Stellvertreter eines Stellvertreters zur Untersuchung der Vorgänge in Coro wurde ein Notar (was damals vor allem bedeutete: des Lesens und Schreibens Kundiger Rechtsgelehrter) namens Juan de Carvajal als Richter nach Coro geschickt. Carvajal hatte vorher lange in Maracaibo und Coro gewirkt (etwa vergleichbar mit der frühen Karriere von Hernán Cortés auf La Española und Kuba) und war entschlossen, seine Chance zu nutzen. Er bekam GouverneursVollmachten nur für Coro. Als Carvajal im Januar 1545 in der Stadt ankam, erfasste er die explosive Stimmung. Die letzte von den Welsern finanzierte Expedition unter Hutten schien verschwunden; der Welser-Faktor Heinrich Rembold war tot; es herrschte Chaos und Rechtlosigkeit. Die Sklavenjäger, die Denzer, „Die Entrada Philipps von Hutten zum ‚El Dorado bei den Amazonen’ 1541-1546“, in: Ebd., S. 168180. 163 Roeck, Bernd, Geschichte Augsburgs, München: Verlag C.H. Beck, 2005, S. 91-105; Häberlein, Mark; Burkhardt, Johannes (eds.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Berlin: Akademie Verlag, 2002 (Colloquia Augustana, Bd. 16). 162 Michael Zeuske/Venezuela Seite 66 13.05.2016 Rembold von der Insel Cubagua engagiert hatte, drängten darauf, eine neue Siedlung im Innern zu gründen, um weiter ihren Geschäften nachzugehen. Zugleich waren Sklavenjagd und Indiosklaverei mit den Nuevas Leyes (1542/43) offiziell von der Krone kriminalisiert worden. Carvajal ließ den zurückgekehrten Hutten und Bartholomäus Welser d. J. und weitere Männer in einem Hinterhalt bei El Tocuyo ermorden (Mai 1546).164 Er hatte auch ein Dokument gefälscht, in dem er sich selbst die Erlaubnis zur Gründung einer Siedlung im Hinterland gab. Mit dieser Gründung, El Tocuyo, setze er sich an die Spitze der Mehrheit in Coro – der „arbeitslosen“ Sklavenjäger aus Cubagua. El Tocuyo, die Siedlung der Sklavenjäger, Welserleute und des stellvertretenden Stellvertreters eines königlichen Funktionärs, eines Notars, der Dokumente fälschte, wurde zum Ausgangspunkt der neuen Kolonisierung Venezuelas. Allerdings ließ die Strafe des Indienrates nicht lange auf sich warten: bereits Ende August 1547 traf Juan Pérez de Tolosa als neuer Gouverneur und Oberrichter in El Tocuyo ein. Carvajal wurde verurteilt, gehängt und gevierteilt. Wichtig war, dass die Welser in Augsburg wegen der politischen Entscheidung der Krone, den Nuevo Reino de Granada (Cundinamarca) und Bogotá nicht ihrem Kolonisationsgebiet zuzuschlagen, ihr Interesse an Venezuela völlig verloren.165 1556 wurde den Welsern die Provinz Venezuela offiziell aberkannt – nach langen Gerichtsverfahren.166 Die oberdeutschen Globalisierer konnten im frühen Amerika nichts oder kaum etwas ausrichten. Nach der Conquista Bogotás und Cundinamarcas war im Groben klar, dass alle wichtigen Reiche Amerikas bekannt waren. Die kolonisierten Teile Amerika wurde unter Philipp II. hispanisiert - es wurde wirklich zu einem Spanischen Amerika (unter dem Namen Las Indias). Es handelte sich allerdings 164 Schmitt, Eberhard; Hutten, Friedrich Karl von, Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des WelserKonquistadors und Generalkapitäns von Venezuela, Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen : Verlag Frankenschwelle, 1996; Schmitt; Simmer (eds.), Tod am Tocuyo. Die Suche nach den Hintergründen der Ermordung Philipps von Hutten 1541-1550, Berlin: Berlin Verlag Spitz, 1999; Simmer, Gold und Sklaven …, S. 530-566. 165 Denzer, „1541-1546: Interregnum und territorialer Zerfall der Provinz“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 181-183 sowie „Schlussbetrachtung“, Ebd., S. 319-327, hier S. 320. 166 Simmer, Gold und Sklaven …, S. 789f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 67 13.05.2016 in Wirklichkeit nur um etwa 10% der auf den offiziellen Karten ausgewiesenen Territorien (auch verschiedene regionale Gemeinschaften Spaniens, wie die Katalanen, hatten bis in das späte 18. Jahrhundert Schwierigkeiten, sich am Amerikahandel zu beteiligen; die Basken dagegen waren fast von Anfang an dabei; da im Baskenland fast alle die hidalguía universal – eine Art niederer Adel hatten, stellten sie besten Diener der Krone in Amerika), das gilt auch und gerade für den Vorfahren Simón Bolívars (1783-1830), Simón de Bolívar, dem „Alten“ (1532-1612), der nach langem Dienst in Santo Domingo 1589 in das 1567 neugegründete Caracas kam, dort siedelte und Mitglied der königlichen Verwaltung (procurador general, regidor perpetuo von Caracas) wurde – nicht zuletzt wegen seiner baskischen Hidalguía. Die Welser-Episode dagegen ist im sozialen Sinne167 nicht prägend für die Geschichte Venezuelas geworden – aber sie hat deutliche Spuren hinterlassen, unter anderem in der deutschen Historiographie des 20. und 21. Jahrhunderts (mit mindestens einem halben Dutzend wichtiger Bücher168). Wenn man klassische Genealogie mag, hat die Episode auch Spuren in der Familiengeschichte Bolívars hinterlassen. Seine Mutter, María de la Concepción Palacios y Blanco, stammte mütterlicherseits von einem Familieclan mit dem Namen Xedler (Gedler oder Schedler) ab – zweifellos ein oberdeutscher Name.169 Das will allerdings nicht allzu viel sagen, denn unter den Ahninnen des Libertadors, der zweiten Frau seines Ur-UrGroßvaters Juan de Bolívar am Beginn des 18. Jahrhunderts, findet sich auch eine María Petronila de Ponte, deren Mutter wiederum illegitimes Kind einer Frau war, die im Taufregister nur unter den Vornamen María Josefa eingetragen ist – für gewöhnlich Ausweis über die Herkunft aus einer Verbindung zwischen Herr und Sklavin.170 Denzer, „Die Zeugnisse: Genetisches Erbe der deutschen Konquistadoren?“, in: Ebd., S. 308 sowie: Denzer, „Die Diskussion um die „deutschen Gene“, in: Ebd., S. 309-311. 168 Schmitt, Simmer, Häberlein; Burghardt, Denzer, die eine Tradition fortsetzen, die es seit Häbler, Konrad, Die Überseeischen Unternehmungen des Welser und ihrer Gesellschafter, Leipzig: 1903. 169 Fuentes Carvallo, Rafael L., La estirpe manchega y la sangre alemana del Libertador, Caracas: s.l., 1976. 170 Masur, Gerhard, “Youth”, in: Masur, Simon Bolivar, Albuquerque: The University of New Mexico Press, 1848, S. 28-45, hier S. 29. 167 Michael Zeuske/Venezuela Seite 68 13.05.2016 Territorien, Provinzen und Häfen Die engere Kolonialzeit Amerikas begann auf La Española 1493, auf Kuba 1511, in Mittelamerika um 1513, in Mexiko 1521 und in Peru sowie Kolumbien um 1540 - in Venezuela begann die Kolonialzeit erst um 1570. Die Geschichte dieser Frühzeit Venezuelas vor 1570, unter Einschluss der Welserepisode und der Aguirre-Rebellion, findet sich im Werk der Franziskaners Fray Pedro de Aguado (1538-1589?). Er schrieb um 1575 eine zweiteilige Recopilación histórica, die aus den beiden Teilen Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada sowie Historia de Venezuela bestand, also Teile des heutigen Kolumbiens und des heutigen Venezuelas erfasste.171 Obwohl das Manuskript als Handschrift zirkulierte und 1581/82 auch eine Druckerlaubnis König Philipps II. erging, ist das Werk erst im 20. Jahrhundert gedruckt worden. Stellt man sich, wie der räumlich denkende Humboldt die Küstengebirge der südamerikanischen Tierra firme, zu der auch die Küsten Venezuelas gehören, als eine Art Mauer vor, dann zeigt sich, „daß nur die Uferkette … von Darién, S[anta] Marta Marta an die Küste von Paria als Mauer fortsetzt (vollkommene natürl[iche] Durchbrüche in dieser sind acht, nemlich Río de la Magdalena [Cartagena], Río de la Hacha [Santa Marta], Laguna de Maracaibo [Maracaibo], Quebrada de Aguas Calientes de Puerto Cabello [Puerto Cabello], Quebrada de Catia [Caracas], Río Tuy, R[ío] Unare und Río Neverí [Barcelona kontrolliert im Grunde beide Flüsse, obwohl nur der Neverí durch die Stadt fliesst]“.172 171 Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada, por Fray Pedro de Aguado, con prólogo, notas y comentarios por Becker, Jerónimo, 2 Bde., Madrid: Establecimiento tipográfico de Jaime Ratés, 1916-1917; Aguado, Fray Pedro de, Recopilación Historial de Venezuela; estudio preliminar de Guillermo Morón, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 62 und 63) 172 Humboldt, Alexander von, Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), in: S. 311-389hier S. 339 Michael Zeuske/Venezuela Seite 69 13.05.2016 Die einzelnen Entradas, Conquistas und Siedlungsvorstöße, die im Grunde fast alle von den von Humboldt genannten Durchbrüchen an den karibischen Küste der Tierra firme ausgingen, zogen sich bis zum Ende der Kolonialzeit und dauerten zum Teil im 20. Jahrhundert noch an. Teilnehmer der Entradatrupps waren nach 1550 vor allem Kreolen, in Amerika geborene Menschen (zwischen 1520 und 1570 oft in Allianz mit in Afrika geborenen Menschen), meist Männer, die sich españoles (Spanier) oder cristianos (Christen) nannten. Zu den Entrada-Milizen gehörten seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts auch Kleriker (meist Missionare).173 Diese verlängerte kreolische Conquista hat die Mentalität der Bewohner Venezuelas tief geprägt. Nach den sehr punktuellen Versuchen, Cubagua, Coro und Santa Marta sowie ihr Hinterland, wie auch einige Gebiete der Llanos, sozusagen auf einen Schlag in globale Wirtschaftskreisläufe der damaligen atlantischen Welt einzubeziehen, blieb das heutige Venezuela in vierfacher Hinsicht Peripherie. Im Osten, im Grunde schon östlich von Cumaná174, in den Gebieten zwischen Paria und den Orinikomüdungsarmen, dem País de Curiana, aber erst recht weit über die Orinokomündung hinaus, wo irgendwo das portugiesische Gebiet anfing, verlor sich das Land in Urwäldern, Mangrovendickichten und einem Gewirr von Flüssen und Flussarmen, unterbrochen von einigen wenigen Kakao- und Tabakpflanzungen. Schon 1519/1522 fegte ein großer Karibenaufstand die Conquistadores weg. 175 Humboldt hat dazu in seinen Tagebüchern, nach der Lektüre von Feijóos „Teatro crítico universal“ (1773) und Caulins, „Geschichte Neu-Andalusiens“176 in der Bibliothek des Klosters Carrocera, “Reducción, población y evangelización”, in: Carrocera, Misión de los capuchinos en los llanos de Caracas ..., S. XXVI-XXIX; Cardoza Sáez, Ebert, “Milicias y encomiendas en los Andes venezolanos durante el período colonial“, in : Tierra Firme 74, Año 19 (Abril-Junio de 2001), S. 213-223, hier S. 219f. 174 Nestares Pleguezuelo, María José, El comercio exterior del oriente Venezolano en el siglo XVIII, Almería : Universidad de Almería, 1996; Nestares Pleguezuelo, Fiscalidad y marginalidad en el Oriente Venezolano en el siglo XVIII, Almería : Universidad de Almería, 1999. 175 Es erhoben sich die Indios von Cumaná, Cariaco, Chichivirichi, Maracapana, Tacarias, Neverí und Unari sowie der Sklaven von Cubagua, siehe: Venezuela en los Cronistas Generales de Indias, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1962 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 58 und 59), Bd. I, 62-65. 176 Caulín, Antonio, Historia de la Nueva Andalucía. Estudio preliminar y edición crítica de Pablo Ojer, S.J., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de Academia Nacional de la Historia, Bde., 81 und [82), S. 192-199. 173 Michael Zeuske/Venezuela Seite 70 13.05.2016 Caripe, zwischen dem 17. und dem 22. September 1799, unter der Überschrift „Historische Notizen, welche in das Gemälde von Amerika verwebt werden sollten“, geschrieben: „An den Küsten von Cumaná, Caraccas und Venezuela steht jetzt der Name der deutschen Nazion in fürchterlichem Angedenken. Alfinger und Bartolomaeus Sailer sind die schändlichen Menschen, welche jenen Namen durch ihre Unthaten gebrandmarkt. Die Augsburger Kaufleute Welser, welche Karl V. große Summen vorgeschossen … Dort [am Río Tigre im Osten Venezuelas] sonst Span[ischer] Sklavenhandel. Spanier raubten Kinder und Weiber. Daher nehmen Indianer den Jes[uiten]-Missionar gern auf, wenn er sagt, er sein kein Spanier. […] Auf diese Nachricht [von der Entdeckung NeuAndalusiens – M.Z.] erhielten Erlaubniß von K[arl V.] die Entdekkung fortzusezen, aber nicht am entdekten Lande [das von Kolumbus auf seiner 3. Fahrt entdeckte Land] auszusteigen – Pedro Alonso Niño und die Seviller Luis und Christóval de la Guerra. Des Verbots ungeachtet lernten sie zuerst N[eu]Andal[usien] genauer kennen, luden Brésil [Farbholz – M.Z.] an der Küste von Paria, Perlen in Cubagua, und handelten Gold von dem Inianer Cumanagotto (Barcel[ona]) ein. Sie segelten bis Maracaivo, und da sie dort Widertstand fanden, kamen sie zurük und endekten nun zuerst die Saline an der P[unta] Araja. K[aiser] Karl V. erklärte nun alle Indianer, welche Widerstand leisteten, für Sklaven. Nun lief alles auf Sklavenhandel, bes[onders] von Hispaniola aus, und man zwang die Sklaven in Cubagua, wo die Spanier Neu-Cadiz gründeten, Perlen zu suchen … [noch ca. 12 Zeilen]“.177 Im Osten herrschten bis um 1650 die Völker der Kariben in Allianzen mit verschiedenen Europäern und ihren Nachkommen. 178 Die Kariben begannen seit 1620 (und eher), mit Kapitänen aus den Niederlanden, England und Frankreich oder Portugal Geschäfte zu machen. 177 Humboldt, Vorabend ..., S. 292-293 (Dokument 212). Castillo Hidalgo, Ricardo Ignacio, Asentamiento español y articulación interétnica en Cumaná (1560-1620), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 2005 (BANH; 259). 178 Michael Zeuske/Venezuela Seite 71 13.05.2016 In Süden erstreckten sich nicht weit hinter dem Fuß der Kordilleren die lebensfeindlichen und zu diesem Zeitpunkt im Grunde unbesiedelten Grassavannen der Llanos. Im Grunde ein Niemandsland. Es gibt nur wenige einigermaßen bequeme Durchgänge zwischen Küste und Llanos, so zum Beispiel das von Nikolaus Federmann179 als „das ebenste und schönste Land, das in India gefunden werden mag“180 gepriesene „Tal von Barquisimeto“, was zwar so nicht stimmt, da das „Zwischenland“ von Barquisimeto nicht eben und auch nicht wirklich ein Tal ist.181 Aber es ist ein schönes Bild. Viele Indianervölker und einzelne Indios sowie Sklaven oder desertierte Soldaten und Mörder flohen in den unwirtlichen und heißen Süden der Llanos, in der ein halber Jahr extreme Trockenheit sowie Hitze und ein halbes Jahr Überschwemmung, feuchte Schwüle und Insekten sowie Krankheiten (Malaria und amerikanische Schlafkrankheit) herrschten.182 Rund 17% aller landwirtschaftlich heute noch genutzten Pflanzen stammen aus Amerika; nach Amerika gelangte im Austausch europäisches Großvieh. Die biologische Revolution, die die Conquista ausgelöste, machte die Llanos zu einem „wilden“ Süden der Rinder und Pferde – und stellten das Llano-Venezuela in eine Reihe mit den großen Prärien, Savannen und Pampas Amerikas. Und hinter dem großen Fluss, der „Flusswelt“, wie Humboldt gesagt hat, des Orinoko, lagen die Wildnisse der venezolanischen Guayana. Die Geschichte der Entdeckung des Orinoko allein könnte Gegenstand eines Buches sein.183 Avellaneda, José Ignacio, „The Men of Nikolaus Federmann. Conquerors of the New Kingdom of Granada”, in: The Americas (TAm), Vol. 53 (1986/87), S. 385-394. 180 Federmann, Nikolaus, Indianische Historia. Mit einem Vorwort von Juan Friede, Illustrationen von Peter Hahlbrock, München: K. Renner, 1965, S. 39. 181 Sievers, Wilhelm, „Das Zwischenland von Barquisimeto“, in: Sievers, Zweite Reise nach Venezuela in den Jahren 1892/93 auf Kosten der Geographischen Gesellschaft zu Hamburg, Hamburg: L. Friedrichsen & C., 1896 (Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, Band XII), S. 94-105. 182 Die beste Beschreibung stammt immer noch von Alexander Humboldt, siehe: Humboldt, Alexander von, „Über die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt, Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des Autors, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), S. 15-168. 183 Gumilla, S.I., P. José, El Orinoco Ilustrado y Defendido, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 68); Vila, “Etapas históricas de los descubrimientos del Orinoco“, S. 51-80; Lucena Giraldo, Manuel, Laboratorio tropical: la expedición de límites al Orinoco, 1750-1767, Caracas: Monte Ávila, 1992. 179 Michael Zeuske/Venezuela Seite 72 13.05.2016 An den trockenen Küsten im Norden, wo gigantische Atlantikdünungen an den Fuß von Kordillerenbergen schlugen oder riesige Mangrovenwälder und Sümpfe Anlandungen verhinderten, herrschten Sklavenjäger, widerständige Kariben in Kriegskanus, Schmuggler und bald auch Piraten und fremde Korsaren. Spanien hatte während der engeren Conquista (Kernzonen 15001580), aber auch danach, weder großes Interesse noch die Schiffe, diese lange karibische Seegrenze und Peripherie zu bewachen. Wie an den Küsten des heutigen Brasiliens erwachte das politische Interesse der Krone erst wirklich, als seit etwa 1600 jährlich hunderte niederländischer Schiffe auf Salz- und Schmuggelfahrten in venezolanische Gewässer eindrangen. Spanien sah sich gezwungen, eine Schutzflotte, die Armada de Barlovento (1640-1748, etwa 10 Schiffe für die ganze Karibische See zwischen Cumaná und Veracruz), zu gründen. Im imperialen Handelsnetz Spaniens, dem System der flotas y galeones (seit 1543) blieb Venezuela allerdings links liegen; die Haupthäfen waren Cartagena, Puerto Bello, Veracruz und Havanna – keiner davon auf dem Territorium des heutigen Venezuela [siehe Karte in: Watts184]. Mit dem Wettlauf um die Eroberung des Goldreiches „Cundinamarca“185, bald Nuevo Reino de Granada genannt, im heutigen Kolumbien, und der Gründung von Bogotá (1539) war neben Peru und Mexiko ein neues Zentrum des Kolonialimperiums entstanden. 1540 wurden Nueva Granada mit seiner landwirtschaftlichen Zentralregion Cundinamarca, einer Reihe von Gold- und Smaragdminen sowie neuen Perlengebieten am Cabo de la Vela sowie weiten Teilen der heute venezolanischen Anden und die Welser-Provinz „Venezuela“ getrennt und 1549 der neuen Audiencia von Santa Fe die „Gründungs“Provinzen Cartagena und Santa Marta unterstellt; Venezuela dagegen blieb zu weiten Teilen unter der Kontrolle der Audiencia von Santo Domingo auf La Española – in gewisser Weise ferngesteuert.186 Watts, The West Indies …, S. 124, Fig. 3.8. Denzer, „Auf der Suche nach dem ‚Goldland’ Cundinamarca: 1532-1539“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 97-137. 186 Archivo General de Indias, Spanien (AGI), Santo Domingo (1518-1852); Audiencia de Santo Domingo; die 184 185 Michael Zeuske/Venezuela Seite 73 13.05.2016 Mit dem Abflauen des Perlenbooms in Cubagua und der Trennung zwischen Cundinamarca und Venezuela war klar, dass auch der Westen Venezuelas als Peripherie galt. Allerdings war das Territorium hier am wenigsten Peripherie, weil der Maracaibosee und die entstehenden Stadt Maracaibo strategische Zugänge zwischen Meer und Anden waren; seit etwa 1560 wurden, vom Zentrum der Anden im heutigen Kolumbien ausgehend, auch mehr und mehr Städte in den venezolanischen Anden gegründet, wie Santiago de los Caballeros de Mérida (1558), La Grita, San Cristóbal und schließlich im Auftrag des Cabildos von Mérida, am Südufer der Maracaibosees die Stadt San Antonio de Gibraltar (1592), die bald so etwas wie den Karibikhafen für die Andenstadt Mérida darstellte. Das Anden-Venezuela entstand. Es war aber ein ganz spezielles Andengebiet, denn es hatte einen (fast) direkten Zugang zur Karibik und zum Atlantik – nur über die Stadt Gibraltar (wo zunächst die wichtigsten ferias de haciendas y mercaderes –Verkaufsmessen stattgefunden hatten) im Südosten des Maracaibosees und den geschützten Seehafen Maracaibo, das seit 1678 Hauptstadt der Provinz Mérida-Maracaibo war.187 Die Gegend um Gibraltar galt auch als „costa negra de Maracaibo“. Maracaibo selbst und der Streit, warum es in seiner Frühzeit nicht bekannt war, hängen damit zusammen, dass es im Grunde ein Ort der Sklavenhandels war; die Baquianos waren nicht daran interessiert, dass dieser Ort offziell bekannt würde.188 Die „Kolonie“ Venezuela, damals in ihrem östlichen Teilen auch NeuAndalusien genannt (weiter im Süden existierte - auf dem Papier einer Kapitulation - bis um 1590 noch eine Provinz namens Nueva Extremadura), bestand bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Realität der Menschen, die dort Audiencia in Santo Domingo war am 10. Oktober 1511 auf Real Provición aus Burgos gegründet worden und sollte zunächst ganz Amerika („todas las villas e lugares de todas las dichas yslas e Indias e Tierra Firme“) verwalten und juristisch überwachen. 187 Cardozo Galué, Germán; Vázquez de Ferrer, Belín; Urdaneta Quintero, Arlene, „La región en el proceso histórico venezolano. Propuesta de periodización para la región de Maracaibo”, in: Caravelle, Nr. 70 (1998), S. 117-134; Vázquez de Ferrer, El puerto de Maracaibo: elemento estructurante del espacio social marabino (siglo XVIII), Maracaibo: Universidad del Zulia, 1986. 188 Aguado, Recopilación Historial de Venezuela ..., Bd. I, S. 59. Michael Zeuske/Venezuela Seite 74 13.05.2016 als Kolonisten (colonos) ihr Glück suchten, nur aus ein paar Küstenpunkten und Andensiedlungen. Zu den geographischen Makrostrukturierung des Territoriums an den trockenen Küsten mit schwerer Dünung und Küstenkordilleren, Llanos und Flusstälern, Bergen und Urwäldern in Nord-Südrichtung kam also noch die Ost-Westuntergliederung in wenige Siedlungen, die zwar mit Santo Domingo, Mexiko oder Spanien verbunden waren (und über portugiesischsprachige Atlantikschmuggler, im 16. Jahrhundert mit recht positiver Konnotierung corsarios – Korsaren genannt) oder mit anderen Wirtschaftsregionen, wie etwa Westafrika,189 aber kaum untereinander. Die Städte wurden zu Schnittpunkten zwischen Atlantik, Küsten und Karibik – und waren somit trotz spanischer Monopolansprüche eher Teil einer atlantischen Wirtschaft. Allerdings war die Kommunikation zwischen Meer und Hinterland erschwert. An der venezolanischen Küste gab es im Grunde keine natürlichen Häfen, wie etwa die schönen Buchten von Havanna oder Cartagena de Indias im heutigen Kolumbien. Am günstigsten war der Verkehr an Küsten, Seeufern und Flussmündungen mit Booten und kleinen Schiffen, wie Kanus, Curiaras, Lanchas (Transportkähnen), Bongos und Flussbrigantinen (Flusskähnen mit Segeln) aufrecht zu erhalten.190 Das beherrschten am besten die Indios. Nicht als gute Tiefwasserhäfen, aber einigermassen sichere Anlegeplätze für Hochseesegler - ich greife etwas vor – mit Molen und Reeden (embarcaderos) existierten nur im Umfeld von Cumaná (puerto Santo, puerto Aguirre, puerto Guarnache), Coro (la Vela de Coro), Margarita (Pampatar), Caracas-La Guaira (zunächst auch Nuestra Señora de Caraballeda, Borburata und Catia la Mar), Gibraltar-Maracaibo (allerdings mit der Schwierigkeit, große Schiffe wegen der Sandbarre des Maracaibosees auf Flussboote umladen zu müssen) sowie Nueva Paradigmatisch wird dieses atlantische “Korsarentum” in den frühen Fahrten englischer sea dogs, wie John Hawkins und Francis Drake deutlich, obwohl es massenhaft zunächst vor allem von „Portugiesen“, bald auch „Portugiesen“ aus dem heutigen Brasilien betrieben wurde; literarisch reflektiert in den Einleitungskapiteln des „Robinson Crusoe“, siehe: Pérotin-Dumon, Anne, “French, English and Dutch in the Lesser Antilles: from Privateering to Planting”, in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New societies: The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing, 1999, S. 114-158. 190 Lucena Salmoral, Manuel, “Los barcos”, in: Lucena Salmoral, Lucena Salmoral, Caracas: Vísperas de la independencia americana, Caracas: Alhambra, 1986, S. 189-196. 189 Michael Zeuske/Venezuela Seite 75 13.05.2016 Barcelona westlich von Cumaná, wo Flusstäler die Berge durchbrechen und Vieh aus der Unare-Senke und von den Llanos orientales bis zur Küste getrieben werden konnte (Puerto San Cristóbal de los Cumanagotos, Puerto Piritú am Río Unare). Häfen für Hochseeschiffe und für den erlaubten Handel im spanischen Imperium waren nur La Guaira und Puerto Cabello. Puerto Cabello war weit besser als die Reede von Las Guaira und wurde zum wichtigsten191 Hafen mit Festungsschutz - trotz seiner Lage an einer sumpfigen Küste mit der Fama eines Fiebergebietes - zum Schutz des Golfo triste, Borburata und der ChichirivicheKüstenebene mit den Flüssen Tocuyo und Yaracuy. Puerto Cabello hatte daneben den Nachteil, recht weit vom Zentrum Caracas entfernt zu sein. Flüsse bildeten wiederum Zugänge zu den Plantagengebieten von Aragua, Valencia, Tuy sowie den Erzminen Aroa, Nirgua und Buría darstellten (wo bereits 1560 eine Schiffversorgungs- Schmuggel- und Reparaturstelle - carena - existierte und seit 1578 eine Ansiedlung bestand; endgültig 1733/1734).192 Der dritte sehr wichtige Hafen war Santo Tomé de la Guayana (1593-95) hinter dem OrinocoDelta im Gebiet der Guayano-Indios.193 Der Flusshafen Santo Tomé stellte die Verbindung zwischen Strom, Flusswelten des Orinoco, Apure und Meta sowie der Amazonía und dem Atlantik her.194 Über den País de Curiana, den Golf von Paria, Trinidad und die Kette der kleinen Antillen war eine relativ leichte Lucena Salmoral, Manuel, “Los puertos mayores”, in: Lucena Salmoral, Lucena Salmoral, Caracas: Vísperas de la independencia americana, Caracas: Alhambra, 1986, S. 180-183. 192 Armas Chitty, J. A., Historia de Puerto Cabello, Caracas: Ediciones del Banco de Caribe C.A., 1974; siehe auch die Beschreibung der Häfen im spanischen Amerika und ihrer Gefährdung durch „franceses, yngleses y portugueses” um 1560: Ruiz de Ochoa, Juan, “Avisos y rremedios de la mar del norte y la del sur”, in: Ebd., S. 153156 (Documento No. 1); Olavarriaga, Pedro José, “Razones que obligan de fortalecer Puerto Cabello”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721. Estudio Preliminar Briceño Perozo, Mario, Caracas: Academia Nacional de Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 76), S. 328-332; González, Asdrúbal, Diez voces y un paisaje: visión viajera de Puerto Cabello, Mérida: Euroamérica Impresores, 1973; Perignon de Roncayolo, Leontine, Venezuela, 1776-1892: recuerdos, Caracas: Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1991. 193 Whitehead, Neil L., „Native Peoples Confront Colonial Regimes in Northeastern South America (c. 1500-1900), in: Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Vol. III South America”, Part I und II, Cambridge: Cambridge University Press, 1999, Part II, S. 382-442 (S. 386: Map 20.1: Native Peoples Confront Colonial Regimes, 1500-1900); Sanoja; Vargas Arenas, “La produccióm del espacio social en Santo Tomé de Guayana”, in: Sanoja; Vargas Iraida, Las edades de Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 73-81. 194 León, José L., Los Puertos de Venezuela, Caracas: Publicaciones de la D.G.S.T.A., 1973; Vázquez de Ferrer, Belín, El Puerto de Maracaibo: elemento estructurante del espacio social marabino, Maracaibo: Universidad del Zulia, 1986; Cardozo Galúe, Germán, Maracaibo y su región histórica: el circuito agroexportador 1830-1860, Maracaibo: Universidad del Zulia, 1991. 191 Michael Zeuske/Venezuela Seite 76 13.05.2016 Verbindung mit Kanus in das karibische Meer möglich.195 Im Grunde aber war Venezuela eine Landkolonie mit Schwierigkeiten, Schnittpunkte zur atlantischen Welt zu unterhalten. Obwohl die Städte die wichtigsten Siedlungspunkte und Lebenszentren der Kolonie waren, gründete sich das Imperium Spanien machtpolitisch und rechtlich auf Flächen-Territorien (Gebiete, die einem Recht, einem Gouverneur und einer Verwaltung sowie der Kontrolle durch einen Gerichtshof - audiencia unterworfen waren). Diese Flächenterritorien nannten sich Provinzen (provincia) und ihre politische Organisationform war die gobernación (Vorläufer der Territorialorganisation finden sich in der provincia de Coquibacoa (Kapitulation mit Alonso de Ojeda vom 8. Juni 1501)), vom Cabo de Chichiriviche bis zum Cabo de la Vela, mit der gesamten Goajira, dem Golf von Venezuela, dem Maracaibosee sowie den Inseln Curazao, Aruba und Bonaire. Diese Provinz existierte vornehmlich auf Papier. Der Siedlungsversuch scheiterte und danach gab es diese Provinz nicht mehr. Die ersten wirklichen Provinzen des heutigen Venezuela waren die Gobernación de Margarita (seit 1525; bis 1776 stand sie unter Jurisdiktion von Santo Domingo auf La Española) und die Gobernación de Venezuela (1528), die sich aus Gebieten verschiedener früherer Kapitulationen hervorgegangen war und zunächst oft mit Coro gleichgesetzt wurde.196 Später wurde Venezuela oft mit Caracas (als Stadt 1567 gegründet) gleichgesetzt.197 Die Stadt Santiago de León de Caracas [Karte: „Pimentel Map“198] wurde seit Gouverneur Juan de Pimentel 1576 Sitz des Gouverneurs, seit 1637 auch Bischofssitz. Bis 1717 unterstand auch die Provinz Venezuela oder Caracas der Jurisdiktion und Verwaltung durch die Audiencia von Santo Domingo auf La Española; zwischen 1717 und 1742 wurde sie Allaire, Louis, “Archaeology of the Caribbean Region”, in: Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Vol. III South America”, Part I und II, ed. by Salomon, Frank; Schwartz, Stuart B., Cambridge: Cambridge University Press, 1999, I, S. 668-733, hier S. 670. 196 Llavador Mira, José, La Gobernación de Venezuela en el siglo XVII, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1969 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 102) 197 Ferry, Robert J., “Commerce and Conflict: The First Caracas Elite, 1567-1620”, in: Ferry, The colonial elite of early Caracas : formation & crisis, 1567-1767, Berkeley ; London: University of California Press, 1989, S. 13-44. 198 „Map 1: Pimentel Map“, in: Ferry, The colonial elite of early Caracas …, S. 16. 195 Michael Zeuske/Venezuela Seite 77 13.05.2016 mehrfach zwischen Santo Domingo und dem neugegründeten Vizekönigreich Nueva Granada (Audiencia von Bogotá) hin- und hergeschoben. Erst 1776/1777 wurde eine Verwaltungseinheit (intendencia) und Generalkapitanie eigenen Rechts für sechs Provinzen geschaffen, die nun unter dem Namen Generalkapitanie Venezuela zusammengefasst wurden. Ein Generalkapitän war verantwortlich für militärische Verteidigung – die erste umfassendere Organisationsstruktur Venezuelas war Teil der Militärorganisation des Imperiums.199 Trotz dieses langwierigen Durcheinanders hat sich der Name Venezuela neben dem Wohlklang des Wortes - wohl für das gesamte Gebiet des heutigen Landes auch im Bereich des Zivilen durchgesetzt, weil 1723 José de Oviedo y Baños eine einflussreiche Historia de la conquista y población de la provincia de Venezuela publizierte (Geschichte der Eroberung und Besiedlung der Provinz von Venezuela) und damit schon zeitig einem Art Nationalmythos um und mit dem Namen Venezuela schuf. Der damals sehr deutliche, heute verborgene Teil des Begründungsmythos von Venezuela sind die Kriege gegen die Karibenvölker (1550-1650) des nördlichen Zentrums dessen, was seitdem mehr und mehr „Venezuela“ genannt wird.200 Und weil fast alle Dokumente des 18. Jahrhunderts diesen Namen nutzten, als die Krone versuchte, aus den verschiedenen Provinzen ein relativ einheitliches Territorium unter der Oberhoheit der de-facto Hauptstadt Caracas zu schaffen.201 Die dritte der karibischen Gründungsprovinzen war die Gobernación der Nueva Andalucía y Cumaná (1533/1536), im Grunde bestehend aus den drei Küstensiedlungen Cumaná, Cumanagotos und Barcelona mit ihren jeweiligen Suárez, Santiago-Gerardo, „Prólogo“, in: Las Instituciones Militares Venezolanos del Período Hispánico en los Archivos (Indice sistemático documental), explicación, prólogo, selección y notas por Suárez, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1969 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 92), S. XIX-LXXXIV. 200 Biord, Horacio, Los aborígenes de la región centro-norte de Venezuela (1550-1600): una ponderación etnográfica de la obra de José Oviedo y Baños, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2001; zu den Völkern siehe die Karte S. 141. 201 Oviedo y Baños, José, Historia de la conquista y población de la provincia de Venezuela, Madrid : Imprenta de D. Gregorio Hermosilla, M.DCC.XXIII (1723); Oviedo veröffentlichte nur einen “ersten Teil”, der die Ereignisse seit der Ojeda-Fahrt bis 1600 behandelte; die Geschichte Oviedos wurde als eines der ersten Bücher nach der Unabhängigkeit, sozusagen als Nationalgeschichte, 1825 wieder veröffentlicht. 199 Michael Zeuske/Venezuela Seite 78 13.05.2016 Einflussgebieten. Dieses Territorium hiess zunächst provincia de Guayana y Caura und wurde erst mit der Kapitulation für Diego Hernández de Serpa Nueva Andalucía (1568) genannt.202 Hauptort war Cumaná. Zu seiner Jurisdiktion gehörten seit dem Ende der engeren Conquistazeit am Ende des 16. Jahrhunderts Nueva Barcelona und Guayana (bis Ende des 18. Jahrhunderts; erst 1762 wurde eine eigenständige militärische Verwaltung Guayanas eingerichtet). Cumaná lebte bis in das frühe 17. Jahrhundert von Sklavenrazzien gegen die Karibenvölker des Hinterlandes und Sklavenschmuggel in die Karibik oder zur wilden Küste an die Holländer, Franzosen und Engländer. Am eindringlichsten hat die Girolamo Benzoni 1541 die Razzien beschreiben, die an die frühen Razzien der Portugiesen an der Senegalküste Westafrikas erinnern: „Zwei Tage danach segelten wir von Cumaná los und folgten der Küste nach Levante [Osten] durch den Golf von Paria und wir fuhren dorthin, wo einige friedliche Kaziken lebten. Oft berührten wir Land an jenen Plätzen und für ein wenig Wein aus Spanien, ein Hemd, ein Messer und andere unsrige Sachen von wenig Wert, die der Gouverneur ihnen [den Kaziken] schickte, sandten sie einige ihrer Vasallen und Untergebenen um uns jene Länder und Orte, wo wir gewisse Indios einfangen konnten, die ihre eingefleischten Feinde waren.“203 Die „befreundeten“ Indios führten die Sklavenjäger und transportierten zugleich Nahrungsmittel für sie; die Razzientruppen zogen einige Dutzend Meilen landeinwärts: „und auf diese Art fingen wir zweihundertvierzig Sklaven; Männer und Weiber, große und kleine“.204 Die Sklavenfangtrupps nutzten auch indianische Piraguas, in denen fünfzig Männer Platz hatten. Wenn sie an den Pariaküsten fischende Indios sahen: „sprangen wir raus wie es die Wölfe mit den “Capitulaçión con el capitán do Diego Hernández de Serpa sobre el descubrimiento de la Nueva Andaluzía”, Aranjuez, 15. Mai 1568, in: Cedularios de la Monarquía Española de Margarita, Nueva Andalucia y Caracas (15531604), 2 Bde., comp. y estudio preliminar por Otte, Enrique, Caracas: Edición de la Fundación John Boulton; Fundación Eugenio Mendoza y Fundación Shell, 1967, Bd. I: Cedulario de Margarita (1553-1604); Bd. II: Cedularios de Nueva Andalucía y Caracas (1568-1604), II, S. 1-9 (Dok. 311). 203 Benzoni, M. Girolamo, La Historia del Nuevo Mundo. Traducción y Notas de Vannini de Gerulewicz, Marisa. Estudio Preliminar de Crozat, León, Caracas : Academia Nacional de la Historia (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 86), S. 22. 204 Ebd. 202 Michael Zeuske/Venezuela Seite 79 13.05.2016 Hammeln machen und machten sie zu Sklaven; auf diese Weise fingen wir mehr fünfzig ein, in der Mehrzahl Weiber mit kleinen Kindern“. 205 Die Indiosklaven wurden in lebhaften Schmuggelgeschäften auf die Antillen verschleppt; die Indios wehrten sich in regelrechten Kriegen, vor allem die Kariben verbündeten sich bald auch mit den Feinden Spanien (Niederländer, Engländer, Franzosen) und verwüsteten selbst oft spanische Siedlungen.1717 schrieb ein Franziskanerpater aus Píritu: „estuvieron los flamencos para venir sobre nosotros con veinte ecopetas y muchos caribes“.206 Die Tradition dieser Sklavenjagdkonflikte, Razzien und Entradas hinterliess eine historische Spur bitteren Hasses zwischen spanischer und indianischer Kultur in der Region.207 Heinrich von Üchteritz208, ein sächsischer Söldner im Heer von Charles Stuart, wurde als Kriegsgefangener nach Barbados auf eine Plantage verkauft, auf der „hundert Christen, hundert Neger und hundert Indianer als Sklaven arbeiteten“; die Indios waren meist Aruak oder Kariben aus den Guayanas oder aus der Gegend von Cumaná. Sie erlebten auf Barbados alle zusammen die Erfindung der gang-work (cuadrilla) aus dem Geiste des Puritanismus.209 Die Territorialkonflikte bei der Herausbildung Venezuelas werden auch an der Geschichte der Stadt Barcelona und ihres Hinterlandes, das heisst das Einflussgebiet eines Hafens, in dem vor allem Kakao, Tasajo und Vieh aus den Llanos orientales (llanos de Maturín) sowie dem Tiefland der Unare-Flusses exportiert wurden, deutlich. Zum Hinterland Barcelonas gehörten die Siedlungen Villa de Aragua und El Pao; Gründungen der Franziskanermönche “De cómo los españoles hacían esclavos a los indios”, in : Ebd., S, 23-24. Carta del Padre Lector Moro, S. Mateo, 21 de abril de 1717, in: Las Misiones del Píritu. Documentos para su historia, selección y estudio preliminar por Lino Gómez Canedo, O.F.M., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 83 und 84); d. I, S. 284f. 207 Lombardi, John V., Venezuela. The Search for Order, the Dream of Progress, New York/Oxford: Oxford University Press 1982, S. 62f.; Tiapa, Francisco, “Resistencia indígena e identidades fronterizas en la colonización del Oriente de Venezuela, siglos XVI-XVIII”, in: Antropológica de la Fundación La Salle 109, Caracas (2008), S. 69-112. 208 Ludwig, Jörg, “Sklaven, Hexen und Gelehrte. Eine unfreiwillige Reise nach Barbados im 17. Jahrhundert und ihre literarische Ausgestaltung”, in: Ametas-Jahrbuch 1 (1999), S. 73 - 76. 209 Linebaugh, Peter; Rediker, Marcus, La hidra de la revolución. Marineros, esclavos y campesinos en la historia oculta del Atlántico. Prólogo de Josep Fontana. Traducción castellana Mercedes García Garmilla, Barcelona: Crítica, 2005, S. 149. 205 206 Michael Zeuske/Venezuela Seite 80 13.05.2016 der Missionen des Píritu.210 Nach dem die Missionssiedlungen der Franziskaner und der Dominikaner in Chichiviriche (1514-1521) gescheitert war, gehörte der Siedlungsplatz, bis 1556 zum Einflussgebiet der Welser (die dort allerdings kaum etwas ausrichteten). Der Oriente des heutigen Venezuela, Trinidad und Cubagua finden sich nach dem Scheitern der Mönche und dem Niedergang der Perlenfischerei in Kapitulationen von 1530 für Antonio Sedeño (Trinidad) sowie Diego de Ordáz (vom Cabo de la Vega bis zum Río Marañón/Amazonas – die gesamte Guayanaküste); Ordáz starb zeitig und eine neue Kapitulation erging an Jerónimo de Ortal (1533), die auch keine besseren Erfolge zeitigten; nur zwei Franziskaner wurden Märtyrer der Karibenmission.211 In den Guayana- und Paria-Gebieten lebten die Völker der Cumanagotos, Chocopatas, Palenques und Píritus; Kariben, die mit niederländischer Unterstützung über einhundertfünfzig Jahre lang, bis Mitte des 17. Jahrhunderts und im Osten sowie am Orinoko, starken Widerstand gegen das spanische Vordringen leisteten - oft mit Hilfe von englischen, italienischen und niederländischen Korsaren und Schmugglern - und sich nach langem Widerstand gegen spanisch-kreolische Entradas nach Osten und Süden zurückzogen. Noch im 18. Jahrhundert gewährten niederländische Kaufleute und Abenteurer Karibensklavenjägern Vorschüsse, vor allem in Form europäischer Waren und Alkohol, damit sie Macos und Itotos (Indiosklaven) in der Orinoquía bis hin zum Apure und Meta jagten sowie Schmuggel auf Häute und Tabak betrieben.212 Aber die strategischen Bewegungen der spanischen Conquista umfassten noch größere Räume. 1544 paktierte Francisco de Orellana mit der Krone die conquista pacífica der Nueva Andalucia; nicht etwa von der karibik aus oder von einer Küstenstadt an der Tierra firme, auch nicht von Bogotá aus – sondern von Peru aus. Diese Kapitulation war bereits geprägt durch die Leyes Nuevas 210 Las Misiones del Píritu ..., Bd. I, S. XXXV.. Gómez Canedo, “Nuevos intentos de evangelización en el Oriente Venezolano”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 27-35, hier S. 29. 212 Rodríguez Mirabal, Adelina C., “Contrabando”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure: 1750-1800, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 193), S. 313-320, hier S. 314f.; .; Tiapa, “Resistencia indígena e identidades fronterizas en la colonización del Oriente de Venezuela, siglos XVI-XVIII”, S. 69-112. 211 Michael Zeuske/Venezuela Seite 81 13.05.2016 von 1542-44; Orellana musste Franziskaner mitnehmen. Das Territorium Nueva Andalucia umfasste in der Kapitulation von Orellana Gebiete zu beiden Seiten des Amazonas. Die Orellana-Expedition durchfuhr zwar die Amazonaswälder, hatte aber keine territorialen Auswirkungen; erst 1559 wurde eine ähnliche Kapitulation an Diego de Vargas vergeben und schließlich 1568 an Diego Fernández de Serpa, in dessen Kapitulation Nueva Andalucia schon den Oriente des heutigen Venezuela sowie Teile der Guayanas umfasste.213 Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelang es, die IndígenaVölker an den Küsten des oriente und der Guayanas sowie an bestimmten strategischen Plätzen des Hinterlandes mit Hilfe von Missionen (vor allem Franziskaner, Jesuiten und Kapuziner) zum Christentum zu bekehren und zu „befrieden“ (pacificar).214 Aber noch die Familien-Legende der Monagas berichtet, dass José Gregorio Monagas als Kind für drei oder vier Jahre von Kariben-Indígenas entführt worden war und die Familie seitdem beste Verbindungen zu den Indios hatte; um 1850 sollen noch um die 10000 Kariben in den Llanos von Barcelona gelebt haben.215 In diesen Räumen der Transkulturation schmuggelten alle; am Schmuggel beteiligten sich auch Missionare.216 Die Conquista der Unare-Senke (Piritú) zwischen Cumaná im Osten und Caracas im Westen warf Konflikte mit den Provinzgouverneuren von Nueva Andalucía und Venezuela auf. Noch 1640 klagte der Bischof von Puerto Rico (dem die Ostgebiete Venezuelas zugeordnet waren): „más de cien años que gozan los encomenderos las encomiendas (que muchas dellas son muy gruesas) y estaban infieles y sin bautizar los más de los indios“.217 Siedlungen wurden an Gómez Canedo, “Nuevos intentos de evangelización en el Oriente Venezolano”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 27-35, hier S. 32-35. 214 Conversión de Piritú de P. Matías Ruiz Blanco, O.F.M. y Tratado Histórico del P. Ramón Bueno, O.F.M., estudio preliminar y notas del P. Fidel de Lejarza, O.F.M., Caracas: Academia Nacional de Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 78); Las Misiones del Píritu ..., passim. 215 Castillo Blomquist, Rafael, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas. Auge y Consolidación de un Caudillo, Caracas: Monte Ávila Editores, 1987 (Colección Tiempo de Venezuela), S. 17-23, hier S. 19. 216 Rodríguez Mirabal, “Contrabando”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure: 1750-1800 ..., S. 313-320, hier S. 315f. 217 Fr. Juan [Alonso de Solis], obispo de Puerto Rico, Cumaná, 28. November 1640, “Carta a Su Magestad”, in: Las Misiones del Piritú ..., Bd. II, S. 9-15, hier S. 10. 213 Michael Zeuske/Venezuela Seite 82 13.05.2016 einer strategischen Stelle zwischen den beiden größeren Städten, näher bei Cumaná gegründet, an der die Llanos fast bis zur Küste reichen und außerdem Vieh sowie Kakao auf dem Río Unare aus den Llanos bis in die Karibik gebracht werden konnte (zur Lieferung vor allem als Tasajo nach Kuba).218 Wegen des Widerstands der Indios und der Konflikte der Eliten von Cumaná und Caracas wurde erst Jahr 1638 endgültig und offiziell die Stadt (Nueva) Barcelona gegründet. 1655 zählte das Nest 100 Vecinos. Von Humboldt stammt eine exzellente Beschreibung (Nueva) Barcelonas am Ende der Kolonialzeit (16000 Einwohner, lebhafter Handel mit Tasajo nach Havanna, Häute- und Viehschmuggel).219 Die Eliten der karibischen Hafenstadt hatten ein derart starkes Interesse, in der Übergangsregion zwischen Llanos und Karibik eine eigene Provinz zu gründen und selbst über die Ressourcen dieses reichen Gebietes, das sich in der bürokratischen Sprache „Provinz“ nannte, zu verfügen, dass die erste Amtshandlung des Cabildos zu Beginn des Unabhängigkeitsprozesses am 27. April 1810 darin bestand, die „Unabhängigkeit“ Barcelonas und seiner Provinz von Cumaná (von Caracas sowieso) zu erklären – das kann als schönes Symbol für den lokalistischen Geist der städtischen Oligarchien gelten; die der anderen Städte dachten ähnlich220; Humboldt machte dazu den Kommentar: „Die Mantuanos von Cumaná hassen die von Barcellona wie die Welfen und Gibellinen“.221 Cumaná war im Gegensatz zur nördlichen Provinz Caracas immer gut und reichlich beregnet; die mittlere Küste zwischen Caracas und Coro bis hin nach Maracaibo und zum Cabo de la Vega war immer sehr trocken: „In der ganzen Siehe die Karten auf S, 22 und 25, in: Lombardi, Venezuela. The Search for Order …, S. 22 und 25; Castillo Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 17-23, hier S. 18. 219 Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7.5. – 26.8.1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern. Hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 311-389, hier S. 355ff. 220 Mudarra, Miguel Ángel, Integración y evolución político-territorial de Venezuela, Caracas: Publicaciones Mudbell, 1974. 221 Humboldt, Vorabend …, S. 130f. (Dokument 65), in Cumaná, 27. August – 16. November 1800. 218 Michael Zeuske/Venezuela Seite 83 13.05.2016 nörd[lichen] Provinz Venezuela ungeheurer Wassermangel“222, schreibt Humboldt 1800. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam es auch zu Anfängen der Territorialkolonisation im Innern des heutigen Venezuela. Von Bogotá aus. Die Franziskaner waren nach dem Scheitern bei Cumaná 1514-1521 auf Cubagua geblieben. 1570 landete eine Gruppe von Franziskanern, zusammen mit einer Conquistatruppe unter Juan Ponce de León, auf der Insel Trinidad. Fast zur gleichen Zeit begaben sich Franziskaner, zusammen mit einem hueste unter Gonzalo Jiménez de Quesada von Bogotá aus auf den Weg nach Guayana, um den Dorado zu suchen; die Franziskaner gründeten sogar eine custoridia del Dorado sowie Konvente in Trinidad und im frühen Santo Tomé de Guayana.223 All das hatte keine Dauer. Erst 1641 gingen Jesuiten nach Guayana, in die ersten Siedlungen-Festungen, die Santo Tomé damals darstellte (heute: Los Castillos). Wegen des Widerstandes der Kariben und der Niederländer von Demerara wurde auch dieser Versuch 1681 beendet. Erst 1694 waren katalanische Kapuziner mit der Gründung von Nuestra Señora de los Ángeles erfolgreich.224 Die Gobernación de El Dorado y de los Llanos war bereits 1568 entstanden, erst einmal auf dem Papier einer Kapitulation. Aus dem Plan entwickelte sich bis Ende des 16. Jahrhunderts die Provinz Guayana mit Zentrum in Santo Tomé de Guayana (1593-95), wahrscheinlich damals noch an dem Ort gelegen, der heute Los Castillos heisst. Zur Provinz gehörte zunächst auch die Insel Trinidad (die zwischen Bogotá und Caracas hin- und her geschoben wurde). Die Durchdringung entlang der Flüsse gewann Dynamik im späten 16. und vor allem im 17. Jahrhundert mit Schmugglern, Sklavenfängern und Missionaren, vor allem mit Franziskanern, Jesuiten und Kapuzinern, die die „Kontinentalisierung“ Venezuelas geistig vorbereiteten und auch noch Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 186. Gómez Canedo, La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 111; 224 Sanoja; Vargas Arenas, “Las misiones capuchinas catalanas”, in: Sanoja; Vargas, Las edades de Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 235-307. 222 223 Michael Zeuske/Venezuela Seite 84 13.05.2016 Landesbeschreibungen hinterliessen.225 Den Jesuiten wird gar die wissenschaftliche Freilegung des Orinoco sowie der kontinentalen Dimension Venezuelas sowie die Schaffung einer maquina económica der Fluss-Llanowelt zugeschrieben.226 Der frühe Siedlungsprozeß in den Llanos fand einen Höhepunkte in der Gründung von San Fernando de Apure in den 1770er Jahren – eine Siedlung, die die strategischen Verbindungen zwischen Guayana und den Anden, zwischen Caracas und den Flüssen Meta, Apure sowie Ober- und Unterlauf des Orinoko sicherte.227 1729 wurde Guayana kurzzeitig der Provinzverwaltung von Nueva Andalucia in Cumaná zugeschlagen; 1762 teilte die Krone das Gebiet in zwei militärische Grenzterritorien (comandancias) und unterstellte es Bogotá (die nördliche Comandancia auch noch Caracas). Die Grenzsicherung gegenüber dem karibisch-niederländischen Essequibo und Demerara übernahmen die Kapuziner zwischen den Flüssen Caroní und Cuyuni (siehe Karte „Mapa de las misisones del Caroní“ 1593-1799228). Lebensgrundlage bildete zwischen 1600 und 1720 die intensivierte Jagd auf eine Subsistenzressource der Indios des Bajo Orinoco – die tortuga arrau (Pogdonemys expansa), nicht nur als Fleisch, sondern vor allem als Öl und Fett (aceite oder manteca de tortuga).229 Noch deutlicher als im Falle der anderen Provinzen handelte es sich bei Guayana noch bis in das frühe 20. Jahrhundert um ein riesiges, nur ganz punktuell von Spaniern und ihren Nachkommen besiedeltes Gebiet voller Indiovölker, Schmuggler, geflohener Sklaven, desertierter Soldaten, Goldsucher, Abenteurer, “Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional”, in : Pelleprat, Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional ..., S. 47-98; 226 Gilij, Ensayo de Historia Americana ..., passim; Rey, “Estudio preliminar”, in: Ebd., S. XI-XLVII, hier S. XXI. 227 “Descripción del río Apure, su dirección, los que le entran bocas por donde desagua. Misiones”, in: Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 223-227; Laya, Carlos Modesto, Del Apure histórico, Caracas: Biblioteca de Autores y Temas Apureños, 1971; Tosta, Virgilio, La Villa de San Fernando de Apure, Caracas: Italgráfica, 1972. 228 Kopie unter Kolonialbilder Karten: Sanojo; Vargas, Las edades Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 229. 229 Sanoja; Vargas, “El impacto ambiental: La depredación de la tortuga arrau”, in: Ebd., S. 42-44. 225 Michael Zeuske/Venezuela Seite 85 13.05.2016 karibischer Sklavenjäger und Missionare.230 Im Grunde eine eigenständiges Territorium mit einer spezifischen Kultur, unter Kontrolle von Missionaren. Humboldt war begeistert von den Landschaften des „wunderbaren, von so vielen neuen Affen und undurchdringlichen Wäldern erfülltem Lande zwischen Orinoco und Amazon“.231 Die Kapitulation für den Plan einer weiteren großen, inneren Gobernación namens Gobernación de Omagua y Omeguas oder Nueva Extremadura war 1568 an Pedro Maraver de Silva vergeben worden, der im Gebiet zwischen Orinocoquellen und Amazonas das El Dorado de los Omeguas (nach Hutten) suchen sollte. Hätte sich Gold gefunden und diese Provinz Nueva Extremadura wäre wirklich besiedelt worden, umfasste sie heute den Südteil der Orinoquía und die Amazonía, das heisst, den Südwesten Kolumbiens, den Süden Venezuelas und den Norden des heutigen Brasiliens. Aber weder Spanien noch die lokalen Conquistadoren hatten die Kraft oder das Interesse für eine Besiedlung „ohne Gold“. Das Interesse an Medizinalpflanzen war zwar relativ stark, aber wiederum nicht so stark, um Siedler von Gebieten, in denen Gold vermutet wurde, nach Venezuela zu lenken. Bei Esmeralda suchte Humboldt um 1800 die Orinokoquellen und den sagenhaften Übergang zwischen den beiden Stomgebieten des Orinoko und des Amazonas (Indios und Missionare kannten den Río Casiquiare längst; sie wussten auch, dass er „in beide Richtungen“ floss232). Humboldt schloss sich im Grunde den franziskanischen und jesuitischen Versuchen und den Versuchen anderer Missionare an, um ein kontinentales Venezuela zu begründen, dessen Infrastruktur, Skelett und Kultur die Flusswelt des Orinoko sein sollte, in dem Guayana einen wichtigen und “Notas para la mas pronta comprensión del Mapa General de la Gobernación de Cumaná que dirige a S.M. en su Rl. y Supremo Consejo de Indias su Gobernador el Coronel D. Jose Diguja Villagómez“ (1761), in : Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 229-322. 231 Alexander von Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, Havanna, den 21. Februar 1801, in: Humboldt, Alexander von, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung; 16), S. 122-131, hier S. 125. 232 Rey, José del, S.J., „Estudio preliminar“, in: “Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional”, in : Pelleprat, P. Pierre, S.J., Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional. Estudio preliminar por Rey, José del, S. J., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 77), S. XI-LXI. 230 Michael Zeuske/Venezuela Seite 86 13.05.2016 prominenten Platz einnahm.233 Bei Esmeralda begegnete Humboldt auch den Vorvätern der Yanomamis (die wurden damals Guaharibos oder Guajibos genannt; Guajibo ist zugleich ein Wort für Kriegsanführer).234 Damit war zwischen 1560 und 1786 die Bildung von fünf großen politischen Territorien, genannt Provinzen, die später einmal in etwa das Territorium des heutigen Staates Venezuela bilden sollten, abgeschlossen. Das eher lose verbundene Sammelsurium imperialer Territorien erstreckte sich zwischen dem Maracaibosee im Westen, dem Orinocodelte im Westen und den Guayanas hinter dem Südufer des Orinoco. Neben diese vier ziemlich unvermittelt nebeneinander liegenden Provinzen schob sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus der Richtung Bogotá und Tunja im heutigen Kolumbien von Südwesten nach Nordosten ein weiterer Kolonisations- und Siedlungsprozess entlang der Anden (Zentrum Mérida im südlicheren Westen des heutigen Venezuela). Die Andensiedlungen bildeten zunächst eine Gobernación namens Espíritu Santo; 1607 entstand der corregimiento Mérida, mit Regierungsgewalt über die Territorien Táchira, La Grita, San Cristóbal und Barinas; 1676 wurde all diese Orte und Territorien zur Provinz Maracaibo de Mérida zusammengefasst, zu der auch die Llanos de Barinas gehörten. Diese Provinz gehörte zunächst zum Nuevo Reino de Granada (heutiges Kolumbien), erst 1776/77, im Jahr der Beginns der antikolonialen Revolution der dreizehn englischen Kolonien im Norden, wurden sie der Gobernación von Venezuela angegliedert. Zusammengefasst werden kann der Bildungsprozeß der Provinzen folgendermassen: Provinz Venezuela (1528), Trinidad (1530; 1797 an England)235, Provinz Nueva Andalucía oder Cumaná (1568), Guayana (1568), Maracaibo zusammen mit Mérida, La Grita, San Cristóbal und Barinas, zunächst Ebd., S. XXI; Rodríguez, „Alexander von Humboldt: urbanismo y desolación. Percepción de los espacios urbanos y de los espacios subocupados de la Venezuela profunda“, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas (JbLA) 41 (2004), S. 199-221. 234 Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7.5. – 26.8.1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 311-389, hier vor allem S. 318ff (u.a. mit Sklavenfang, Menschenfresserei und Humboldts eigener Plünderung indianischer Grabstätten). 235 Sparrey, Francis, “Descripción de la Isla de Trinidad, el rico país de Guayana y el poderoso río Orinoco”, in BANH, t. LXXII, Nr. 286, Caracas (Mayo-Junio 1989), S. 125-146. 233 Michael Zeuske/Venezuela Seite 87 13.05.2016 Provinz Mérida de Maracaibo und später Provincia de Maracaibo (1777) genannt, und Barinas (1786), geschaffen aus dem bis dahin zur Provinz Venezuela gehörenden Gebiet des Apure und dem bis dahin zu Maracaibo gehörenden Barinas.236 Wichtig für das Geschichtsbewußtsein Venezuelas ist, dass die so genannten andinos, die Bewohner der Anden (die sich mehr als „weiß“, spanisch und mestizisch definierten), sich stets, mindestens aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, nicht als „karibische“ Venezolaner (denen mehr die Rolle von „Negern“ und „Mulatten“ zugeschrieben wurde) und auch nicht – schon gar nicht – als Cimarrón-Llaneros, als Bewohner der Orinoco-Savannen (die galt völlig als „Wilde“), verstanden haben. Die Bewohner Méridas und der Anden fühlten sich immer sehr stark mit Neu-Granada verbunden. Das wurde noch verstärkt, als seit 1786 das Llano-Territorium der 1577 gegründeten Stadt Barinas237 von der Provinz Maracaibo (zu der zu dieser Zeit auch Mérida und La Grita gehörten) abgetrennt und zur Provinz Barinas erklärt wurde. Barinas ist seit der frühen Kolonialzeit vor allem durch den auf Mesetas von Curay und Moromoy, an den Flüssen Santo Domingo und Calderas, angebauten tabaco de Barinas („Barinas-Knaster“) sowie durch eine extreme Vielfalt von Subsistenzkulturen (Mais, caraotas negras – schwarze Bohnen – Reis, Bananen, cambur (eine Bananenart), ajonjolí, Baumwolle und Yuca sowie Rinder- und Schweinehaltung) bekannt geworden. Die Kompliziertheit und Langwierigkeit der Kolonisierungs-, Siedlungsund Bürokratisierungsprozesse spiegelt die dahinterliegenden komplizierten Machtverhältnisse unter den einzelnen Zentren und Gruppen der Conquista wider. Und natürlich den Widerstand der Indiovölker sowie der Sklaven und sozusagen die hinhaltende Gegenwehr bizarrer Landschaften, riesiger Wälder, 236 Chiossone, Tulio, Formación Jurídica de Venezuela en la Colonia y la República, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1980; Tosta, Virgilio, Historia de Barinas, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987 (Bibliotec de la Academia Nacional de la Historia; 193 und 194). 237 Cartay, Rafael A., Memoria de los orígenes : economía y sociedad en Barinas, 1786-1937, Caracas : Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1990. Michael Zeuske/Venezuela Seite 88 13.05.2016 Berge und Ströme; des Meeres und der Flüsse sowie von Insekten, Hitze und Feuchtigkeit. Erst die Werke vor allem der Jesuiten - eine Fundgrube der Wissensgeschichte - im 17. und 18. Jahrhundert inkorporierten diese gigantische Kontinentalität in die Archive des Kolonialismus. Bürokratie verwaltet und regelt Macht. Staatliche Macht gründet auf Territorien und Grenzen. Die Folge der Komplexität und des Wirrwarrs von Zuständigkeiten für die spanischen, deutschen, schweizer, italischen Siedler, afrikanischen Sklaven sowie ihre Nachkommen mit Indios in Venezuela war, dass sich erst sehr spät eine überregionale Identität entwickelte; die Konflikte etwa zwischen Mérida, Maracaibo und Caracas oder Cumaná sind noch heute viele stärker als die zwischen Berlin und München, da sich zu den eigentlich normalen regionalen und lokalen Differenzen in Venezuela, wie überall im kolonisierten Amerika, starke sowie ethnisch-rassisch definierte Unterschiede gesellten. Wenn europäischer Kolonialismus seine Aufgabe darin sah, Raum (oder „Land“, das eigentlich anderen Menschen gehörte) in Staat zu verwandeln, so war Spanien im nordöstlichen Teil Südamerikas nicht weit gekommen. Die „Provinzen“ des damaligen spanischen Imperiums waren zwar gegeneinander auf den bunten Karten abgegrenzt, aber keiner wusste erstens, wo diese Grenzen in der Realität waren. Zweitens waren diese bürokratischen Territorien sozusagen nach „vorne“, zum Meer hin, offen und ungeschützt, verletzlich durch Piraten und die Wucht der Dünung sowie der tropischen Stürme (obwohl Hurrikans in der Karibik meist von Südosten nach Nordwesten ziehen), und „nach hinten“, in Richtung des gigantischen Inneren des Neuen Kontinents, auch. Die Llanos waren sozusagen per definitionem ohne Grenzen. In Venezuela kam hinzu, dass die Provinzen auch im Osten „offen“ und ungeschützt waren (zusätzlich existierte die Hintertür der von Indígenas kontrollierten Orinokomündung und des Flusslaufes, auf dem feindliche Schiffe oder Kanus bis in das Zentrum der Llanos vordringen konnten) und im Westen riesige Michael Zeuske/Venezuela Seite 89 13.05.2016 Entfernungen zum Kolonialzentrum Cundinamarca und Bogotá zurückzulegen waren. Zudem waren die Flächen dieser Provinzen theoretisch riesig; die spanische Siedlung beschränkte sich weitgehend sich auf Punkte, um nicht zu sagen: Pünktchen der Küsten- und Kordillerensiedlungen, verloren in den türkisen Wassern der Karibik, den Bergfalten der Kordilleren und den endlosen Weiten der Llanos. Städte und Räume Der wichtigste strukturelle und sozialgeschichtliche Prozess der neuzeitlichen Geschichte Venezuelas ist der der Herausbildung eines urbanen Komplexes von Städten und Siedlungen an den Küsten des Landes, in den Küstentälern der Kordilleren und im Andenbogen, der Venezuela mit den Hochanden im heutigen Kolumbien verbindet. Da die Küste so gigantisch war und die ersten spanischen Siedler aus Norden, von den Antilleninseln und vom karibischen Meer kamen, waren die ersten Siedlungen überhaupt nicht untereinander verbunden, sondern auf Santo Domingo und La Española in der heutigen Dominikanischen Republik ausgerichtet oder, in den Anden, auf Bogotá; Maracaibo auch auf Cartagena. Die wichtigsten Städte (villas und ciudades) sowie dörfliche Siedlungen (pueblos de españoles und pueblos de indios) dieses urbanen Komplexes auf dem Territorium des heutigen Venezuela entstanden im Zeitraum zwischen 1500 und 1650. Zwischen dem späten 17. und während des 18. Jahrhunderts versuchten die Eliten des größten (und zentralen) urbanen Komplexes, die von Caracas-La Guaira-Valencia und die imperialen Eliten, die wichtigsten Verbindungen und die Verwaltung der Kolonie auf eben dieses Zentrum Caracas auszurichten. Auch die Verbindungen zur atlantischen Welt und Europa sollten vor allem über Caracas sowie seinen Hafen La Guaira laufen. Als dieser Michael Zeuske/Venezuela Seite 90 13.05.2016 Anpassungsprozess einigermassen erfolgreich beendet war, zerstörte der Kollaps des Spanischen Imperiums die Ordnung der späten Kolonialzeit. Es dauerte etwa hundert Jahre (bis um 1870), bis die urbane Struktur mit Zentrum Caracas wieder einigermassen hergestellt war. Seitdem gibt es zwar Konflikte und Eifersüchteleien, sehr stark etwa zwischen Caracas und Maracaibo, aber die Stellung einer primären Stadt ist Caracas nicht mehr zu nehmen gewesen und durch die Erdölmodernisierung, auch die der städtischen Strukturen und der Stadtsilhouette, im 20. Jahrhundert im Grunde nur bestätigt worden. Aus Sicht des nordatlantischen Handels- und Wirtschaftssystems war Caracas seit dem 19. und im frühen 20. Jahrhundert eine idealer kommerziell-bürokratischer Außenposten in einem noch quasikolonial-jungfräulichen Territorium, das im Norden (der sich „Westen“ nennt) gesuchte Pflanzen, Drogen, Rohstoffe und Ressourcen produzierte. Das drückte sehr emphatisch schon 1843 Johann Eduard Wappäus, der in einer der ersten deuten kommerziell-statistischen Landeskunden schrieb: “Kein anderes Land des Spanischen Amerika liefert wie Venezuela einen vergleichbaren Reichtum und solch eine Vielfalt von Waaren des Pflanzenreiches, die Gegenstand des Welthandels sind”.238 Die eigentlich “spanische” Kolonialordnung und die hispanische Kultur der Eliten, auf die sich heute noch Eliten als “lateinische” Kultur beziehen, basierten auf dem urbanen Netz der Städte. Dieses Netz gibt also für die ältere Kolonialgeschichte Venzezuelas, wie auch für vorliegendes Buch so etwas wie eine Grundstruktur vor – die zugleich so etwas wie die Knochen eines historischen Skeletts der Geschichte des heutigen Venezuela darstellen. Die ersten europäischen Siedlungen an den Küsten und auf den Insel Venezuelas existierten nur Monate (wie Santa Cruz in der Gobernación de Coquibacoa von Alonso de Ojeda, Mai-September 1502, wahrscheinlich an der Küste in Nähe der heutigen Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien). 238 Wappäus, Johann Eduard, Die Republiken von Südamerika geographisch-statistisch, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Produktion und ihres Handelsverkehrs, vornehmlich nach amtlichen Quellen (1. Abt., Venezuela), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1843, S. 163. Michael Zeuske/Venezuela Seite 91 13.05.2016 Nueva Cádiz auf Cubagua florierte nur wenige Jahre (zwischen 1515 und 1540). Sie waren Episoden. Die wichtigste Folge der Conquista und der europäischen Kolonisation in Form der Sklavenfangwirtschaft mit Perlenfischerei waren zuerst die Verwandlung karibischer Küsten in Kriegsterritorien und danach die Entvölkerung großer Landstriche an der Küste und in den Küstentälern Venezuelas.239 Die Welser-Episode hatte diesen Trend noch verschärft. Dazu kamen die Krankheiten, die ganze Völker ausrotteten, in manchen Gegenden der Karibik, wozu Venezuela bis auf die höheren und westlichen Lagen der Kordilleren gehörte, zwischen 80 und 98% der Indígenas.240 Spanische Kolonisation und pacificación (Befriedung), wie der ganze Prozess seit ca. 1560 hochoffiziell genannt werden sollte, bestand im Kern aus der Anlage von Städten, dem landwirtschaftlichen Ausbau des Umlandes sowie der Suche nach Edelmetallen in der weiteren Umgebung. 241 Die erste wirkliche Siedlung auf dem Kontinent war eigentlich ein InselFestlandkomplex mit der Stadt Nueva Cádiz auf der Insel Cubagua, die nur einen Zweck hatte – die Ausbeutung von Perlen. Der Festlandsteil des Umlandes von Cádiz bestand aus einer Siedlung an der Mündung des Flusses Cumaná.242 Die wasser- und baumlose Insel Cubagua wurde von diesem Territorium namens „Cumaná“, mit Wasser, Nahrungsmitteln, Holz und Indio-Sklaven versorgt. Nueva Cádiz war in ihrer Anlage als Perlenzentrum so etwas wie eine autonome Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, S. 247-265. 240 Pieper, Renate, “Die demographische Entwicklung”, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S. 313-328, hier S. 318ff. 241 Cunill Grau, Pedro, „Aspectos de geografía urbana Venezolana“, in: Flores S., Eusebio et al., Estudios Geográficos. Homenaje de la Facultad de Filosofía y Educación a Don Humberto Fuenzalida Villegas, Santiago de Chile : Facultad de Filosofía y Educación, Universidad de Chile, 1966, S. 83-110 ; Ardao, Alicia, „La fundación de ciudades como instrumento de conquista y colonización“, in: Ardao, El café y las ciudades en los andes venezolanos (1870-1930), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1984 (Fuentes para la historia republicana de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 34), S. 34-37. Von den frühgegründeten Städten der venezolanischen Anden überlebte nur Gibraltar (gegr. 1591/92, Verfall seit Piratenüberfällen – Morgan 1679, Erdbeben, Angriffen einer Allianz von See- und Landindios 1607 und Überfällen der Indios Motilones 1713) nicht, siehe: Uslar Pietri, Arturo, Morgan y los piratas, Caracas: Editorial Lisbona, 1982; Altez, Rogelio; Parra Grazzina, Illeana; Urdaneta Quintero, Arlene, „Contexto y vulnerabilidad de San Antonio de Gibraltar en el siglo XVII – una conyuntura desastrosa“, in: BANH, Tomo LXXXVIII, Nr. 352 (Oct.-Dic. 2005), S. 181-209. 242 Gómez, José Mercedes, Génesis, evolución y decadencia de la provincia de Cumaná, Cumaná: Editorial Provincia, 1990; Gómez, Historia los orígenes de Cumaná: desde el descubrimiento hasta la creación de la provincia, Cumaná, s.l., 1992. 239 Michael Zeuske/Venezuela Seite 92 13.05.2016 Stadt; ein Gebilde, das damals república (im Sinne von Kommune) genannt wurde. In Cumaná, dem Hauptort des Ostens, überlagerten sich verschiedene Siedlungsansätze. Von 1512 bis 1521 hatten sich Franziskaner an der Mündung des Flusses Cumaná nieder gelassen. Etwas weiter entfernt, an einem Ort namens Chichirivichi, bereits seit 1499 als pueblo de flecheros – Dorf der Bogenschützen (mit Curarepfeilen), bekannt, gründeten Dominikaner 1515 ein Kloster namens Santa Fe. 1521 wurden diese Missions-Versuche wegen des Widerstands der spanischen Sklavenjäger und der Kariben beendet. Als die Kariben-Indios sich zweimal gegen die Sklavenfänger-Razzien sowie die Strafexpeditionen von Santo Domingo und Cubagua gewehrt hatten und die Kirchen und Klöster zerstörten, wurde unter dem Conquistador Jácome de Castellón 1523 - auch gegen die bald einsetzenden Piratenangriffe - eine Art Festungsturm an der Mündung des Flusses Cumaná gegründet, der 1530 einen Erdbeben zum Opfer fiel. Aber nicht nur der Festungsturm zerschellte, sondern auch der Plan des Padre Córdoba und des noch nicht zu den Dominikanern gehörenden Las Casas. Sie träumten von einer anderen Art der Kolonisierung durch Predigt des Evangeliums und friedliche Erziehung der Indios (nicht etwa gewaltfreie, bei den damaligen Erziehungsmethoden).243 Trotz des Scheiterns dieser ersten Versuche (relativ) friedlicher Missionierung in einer gobernación espiritual (geistige Herrschaft) der Franziskaner sowie der Dominikaner (darunter Fray Bartolomé de las Casas) wurde Venezuela ein Gebiet nicht nur der Conquista, sondern auch Missionen – vor allem deshalb, weil der Landnahmeprozess aufgrund der peripheren Lage des Landes und der wenigen Kolonisten sehr langsam verlief. Missionare erforschten zeitig abgelegene Landstriche, wie der Dominikaner Jacinto de Carvajal (1567 - ?), der das Tagebuch einer Expedition auf dem Río Apure von Barinas bis Cabruta (1647) 243 Ramos [Pérez], „El P. Córdoba y de Las Casas en el plan de conquista pacífica de Tierra Firme“, S. 113-165. Michael Zeuske/Venezuela Seite 93 13.05.2016 hinterlassen hat und damit die erste ethnographische und naturhistorische Beschreibung der Llanos lieferte.244 Allerdings fassten die großen Missionsorden der Franziskaner, Kapuziner, Jesuiten und Dominikaner wirklich erst nach den Misserfolgen des frühen 16. Jahrhunderts im 17. und 18. Jahrhundert Fuss im Innern des Landes; in gewisser Weise ist Venezuela außerhalb der Küsten und der Kordilleren ein Gebiet der Missionen und der Sklavenexpeditionen geworden. Franziskaner setzten sich vor allem in Caracas selbst, in der Mission Píritu (bei Barcelona, 1656), Mission des Orinoco und Caura (1734) sowie in der Mission des Alto Orinoco (1772) im Süden fest; die Kapuziner aus Katalonien und Aragón in den Missionen von Cumaná (1657), Mission der Llanos von Caracas (1658), Mission von Trinidad und Guayana, vor allem die am Río Caroní (1686), und die Mission von Maracaibo (1694), Mission der venezolanischen Goajira, die seit 1749 den Kapuzinern aus Navarra anvertraut wurden, dazu kam seit 1762 die Mission des Alto Orinoco und Río Negro. Jesuiten kontrollierten die Mission von Guayana, die Mission des Meta und Casanare (die in den heutigen kolumbianischen Llanos lagen, seit 1661), Mission des Orinoco (1731); die Dominikaner kamen erst 1709 in der Mission von Barinas und Apure in den venezolanischen Llanos vom Apure zum Zuge. Mission, Sklavenfang und fortlaufende Conquista ergänzten sich im Alltag des Kolonialismus. Grundidee der Mission war es, nomadisierende und feindliche Indiovölker zu missionieren (evangelización) und ihnen zusammen mit europäischer Religion, Kultur und Lebensweise auch europäische Siedlungsweisen (reducción, Zusammensiedlung in Dörfern) und Wirtschaftsformen (Viehhaltung, Handwerk und Ackerbau) beizubringen. Dafür sollten die Missionen 20 Jahre frei von Encomieda sowie Tributen sein; Spaniern und Negern war offiziell das Leben in den Missionen untersagt. Durch 244 Fierro Bustillos, Lourdes, Realidad e imagen de Venezuela, en las Jornadas náuticas (1648) de Fray Jacinto de Carvajal, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1983; Carvajal, Jacinto de, Descubrimiento del río Apure, Madrid: Historia 16, 21985. Michael Zeuske/Venezuela Seite 94 13.05.2016 gute Organisation, vielfältigen Handel und Rechnungsführung wurden Missionen oft zu exzellenten Wirtschaftsunternehmen. Nach 20 Jahren sollten – theoretisch – die Missionsgebiete in das normale politische Regime der Provinzen und Städte einbezogen werden. Allerdings in selbständigen IndioSiedlungen, den repúblicas de indios oder doctrinas de indios; diese ehemaligen Missionsiedlungen245 bewahrten den kommunalen Bodenbesitz der Indios; seit dem 19. Jahrhundert wurden diese Siedlungen resguardos genannt und Gegenstand einer liberalen Bodengesetzgebung. Die Indios leisteten Encomiendadienste waren neben Kolonialfunktionären und Siedlern weiterhin den Patres der Indianer-Doctrinas unterworfen. Zudem zahlten sie in den pueblos de indios Kopfsteuer. Angesichts des Rückzugs der Indios und der großen Bevölkerungsverluste durch Krankheiten und Conquista einerseits und starken Widerstand andererseits ist die Einbeziehung der Missionsgebiete in Territorial-Kolonien in Venezuela während des Kolonialzeit entweder nicht gelungen oder die territoriale Integration der Missionen in das normale Kolonialgebiet ist lange erfolgreich – auch durch die Missionsorden selbst – hintertrieben worden. Das verweist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Venezuela und den Zentralregionen der spanischen Indias: während Kerngebiete Perus, Mexikos oder Neu Granadas in relativ kurzen heroischen Dramen erobert und einer neuen Ordnung durch Encomiendas sowie Landbesitz unterworfen wurden, gingen Mission und kreolische Conquista sowie langsame Besiedlung in Venezuela (wie auch in Brasilien) Hand in Hand. Auch die Landvergabe an Siedler verlief zwischen 1546 und 1590 eher schleppend. Erst dann kam es in den Zentraltälern bei Caracas und im Tuytal zu einer ersten Vergabewelle von Land gegen Zahlung einer bestimmten Geldsumme (composiciones de tierras). Seit 1650 erst, mit dem Beginn der Kakaowirtschaft, kam es zu einer neuen Vergabewelle; das Land wurde zunächst oft illegal und durch Gewalt angeeignet (ocupación) und später durch 245 Gómez Canedo, “Las Doctrinas”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 103-117. Michael Zeuske/Venezuela Seite 95 13.05.2016 Zahlung einer Ablösesumme (composición) legalisiert.246 Von diesen Okkupations- und Aneignungszyklen gab es im Laufe der Kolonialzeit mehrere, so dass um 1750 das gute und leicht erreichbare Land im Umfeld der Städte im Besitz von Latifundisten war. Oft wurde Missionierung oder die Gefangennahme durch die Conquistadoren von den Indios ausgenutzt, um sich neues Wissen, neue Technologien und Techniken (vor allem Eisenprodukte und Macheten) anzueignen und zu ihren Leuten in das Hinterland zu fliehen – und weiter Widerstand zu leisten. Im Grunde wurden in Venezuela alle möglichen Arten von Kolonierung und Siedlung erprobt; fast alle im Zusammenhang mit Missionierung im 17. Jahrhundert oder gar erst im 18. Jahrhundert. Mitte des 17. Jahrhunderts herrschten südlich der Anden immer noch die Siedlungsparameter und Lebensweisen (siehe das Kapitel über das „Essen der Missionare“ bei Gilij) der frühen Conquista vor247; wirklich besiedelt und mit Städten gesichert waren nur die Andenbögen und die Küsten bis Cumaná, in dessen Umfeld die Siedlungen Cariaco und Cumanacoa entstanden, die Insel Margarita war dünn besiedelt; dazu kamen jeweils eine Siedlung auf der riesigen Insel Trinidad (San José de Oruña) und die unstabile Siedlung namens Santo Tomé de Guayana am Orinoco, die zwischen Ende des 16. Jahrhunderts und dem 19. Jahrhundert mehrere Siedlungsplätze bezeichnete, vor allem Siedlungsplätze, an denen ausreichend Indios lebten. Alles andere waren Missions- oder Indioterritorien. Aus Sicht der Krone bestand bei derart dünner spanischer Besiedlung die große Gefahr, dass sich fremde Kolonialmächte, wie die Niederlande, England oder Portugal mit den Indios auf dem Gebiet Venezuelas verbündeten und die Gebiet von Spanien abspalteten. Deshalb waren Missionare und Missionen hoch willkommen. Mitte des 18. Jahrhunderts war eine Reihe von Siedlungen in 246 Arcila Farías, Eduardo, El régimen de la encomienda en Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela, ³1979; . 247 Gilij, “De la comida de los misioneros”, in: Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 71-73), Bd. III, S. 68-71. Michael Zeuske/Venezuela Seite 96 13.05.2016 verschiedenen Teilen der Llanos gegründet, die auf Missionansiedlungen zurückgingen. Südlich des Orinoco existierten bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts die reichen Kapuziner-Missionen des Río Caroní (mit denen der niederländischen, französischen und englischen Expansionen Einhalt geboten werden konnte; sie reichten bis zum Río Yuruari, Cuyuni und zum Caura). Am oberen Orinoco erreichten Missionare den Río Casiquiare. Eine beachtliche und eigenständige Kolonisationsleistung der indianischen Völker und der Missionsorden. Ende des 18. Jahrhunderts kam es noch einmal zu einem Aufschwung der Missionen, bevor die Missionsbemühungen um 1820 und in der Zeit bis 1837 in den Unabhängigkeitskriegen und den nachfolgenden Kloster- und Ordensschließungen zusammenbrachen. Erst nach 1840 schickte die katholische Kirche wieder Missionare in die Urwälder Guayanas und der Orinoquía. Allerdings hatten die Missionare nun Konkurrenz, unter anderem auch von Wissenschaftlern, Künstlern, Entdeckern und Abenteurern. Sie stiessen auch oft mit den neuen republikanischen Lokalbehörden zusammen, die mit den Indios noch immer einen schwungvollen Schmuggelhandel betrieben oder die Indios gleich als Sklaven verkauften. Die Besiedlung der frühen „Städte“ Coro und Maracaibo248 (1527-1529 sowie 1530-1531) - in Wirklichkeit Nester mit Kirchen - hatten sich wegen anderer strategischer Ziele der Welser und ihrer Faktoren bereits in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts als eine Art Sackgasse erwiesen. Seit den Leyes Nuevas von 1542 (genauer: Barcelona, 20. November 1542 und Valladolid, 4. Juni 1542) war Indiosklaverei verboten und die bestehenden Encomiendas wurden aufgehoben (die Encomiendas mussten wegen des massiven Widerstands der Siedler in Amerika bald wieder zugelassen werden). Nach der letzten Entrada des Welser-Hauptmanns Philipp von Hutten und der Ermordung von Hutten und Bartolomäus Welser dem Jüngeren verfiel die Welser-Kolonie seit 1544-46. Die letzten Welserleute vegetierten elend in Coro oder zogen nach 248 María, Nectario Hermano, Los origenes de Maracaibo. A la luz del estudio y análisis de los documentos encontrados en el Archivo General de Indias, de la Ciudad de Sevilla, Maracaibo, 1959. Michael Zeuske/Venezuela Seite 97 13.05.2016 Neu Granada, mindestens aber nach El Tocuyo ab. Einer der letzten Faktoren und Alcalde Mayor (Oberrichter) von Coro, Heinrich Rembold, hatte aus dem Paria-Gebiet um Cumaná und Cubagua rund 100 Sklavenjäger nach Coro kommen lassen, um mit ihnen die Gründung einer neuen Siedlung voranzutreiben: „Heute [1545] wohnen dort [in Coro] wenige Christen, sie leben miserabel, säen Mais und züchten Hühner, um sie an die zu verkaufen, die […] von Cabo de la Vela kommen“.249 1551 schreibt Bischof Ballesteros: „ich fand die Stadt Coro, bevölkert mit etwa 40 Vecinos, sehr arm und einige krank. In der Siedlung von Coro gibt es eine mit Stroh gedeckte Kirche, eine der besten von Tierra firme“.250 Wegen Mais und Hühnern oder armen Nestern waren weder Schwaben noch Schweizer oder Spanier nach Amerika gekommen. Die wirklichen Gewinne wurden nun am Cabo de la Vela nordöstlich von Ríohacha im heutigen Kolumbien gemacht, wo sich seit dem Niedergang von Cubagua Perlenfischerei (und Sklavenjagd) konzentrierte.251 Die frühen Siedlungen auf Cubagua, anderen Inseln (wie Margarita, Trinidad oder Curazao) und bei Cumaná verfielen ebenso wie Maracaibo oder Coro – Coro allerdings überlebte als Stadt und früher Bischofssitz (mit einer Reihe deutscher, auch schweizerischer – insgesamt wohl alemannischer Kulturspuren252). Nicht zuletzt weil sich auch Indios angesiedelt hatten und die Kaquetíos, die in die Sierra de San Luis (Serranía de Coro) oder auf die trockene Halbinsel Paraguaná zurückgezogen hatten (wegen der massiven Versklavungen seitens ihrer „Freunde“), die Christen in Coro trotz zunehmender Feindseligkeiten weiter mit caza y pesca („Fleisch und Fisch“, was man vor allem als Fisch und Mais verstehen sollte) versorgten [nach: Relación de las tierras y provincias de la gobernación de Venezuela]. 249 Cey, Galeotto, Viaje y Descripción de Las Indias 1539-1553, estudio preliminar, notas e índices, Lovera, José Rafael, Caracas: Fundación Banco Venezolano de Crédito, 1995 (Colección V Centenario del encuentro entre dos mundos), S. 56. 250 Zit. nach: Arrelano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 101. 251 Joetze, Franz, “Brief eines Lindauers aus Venezuela vom Jahre 1535”, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns XV (1907), S. 271-278; Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 181ff. 252 Avellán de Tamayo, Nieves, „Los primeros alemanes que llegaron a la provincia de Venezuela en el siglo XVI y algunos de sus descendientes, in: Rodríguez (comp.), Alemanes en las regiones equinocciales ..., S. 35-56. Michael Zeuske/Venezuela Seite 98 13.05.2016 Der Sankt Gallener Melchor Grubel (sicherlich: Grübel; in Sankt Gallen verheiratet mit Kathrin Vonwiler – 1552 geschieden), Faktor der Welser und alcalde mayor in Coro sowie poblador (Siedlungsgründer) von El Tocuyo und Nueva Segovia, etwa hatte Nachkommen mit einer India namens Beatriz (ihr indianischer Name ist nicht bekannt) und eine große Nachkommenschaft in El Tocuyo, Carora, Barquisimeto und Guanare. Von Santafé de Bogotá und Pamplona im Nuevo Reino de Granada gründeten Goldsucher und Siedler Santiago de los Caballeros de Mérida (1558) in den Anden.253 Die Schwaben, Schweizer, Obersachsen und Flamen, die in Venezuela verblieben, taten sich mit Indias zusammen. Wenn sie nicht an Krankheiten starben oder auf ihren „deutschen“ Konquistazügen (deshalb wird hier das spanische Wort Conquista gerne als Konquista geschrieben) zu Tode kamen, heirateten ihre Nachkommen in die entstehende spanisch-christliche Siedlerelite ein. Der Welser-Faktor Grubel hatte sich schon in der Auseinandersetzung zwischen Hutten und Carvajal auf die Seite der Spanier geschlagen; einfach weil von Deutschland und den Welsern in Augsburg nichts mehr zu erwarten war – und aus der Schweiz auch nichts. Eine Welle intensiverer Siedlungsgründungen von Spaniern und ihren Nachkommen sowie den relativ wenigen verbliebenen Oberdeutschen setzte im heutigen Venezuela noch während der Zeit ein, in der die Gobernación formell der Welser unterstand (bis 1556), sozusagen als eine hybride Mischung zwischen Siedlungsbemühungen der verbliebenen Welserleute, spanischen Kolonisten von den Antillen (oder aus Spanien), Sklavenjägern, Goldsuchern sowie ihren Nachkommen, Funktionären aus Santo Domingo und der Krone, die schon nicht mehr zur eigentlichen Conquista zu zählen sind, sondern eher zu Bemühungen um die Sicherheit von Randlagen und Peripherien des entstehenden Imperiums. Die Führung lag allerdings nicht mehr bei den Welsern und ihren Faktoren oder den Oberrichtern von Coro, sondern wurde von lokalen Avellán de Tamayo, „Los primeros alemanes que llegaron a la provincia de Venezuela en el siglo XVI y algunos de sus descendientes”, S. 35-56, hier S. 43. 253 Michael Zeuske/Venezuela Seite 99 13.05.2016 Interessen diktiert. Oft waren die mestizisierten Söhne der ersten Conquistadorengeneration sowie der Welserleute (und Sklavenjäger) mit Indias Siedlungsgründer. Am 1. November 1545 wurde El Tocuyo gegründet; ein Ort, wo die Siedler vor den zunehmenden Angriffen französischer und bretonischer Piraten geschützt waren. Sie konnten in einiger Ruhe Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Obwohl die Siedler zunächst kaum andere Ziele hatten, als sie früher auch in Coro angestrebt hatten – also Sklaven jagen und „Goldreiche“ suchen – wurde die Stadt El Tocuyo (Nuestra Señora de la Pura y Limpia Concepción del Tocuyo) zum Kreuzungspunkt von Transport- und Handelswegen, die über das Tal des Tocuyo-Flusses zur karibischen Küste einerseits, über die Kordilleren nach Cundinamarca andererseits sowie in die Llanos führten. Tocuyo wurde auch zur Mutterstadt für Nueva Segovia de Barquisimeto (1552, wo 1561 auch Lope de Aguirre, der Rebell gegen König Philipp II., nach einem Scharmützel hingerichtet wurde254), den Hafenflecken Borburata (1549), Trujillo (1557), Valencia (1553), Nirgua (1554). Schließlich, weil in den Tälern weiter nach Gold gesucht wurde, entstand 1567 unter Diego de Losada Santiago de León de Caracas – im Gebiet der Karakas-Indios. 1568 wurde auch Maracaibo als Ciudad Rodrigo de Maracaibo und schließlich nochmals 1574 als Nueva Zamora Laguna de Maracaibo, neu gegründet.255 In den Städten entstanden cabildos oder ayuntamientos der ersten Siedler (Ratsversammlungen) als Ausdruck der Selbstverwaltung der vollberechtigten Stadtbürger (vecinos).256 Seit 1546 wurden, von El Tocuyo unter Juan de Carvajal ausgehend, die ersten Encomiendas (Arbeitstribute der Indios) in Venezuela vergeben257; neben der Viehhaltung und der Suche nach Edelmetall entstanden Zuckergüter (trapiches) mit schwarzen Sklaven sowie koloniale 254 Galster, Ingrid, Aguirre oder die Willkür der Nachwelt. Die Rebellion des baskischen Konquistadors Lope de Aguirre in Historiographie und Geschichtsfiktion (1561-1992), Frankfurt am Main: Vervuert, 1996. 255 Arrelano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 100-102. 256 Boza, Guillermo, “Cabildo y regidores”, in: Boza, Estructura y cambio en Venezuela colonial, Caracas: Editorial Arte, 1973, S. 33-41. 257 Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim. Michael Zeuske/Venezuela Seite 100 13.05.2016 Manufakturen (obrajes), in denen von Indios in Zwangsarbeit lienzos Tocuyo (Tocuyoleinen) hergestellt wurde; in Guanare auch die ersten Tabakpflanzungen unter spanischer Kontrolle. Der im Vergleich zu Coro bessere Erfolg Tocuyos beruhte darauf, dass unter der Kontrolle (corregimiento de indios) des neuen Ortes einige der am dichtesten besiedelten Indioterritorien Venezuelas standen. In der Gegend konnte Weizen angebaut und Vieh gehalten werden, aber auch tropische Pflanzen und Tabak gediehen gut. Wegen der Entfernung von der Küste war die Siedlung gegen Piratenüberfälle einigermaßen geschützt. Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass wegen der Lage in einem höher gelegenen Kordillerental die Krankheitskeime der Europäer nicht so verheerend wie an der Küste oder auf den Inseln der Karibik wirkten. 1563 erhielt El Tocuyo Wappen und den Titel Muy Leal Ciudad de El Tocuyo. Die komplizierte Siedlungsgeschichte Venezuelas wurde auch im Osten (Cumaná) deutlich. Nachdem die Siedlungen mit den Namen Mission Cumaná, Nueva Cádiz, Nueva Toledo und Nueva Córdoba gescheitert waren, gelang den Franziskanern mit Hilfe der ersten Mestizengeneration der Nachkommen von spanischen Sklavenjägern und Indias die endgültige Ansiedlung unter der ursprünglichen Indio-Benennung des Flusses, Cumaná, 1569 (Fernández de Serpa); 1591 erfolgte durch Philipp II. die Zuerkennung der Stadtrechte (ciudad) mit Wappen unter dem Namen Santa Inés de Cumaná. Cumaná wurde Hauptort der Provinz Nueva Andalucía. Die Stadt war bis ca. 1770 (bis zum Impuls der bourbonischen Reformen) ein elendes Nest; im Grunde nur durch Missionssiedlungen, Indios und Schmuggel vor dem Verschwinden gesichert. Noch 1720 hatte die Stadt etwa (nur) 100 Häuser; aber 1761 schon 432. 1745 lebten 1163 Einwohner in Cumaná, 1773 aber schon 5409, davon in der freien Bevölkerung ca. 75% blancos (in der Masse wohl Nachkommen von Europäern und Mestizen) und 25% pardos libres (freie Farbige, Nachkommen von Kreolen und Schwarzen) sowie (1745) 391 Sklaven; 1765 aber schon 937; von den 776 Familien 1761 waren nur 57 Besitzer von Haciendas (die meisten für Kakao, Michael Zeuske/Venezuela Seite 101 13.05.2016 aber auch Zucker und Bananen, nur zwei Hatos de Ganado).258 Auch Coro hatte 1773 erst rund 6000 Einwohner. Von Margarita und Cumaná aus verstreuten sich Siedler in die fruchtbaren Täler der feuchtwarmen Paria-Halbinsel (Cariaco, Carúpano, Río Caribe, rund 100 km östlich von Cumaná); sie versklavten Kariben und bauten Tabak und Kakao an oder hielten Rinder und Schweine. Bald kamen auch die ersten schwarzen Sklaven, die sie im Schmuggelhandel von Portugiesen, Engländern oder Niederländern eintauschten. Die verlorenen Nester an den Küsten lebten vom Schmuggel in der Karibik und liessen den fernen König einen guten Mann sein. Im Grunde stellten sie Enklaven der atlantischen Welt dar. Erst nach und nach konnten die Kolonialinstitutionen (Steuern, Kirche) diese Schmuggelsiedlungen in ihre Territorialstrukturen einbauen (erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts). Seit dieser Zeit entstanden um Carupanó eine wichtige Sklavereilandschaft und ein Zentrum der Plantagenkakaoproduktion wie auch der afrovenezolanischen Kultur.259 Zusammen mit Cumaná ist die Landschaft um Carúpano auf der Halbinsel Paria das Zentrum des eigentlichen karibischen Venezuela. Noch komplizierter war die Geschichte einer Siedlung, die den endemischen Schmuggel von portugiesischsprachigen Sklavenhändlern sowie den Schmuggel, die Suche nach „El Dorado“ und die Expansion von Engländern und Niederländer im Guayanagebiet der Karibenvölker kontrollieren sollte – im quasi unkontrollierbaren fernen Süd – dem Orinoko- und Amazonas-Venezuela. Santo Tomé ist, wie die abwandelte Form im westafrikanischen Inselnamen São Tomé, die nordportugiesische oder galicische Benennung eines Ortes im weiteren Umfeld des Zusammenflusses zwischen Orinoco und Río Caroní sowie dem Delta des Orinoko in den Urwaldgebieten Guayanas.260 Noch bis Molina Martínez, Miguel, “Aspectos demográficos de Cumaná a mediados del siglo XVIII”, in: Serrano Mangas, Fernando; Álvaro Rubio, Joaquín; Sánchez Rubio, Rocío; Testón Núñez, Isabel (coords.), IX Congreso Internacional de Historia de América, 2 Bde., Mérida (Badajoz): Editora Regional de Extremadura, 2002, Bd. I [Documentos/Actas], S. 235-244; siehe auch: Izard, Miguel, “La agricultura venezolana en una época de transición, 1777-1830”, in: Boletín Histórico, Num. 28, Caracas (1972), S. 3-67 (Separatum). 259 Tavera Acosta, Bartolomé, Historia de Carupanó, Caracas: Vadell Hermanos, 1992. 260 Ojer, Pablo, Antonio de Berrío, gobernador del Dorado, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1960; Ramos Pérez, El mito del dorado, su genesís y proceso con el Discovery de Walter Raleigh (traducción Betty 258 Michael Zeuske/Venezuela Seite 102 13.05.2016 Humboldts Zeiten schwebte über Guayana, Orinoquía und tieferer Amazonía die Legende, sozusagen Heimat der Mythen von „El Dorado“, Manoa oder vom Parime-See zu sein (der auch noch auf Karten des frühen 19. Jahrhunderts zu sehen ist).261 In Wirklichkeit befand und befindet sich in diesen Weltgegenden, die erst seit 1950 systematisch erforscht wurden, ein Dorado vegetal (Demetrio Ramos) - ein El Dorado der Pflanzen in Wäldern, unter deren grünen Pflanzendächer unter anderem Erdnuss, Yuca und Kakao domestiziert worden sind. Noch Humboldt schrieb emphatisch über die Gegend: „Nur hier, hier …, in der Guayana in Süd Amerika, ist die Welt recht eigentlich grün“.262 Bei der Gründung von Santo Tomé spielten einmal mehr die Suche nach dem Dorado sowie Kolonisationskonkurrenz vor allem mit England in Gestalt von Sir Walter Raleigh und später mit den Niederländern (die sich zwischen 1630 und 1656 in Pernambuco und Olinda im heutigen Brasilien festgesetzt hatten) eine wichtige Rolle. Auch imperiales Sicherungsinteresse war im Spiel, denn über die Mündungsarme, Ästuar sagt man wohl heute, des gigantischen und schiffbaren Orinoco konnten Schiffe vom Atlantik fast bis Bogotá vorstossen. Der in West-Ostrichtung fliessende Unterlauf des Orinoco war ein Schmuggelfluss par excellence; die Schiffe konnten wegen der vorherrschenden Winde gegen Strömung segeln. Der in Süd-Nordrichtung fliessende Oberlauf wurde erst durch Mission im 18. Jahrhundert erschlossen; als die Gefahr der „portugiesischen Bedrohung“ aus dem Amazonasgebiet im deutlicher wurde. Die Spanier und ihre mestizischen Söhne unternahmen auch hier den Versuch der Conquista und der Gründung einer Provinz. Antonio de Berrío (Segovia 1527 – Santo Tomé de Guayana 1597) unternahm sozusagen in Moore) y otros papeles doradistas, Caracas: Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 1973 (Fuentes para la historia colonial de Venezuela, 116); Ojer, Santo Tomé de Guayana, Angostura o Ciudad Bolívar, Caracas: Ediciones Amón, 1980. 261 Humboldt, „Vorwort von Alexander von Humboldt“, in: Robert Hermann Schomburgk’s Reisen in Guiana und am Orinoko …, S. XV-XXIV; Humboldt, „Über einige wichtige Punkte der Geographie Guyana’s“, in: Ebd., S. 139; ; Ojer, Robert H. Schomburgk, explorador de Guayana y sus líneas de frontera, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1969. 262 Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 16), S. 122-131, hier S. 128 (Brief aus Havanna vom 21. Februar 1801 an Karl Ludwig Willdenow). Michael Zeuske/Venezuela Seite 103 13.05.2016 umgekehrter Richtung drei Expeditionen auf der Suche nach dem Dorado. Aus der Nähe von Bogotá zogen seine Leute über die Llanos im heutigen Kolumbien und am Río Meta zum Orinoco. Berrío war im Besitz einer Kapitulation für die Gobernación El Dorado y los llanos, die er von seinem Schwiegervater Gonzalo Jiménez de Quesada geerbt hatte. Hätte sich die ursprünglich Raumkonfiguration dieser Kapitulation und der frühen Territorialpolitik durchgesetzt, würden die venezolanischen Anden bis nach Trujillo, die Llanos und Guayana heute zu Kolumbien gehören oder einen eigenen Staat Guayana, zwischen Orinoko und Amazonas begründet haben. Umgekehrt kann man sicher auch sagen: wenn sich die Welser mit ihren Bemühungen durchgesetzt hätte, Cundinamarca ihrer Kapitulation zuzuschlagen, wären Venezuela und Kolumbien heute eine Land. Venezuela war (und ist in gewissem Sinne noch heute) ein karibisches Land. Auf seiner dritten Expedition, die sich nur wenig von den Entradas der Conquistadoren unterschied, bekam Berrío Anfang 1591 die Erlaubnis des Kaziken Morequito, eine Siedlung zwischen Orinoco und Río Caroní anzulegen. Als Berrío versuchte, die Insel Trinidad zu besiedeln (San José de Oruña, 1592), wurde er von Engländern unter Walter Raleigh gekidnappt. Eine Truppe des Gouverneurs von Cumaná befreit ihn. Danach gründete Berrío im Dezember 1595 offiziell Santo Tomé de Guayana.263 Die Stadt wurde im Laufe der nächsten zweihundert Jahre fast ein Dutzend Mal von Niederländern, Engländer sowie Kariben zerstört oder von den Spaniern verlegt, um schließlich 1764 als Nueva Guayana de la Angostura del Orinoco oder einfach Angostura in unter dem Schutz der Flussfestung San Gabriel de la Angostura in die Geschichte einzugehen. Der Platz des „alten“ Guayana hieß seit dieser Zeit Santo Tomé de Guayana oder Guayana la Vieja (heute Los Castillos de Guayana). Beide Castillos sind auf Granitfelsen des Berrio, Antonio de, “Relación del descubrimiento de Guayana y otras provincias” (1590?), in: Relaciones Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno, Antonio, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 70), S. 233-238; Ibarguen y Vera, Domingo, “Relación sobre el Dorado y sobre la expedición de Antonio de Berrio” (1597), in: Ebd., S. 247-257; Antonio de Berrío, la obsesión por El Dorado, estudio preliminar y selección documental de Lovera, Caracas: Petróleos de Venezuela, 1991. 263 Michael Zeuske/Venezuela Seite 104 13.05.2016 südlichen Ufers gebaut. Das etwas niedriger gelegene Castillo de San Francisco de Asís (oder Villapol) wurde in seiner heutigen Gestalt in den Ruinen des Franziskanerklosters zwischen 1676 und 1682 gebaut. (check) Nochmal überprüfen (erste kleine Festung war San Antonio de Caroní).264 Auf dem Dach der Kaserne im oberen Teil sind zwei Toiletten (wahrscheinlich 19. Jahrhundert) erhalten. Das zweite Castillo San Diego de Alcalá wurde hinter dem ersten auf einem Cerro mit Namen „El Padastro“ zwischen 1734 und 1747 errichtet, in Vorbereitung und während der Guerra del Asiento zwischen Spanien und England.265 Der Sohn von Berrío und María de Oruña, Nichte von Gonzalo Jiménez de Quesada, Gründer von Bogotá, wurde von 1616 bis zu seinem Tode 1622 Gouverneur und Generalkapitän der Provinz Venezuela. Coro, El Tocuyo, Barquisimeto, Maracaibo, Caracas und Cumaná waren Kolonialzentren der frühen Tierra firme. Guayana blieb Hinterland und wurde zunächst Nueva Andalucia (Cumaná) zugeschlagen. In den Unabhängigkeitskriegen und den Konflikten bis 1870 konkurrierten Cumaná und Caracas um die Vorherrschaft in Venezuela. Zusammen mit Maracaibo und Caracas stellt Cumaná auch ein historisches Zentrum des heutigen Venezuela dar; etwas abseits, weil im Grunde nochmals Peripherie in der Peripherie und formal zunächst Cundinamarca zugeordnet, lag Santo Tomé de Guayana. Mérida im Zentrum der venezolanischen Anden war zunächst Einflussgebiet von Bogotá und Tunja in den kolumbianischen Anden (von Tunja aus konnte der Fluss Zulia bis zum Maracaibosee befahren werden). Zeitweise gehörten Mérida zusammen mit Maracaibo als „Provincia de Mérida y Ciudad de Maracaibo“ - zeitweilig gehörte sogar die Stadt Coro dazu - ganz zum Vizekönigreich des Nuevo Reino de Granada (1667-1777) und war formalrechtlich und verwaltungsmäßig völlig von der Provinz Venezuela Donís Ríos, Manuel Alberto, “Las fortificaciones construidas durante la colonia: Factor de integración políticoterritorial de Venezuela”, in: Anuario de Estudios Bolivarianos. Bolivarium Año V, núm. 5 (1996), S. 45-68. 265 Sanoja; Vargas Arenas, “Las fortificaciones coloniales de Santo Tomé”, in: Sanoja; Vargas, Las edades Guayana ..., S. 177-214, siehe Bilder Figura 24 und 47. 264 Michael Zeuske/Venezuela Seite 105 13.05.2016 getrennt. Von den Provinzen und Städten in Randlagen (in Bezug auf Caracas und Cumaná) Coro, Maracaibo und Guayana gingen in den Kriegen der Unabhängigkeitszeit immer wieder Versuche aus, Zentren eigenen Rechts zu bilden und das spanische Imperium zu erhalten. Die Hinterlandsstädte Angostura und Guayana la Vieja wurden von 1816 bis 1819 zur Gründungszelle der unabhängigen Venezuela und eines Staatsgebildes, „Groß“-Kolumbien, das nur elf Jahre (1819-1830) existierte und im Kern die Vereinigung zwischen Venezuela und Cundinamarca darstellte, wie sie schon die Züge von Antonio de Berrío symbolisiert hatten. Heute ist Coro eine Kleinstadt im heißesten Teil der Karibik. Angostura (Ciudad Bolívar) ist auch eine Kleinstadt und Ciudad Guayana ist Zentrum eines Industriegebietes am Orinoco. Als Basiskonstanten der venezolanischen politischen Kultur und ihrer Geschichtsauffassung bis heute bleiben einerseits die Ausrottungs- und Versklavungpolitik gegenüber den Indios (vor allem gegen Kariben, die wie Ungeziefer dargestellt wurden) sowie der massive und ungeregelte Sklavenhandel sowie der Schmuggel, verbunden mit einer antiobrigkeitsstaatlichen Grenzer-, Aufsteiger- und Schmugglermentalitäten, deren Ideal der rücksichtslose Catire (so etwas wie eine schöne, blonde Bestie) darstellt. Indios findet man in der venezolanischen Geschichtsschreibung nicht oder nur am Rande und wenn, dann kaum als Akteure mit positiven Beiträgen zur Geschichte des Landes, sondern als „Wilde“, Stumpfsinnige oder zu missionierende Menschen. Die Indios und die Geschichte der Sklaverei gehören – bei Anerkennung einiger sehr guter Leistungen der venezolanischer Wissenschaften266 – zum großen Bereich der nicht verarbeiteten Geschichte des venezolanischen Volkes. Zweitens bleiben als Grundkonstanten der venezolanischen Geschichte Partialisierung und Balkanisierung der Territorien, Schwierigkeiten der Herausbildung eines Zentrums, die rücksichtslosen 266 Pollak-Eltz, Aportes Indígenas a la Cultura del Pueblo Venezolano, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, Instituto de Investigaciones Históricas, 1978. Michael Zeuske/Venezuela Seite 106 13.05.2016 Konflikte der lokalen Eliten (Oligarchien) und die Stiefmütterlichkeit des Imperiums (des Hin- und Herschiebens von Territorien und Herrschaften) gegenüber den Peripherien an der Tierra firme. Theoretisch sprechen Kolonialhistoriker von struktureller Instabilität kolonialer Herrschaft. Auch die Versuche zentralistischer Steuerung von Wirtschaftsaktivitäten durch die Metropole haben tiefe Spuren hinterlassen, wie die monopolistische Kontrolle von Tabak und Kakao, die sich wegen relativ leichter Transportierbarkeit gut als Schmuggelgüter eigneten, anders als Zucker, der in schweren Fässern transportiert werden musste. Die Kronbeamten fürchteten, dass sich andere Kolonialmächte durch Tabak- und Kakaoschmuggel eingeladen fühlten. In gewissem Sinne hatten sie Recht mit ihren Befürchtungen, denn sowohl Engländer wie auch Niederländer, Portugiesen, Brasilianer und Franzosen, deren Vorhut immer Indiovölker, Schmuggler/Piraten und Korsaren gewesen waren, rissen im Laufe der Kolonialzeit Teile aus den Territorien der zusammengewürfelten Provinzen an sich (vor allem in den Guayanas sowie in den Urwaldgebieten zwischen Orinoco und Amazonas) oder besetzten Inseln der venezolanischen Küsten, wie die Niederländer Curaçao 1634 (anerkannt im Frieden von Müster 1648) und die Briten Trinidad 1797.267 Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galt kein Nationalbegriff für die Nordfassade Südamerikas, sondern der Begriff aus der Zeit der Conquista: Costa Firme oder Tierra Firme (feste Küste oder Festland im Gegensatz zu den Insel der großen Antillen). Definition der Costa Firme: „todo el país comprendido entre las bocas del Orinico y el istmo de Panamá: esto es, las provincias de Cumaná, Barcelona, Caracas, Coro y Maracaibo que pertenecen a Venezuela, las de Río Hacha, Santa Marta, Cartagena y Panamá que son parte del virreinato de 267 Hartog, Johannes, Curaçao from colonial dependence to autonomy, Aruba: De Wit, 1986; Hartog, Curaçao: short history, Aruba: De Wit, 41979; Trinidad . Arauz Monfante, Celestino Andrés, “Los holandeses y judíos retornan a las Tucacas, punto neurálgico del contrabando en Tierra Firme”, in: Arauz Monfante, El contrabando holandés en el Caribe durante la primera mitad del siglo XVIII, 2 vols., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1984 (Biblioteca Academia Nacional de la Historia, 168; 169/Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela), Bd. I, S. 198-201; Zum Hintergrund siehe: Cwik, Christian, “Neuchristen und Sepharden als cultural broker im karibischen Raum (1500-1700)”, in: Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven Jg. 8, Heft 2 (Herbst 2007), S. 153-175, bes. S.171f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 107 13.05.2016 Santa Fe, y los indios de la Guajira que a nadie pertenecen. Ésta es la Costa Firme propiamente dicho”.268 Gegen diese auseinanderstrebenden Kräfte der Geschichte hat der liberale, aber auch der konservative Geschichtsdiskurs, seit etwa 1870 die extrem geschichtsmächtige „rückwirkende Konstruktion“ einer Nation gesetzt, die im Grunde schon beim Namen „Venezuela“ als erster Regung des Nationalbewusstseins ansetzt.269 Dieses Geschichtskonzept war in und für die Kolonialzeit (1550-1810) nur schwer zu vermitteln, weil lokalistisches Bewusstsein der einzelnen Städte, Korporationen (Mönchsorden, Kolonialbürokratie, Militär) und Provinzen sowie starke ethnische, rassiale und regionale Spannungen (koloniale Küstengebiete und Anden, Llanos und Indiogebiete in den Guayanas) jedem vor Augen führte, dass eine in das 16. Jahrhundert rückprojizierte Nation einfach Unfug war und ist. Erst der Kampf der Helden der venezolanischen Geschichte hätte dann im frühen 19. Jahrhundert nur noch der - natürlich fast übermenschlichen Anstrengung bedurft, um diese „eigentlich“ schon seit dem 16. Jahrhundert existierende Einheit „Venezuelas“ in Form einer Allianz der „Guten“ gegen Spanien zu mobilisieren und endgültig „die Nation“ gegen viele Widerstände ins Leben zu rufen. Während des 19. Jahrhunderts sei dann nur noch die Form der ElitenDominanz - zentral oder föderal - über diese „Nation“ ausgekämpft worden; weil die militärischen Anführer der Kriege des 19. Jahrhunderts, die Caudillos, das Land ausbluten liessen, habe sich die Notwendigkeit von Diktaturen zur Stabilisierung der „Nation“ ergeben (die fast immer den Diskurs der Unterschichten aufnahmen, selbst oft aus einfachen Verhältnisse stammten und nach Siegen in die herrschenden Oligarchien einrückten) – daraus hat ein genialer venezolanischer Intellektueller dann die Theorie des „notwendigen Díaz, José Domingo, “Impugnación al folleto titulado la América y la Europa en 1846 o El Congreso de Panamá, escrita por Mr. G.L., traducido del francés al castellano por D.S.L. y publicado en Hamburgo por Hoffman y Campe en 1826”, in: Navarro García, Puerto Rico a la sombra de la independencia continental (Fronteras ideológicas y políticas en el Caribe, 1815-1840), Sevilla – San Juan: Centro de Estudios Avanzados de Puerto Rico y El Caribe/CSIC, 1999, S. 209-280, hier S. 226. 269 Harwich Vallenilla, Nikita, „Construcción de una identidad nacional. El discurso historiográfico de Venezuela en el siglo XIX“, in: Revista de Indias, LIV, 202 (1994), S. 637-653. 268 Michael Zeuske/Venezuela Seite 108 13.05.2016 Gendarmen“ konstruiert. All diese Konstanten sind auch heute subkutan wirksam, wenn darüber debattiert wird, was Venezuela ist und sein kann. Aus diesen Widersprüchen hat sich bis heute eine sehr komplizierte Geschichtssicht entwickelt270, die gerade in Bezug auf den ethnischen und rassialen Inhalt des Konzepts der Nation eine Umformulierung erlebt. Unter Rückgriff auf die Geschichte des Landes wird eine sozial und ethnisch homogenere „Nation“ unter dem Konzept des Bolivarianismus als Argument gegen die korrupte Elitennation der letzten vierzig Jahre sowie gegen bestimmte der Formen der Globalisierung reklamiert und propagiert. Eine Reihe von Widersprüchen bleiben weiterhin existent, zum Beispiel, dass die Masse der Venezolaner (vor allem die Bewohner der Gebiete, die in den sieben Sternen der venezolanischen Flagge repräsentiert sind; der achte Stern, der 2006 dazugekommen ist, steht für Bolívar) gerne an die frühe Existenz der Nation mit dem Vornamen „Venezuela“271 glauben möchte, zugleich aber genau weiss, dass ihre Vorfahren Indios, Negros oder Pardos waren, also zu Kolonialzeiten und auch im 19. Jahrhundert, manchmal sogar noch im 20. Jahrhundert von den Konstrukteuren des Eliten-Nationsbegriffes nur als Kanonenfutter, Diener, Barbaren, Soldaten oder gar Sklaven in Betracht gezogen oder als außenstehende „Wilde“ bekämpft wurden.272 Dazu kommen die Gebiete, die nicht in den sieben Sternen repräsentiert sind – Maracaibo-Zulia, Coro-Falcón und Guayana – mehr als die Hälfte der Fläche der heutigen venezolanischen Staatsgebietes umfassend -, deren Eliten schon immer auf lokale Autonomie (und Imperium oder Separatismus) gesetzt haben. 270 Carrera Damas, Germán, Formulación definitiva del proyecto nacional, 1879-1900, Caracas: 1988; Langue, “Regards sur le positivisme vénézuélien et ses interpretations récentes”, in: L’Ordinaire Latino-Américain 160-161 (1996), S. 85-89. 271 Die konsistenteste Perspektive auf das historische Projekt “Venezuela Nation” hat Germán Carrera Damas in seinem Buch: Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 5 1997 entwickelt, allerdings vom Standpunkt der “Vierten Republik”. Deshalb gehört Carrera Damas auch zu den einflussreichen Verteidigern der intellektuellen und wissenschaftlichen Standards in Venezuela – gegen die Perspektive des Chavismo. 272 Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, S. 247-265 ; Langue, “L’histoire officielle au Venezuela. Vertus et paradoxes d’une histoire nationale”, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas (JbLA), 40 (2003), S. 355-372. Michael Zeuske/Venezuela Seite 109 13.05.2016 Rinder, Pferde und Llanos Auch Tiere machen Geschichte. Ochsen, Pferde und Schweine als historische Akteure. Kolonisation und Besiedlung hatten nicht nur die Bildung neuer Territorien und Städte für Menschen, sondern auch die Bildung neuer Räume für Tiere zur Folge; man könnte auch sagen, die Räume wurden wegen des Reichtums an Tieren überhaupt wahrgenommen und erschlossen. Diese Landschaften waren wirklich von Tieren und Menschen geschaffenes Land, die für Venezuela höchst bedeutsam wurden – wie die Llanos, die ohne Pferde, Rinder und Reiter nicht vorstellbar sind. Auch diese Landschaften prägen in ihrem schieren Da-Sein bis heute die Geschichte des Landes (vor allem in Bezug auf die Verteilung der Bevölkerung und der Infrastrukturen).273 Humboldt war von den Weiten der Llanos so beeindruckt, das er in seinem holistischen Weltbild im Flug seiner Gedanken einen kosmischen Standpunkt einnahm, um die majestätischen Landschaften der asiatischen und afrikanischen Wüsten und Steppen sozusagen „von oben“ mit den Llanos, Prärien und Pampas in den Amerikas vergleichen zu können.274 Auch wenn viele der neuen Landschaften nur spärlich besiedelt waren, entstand sozusagen als Vorhut der Besiedlung nach Süden, Südwesten und Osten eine regelrechte Rinder- und Pferde-Grenze. Allerdings war das erst möglich, als europäisches Nutzvieh zu Cimarron-Vieh (orejanos, montaraz oder mesteño, woraus in Nordamerika mustang wurde). Die erste der kolonialen Landschaffungen von Makrostrukturen, vielleicht sollte man vom Auffüllen einer existenten geographischen Fläche275 sprechen, bestand darin, dass sich die Llanos, die Denevan, William M., „The Pristine Myth: The Landscape of the Americas in 1492“, in: Annals of the Association of American Geographers 83 (1992), S. 369-385. 274 Humboldt, „Über die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt, Alexander von, Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des Autors, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), S. 15-131. 275 Die Llanos gehören wirklich zu den Naturlandschaften Südamerikas, siehe: Denevan, William M., „The Pristine Myth: The Landscape of the Americas in 1492“, S. 369-385, hier S. 373. 273 Michael Zeuske/Venezuela Seite 110 13.05.2016 vorher fast „leer“ in Bezug auf Großvieh gewesen waren mit europäischen Rindern, Maultieren und Pferden füllten. Leer ist natürlich relativ, denn in den Llanos wimmelte es von Tapiren, Stachelschweinen, Affen, Anacondas, Boas (traga-venado), anderen Schlangen,Wasserschweinen (chiguires), Kaimanen, Ameisenbären, Krokodilen, Geiern, großen Fischen und Jaguaren, Ozelots (manigordo) sowie einer riesigen Vielzahl großer und kleiner Vögel und der plaga – Insekten, Spinnen, Skorpione, Würmer und Schmetterlinge aller Größen und Typen - abgesehen.276 In den Llanos herrschten Tiere, nicht Menschen. Die Rinder ermöglichten es Menschen aber, vor allem geflohenen Indígenas und Sklaven, Sträflingen sowie Schmugglern, Sklavenjägern und Missionaren, überhaupt erst in diesen wilden Savannen zu überleben und auch dort rudimentäre Formen von Exportwirtschaften (hatos)277 in den Llanos von Caracas (später Guárico) zu schaffen, die sich vom ersten Tage ihrer Existenz im gewalttätigen Konflikten mit den Subsistenznomaden der Indios und der Cimarrón-Fluchtkulturen der Llaneros befanden. Mit der Conquista wurde in Amerika das „Imperium der Rinder“ (J. Rifkin) inauguriert. Westeuropa hatte nur noch an seinen Peripherien Platz für Rinder, in der Puszta, in der Bukowina, in den Fjorden Norwegens, den südrussischen Steppen, Hochschottland, auf den Hochalmen der Schweiz, der Camargue und in bestimmten Regionen Andalusiens. Das Image eines Imperiums der Rinder hat den Kontinent Amerika (und heute vor allem dem „Westen“ Nordamerikas) auch geprägt – bis heute. Das ist - wie fast alles, was die Perzeption „Amerikas“ in Mitteleuropa betrifft - insofern ungerecht, als die wichtigsten Viehgebiete Amerikas in den kolumbianischen und venezolanischen Llanos, den argentinischen, uruguayischen-südbrasilianischen Pampas oder den Llanos im Norden Mexikos entstanden. Erst Hollywood hat sich dieses Images’ für den Mythos USA bedient – herausgekommen ist das Format Cowboy-Film Rubio Recio, J.M., “La vida animal en Los Llanos”, in: Rubio Recio, El Orinoco y los Llanos, Madrid: Ediciones Anaya, 1998, S. 45-81. 277 Armas Chitty, José Antonio de, “El hato”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico, 2 Bde., San Juan de los Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 65-76. 276 Michael Zeuske/Venezuela Seite 111 13.05.2016 und die Telenovela „Dallas“ mit der der Neoliberalismus in den Medien Einzug hielt (zumindest in den mitteleuropäischen). Aber auch das Gegenteil scheint möglich – immerhin gilt Hugo Chávez als echter llanero (Llanobewohner), obwohl er mittlerweile sicherlich meist im Präsidentenpalast in Caracas wohnt. 1530 hatte Cristóbal Rodríguez 18 Kühe mit Kälbern, 10 Stuten aus Jérez und einige Schweine mit auf einen Zug in die Llanos geführt – sagt jedenfalls die historische Legende. Der historische Prozeß der biologischen Veränderungen in der Folge der Conquista war profaner. 1548 gab es in El Tocuyo 215 Siedler sowie 100 Hengste, 200 Stuten, 300 trächtige Kühe, 500 Schafe und einige Schweine. Dreißig Jahre später durchstreiften zwischen 12000 und 14000 Rinder sowie etwa die Hälfte an Pferden, Eseln und Maultieren (mulas) die westlichen Llanos altos; um 1783 soll der venezolanische Oriente pro Jahr etwa 10000 Maultiere exportiert haben ohne dass die vorhandenen Viehbestände abgenommen hätten – vor allem in die Karibik und für das Jahr des Friedens von Amiens (1802-1803) gibt Ramón Aizpurúa auf Basis von Information Dauxion-Lavaysses die fast unglaublichen Exportzahlen (nur) für den Hafen von Barcelona: 132000 Ochsen, 2100 Pferde, 84000 Maultiere und 800 Esel.278 Zwischen Jamaika und Curaçao existierte ein direkte Schmuggelverbindung, auf der vor allem Maultiere aus Venezuela in den britischen Kolonialbereich gelangten. Curaçao hing am Tropf Coros; Trinidad am Tropf Cumanás. Die Llanoebenen des Landes füllten sich mit entlaufenem europäischem Cimarrón-Großvieh sowie Schweinen. Bereits hundert Jahre nach den ersten Kontakten der Europäer waren die Orinokosavannen, vor allem die Llanos de Apure in der Mitte Venezuelas voller riesiger Herden von Rindern, Pferden, Eseln und Maultieren sowie wilden Schweinen und Hunden.279 Las Casas Arellano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 149; Aizpurúa, Ramón, “Las mulas venezolanas y el caribe oriental del siglo VXIII: Datos para una historia olvidada”, in: Boletín Histórico XXX, Nr. 38, Barcelona (1988), S. 5-15. 279 Izard, „El llano se llena“, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona: Sendai Ediciones, 1988, S. 31-43 (dort auch Karte). 278 Michael Zeuske/Venezuela Seite 112 13.05.2016 schreibt 1518: “Gott schafft in jenen Landen mehr [Rindviecher] als in irgendwelchen anderen der Welt”280. Eine tiefgreifende Transkulturation, hin zu einer stärker mediterran-atlantisch geprägten Landwirtschaft mit vielen lokalen Varianten (und arabischen Einflüssen) nahm ihren Lauf.281 Die europäischen Tiere wurden zur freilaufenden Ernährungsreserve für Europäer, aber auch für die seit der Conquista entstehenden neuen Cimarrón-Völker, wie die Llaneros, die aus dem ganado Frischfleisch, Milch, Käse, Schinken, Salzfleisch, Tasajo, aber auch Leder, Riemen und viele andere Gegenstände des täglichen Bedarfs gewannen. Besonders wichtig für die Spanier waren Rind, Pferd und das gemeine Hausschwein.282 Im Grunde ruhte die christlich-europäische Kultur der atlantischen Conquista-Kolonisationsprozesse auf diesem Tier. Für die Llaneros und Gauchos wurden Rinder und Pferde lebensprägend und – Rindersteak sowie Trockenfleisch (tasajo).283 Die Lebens- und Esssitten änderten sich – die Welt des Atlantiks war eine Welt des Salz- und Räucherfleisches sowie Salzfisches; die der Llanos und Pampas eine Welt des reichlichen Frischfleisches, der Häute (in England, Frankreich und den Niederlanden als „Caracas“ bekannt) und des Leders; damit ging es den Unterschichten meist nicht schlechter, vielleicht sogar besser als der Masse der Unterschichten im nichtmaritimen Europa, Asien und Afrika. Nach den Entradas der Hutten und anderer Welser-Hauptleute allerdings wagten sich nur noch wenige Spanier oder Siedler aus dem Norden in die gefährlichen Weiten; die Städte Barinas im Westen und Maturín im Osten sowie San Sebastían südlich von Caracas sowie Barcelona, wo die Llanos nah an die Küste herankommen, im Osten bildeten Grenzorte zu den Savannen der Las Casas, Fray Bartolomé de, “Memorial de Remedios para las Indias” (1518), in: Casas, Obras Completas, 14 Bde., Madrid: Alianza Editorial S.A., 1994, Bd. 13, S. 49-53. 281 Río Moreno, Justo L. del, Los inicios de la agricultura europea en el Nuevo Mundo 1492-1542, 2 Bde., Sevilla: Editores ASAJA Sevilla/Caja Rural de Huelva/Caja Rural de Sevilla, 1991; Río [Moreno], Caballos y équidos españoles en la conquista y colonización de América (siglo XVI), Sevilla : Editores ASAJA Sevilla/Caja Rural de Huelva/Caja Rural de Sevilla, 1992. 282 Río Moreno, “El cerdo. Historia de un elemento esencial de la cultura castellana en la conquista y colonización de América (siglo XVI)”, in: AEA, Tomo LIII, 1 (1996), S. 13-35. 283 Die Ernährung der Masse der einfachen Peones der Llanos ist umstritten, siehe: Lovera, José Rafael, „Entre la buena mesa y el diario sustento“, in: Baptista, Asdrúbal (coord.), Venezuela siglo XX. Visiones y testimonios, 3 Bde., Caracas: Fundación Polar, 2000, Bd. I, S. 156-173. 280 Michael Zeuske/Venezuela Seite 113 13.05.2016 Cimarrones. Oft war seit dem 17. Jahrhundert die Rede davon, „auf die andere Seite des Apure“ nach Süden zu ziehen und es mag eine Reihe von Goldsuchund Sklavenfangexpeditionen oder Versuche der Territorialgründung (wie Berrio) gegeben haben. Über eine der ersten Expeditionen wird 1653 berichtet, dass sie von San Sebastián startete, um die frechen Worte eines mulato zu rächen sowie die Bedrohungen durch Indios caribes und geflohenen Negern zurück zu schlagen. Unter dem Hauptmann Garci González de Ledezma sammelten sich 114 wohlbewaffnete Offiziere und Soldaten mit Säbeln, Lanzen und Armbrüsten, wohl auch dieser und jener Feuerwaffe. Der Hauptmann hatte auch die Erlaubnis des Generalkapitäns von Caracas beschafft. Erstaunlich ist nur, dass in der Namensliste alle die großen Namen erscheinen, die später als die ersten Hato-Besitzer in den Llanos von Caracas verzeichnet sind: Bolívar, Pérez de Valenzuela, Rodríguez, Zapata, Velasco, Tabares ... und viele viele mehr.284 Das systematische Vordringen der kolonialen „Zivilisation“ des Nordens in die Llanos begann mit den Missionaren und ging sehr langsam vor sich. Noch 200 Jahre lang, bis etwa 1750 blieben die Llanos mit Ausnahem der nördlichen Ränder ein Gebiet eigener Kultur, das von direkter Herrschaft der kolonialspanischen „Zivilisation“ verschont war. Das heisst nicht, dass es keinen Austausch zwischen Norden und Süden gegeben hätte, auch und gerade in Bezug auf Sklavenfang, Fleisch und Tiere gegen Stoffe und Eisenwaren. Die Sozialisierung als Llanero der vordringenden Viehwirtschaft und die Alltagsgeschichte eines Peones (d.i., in etwa, ein Cowboy) beschreibt die Autobiographie eines der venezolanischen Nationalhelden, José Antonio Páez. Das Buch kennt jeder Venezolaner, es hat neben dem Roman Doña Bárbara wohl am meisten zur Konstruktion des Llano-Mythos in Venezuela beigetragen. Die Autobiographie ist in den 1860er Jahren entstanden und beschreibt die Jugend des Helden um 1800, als José Antonio, in der Sprache der Llaneros ein catire (Blonder, „Weißer“) in jungen Jahren wegen eines Totschlags in die Armas Chitty, “La lección de Chiapara”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., 2 Bde., San Juan de los Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 76-79. 284 Michael Zeuske/Venezuela Seite 114 13.05.2016 Llanos geflohen, von einem Hatovorsteher, dem „Neger Manuelote“ in die Cimarrón-Kultur der Llaneros eingeführt wurde.285 Buria, Cocorote, Aroa und Araya: Früher Bergbau und Salz Gold und andere Schätze waren Hauptziele der Conquistadoren. Die Suche und der Abbau von Edelmetallen wurde auch anderswo betrieben, galt als gottgefällig, und war wirtschaftshistorisch der Ausdruck der Unterentwickeltheit Europas, zumindest aber ein Zeichen dafür, dass Mangel an Edelmetallen als allgemeinem Tauschäquivalent in Europa herrschte (weil viel Silber in den Orient für chinesische und arabische Luxuswaren sowie Gewürze abfloss). Goldfunde in Venezuela sind Teil der Geschichte, allerdings nur in beschränktem Umfang und nur während des 16. Jahrhunderts (erst im 19. Jahrhundert wurde in Guayana wieder Gold gefunden). Ein Höhepunkt der Goldausbeute in Venezuela war das Jahr 1533. Die Entrada des Ambrosius Alfinger erbrachte die Riesensumme von Gold im Wert von 89080 Pesos (wovon nur 35000 abgeliefert wurden); alles aus Razzien, Plünderungen, Erpressungen und Grabraub.286 Ein Vorteil hatte die verzweifelte Suche nach Gold – die Buría-Goldminen, von begrenzter Ausbeute seit Beginn, lenkten die Aufmerksamkeit der Conquistadoren auf das reiche landwirtschaftlichen Gebiet der Aragua- und Caracastäler (wo zunächst einige kleinere Goldminen gefunden worden waren) sowie des Valenciasees. Und dort entstand der wirkliche Reichtum der Kolonie – Caracas und die Kakaoexportwirtschaft. Salz stellte eines der Haupthandelsgüter der Indígenas der Venezuelaküste dar. Die Spanier knüpften daran an, indem sie die natürlichen Salzpfannen der Halbinsel Araya in der Nähe von Cumaná ausbeuteten. Salz war als Konservierungsmittel (Fleisch, Fisch) unter den Bedingungen des Páez, José Antonio, “Capítulo I, 1790-1809”, in: Páez, Autobiografía del general José Antonio Páez, 2 Bde., Bogotá: Editorial Bedout S.A., o.J. (Facsimile des Originals), Bd. I, S. 1-11. 286 Denzer, “Die Plünderung des ‘Tals der Pacabueyes’”, in: Denzer, Konquista der Augsburger WelserGesellschaft in Südamerika …, S. 90-93. 285 Michael Zeuske/Venezuela Seite 115 13.05.2016 vortechnischen Zeitalters wichtig. Das europäische Spanien kontrolliert selbst Salzproduktionsstätten, so dass die Araya-Pfannen und die Salinen von Píritu an der Mündung des Río Unare oder von Pampatar auf Isla Margarita und in der Nähe von Puerto Cabello als transatlantische Salzexporte nach Europa für das Imperium nicht so wichtig waren. Überlebenswichtig wurde dagegen Salz für die Niederländer seit etwa 1590. Wegen des Krieges gegen Spanien und Portugal (die zwischen 1580 und 1640 unter kastilischer Krone vereint waren) wurde ihnen während des „Abfalls der Niederlande“ (Schiller) der Zugang zu den iberischen Salinen verwehrt. Die Niederländer kontrollierten aber die Produktion und den einträglichen Handel mit Salzfisch (Hering und Dorsch), vor allem ins Heilige Römische Reich, und den Salzhandel nach den skandinavischen Gebieten und Nordrussland.287 In ihrer Not tauchten seit etwa 1592 niederländische Schiffe in der Karibik auf – viel später als englische, französische oder bretonische Schiffe, weil sich die Niederländer sich in Europa in schweren Abwehrkämpfen gegen die Spanier befanden. In Afrika konzentrierte sich die niederländische Expansion erst einmal auf die portugiesischen Besitzungen (auch in Asien). Salz brauchten die niederländischen Städte allerdings immer. Zwischen 1595 und 1605 fuhren jährlich etwa 10 kleinere Lastschiffe, so genannte urcas (mit 200-300 Tonnen Ladung), über den Atlantik zwischen niederländischen Häfen und der Halbinsel Araya im Osten Venezuelas. Die spanische Krone wollte sich das Herumtanzen von verstockten Ketzern (viele Niederländer waren Kalvinisten und Protestanten) nicht bieten lassen. Der König von Spanien, Philipp III., schickte Flotteneinheiten, die seit seit 1606 viele Salzschiffe aufbrachten; er verbot seinen Untertanen, den „Handel“ mit corsarios, holandeses und portugueses weiter zu treiben, die die Siedler der peripheren Küsten bislang vor allem mit stark nachgefragten europäischen Waren versorgt hatten. Deshalb auch die positive Konnotierung, die das Wort corsario zwischen 1520 und 1620 hatte – 287 Varela, Marcos Jesús, Las salinas de Araya y el origen de la armada de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1980; Michael Zeuske/Venezuela Seite 116 13.05.2016 es waren Monopolbrecher, die die Preise der auf der Carrera de Indios von privilegierten Händlern aus Spanien gebrachten Waren und Produkte um ein Vielfaches unterboten.288 Der corso wurde zu Piraterie und zum „Schmuggel“ erklärt – was ja im Grunde nichts anderes heisst, als die „Freiheit der Meere“ und die „Freiheit des Handels“ staatlichen Regeln, Monopolen und Abgaben zu unterwerfen. Korsaren durften seitdem offiziell nur noch Kapitäne sein, die ein Korsarenpatent bei der Krone erworben hatten und für diese Lizenz zum Seeraub viel Geld bezahlt hatten. Viele trieben weiterhin corso ohne Patent – was nun mehr und mehr als piratería in den spanischen Quellen erscheint. Das karibische Piratentum sowie die berühmten Küstenbrüderschaften (bucaneros, buccaneers = Bukaniere) und Flibustier (filibusteros, fryboters) waren entstanden. Piraten waren nicht zuletzt Rebellen und Seenomaden, in offizieller Lesart Verbrecher, Ketzer aus Europa sowie sehr viele geflohene Sklaven und Dienstknechte.289 Die leistungsfähigen niederländischen Werften lieferten die Technologie dazu: die Fleute (auch Fluyt, das heisst, „Flöte“, ein kleines, längliches und im Querschnitt rundes Schiff mit drei Segeln und hoher Takelage, sehr schnell, wendig und, da flach, auch gut für die Buchten und flaches Küsten der Karibik geeignet). Die Gegenstrategie der spanische Krone war simpel und teuer: einerseits wurde Festungen gebaut (die Karibik wurde zum bestbefestigten Gebiet der Welt), andererseits verfügte die spanische Krone so genannte devastaciones (Verwüstungen), den Abriss und die Rücksiedelung illegal angelegter Siedlungen an den Küsten vor allem Ostkubas, Jamaikas und Ostvenezuelas und des westlichen Teil der Insel Española. Dort drangen wenig später, von Tortuga aus, französische, normannische und bretonische Piraten ein und gründeten Siedlungen, die zum Kern der französischen Kolonie SaintDomingue wurde, eigentlicher Name: la partie occidentale de la île de SaintDomingue. Auch im Osten Venezuelas drangen englische und niederländische 288 Acosta Saignes, Miguel, Historia de los portugueses en Venezuela, Caracas: Ediciones de la Librería Suma, 1977. 289 Snelders, Stephen, The devil's anarchy : the sea robberies of the most famous pirate Claes G. Compaen & the very remarkable travels of Jan Erasmus Reyning, buccaneer, New York : Autonomedia, 2004. Michael Zeuske/Venezuela Seite 117 13.05.2016 Siedler vor und besetzten zwischen den 1630ern und 1667 (Frieden von Breda) Gebiete der wilden Küsten (Essequibo, Demerara).290 Damit verfügten sie über beste Positionen im Schmuggel, Seeraub und im illegalen Sklavenhandel, den auf den Meeren vor der Küste liefen die Handelslinien von Afrika nach Amerika. In Ostvenezuela kam es zu einem neuen Aufschwung der Missionstätigkeit (Kapuziner, Franziskaner und Jesuiten) und neue Orte, wie San Antonio de Clarines, wurden gegründet. Wegen der Piratengefahr wurde der Sitz des Bischofs von Venezuela aus der Küstensiedlung Coro nach Caracas hinter den Bergen verlegt. Bereits 1610 wurde das Salz von Cumaná zum königlichen estanco (Monopol) erklärt.291 Der englisch-spanische, französisch-spanische und spanischportugiesisch-niederländische Antagonismus führte, vor dem Hintergrund des Angriffs der Holländer auf die portugiesischen Besitzungen sozusagen in „aller Welt“, einerseits dazu, dass die Niederländer 1634 die Insel Curaçao besetzten (die bis dahin offensichtlich vor allem von portugiesischen Sklavenschmugglern benutzt worden war).292 Andererseits liess die spanische Krone bei den Salinen von Araya, die Festung Real Fuerza de Araya errichten - eine von vielen Festungen der, die unsere Filmmemoria der Karibik prägen, die berühmtesten sind die von Cartagena und die von Havanna – von Juan Bautista Antonelli, einem der berühmten Festungsbaumeister der spanischen Karibik. Die koloniale Silhouette der karibischen Städte und der Karibik insgesamt wurde von ihm begründet – genau diese Silhouetten sind noch heute auf den bunten 290 Boxer, Charles R., The Dutch Seaborne Empire, 1600-1800, London: Penguin Books, 1965, S. 113 (Karte: “Dutch conquests in the West Indies and Brazil”). 291 Siehe den Bericht des Bischofs von Puerto Rico über seine Visitation der Saline von Unare: Fr. Juan [Alonso de Solis], obispo de Puerto Rico, Cumaná, 28. November 1640, “Carta a Su Magestad”, in: Las Misiones del Piritú ..., Bd. II, S. 9-15, hier S. 12-14; Sarabia Viejo, María Justina, “Evolución del estanco de la sal en Venezuela”, in: Mena García, María Carmen (coord.), Venezuela en el siglo de la Luces, Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y Montraveta eds., 1995, S. 83-100. 292 Emmer, “Jesus Christ Was Good, but Trade Was Better”: An Overview of the Transit Trade of the Dutch Antilles, 1634-1795”, in: The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L., Engerman, Stanley, Gainesville: University Press of Florida, 1996, S. 206-222. Michael Zeuske/Venezuela Seite 118 13.05.2016 Werbebroschüren der Tourismusbranche zu sehen. Ohne Piraterie, Schmuggel und Menschenraub keine anständige Werbung.293 Repartimiento, Encomienda, Sklaverei und Zwangsarbeit in Venezuela “En la Colonia todo, en último término, dependía de los esclavos” (In der Kolonie hing letztlich alles von den Sklaven ab)294, hat Miguel Acosta Saignes in einem der seltenen venezolanischen Bücher über die Sklaven geschrieben. Diese an und für sich richtige Beobachtung führt allerdings in die Irre, wenn man sie nur auf Sklaven afrikanischer Herkunft bezieht. Vor allem hing zunächst alles, speziell die Sklaverei in Venezuela, von den Indios ab. Venezuela war, im Gegensatz zu unserem auf den Süden der USA oder Brasilien fixiertes Bild der Massensklaverei der Baumwolle oder des Kaffees, eine Territorium unterschiedlicher, sehr verschiedener Sklavereien in eher kleinflächigen Landschaftsformationen. Die Indígenas selbst kannten die Sklaverei. Bei ihnen kam Kriegsgefangenen-, Opfer- und Kazikensklaverei vor. Die Kariben begründeten den Sklavereistatus allerd anderen Indiovölker aus ihrer Weltanschauung. José Gumilla, der Jesuit, der zwanzig Jahre Missionar am Casanare, Meta sowie Oriniko gewesen war, schreibt: „La sobresaliente y dominante en el Orinoco es la nación Caribe“.295 Wenn man Kariben nach der Herkunft ihrer Vorfahren befragte, so Gumilla, würden sie antworten: „Ana cariná rote, es decir: ‚Solamente nosotros somos gente’“. Y esta respuesta nace de la soberbia con que miran al resto de las naciones, como esclavos suyos. Y con la misma desfachatez se lo dicen en la cara: Amucón paporóro itóto nantó: ‘Todas las 293 294 Felice Cardot, Carlos, Curazao Hispánico (antagonismo flamenco-español), Caracas : ³1982, S. 110-118. Acosta Saignes, Miguel, Vida de los esclavos negros en Venezuela, La Habana: Casa de las Américas, 1978, S. 9. 295 Gumilla, S.I., P. José, El Orinoco Ilustrado y Defendido, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 68); hier zitiert nach: Gumilla, “Los Caribes cuenta su origen”, in: Gumilla, El Orinoco Ilustrado, ed. Rodríguez Ortiz, Oscar (ed.), Caracas: El Nacional, 1999, S. 26. Michael Zeuske/Venezuela Seite 119 13.05.2016 demás gentes son esclavos nuestros’”.296 Alle Nichtkariben galten den Kriegern der Stämme als Feinde und potentielle Sklaven (itotos); besonders leicht zu besiegenden und zu versklavenden Feinde nannten die Kariben macos (oder makus). Auch Sklaven wurden bei den Kariben Macos genannt - und Poitos.297 Maco (auch Aruak: maku) und Poito bedeuteten beide sowohl Sklave (kriegsgefangener Mann oder Junge) und Schwiegersohn, aber auch so etwas wie „dummer Mensch“ oder „Trottel“. Die anderen Indio-Völker hielten Kariben für Dämonen, die von Leichenwürmern einer gigantischen Schlange abstammten, die ein Sáliva-Krieger einst getötet hatte. Die Achaguas hatten einen Mythos entwickelt, in dem die Kariben von Jaguaren mit Lanzen abstammten.298 Diese Völker und die Otomaken versklavten ihrerseits Kariben und ihre jeweiligen Feinde. Die von Indios praktizierte Sklaverei und der Handel mit Kriegsgefangenen seitens der Indios intensivierten sich mit Conquista und Kolonisierung. Vor allem in den Gebieten, die bis in das 18. Jahrhundert als Conquista- und Grenzgebiete galten – und das waren fast die gesamten Llanos entlang des nördlichen Orinoco- und Apureufers, der „ferne Osten“ (Oriente) und Süden Cumanás, der Maturín und das Orinocodelta sowie die Sierra de Perijá und die gesamte Goajira im Westen. Besonders intensive Formen der Indiosklaverei entwickelten sich in den Gebieten, die von verschiedenen Kolonialmächten beansprucht wurden, wie alle Kariben-Gebiete Cumanás und der nördlichen Guayanas; im Grunde existierte als Hintergrund der Küstenkolonien Esequibo, Berbice, Demerara (zunächst niederländisch, ab 1814 britisch) Suriname, und Cayenne (heute die nichtiberischen Guayanas) ein expansives Karibenreich auf der Basis von Sklavenjagd für Niederländer und Engländer sowie ihre karbischen Kolonien. Die Kariben zogen sich unter dem 296 Ebd. Acosta Saignes, „Macos e Itotos“, in: Acosta Saignes, Estudios de etnologia antigua de Venezuela, La Habana: Casa de las Américas, ²1983, S. 89-114 (Original: Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1961). 298 Gumilla, “Los Sálivas y Achaguas cuentan el origen de los Caribes”, in: Gumilla, El Orinoco Ilustrado ..., S. 26f. 297 Michael Zeuske/Venezuela Seite 120 13.05.2016 Druck von Missionaren und europäischen Siedlern von den Küsten zurück, schützten aber zugleich die niederländischen, englischen, deutschen, jüdischen, portugiesischen und französisch-hugenottischen Siedler vor ihren Hauptfeinden, den Spaniern, und verschafften ihnen Sklaven. Das Kariben-Reich der Caribana (Guayana) wurde noch 1800 von Humboldt nachgerade elegisch beschrieben und ansonsten im Wesentlichen von Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert (bis 1767) sowie von deutschsprachigen Forschern im 19. und frühen 20. Jahrhundert dargestellt.299 Die Sklavenjägertrupps der Kariben gelangten auf ihren schnellen Piraguas bis tief in das Herz der Orinoco- und Amazonaswälder, tausende von Kilometern von den Küsten des karibischen Meeres entfernt. Humboldt hat diesen Sachverhalt in der tiefsten Selva am Río Negro folgendermaßen ausgedrückt: „Damals, sag ich, waren Cariven Meister des Orinoco, sie streiften von Berbice und Esquivo durch Carony und Paraguamuci nach R[ío] de Aguas Blancas, wie durch Caura nach Ventuari und Esmeralda; sie reizten kleine Ind[ianische] Fürsten zu Kriegen, kauften mit Waren (Messern, Machetta [Machete – M.Z., eine Art Kalaschnikow des 16. bis 19. Jahrhunderts], Angelhaken), die sie von Holländern und Portugiesen empfingen, von diesen Fürsten die Sklaven und lieferten sie an Holl[änder] und Portugiesen. So litten die unglücklichen Bewohner dieser Gegend von Europäischer Barbarei, ohne die Europäer selbst mit Augen zu sehen“.300 Eine besonders schlimme Form der Razziensklaverei entwickelte sich seit 1495 in den Raubzügen der iberischen Baquianos. Zu diesen Gruppen von spezialisierten Sklavenjägern gehörten auch die mestizischen Söhne der Spanier und eventuell Söhne von Portugiesen mit afrikanischen Frauen. von La Española 299 Im Lande der Kariben. Reisen deutscher Forscher des 19. Jahrhunderts in Guayana. Alexander von Humboldt, Robert Schomburgk; Richard Schomburgk; Carl Ferdinand Appun, ausgewählt und eingeleitet von Scurla, Herbert, Berlin: Verlag der Nation, 1964; Walter, Rolf, „Panoramica de las investigaciones sobre Venezuela realizada por científicos alemanes después de Alexander von Humboldt (siglo XIX)“, in: Becker [et al.] (eds.), Presencia y pasado de América Latina en las letras y ciencias sociales alemanes, Caracas: Monte Avila Editores, 1985, S. 479494; Alert, Anja, „Deutsche Reisende in Venezuela“, in: Zeuske, Michael; Schröter, Bernd (eds.), Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 1992, S. 49-60; Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 344f. 300 Ebd., S. 306. Michael Zeuske/Venezuela Seite 121 13.05.2016 und seit 1500 auf Razzien der Kapitäne und auf den Entradas der Conquistadoren in Venezuela (und insgesamt in allen peripheren Conquistagebieten Amerikas). Wie den Kariben galten den Europäern und Atlantikkreolen alle Indios außerhalb ihres direkten Herrschaftsgebietes als gefährliche Feinde (itotos). Bis um 1560 waren die Spanier in Amerika überzeugt, dass die Zahl der Indios „unendlich“ sei. Von diesem verhängnisvollen Irrtum (für die Indios) konnten sie auch die Predigten von Fray Pedro de Córdoba sowie seiner Dominikaner (wie Montesinos, der 1511 die berühmte Weihnachtspredigt gegen die Versklavung der Indios hielt301) nicht abhalten, obwohl diese an Drastik und Schärfe nicht zu wünschen übrig ließen. Angesichts der kleinen Anzahl von Conquistadoren in den Entradatrupps, die den riesigen Kontinent auf Suche nach Beute und Schätzen durchstreiften, waren die Indios eben wirklich „unendlich viele Feinde“. Deshalb galt es als gut, Gegner (sowieso), aber auch Gefangene zu töten (und die anderen Feinde damit in Schrecken zu versetzen) oder als Träger zu Tode zu hetzen oder verhungern zu lassen. Auch auf den Schiffstransporten von gefangenen Indios auf dem karibischen Meer starben sehr viele Menschen, mindestens in der Höhe von Hunderttausenden. Auf den Entradas der Conquistazüge wurde besiegte und gefangene Indios „verteilt“ (repartir) – das bedeutete, der jeweilige Anführer teilte den Teilnehmern des Conquistazuges je nach Verdienst und Status Indios und Indias als Träger, Dienstsklaven, Ernährer und Bettgenossinnen zu. Daraus entwickelte sich die Institution des Repartimiento; in Realität handelte es sich in der Ökonomie der Conquista um relativ ungeregelte Kriegsgefangenensklaverei. Die Krone und ihre Funktionäre vor Ort, die Kirche generell (vor allem die Orden der Dominikaner und Franziskaner), aber auch Spanier, die sich in einem Gebiet als Kolonisten und Siedler niederlassen wollten, waren allerdings am Überleben von möglichst vielen Indios interessiert, denn die Indios waren “Die Adventspredigt des Antón Montesinos eröffnet das Ringen der Dominikaner um die Menschenrechte der Indios (1511)“, in: Dokumente, Bd. III, S. 489-497. 301 Michael Zeuske/Venezuela Seite 122 13.05.2016 sowohl neue Seelen für die Mission, Tributzahler für die Krone302, aber auch Arbeitskräfte für die Siedler und – sofern Kariben – Sklaven, die verkauft werden konnten. Der Repartimiento, zunächst wirklich eine ungeregelte und ziemlich schreckliche Form der Kriegsgefangenenversklavung, in zwei Grundrichtungen weiter: Einerseits gab es in nach Süden und Osten vorrückenden Grenzgebieten weiterhin Razzien-Entradas (in Venezuela bis in das 18. Jahrhundert, manchmal sogar noch im 19. Jahrhundert) und die Indiosklaven wurden, bis in das 19. Jahrhundert, verkauft oder vertauscht. Vor allem Ostvenezuela galt sozusagen als die „Heimat“ der Kariben mit ihrem harten Widerstand. Hier wurden die Entrada-Razzien (jornadas) zum Zwecke des Menschenfangs besonders intensiv und lange betrieben (worauf wiederholte Verbote der Indiossklaverei hinweisen, wie etwa 1679).303 Eine wahrscheinlich weit wichtigere Form der Versklavung, aber auch der Transkulturation, ergab sich aus den Aktivitäten von Missionaren.304 Humboldt kritisierte noch 1800 die von den Missionen ausgehenden Razzien (jornadas, entradas) zum Zwecke des Sklavenfangs: „Eine schändliche Sache, obgleich selten jezt [sic], doch Schande des Jahrhunderts sind die Jornadas [jornada = entrada - M.Z.] der Missionäre. Ein Mönch bietet, um sein Dorf zu vergrößern oder neue anzulegen, alle Mannschaft in der Nähe auf, ihm bewafnet gegen die Indios bravos zu folgen. Indianer (schon bekehrte) und die Spanier, alle müssen im Namen der Religion folgen. Tenientes müssen Padre Beistand leisten, zur Jornada zwingen. Man überfällt unschuldige Indianer, sie retten sich meist nur durch Flucht, man sezt ihnen nach, tötet alles, was sich widersezt, oft ein [einige] 50-60 Männer und 302 Zum Indianertribut existieren eine Reihe von klassischen Arbeiten: Miranda, José, El tributo indígena en la Nueva España durante el siglo XVI, México, 1952; Escobedo, Ronald, El tributo indígena en el Perú (siglos XVIXII), Pamplona 1979; Eugenio Martínez, María Ángeles, Tributo y trabajo del indio en Nueva Granada, Sevilla 1977; für Venezuela gibt es nur Artikel: Nestares Plegezuelo, “Tributación indígena y deficit fiscal en Nueva Andalucia durante el siglo XVIII”, in: Mena García, María Carmen (coord.), Venezuela en el siglo de la Luces, Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y Montraveta eds., 1995, S. 173-200. 303 Armellada, Cesáreo Fray, Fuero Indígena Venezolano 1811-1977, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1977; Jiménez G., La esclavitud indígena en Venezuela (siglo XVI) ...; Laserna Gaitán, Antonio Ignacio, “Los guarichos: indígenas utilizados como sirvientes domésticos en Nueva Andalucia”, in: Mena García, María Carmen (coord.), Venezuela en el siglo de la Luces, Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y Montraveta eds., 1995, S. 137-172. 304 Gilij beschreibt diese Form der Versklavung in umgekehrter Legitimation, das heisst, als Missionar beschuldigt er die Indios, sich gegen die Mönche zu verteidigen, siehe: Gilij, Ensayo de Historia Americana …, passim, speziell: Bd. III, S. 305. Michael Zeuske/Venezuela Seite 123 13.05.2016 Weiber, raubt Kinder und schlept alt und jung, oft ein 200-300 triumphierend in das Dorf. Es gibt um Calabozo, Tisnao, Nutrias Gesindel, besonders Zamben, welches mehrere solcher schändlicher Giornadas mitgemacht und sich öffentlich rühmt, 5-6 Indianer erlegt zu haben.“ 305 Insofern glich Venezuela eher dem Süden und Norden Brasiliens mit seinen mestizischen SklavenjägernEntdeckern (bandeirantes) und anderen Indiofängertrupps.306 In Esmeralda, dem südlichen Endpunkt seiner Orinoko-Flussreise im Mai 1800 hält Humboldt folgende Beobachtung in seinem Tagebuch fest: „Der Comendant des R[ío] negro machte entrada ohne Erlaubniß des Governadors, Vorwand, um Yndier zu holen, und da er so wenige brachte, sagte er, er sei gewesen [er habe es gemacht], um geograph[ische] Entdekkungen zu machen! Wahrer Zwek, Neger zu Sklaven zu machen, welche (Holländer [307]) an Parime unter Indios Guaycás wohnen, und von denen er gehört. Indianer thaten Widerstand, ein Spanier mit Curare verwundet; Rache und schändlich und unnüz unter Indianern gemezelt“.308 Andererseits entwickelten Krone und europäische Rechtsgelehrte auf Basis iberischer Erfahrungen das Konzept der encomienda (Kommende, Anheimgabe) als den Versuch einer Institution nach dem Motto „Integration in die christliche Gesellschaft gegen Arbeitstribute (oder andere Formen des Tributs)“.309 Theoretisch sollte die Encomienda Sklaverei verhindern. Die Rechtsform bestand darin, dass die Indios zu „freien“ Untertanen der Krone Humboldt, „Missionen“, in: Humboldt, Vorabend..., S. 160-162, hier S. 161 (Dokument Nr. 92). Hier wurde die „Chronik der angekündigten Gewalt“ (Miquel Izard) geschrieben, die im Sozialkrieg der Independenciazeit kulminierte und den Begriff sowie die Anwendung von nichtstaatlicher Gewalt im 19. Jahrhundert prägte; siehe: Riekenberg, Michael, „Kriegerische Gewaltakteure in Lateinamerika im frühen 19. Jahrhundert“, in: R. P. Sieferle/H. Breuninger, (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt am Main: Campus, 1998, S. 195-214. Arcila Farías hat nachgewiesen, daß der größte Teil des venezolanischen Territoriums durch solche „Jornadas“ und Entradas, de facto religiös-militärischen Unternehmungen, erobert worden ist, siehe: La obra pía de Chuao 1568-1825, comp. C.Salazar u.a., Caracas : Universidad Central de Venezuela, 1968, S.30ff. 306 Gilij, Ensayo de Historia Americana …, passim; Góngora, “Cabalgadas y banderas paulistas”, in: Góngora, Los grupos de conquistadores en Tierra Firme ..., S. 98-103. 307 Von den Plantagen in Surinam geflohene afrikanische Sklaven. 308 Humboldt, Vorabend …, S. 150 (Dokument 78); siehe auch: Ferguson, Brian, “Early Encounters”, in: Ferguson, Yanomami warfare. A political history, Santa Fe: School of American Research Press, 1995, S. 77-98. 309 Arcila Farías, Eduardo, El régimen de la encomienda en Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela, ³1979. 305 Michael Zeuske/Venezuela Seite 124 13.05.2016 erklärt wurden (mit Ausnahme von „Kariben“, Indios, die die Waffen nicht niederlegten und Apostaten – vom Glauben (wieder) Abgefallene). Um die Ansiedlung der unsteten und wilden Conquistadoren zu befördern, trat die Krone mit Landvergaben, den mercedes (seit 1546, in Caracas seit 1567, im Tuytal seit 1592, meist als peonía - 5000 Fuss im Quadrat - oder als caballería – 20000 Fuss im Quadrat) und Encomiendas Teile ihrer Rechte an den neuen Untertanen an die Siedler ab, was bedeutete, Siedlern wurden Encomiendas in der Nähe der ihnen ebenfalls zugesprochenen Landbesitze übertragen – aber nur, wenn sie wirklich einige Jahr siedelten (und bei den Indio-Sklaven drückte man beide Augen zu). Die Encomienda-Indianer mussten für den Encomendero als dem Inhaber einer Encomienda arbeiten oder ihm eine andere Art von Tribut (Nahrungsmittel, Salz, eingesammelten Kakao, Heil- oder Färbepflanzen, Waschgold o.ä.) abliefern. Der Encomendero verpflichtete sich im Gegenzug, die Indios in Doctrinas christlich zu erziehen (Glaubensinhalte und -regeln, Arbeits-, Verhaltens- und Kleidernormen) und Heerfolge in seinem Gebiet zu leisten (seine Stadt oder Provinz im Falle eines Angriffs zu verteidigen310); in Realität vermittelte er ihnen aber vor allem christliche Arbeits- und Zeitnormen sowie Strafen, das heisst, neue Arten von extremem Zwang – die Folgen waren Trübsinn, Trunksucht, Selbstmorde, generell hohe Sterblichkeit und Reproduktionsverweigerung bei vielen Indias und Indios. Die Institution Encomienda glich in Realität einer Art Leibeigenschaft, bei der in der konkreten Realität Sklaverei die Basis bildete. Die Encomiendas und der Landbesitz der Mercedes wurden oft zum Ursprung der Haciendas und diese, wie auch die Hatos in den nördlichen Llanos, zu Kernen von Siedlungen.311 Konkret etwa im Falle der Hacienda La Vega, auf deren späterem Gebiet zunächst die CaracasIndios lebten, für die an den Conquistador Garci González de Silva 1568 eine Encomienda erhalten hatte. 1594 vergab der Gobernador Ponce de León den Cardoza Sáez, “Milicias y encomiendas en los Andes venezolanos durante el período colonial“, S. 213-223. Troconis de Veracoechea, “Haciendas de Venezuela”, in: Gasparini, Graziano; Troconis de Veracochea, Ermila, Haciendas Venezolanas, Caracas: Armitano Editores, C.A., 1999, S. 15-52. 310 311 Michael Zeuske/Venezuela Seite 125 13.05.2016 offiziellen Eigentumstitel über die Tierras del La Vega y del Valle de Yaguara an die Familie des Conquistadors. Anfang des 17. Jahrhunderts ging die Hacienda, von der heute in der Stadt Caracas noch Gärten und ein Haupthaus zeugen, in das Eigentum der Familie Tovar über, wo sie bis in das 19. Jahrhundert verblieb.312 Offiziell eingeführt worden war die Rechtsinstitution Encomienda 1512/13, mit den Leyes von Burgos (es kam zu vielen weiteren Regelungen). Am verheerendsten an den Leyes de Burgos war wohl, dass den „Christen“ (Spaniern) erlaubt wurde, in den Gebieten ihrer Encomiendaindios zu siedeln (da sie nach offizieller Auffassung durch ihr „Beispiel“ christliche Werte vermitteln sollten). Nachdem Mönchorden und Krone feststellten, dass es der enge Kontakt mit den ehemaligen Conquistadoren, nun Siedlern und Kolonisten (und ihr in Realität oft „schlechtes Beispiel“) war, der die Indios wie die Fliegen sterben liess (insgesamt für das spanische Amerika von rund 65 Millionen 1492 auf 5 Millionen 1650313), beschloss die Krone nach langer und zäher Überzeugungsarbeit vor allem der Dominikanermönche und des Padre de Las Casas 1542 (weil die Indios auf den Antillen faktisch „durch die Encomienda“ ausgestorben waren), mit den Leyes Nuevas die Encomienda wieder abzuschaffen; abgeschafft werden sollten auch (fast) alle Formen der Indiosklaverei, vor allem auch die so genannte Naboría (eine Art informeller Haussklaverei).314 Diese formale Abschaffung der Encomienda musste allerdings fast sofort rückgängig gemacht werden, weil es in vielen Gebieten zu Siedlerunruhen und –aufständen kam. In Venezuela wurden die ersten Encomiendas erst nach Ende der WelserHerrschaft und nach dem ersten Verbotsversuch des nuevas leyes vergeben; Gasparini, “Las casas de la Haciendas”, in: Gasparini; Troconis de Veracoechea, Ermila, Haciendas Venezolanas ..., S. 83-263, hier S. 97. 313 Lucena Salmoral, Manuel, “La Colonización (1550-1700)”, in: Ciudad, Andrés; Lucena; Malamud, Carlos (eds.), Manual de Historia Universal, 10 Bde., Madrid: Historia 16, 1992, Bd. X: Historia de América, S. 249-307, hier 251-254, sowie: Lucena Salmoral, “¿Quién mató a sesenta milliones de indios?”, in: Ebd., S. 252-254. 314 Konetzke, Richard, Colección de Documentos para la Historia de la Formación Social de Hispanoamérica, 1493-1810, 3 vols. in 5 Bden., Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 1958-1962, Bd. I, S. 132: “Ninguna persona se pueda servir de los indios por vía de naboría ni tapía ni otro modo algunos contra su voluntad”. 312 Michael Zeuske/Venezuela Seite 126 13.05.2016 konkret in El Tocuyo (seit 1546). Die befreundeten Stämme der Kaquetíos von Coro und die Guaiqueríes von Cumaná und Margarita galten als indios de la Real Corona (Königsindios) und waren den Encomiendaregime nicht unterworfen. Als Rechtsform galt die nach der gescheiterten Abschaffung der Encomienda 1542 durch die Krone tolerierte encomienda de tributo, bei der theoretisch keine direkte Arbeitsleistung abverlangt werden sollte, sondern in Geld festgesetzte Tributsummen. In Venezuela war aber weiterhin die encomienda de servicio (Arbeitstribut) üblich oder andere Formen der Zwangsarbeit (wie vor allem in den Anden um Mérida die aus Neu-Granada bekannte mita urbana315). 1649 und 1659 wurden königliche Verordnungen (cédulas) erlassen, die es ermöglichte, die eigentlich nur auf ein oder zwei Leben vergebenen Encomiendas gegen eine Geldzahlung (composición de indios) weiter zu führen; quasi zu vererben.316 Anlaß waren Klagen von Witwen sowie Rechtsvertretern unmündige Kinder von Encomenderos. Im Grunde, im wiederhole das, kam es zu einer rechtlichen Regelung, die in der Realität dazu führte, dass Encomiendas vererbt wurden.317 Die Familie Bolívar verfügte seit 1593 über eine Encomienda unter den Quiriquire-Indios am Río Aragua; in dem Gebiet lag die Familien-Hacienda San Mateo (mit Kakao, Zuckerrohr, Tabak, Bananen, Weizen, Mais, Bohnen und Yuca), der unteilbarer Besitz (mayorazgo) sicherte ihren Status als Mitglieder der Elite (bis 1811). Auf der Familien-Encomienda lag auch das pueblo de doctrina San Mateo.318 In Realität war die Encomienda in Venezuela weiterhin der Sklaverei sehr nahe. Encomienda hatte theoretisch aber nichts mit Landbesitz zu tun, sondern 315 Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim; Samudio A., Edda O., El trabajo y los trabajadores en Mérida colonial, San Cristóbal: Universidad Católica del Táchira, 1984; Samudio, Sumario histórico sobre el trabajo colonial, San Cristóbal: Universidad Católica del Táchira, 1984. 316 Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim; Jiménez G., La esclavitud indígena en Venezuela (siglo XVI) ..., passim. 317 Rojas, Reinaldo, El tema de la encomienda en la historiografía venezolana, Caracas: Universidad Santa María, 1991. 318 Landaeta Rosales, Manuel, Una visita a San Mateo el 25 de junio de 1816, Caracas: Litografía y Tipografía del Comercio, 1917; Gasparini, “Las casas de las haciendas”, in: Gasparini; Troconis de Veracoechea, Ermila, Haciendas Venezolanas ..., S. 83-263, hier S. 90-96 (El Ingenio Bolívar). Michael Zeuske/Venezuela Seite 127 13.05.2016 es handelte sich formell um auf Zeit vergebene Tribute, Herrschgewalt und Abgaben. Oft entsprachen sich Encomiendagebiete und Doctrinas, in denen die Indios durch Predigt und Unterweisung zur christlichen lebensweise erzogen werden sollten. Die erste lokale ordenanza zur Regelung der Encomienda in Venezuela wurde 1555 erlassen. Der Rechtsstatus von Indios wurde in dieser Ordenanza als der von Minderjährigen festgelegt. In der Ordenanza wurden Minenarbeit und Perlenfischerei für die Encomiendaindios verboten.319 Aber Tribut in Form persönlicher Arbeit wurde festgeschrieben (im Grunde gegen die Festlegung der Krone, den Tribut nur noch in Geld abzuleisten). Frei von diesem Arbeitstribut blieben in Venezuela nur die Salinen-Indios, das heisst, die Indiovölker, in deren Siedlungsgebiet Salzproduktionsstätten lagen (wie die Indios von Araya oder von Piritú). Die Pflege und Erhaltung der Salinen lag in strategischem Interesse sowohl der Imperiums wie auch der lokalen Behörden. Deshalb mussten die Salinen-Indios ihrem Encomendero nur das Salz für dessen Haushalt abliefern. Alles restliche Salz durften sie frei verkaufen. Besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es einige Indio-Aufstände gegen das Encomienda-System. Trotzdem hielten sich Formen der Encomienda in Venezuela bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, zum Teil bis in das 19. Jahrhundert. Für Venezuela als Peripherie galten all die Rechtsnormen, wie die Institution Encomienda, für die zentralen Kolonialgebiete zwar im Allgemeinen; da das Land aber bis 1570 nur punktuell überhaupt als Kolonie bezeichnet werden kann und weiterhin Conquista- und Kriegsgebiet darstellte, galten die Schutzfunktionen, die sie Institution Encomienda haben (sollte) nur in Grenzgebieten – wenn es überhaupt Encomiendas gab (die ersten wurden in El Tocuyo seit 1546 vergeben). Sklaverei in Venezuela im 16. und auch noch im 319 Da Prato Perinelli, Antoinette, Las encomiendas de Nueva Andalucía en el siglo XVII, 4 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1990; Rojas, El régimen de la encomienda en Barquisimeto colonial 1530-1810, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1992. Michael Zeuske/Venezuela Seite 128 13.05.2016 17. Jahrhundert bedeutete konkret vor allem Razzien (von Baquinaos und Kariben sowie zunehmend auch Mönchen). Besonders wichtig für Spanien war seit 1505 die Sklaverei von Perlenfischern. Die Taucher waren vor allem versklavte Indios aus den Karibengebieten (was nicht bedeuten muß, daß es immer Kariben waren; denn im Grunde bestimmten lokale Institutionen oder die Sklavenfänger selbst wer als „caribe“ gelten sollte und versklavt werden konnte), am Anfang vor allem Lucayos (versklavte Indios von den Lucayas – das war der frühe Name für die Bahama-Inseln), aber auch von anderen Antilleninseln und von den Karibikküsten bis nach Yucatán, besonders aber kriegsgefangene und versklavte Indios von der Küste des heutigen Venezuela von Caracas bis zum Orinoco, die von Sklavenjägern eingefangen worden waren, wie sie der Welser-Faktor Rembold 1542 nach Coro eingeladen hatte. Seit 1527 autorisierte die Krone die Einführung von Negersklaven, später, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden auch versklavte Indios aus brasilianischen Gebieten eingesetzt. Auch dieser oder jener Spanier hat wohl manchmal den Sprung in das Wasser gewagt. Eine privilegierte Stellung hatten die Indios der Inselgruppe von Margarita. Die Guayqueríes galten theoretisch als frei. Sie halfen den spanischen Organisatoren der Perlenfischerei bei der Auffindung neuer Austernbänke und versorgten die Rancherías.320 Die ersten schwarzen Sklaven waren als Sklaven-Conquistadoren zur Tierra Firme gelangt oder von den Welsern eingeführt worden. Als Vorarbeiter der Perlenfischer wurden oft erfahrene Schwarze als capitanes der Perlenfischerkanus und der lanchas (flache Langboote) eingesetzt.321 Die Sklaverei, die Spanier und Europäer sowie in gewissem Sinne auch Afrikaner nach Venezuela brachten, war zunächst Sklavenjagd auf Indios, 320 Otte, Las perlas del Caribe ..., S. 48f. Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod. Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und Finanzinteressen bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in : Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 22. Bd., Münster (1965), S. 283-320; Otte, “Der Negersklavenhandel Amerikas bis zum Asiento der Deutschen”, in: Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, S. 117-159. 321 Michael Zeuske/Venezuela Seite 129 13.05.2016 Razzien, Überfälle und Verschleppung in andere Territorien, wie La Española oder zu den Perlenbänken von Cubagua, Paria, Margarita oder Goajira. Diese Funktion der Tierrafirme als Sklavenjagd und -fanggebiet währte von 1499 bis etwa 1600 (in einigen Gebieten auf der Guajira sowie im Süden und Osten von Cumaná noch viel länger). Daran änderte auch die Welserzeit nichts, ganz im Gegenteil. Als die Europäer, etwa seit der Gründung von El Tocuyo, wirklich zu einigermassen dauerhaften Siedlungen übergingen, brauchten sie für den Bergbau und den Zuckerrohranbau Spezialisten. Sie setzten an den Bräuchen der Indios an und nutzten zugleich ihre eigenen Erfahrungen mit Sklaverei Fremder von der iberischen Halbinsel und aus dem atlantischen Bereich – am vorteilhaftesten erwies sich aber bald die Einführung von versklavten Menschen aus Afrika. Am Ende des 16. Jahrhunderts lebten etwa 2000 blancos (Spanier und ihre Nachkommen) auf dem Territorium des heutigen Venezuela sowie eine unbekannte, aber viel größere Anzahl Indios. Dazu mehr als 5000 schwarze Sklaven322, die meisten aus Afrika (oft von den Kapverden). Viele der Sklaven waren auch von anderen Inseln der Karibik nach Venezuela verkauft worden und hatten eine Cimarrón-Identität angenommen.323 Indianische und europäische Sklavereiformen waren ziemlich unterschiedlich; im Grunde kann man „vom Sklaven als Mitglied der Dorfgemeinschaft versus Sklaven als Handelware und verkäuflicher Privatbesitz“ sprechen, auch das Gesamtkonzept der Sklaverei (Art der Arbeiten) sowie ihre Dauer (bei den Indios oft ein vorübergehender Status, bei den Europäern theoretisch lebenslänglich). Juan de Castellanos (1522-1607)324, Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, in: Pollak-Eltz, La esclavitud en Venezuela: un estudio histórico-cultural, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2000, S. 37-47, hier S. 40; Documentos para el estudio de los esclavos negros en Venezuela. Selección y estudio preliminar de Troconis de Veracochea, Ermila, Caracas : Academia Nacional de la Historia, ²1987 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, Vol. 103). 323 Landers, Jane G., “Cimarrón Ethnicity and Cultural Adaptation in the Spanish Domains of the CircumCaribbean, 1503-1763”, in: Lovejoy (ed.), Identity in the Shadow of Slavery, London; New York: Continuum, 2000, S. 30-54. 324 Ramos, “Juan de Castellanos y su obra”, in: Castellanos, Juan de, Elegías de Varones Ilustres de Indias. Introducción y notas de Pardo, Isaac J., Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1962 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 57), S. XI-XLV; Vila, “Valores geográficos en la cronica de Juan de Castellanos”, in: Vila, Visiones geohistóricas ..., S. 261-287; Vila, Marco 322 Michael Zeuske/Venezuela Seite 130 13.05.2016 der um 1539 nach Amerika gekommen war, und sich in den Sklavenfangregionen von Puerto Rico, auf Margarita, Santa Marta, Maracaibo, Barquisimeto und Cubagua bewegte, bezeichnete sich selbst als Baquiano: „Los pocos baquianos que vivimos/ Todas aquestas cosas …” “Baquiano” ist zwar hier im Sinne von „alter Hase“ gemeint, aber der zweite Teil bezieht sich eindeutig (was aus dem weiteren Text deutlich wird) auf malos tratos (schlechte Behandlung) der Indios, im Klartext Versklavung und Tod.325 Castellanos hat das typische Leben eines unruhigen Conquistadors geführt, der nie Anführer war, und er mag ein Sklavenjäger, Haudegen, Conquistador und pícaro (Schelm; Spitzbube) gewesen sein, wie es im barocken Spanien und im hispanisierten Amerika viele gegeben haben mag - um 1554-1555 liess er sich auch noch zum Priester weihen. Aber seine Stanzenverse zeigen zumindest eines: die Achtung vor der Würde und Buntheit der indianischen Kulturen Venezuelas (die er im Wesentlichen beschreibt). Möglicherweise sind seine „Elegien illustrer Männer“ (Elegías de Varones ilustres) in Spanien nie vollständig publiziert worden. Auf soziale Typen wie Castellanos beziehe ich mich, wenn ich von Sklavenjägern und Conquistadoren als Priestern spreche. Afrikanische Sklaven gelangten mit Perlensuchern und Welsern in das Gebiet des heutigen Venezuela.326 Erste größere Kontingente versklavter afrikanischer Menschen kamen nach der Welsernzeit unter Diego de Mazarriegos (nach Buria) sowie zwischen 1572 und 1575.327 Bereits seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts kam es zum massiven Sklavenschmuggel (mala entrada, arribadas maliciosas). Afrikaner waren teuer, denn sie waren Aurelio, La Venezuela que conoció Juan de Castellanos. Siglo XVI (Notas geográficas), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1998 (Biblioteca de la Academia nacional de la Historia; 238). 325 Castellanos, Juan de, Elegías de Varones Ilustres de Indias. Introducción y notas de Pardo, Isaac J., Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1962 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 57), S. XXII. 326 Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, in: Otte, Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, Vollmer, Günter; Pietschmann (eds.), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 58), S. 117-159; Simmer, Götz, „Die Jagd nach Gold und Sklaven: die Provinz Venezuela während der Welser-Statthalterschaft“, in: Schmitt, Eberhard; Simmer (eds.), Tod am Tocuyo. Die Suche nach den Hintergründen der Ermordung Philipps von Hutten 1541-1550, Berlin: Berlin Verlag Spitz, 1999, S. 1-34; Simmer, Gold und Sklaven: Die Provinz Venezuela während der Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag, 2000. 327 Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 40. Michael Zeuske/Venezuela Seite 131 13.05.2016 Spezialisten (Bergbau, tropische Landwirtschaft), auch Spezialisten im Überleben unter tropischen Bedingungen. Die Sklaven wurden von portugiesischen Sklavenkapitänen, aber bald auch von französischen und englischen Interlopers (wie John Hawkins) sowie Niederländern zusammen mit europäischen Manufakturwaren nach Venezuela gebracht, wo Siedler die Schmuggler, genannt corsarios, schon erwarteten.328 Meist liefen die Schiffe erst die Isla Margarita, Curaçao oder Trinidad (erst seit 1797 britisch) an und dann andere, kleinere Schmuggelhäfen in den verborgenen Buchten der riesigen Küstenlinie.329 Einige der 80 afrikanischen Sklaven, die zum Goldwaschen nach Buría gebracht worden waren, beteiligten sind an der Erhebung des legendären Negro Miguel (1553). Die Waschgoldminen des Flusses Buría befanden sich sieben Leguas von der Stadt Nueva Segovia de Barquisimeto entfernt. Da die Golderträge hohe Einkünfte versprachen, kam es zu einem Goldrausch in El Tocuyo. Ende 1552 zogen Vecinos mit ihren Sklaven los. Der Real de Minas de San Felipe de Buría in der Nähe von Nirgua (heute Estado Yaracuy) entstand.330 Der Negro Miguel war Sklave von Pedro del Barrio, Sohn von Damían del Barrio, Entdecker der Goldlagerstätten. Miguel war aus San Juan de Puerto Rico nach Venezuela verschleppt worden, wo er wohl schon in der Sklaverei geboren worden war. Er hatte aber die Bräuche seiner Heimat keinesfalls vergessen. Anfang 1553 floh er in die Berge. Mit anderen geflohenen Sklaven, Cimarrones, und widerständigen Indios gründete er ein Cumbe mit Palisadenzaun (auch Ferry, “Cacao in the Seventeenth Century: The First Boom”, S. 45-71, hier S. 48f; ; Lane, Kris, Pillaging the Empire: Piracy in the Americas, 1500-1750, Armonk: M.E. Sharpe, 1998; Lane, Blood and Silver: a history of piracy in the Caribbean and Central America, foreword by Hugh O’Shaughnessy, Oxford : Signal Books ; Kingston, Jamaica : Ian Randle Publishers, 1999; Pérotin-Dumon, Anne, “French, English and Dutch in the Lesser Antilles: from Privateering to Planting”, in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New societies: The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing, 1999, S. 114-158. 329 Siehe Beschreibung und zeitgenössische Karte der Küste der Provinz Caracas von Macuto im Osten von Guaira bis Coro: Olavarriaga, “Estado particular y presente de la Costa Marítima de la Provincia de Venezuela, desde Macuto hasta la Punta de los Flamencos, sus puertos, valles, ríos, haciendas, nombres de sus amos, árboles de cacao, su producto, poblaciones y demás circunstancias que sirven de instrucción a la planta de dicha Costa incluida en dicho Capítulo”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 221-248. 330 Pollak-Eltz, Folklore y Cultura de los Negros del Estado Yaracuy, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1984. 328 Michael Zeuske/Venezuela Seite 132 13.05.2016 palenque, rochela oder quilombo genannt).331 Die Afrikaner in Amerika kombinierten atlantische und indianische Conucos mit afrikanischen Bananenkulturen.332 Miguel ernannte sich zum König, seine Frau Guiomar wurde als Königin gekrönt; ihr Sohn wurde als Prinz anerkannt. Auch einen Bischof ernannte Miguel. Die kriegerischen Indios Jiraharas unterstützten die Cimarrones. Im Grunde schuf Miguel ein transkulturelles Gemeinwesen aus spanischen, afrikanischen und indianischen Elementen. Die Spanier mussten Nueva Segovia und die Minen aufgeben. Bei einem Angriff auf Barquisimeto wurde Miguel schließlich durch die vereinten Käfte der Siedler dieser Stadt, Sklavenjägern und der von El Tocuyo getötet.333 Zunächst waren die Sklaven vor allem Perlentaucher und bergbauerfahrene Männer (vor allem wohl aus der Akan-Region der Goldküste und aus dem Kongo). Sklaven in der Landwirtschaft fanden sich in Venezuela im Barlovento, im Tuy-Tal, in den Aragua- sowie Tocuyo-Tälern, im Süden der Maracaibo-Sees, in der Serranía de Coro sowie in einigen Gebieten der Anden.334 Im 17. Jahrhundert wurden Sklaven auch zum Straßenbau und in vielfältiger Weise in den urbanen Kulturen eingesetzt. In den Anden, in Táchira, Mérida und Trujillo stellten zunächst Indios die Arbeitskräfte und es entwickelte sich eine mestizisierte Bauernschaft. Relativ wenige Sklaven arbeiteten und lebten vor allem im urbanen Bereich; sie bildeten eine „Kaste“ neben anderen Kasten. Die Kaffeewirtschaft in den Anden Pollak-Eltz, “El cimarronaje”, in: Pollak-Eltz, La esclavitud en Venezuela ..., S. 61-68, hier S. 64f. Acosta, Vladimir, “El Rey Miguel y el Rey Banano: Rebeliones Negras en la América Hispánica del Siglo XVI”, in: Revista Venezolana de Economía y Ciencias Sociales, Nos. 2-3, Caracas (Abril-Septiembre 1999), S. 137-176. 333 Agudo Freites, Raúl, Miguel de Buría, Caracas : Alfadil Ediciones, 1991; Herrera Salas, Jesús María, El negro Miguel y la primera revolución venezolana. La cultura del poder y el poder de la cultura, prólogo de Izard, Miquel, Caracas: Vadell Hermanos, 2003. 334 Ramos Guédez, José Marcial, „Los descendientes de africanos en Venezuela: aporte a la cultura e identidad nacional“, in: Revista Universitaria de Historia 2, Universidad Santa Marta, Caracas (Mayo-Agosto 1982), S. 147157; Ramos Guédez, “Mano de obra esclavizada en el eje Barlovento-Valles del Tuy durante el siglo XVIII”, in: Equipos Locales de Investigación/ELI (eds.), Reconociéndonos en nuestros saberes y haceres (Tomo VI Estado Miranda), Caracas: Ministerio de Culture/ Consejo Nacional de la Cultura; Dirección General de Apoyo Docente, 2006, S. 1-24 331 332 Michael Zeuske/Venezuela Seite 133 13.05.2016 entwickelte sich im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert fast ohne schwarze Sklaven.335 Urbane Sklaven lernten bei einem Meister einen Beruf (Maler, Silberschmied, Schmied, Maurer, Tischler/Schreiner, Vergolder, Ziegeleiarbeiter und in einigen Fällen Lehrer). Die Herren, die sie als Fachleute gekauft oder ausbilden lassen hatten, vermieteten ihre Sklaven oft. Sklaven taten auch alle Arten von landwirtschaftlichen Arbeiten (agricultores und criadores), mehr und mehr seit dem 17. Jahrhundert die der Ernte und Verarbeitung von Exportprodukten, wie Kakao und Zucker. Im 16. Jahrhundert arbeiteten die meisten Sklaven in den Kupferminen und an den Perlenbänken von Cubagua. Seit dem 17. Jahrhundert entwickelte sich eine tropische Landwirtschaft auf Zucker, Indigo, vor allem aber auf Kakao in den zentralen Tälern und im Barlovento, dort im weiter von Caracas entfernten Tals des Tuy [Karte336] vor allem durch Einwanderer von den kanarischen Inseln seit 1690 (Gründung von Cúa 1690 und Ocumare del Tuy 1693) und verstärkt seit 1730-1750 (Gründung von Panaquire 1730).337 Die Hochzeit der Sklaverei im Kakao war das 18. Jahrhundert. Caracas-Kakao galt für etwa hundert Jahre als der beste der Welt. Die größte Gruppe von Sklaven arbeitete in der Kakaowirtschaft. Um 1750 gab es ca. 500000 Kakaobäume und rund 35000 Sklaven waren auf Kakao-Haciendas beschäftigt.338 Die Kakaoplantagen mussten allerdings in der Nähe von Flüssen in Gebieten mit einem günstigen, sehr feucht-heißen Mikroklima angelegt werden. Diese Landschaften existierten nur flachen Flusstälern oder Uferlandschaften von Seen. Deshalb gab es in Venezuela nie riesige, mehr oder weniger Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45; zum Sklavenhandel von Caracas siehe: Andrade, Marcos, “Estudio de la trata de negros en Venezuela”, in: Boletín Histórico XXXVII, Nr. 47, Barcelona (1997), S. 7-14. 336 Vila, Marco-Aurelio, Aspectos Geográficos del Estado Miranda, Caracas: Corporación Venezolana del Fomento, 1967, S. 92. 337 Vila, Marco-Aurelio, “Aspectos Humanos”, in: Vila, Aspectos Geográficos del Estado Miranda, Caracas: Corporación Venezolana del Fomento, 1967, S. 109-163, bes. S. 115-121; Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes para la historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 151); Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45. 338 Ebd. 335 Michael Zeuske/Venezuela Seite 134 13.05.2016 geschlossene Landschaften der Sklaverei, wie in Minas Gerais in Brasilien, in der Cuba grande auf Kuba oder dem Baumwollsüden der USA, sondern eine Vielzahl von Tälern (valles), wie die Region Valles del Tuy und Barlovento (im Grunde das sumpfige Mündungs des Tuy-Flusses. Im Tuy-Gebiet entstanden auch die ersten Cofradías von schwarzen Sklaven. Die dichten Sklavenpopulationen des Tuy- und Barloventogebietes entwickelten eine eigenständige afrovenezoanische Kultur, die im ruralen Barlovento sogar die Traditionen des Hausbaus beeinflusste.339 Um den venezolanischen Luxus-Kakao auf die wichtigsten Märkte zu bringen, bauten findige Kreolen mit Hilfe ihrer Sklaven bald eigene Schiffe. Eine venezolanische Kakaoflotille, die zeitweilig auch als Sklaventransportflotille diente, nahm seit 1627 den regelmäßigen Verkehr nach Veracruz, Havanna, Puerto Rico und Santo Domingo auf. Nach dem Verkauf des Kakaos, der Sklaven oder des Schmuggelgutes aus Angola, wurde mit mexikanischem Silber in Havanna oder Santiago Waren eingekauft, die die Flotas und Galeones gebracht hatten. Bis 1650 fuhren 119 Schiffe nach Mexiko; Ende des 18. Jahrhunderts, nach der Zeit des Guipuzcoana-Monopols, verfügte das Land über viele erfahrene und gut ausgebildete Kapitäne und Matrosen, die Hunderte kleinerer Goletas (100-200 Tonnen), aber auch einige Dutzend wirklich großer Schiffe, wie die Fregatte San Carlos (616 Tonnen), über die Karibik oder den Atlantik steuerten.340 Neben der ruralen Sklaverei oder besser der Ausgangspunkt der ruralen Sklaverei war in Venezuela und Spanisch-Amerika die urbane Sklaverei. Urbane Sklaverei war vor allem Sklaverei im Hafen, im Transport und im Handwerk. Versklavte afrikanische Frauen waren in allen Arten von Dienstleistungen in den urbanen Zentren des Landes, aber auch in den kleinen Landstädten beschäftigt. Als Köchinnen, Dienerinnen, Wäscherinnen, Büglerinnen, aber auch in der Herrera H., Gerónimo J., “Etnohistoria de los diablos de Yare”, in: in: Revista Universitaria de Historia No. 2, Universidad Santa María (Mayo-Agosto 1982), S. 125-146; Acosta Saignes, “La vivienda rural en Barlovento”, in: Revista Nacional de Cultura, No. 126 (enero-febrero 1958), S. 130-145. 340 “Flota mercante colonial venezolana”, in: Diccionario, II, S. 363f. 339 Michael Zeuske/Venezuela Seite 135 13.05.2016 Kinderpflege und – wie für Venezuela immer wieder hervorgehoben wird (weil es zum Bolívar-Mythos gehört) – als Ammen. Frauen arbeiteten aber auch im ruralen Bereich und als Köchinnen. Venezuela wurde relativ zeitig Teil des atlantisch-karibischen Sklavenhandelsreiches.341 Das Land wurde auch Teil des Einzugsbereiches atlantischer Epidemien: 1580 brach die erste relativ klar erkennbar Epidemie der Pocken (viruelas), 1588 bis 1590 rottet eine Epidemie fast ein Drittel der dichtbesiedelten Andengebiete aus, 1617 kam es zu einer Sarampión-Epidemie (Masern) und 1623 gab es eine neue Viruela-Epidemie (Pocken), ausgelöst durch eine illegale Sklavenanlandung an der Küste von Morón. Die „Blattern“ (Viruelas=Pocken) griffen schnell auf die Valles de Aragua, La Guaira und Caracas über. 1631 kam eine Typhusepidemie hinzu.342 Die Viruelas blieben die wichtigste Epidemie; 1760-1770 kam es zur schwersten Epidemie, die erst auf die Städte (1764 etwa 1000 Tote in Caracas) und dann auf die Missionsgebiete der Kapuzinermönche am Caroní übergriff (ca. 10000 Tote, vor allem Missionsindios); deshalb wurde Guayana sehr zögerlich besiedelt).343 In der Periode der licencias bekam Sancho Briceño 1560 eine Lizenz für 200 Neger und der Vorfahre Simón Bolívars, Simón de Bolibar el viejo, bat um eine Lizenz für 3000 Neger aus Afrika. Der Sklavenhandel an der karibischen Nordfassade Südamerikas lief zunächst vor allem als Schmuggel ab. Etwa als Tausch Sklaven aus Angola gegen Kakao, der dann in Veracruz gegen mexikanisches Silber verkauft wurde344, oder Maultiere gegen Neger aus Afrika, die zunächst die Portugiesen und dann Niederländer und Engländer Acosta Saignes, „La trata en Venezuela“, in: Acosta Saignes, Vida de los esclavos negros en Venezuela, La Habana: Casa de las Américas, 1978, S. 31-58; siehe auch: Otte, “La integración”, in: Otte, Las perlas del Caribe ..., besonders S. 96-149 und “Los negros”, in: Ebd., S. 355f.; sowie: Otte, “Los mercaderes vizcaínos Sancho Ortiz de Urrutia y Juan de Urrutia”, in : Boletín Histórico 6, Caracas (Septiembre de 1964), S. 5-32. Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod. Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und Finanzinteressen bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 22. Bd., Münster (1965), S. 283-320; Otte, „Los Jeronimos y el tráfico humano en el Caribe : una rectificación”, S. 187-204. 342 Delgado, Álvaro, “La economía y la vida colonial”, in: Delgado, La Colonia. Temas de historia de Colombia, Bogotá: CEIS, 1974, S. 68-80, hier S. 79. 343 “Epidemias”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4 Bde., Caracas: Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 227-229, hier S. 227. 344 Ferry, Robert, “Trading Cacao : a View from Veracruz, 1629 – 1645”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos 6 (2006): http://nuevomundo.revues.org/document1430.html (8. Februar 2006). 341 Michael Zeuske/Venezuela Seite 136 13.05.2016 heranschafften. Auch der Tausch des exzellenten Kakaos aus den Urwaldgegenden Venezuelas, der meist zunächst von Indios beschafft wurde oder Salz, ebenfalls ein Unternehmen bestimmter Indio-Stämme, gegen Sklaven aus Afrika, war üblich. Im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellte sich die Beschaffung von Sklaven für das spanische Amerika als ein sehr lukratives Geschäft heraus. Zunächst waren es Portugiesen, Lançados, Atlantikkreolen, Baquianos und Corsarios, die Sklaven schmuggelten; aber auch Genuesen und portugiesische Untertanen der portugiesischen und kastilischen sowie spanischen Krone erhielten Lizenzen zum offiziellen Sklavenhandel.345 1621 begann die niederländische West-Indische Compagnie (Sitz Middelburg) ihre Geschäfte in der Karibik, 1672 folgte ihr die Royal African Company sowie ab Beginn des 18. Jahrhunderts die französische Compagnie Royale d’Afrique. Erst ab 1764 zog die spanische Krone mit zwei Kompanien nach (Real Compañía Guipuzcoana346 und Real Compañía de Barcelona). Die Kompanien versuchten den Sklavenhandel als dezentralisiertes Monopol in die Hände bestimmter Kaufleuteeliten in Spanien und Venezuela sowie der Krone zu halten. Daneben existierte das System der königlichen Lizenzen und Asientos weiter (ein Asiento war von 1713 bis 1750 in den Händen Großbritanniens). Diese Monopole wurden seit 1778/1792 und 1789-1804 durch den so genannten „Freihandel“ ersetzt, der auch „Freihandel“ mit Sklaven war.347 Allerdings gab Vila Vilar, Enriqueta, “Los asientos portugueses y el contrabando de negros”, in : Anuario de Estudios Americanos (AEA) 30, Sevilla (1973), S. 227-609; Vila Vilar, “La sublevación de Portugal y la trata de negros”, in : Ibero-Amerikanisches Archiv, Neue Folge, Jg. 2, Berlin (1976), S. 171-192; Vila Vilar, Hispanoamérica y el comercio de esclavos. Los asientos portugueses, Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos, 1977; Vila Vilar, “La esclavitud en el Caribe, La Florida y Luisiana : algunos datos para su estudio”, in : Marchena Fernández, Juan (ed.), La influencia de España en el Caribe, la Florida y la Luisiana (1500-1800), Madrid: Instituto de Cooperación Iberoamericana, 1983, S. 109-128; Vila Vilar, “Posibilidades y perspectivas para el estudio de la esclavitud en los fondos del Archivo General de Indias”, in : Archivo Hispalense LXVII, Sevilla (1985), S. 255272; Vila Vilar, “Comienzos de la trata de esclavos en el Caribe”, in: Palabras de la Ceiba, n.º 3, Sevilla (1999), S. 29-52; Vila Vilar (comp.), Afroamérica: Textos Históricos, Serie II, Vol. 7: Temáticas para la historia de Iberoamérica, Madrid: Fundación Histórica Tavera, Mapfre Mutualidad, Banco Nacional de España, Digibis, 1999 (Colección Clásicos Tavera; CD-Rom). 346 Garate Ojanguren, Montserrat, La Real Compañía Guipuzcoana de Caracas, San Sebastián: Real Sociedad Bascongada de los Amigos del País, 1990. 347 Andreo García, Juan, “La capitanía General de Venezuelas y el comercio libre de negros”, in: IX Congreso de Historia de América. Europa e Iberoamérica: Cinco siglos de intercambios, 3 Bde., coord. María J.Sarabia Viejo, 345 Michael Zeuske/Venezuela Seite 137 13.05.2016 es wegen der Krise der Kakaowirtschaft in den Zentraltälern und in Barlovento um 1800 kaum noch eine Nachfrage nach neuen schwarzen Sklaven aus Afrika oder der Karibik.348 Um 1802, nach der endgültigen Besetzung der Insel Trinidad349 durch die Briten, kamen einige spanische, italienische und französische Hacendados, wie Francisco Isnardi (Turin, c. 1750 – Spanien, ca. 1820), mit ihren Sklaven auf die Península de Paria und gründeten neue Landschaften der Sklaverei, die relativ autonom gegenüber Caracas waren. Sie sprachen meist ein Französisch-Spanisch-Patois und begannen, um Güiria Baumwoll- und Kakaoplantagen anzulegen.350 In den Missionsgebieten und in den Llanos gab es zunächst fast keine afrikanischen Sklaven im ruralen Bereich; nur einige wenige Haussklaven organisierten reicheren Hacendados oder Viehhändlern die Haushalte. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich, oft unter Kontrolle mulattischer Eigentümer von Sklaven, den so genannten pardos beneméritos, Hatos mit schwarzen Sklaven an den Rändern der Llanos von Barinas sowie den Llanos de Caracas.351 So entwickelte sich in der Viehwirtschaft der Hatos an den Rändern der nördlichen Llanos de Caracas eine besondere Kategorie Sklaven - schwarze Cowboys, Hütesklaven. In größeren Hatos gab es auch Haussklaven.352 Humboldt beschreibt einen kleinen Hato in den Llanos de Caracas folgendermaßen: „Ein hato ist eine Art Vorwerk, wo ein Sklave als Majordomus Sevilla 1992, Bd. III, S. 617-630 (mit allen wichtigen Quellen AGI); Andrade, Marcos, “Estudio de la trata de negros en Venezuela”, in: Boletín Americanista, Nº 47, Año XXXVII, Barcelona (1997), S. . 348 Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 44. 349 John, A. Meredith, The Plantation Slaves of Trinidad, 1783-1816, New York: Cambridge University Press, 1988. 350 Dauxion Lavaisse, Jean Jacques, Viaje a las islas de Trinidad, Margarita y diversas partes de Venezuela en América Meridional, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1962, S. 221, 249; Isnardi, Francisco, Proceso político, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960, S. 113f.; Gabaldón Marquéz, Joaquín, Francisco Isnardi, 1750-1814, Caracas: Ministerio de Educación, 1973. 351 Gómez, “Las revoluciones blanqueadoras: elites mulatas haitianas y ‘pardos beneméritos’ venezolanos, y su aspiración a la igualdad, 1789-1812”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Coloquios, 2005, [en línea], Puesto en línea el 19 mars 2005. URL: www.nuevomundo.revues.org/index868.html (consultado el 23 septiembre 2009). 352 Armas Chitty, “Esclavos en el siglo XVIII”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., 2 Bde., San Juan de los Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 207-210. Michael Zeuske/Venezuela Seite 138 13.05.2016 mit ein vier bis fünf Sklaven wohnt, um Hornvieh und Pferde in der Weide S(avanna) zu beobachten, zu suchen, wenn sie sich verlieren“.353 Die Indios der Missionen wurden im Maturín und in Guayana zu kreolisierten Mestizenbauern.354 Im Osten Venezuelas und im Norden des portugiesischen Einzugsgebietes fanden sich immer noch sehr viele Indiosklaven. Humboldt hielt im Sommer 1800 fest: „Sklaven. Noch bis 1756 waren [die] Cariben die Handelsleute, [die] Armenier dieses Continents. Niemand unternahm solche Reisen, und da sie alles bezwungen, so reisten sie sicher, da niemand sie anzugreifen wagte. Ihr Hauptgewerbe war, von [den] Holländern angereizt, [der] Sklavenhandel. Sie fingen selbst ein, und andere Nazionen am Ventuari und Padamo halfen ihnen. Sie zogen von Esequibo, demerary mit Spiegel, Messer …. Beladen über Caroní, Paragua in den Arm des letzteren, Caño Paruspo, von da rastrando la Piragua [Schleppen der Piraguas] in den Chavarro, den R[ío] Caura abwärts in den Erevato und durch diesen wieder ein drei Tage durch Gebirge und Savanah in den Manipiare und Ventuari. [Die] Portugiesen trieben, durch Temi und Cababuri eindringend ebenfalls Sklavenhandel, von Marañon aus noch 1756“.355 Afrikanische Sklaven fanden sich während der gesamten Kolonialzeit und darüber hinaus bis 1854 vor allem in den ruralen Wirtschaften der Küstenzonen der Tierra Firme, vor allem am Litoral central und an den Küsten des Ostens (Cumaná, Carúpano und Cariaco), in den Küstentälern (de Barlovento, del Tuy, Yaracuy und Valle del Tocuyo), die fruchtbare Xuruara-Region im Süden des Maracaibosees, um den Valencia-See, in Coro und der Serranía de Coro (Sierra de San Luis)356 und an einigen Orten der Llanos, der Anden (wie Barquisimeto) und des südlichen Andenfusses (wie Barinas, den Llanos von Caracas und den Humboldt, „Durch die Llanos von Guacara bis San Fernando de Apure“ (6. März-27. April 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 222-235, hier S. 223f. 354 Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45. 355 Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor allem S. 332. 356 Aizpurúa, “En torno a la aparición de un pueblo de esclavos fugados de Curazao en la Sierra de Coro en el siglo XVIII”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de 2004), S. 109-128. 353 Michael Zeuske/Venezuela Seite 139 13.05.2016 nördlichen Llanos de Maturín). Daneben existierten Haussklaverei und verschiedene Sklavereiformen in den urbanen Zentren und Wirtschaften.Dort wurden Sklavinnen und Sklaven relativ häufig frei gelassen und verschafften sich auch selbständig Zugang zur Justiz.357 Ehemalige Sklaven aus der Karibik, aus dem Pariagebiet und aus den Guayanas siedelten sich nach 1850 vor allem in den Kakaozonen um Carúpano und Río Caribe sowie in den Goldzonen um El Callao an. In die Gegend kamen vor allem Menschen aus den anderen Guayanas (Essequibo, Demerara, Berbice, Surinam und Cayenne sowie aus brasilianischen Gebieten), Dominica, Saint Vincent, Saint Lucia sowie von der Paria-Halbinsel. Handwerks- und Lehrlingssklaverei in der Form, dass afrikanische Sklaven eine Ausbildung erhielten und dann für ihre Besitzer und Herrinnen, relativ selbständig auf der Straße Geld verdienten, war weit verbreitet, wie aus folgendem Beispiel deutlich wird. Martín Fernández, Vecino von Trujillo in den venezolanischen Anden, gab mit einem Protokoll vom 27. Mai 1592 seinen Sklaven „genannt Juan“, 15 Jahre alt, von Nation, wie es scheint, conga, für eine Zeit von dreieinhalb Jahren“ in den Dienst von Gonzalo García de la Parra, Schmied. Juan müsse dem Schmied dienen (als Sklave), der habe ihm im Gegenzug im Handwerk des „Schlossers und Schmiedes“ zu unterweisen und während der Lehrzeit für Beköstigung, Bekleidung und Gesundheit zu sorgen.358 Es gab aber auch, wie Quellen über Kakaoplantagen in Barlovento berichten, Verwalter, die Sklaven waren.359 Der französische Reisende Depons bemerkt, dass Status und Reichtum einer Familie an der Zahl der Haussklaven gemessen wurde: „se cree que la Torres Pantin, Carmen, “Estudio Introductorio. El acceso del esclavo a la justicia (En Causas Civiles, Siglo XVIII)”, in: Índice sobre esclavos y esclavitud (Sección civiles-esclavos), recopilación y estudio preliminar por Torres Pantín, coordinación Ponce, Marianela, Caracas: Academia Nacional de la Historia; Departamento de investigaciones históricas, 2002 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Serie archivos y catálogos; 11), S. 13-72. 358 Archivos de los Registros principales de Mérida y Caracas, Protocolos del Siglo XVI, estudio preliminar, resumenes e indíce analítico por Agustín Millares Carlo, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 80), S. 82 (Protokoll Nr. 295). 359 Castillo Lara, Apuntes para la historia colonial de Barlovento ..., S. 623. 357 Michael Zeuske/Venezuela Seite 140 13.05.2016 riqueza de una casa está en proporción al número de esclavos de ella. Hay casas que tienen doce o quince esclavos …”360 Kreolisierung, Atlantik und Cimarronaje Venezuela wurde schnell ein Land der Mestizen, Kreolen und Cimarrones und – bis heute existiert eine starke, allerdings kaum in den Medien und schon gar nicht im Denken der Eliten repräsentierte afrovenezolanische Kultur.361 Diese Kultur konzentriert sich heute vor allem im Zentrum des Landes, um Caracas und La Guaira, aber auch im Osten, um Cumaná und Cariaco sowie im Westen, am Südufer der Maracaibosees bei Gibraltar. In zeitgenössischen Quellen werden als Vorläufer von Ortsgründungen durch Sklaven, Cimarrones, ehemalige Sklaven (freie Farbige) genannt: capellanías de negros, entstanden aus Pfarrgemeinschaften auf Hatos und Haciendas mit hohem Anteil Schwarzer, cumbes und palenques [Karte362] sowie Kakao-Haciendas, aus deren Hüttensiedlungen of Ort von „negros, zambos y mulatos“ entstanden.363 Die punktuelle Kreolisierung begann allerdings nicht erst mit den Ortsgründungen in Amerika, sondern als Transkulturationsprozess bereits in Afrika; schon Inka Garcilaso de la Vega (1528-1619) hatte zum Wort criollo eine dezidierte Meinung „lo inventaron los negros“ (die Neger haben ihn – den Begriff Kreole – erfunden; Comentarios Reales, Lissabon 1609, Buch IX, Kapitel XXXI: „Nombres nuevos para nombrar diversas generaciones“). 364 360 Zit. nach: Lucena Salmoral, Manuel, Caracas: Vísperas de la independencia americana, Caracas: Alhambra, 1986, S. 51. 361 Ramos Guédez, José Marcial, Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial, Caracas: Instituto Municipal de Publicaciones; Alcaldía de Caracas, 2001. 362 Ramos Guédez, Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial ..., S. 39, mapa Nr. 2: “Centros poblados de Venezuela colonial fundados por negros cimarrones”, im Grunde in der ganzen “Zona de Haciendas”. 363 Ramos Guédez, “Lo africano en la formación histórica del territorio venezolano” in: Ramos Guédez, Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial ..., S. 23-48, hier S. 29. 364 El Inca Garcilaso de la Vega, Comentarios reales/ La Florida del Inca, introd., ed. y notas Mercedes López-Baralt, Madrid: Espasa-Calpe, 2003 (Biblioteca de literatura universal), S. 708. Michael Zeuske/Venezuela Seite 141 13.05.2016 Damals gab es den modernen Rassismus nicht, der Begriff war genealogisch gemeint und verbarg den Rassismus noch unter „Herkunft“. Afrikaner als Sklaven, darunter viele schon kreolisierte Afrikaner, wurden von „Portugiesen“, meist im Schmuggel, nach Amerika und Venezuela gebracht. So kam das Wort crioulo (criollo – Kreole) mit dem frühen atlantischen Sklavenhandel von Afrika nach Amerika und ging auch wieder zurück, sehr oft. Es wurde zu einem atlantischen Allerweltsbegriff für etwas sehr Besonderes: die transkulturell Mischung zwischen Afrika und Amerika, vermittelt und verstärkt durch den riesigen Resonanzraum des Atlantiks.365 Sklavenhandel wurde zu einem alltäglichen Geschäft. Die ersten Nachrichten über interne Sklavenkäufe und -verkäufe von Schwarzen in Venezuela lauten so (oder ähnlich): Francisco Ruiz, Alcalde von Mérida, verkaufte am 17. November 1579 an Cristóbal Jáimez, Vecino von Pamplona, einen Negersklaven, genannt Baltasar, Sohn seiner Negerin María und von Diego „auch Negersklave“. Baltasar war acht oder neue Jahr alt und ohne „weitere Fehler, als verlogen zu sein“.366 In Amerika und Venezuela begann mit der Conquista eine intensive biologische Vermischung zwischen Indios, Europäern und bald auch zwischen beiden sozialen Gruppen (sowie ihren Nachkommen) mit afrikanischen Sklaven. Die Kreolisierung zwischen Afrikanern und Europäern hatte schon in Afrika eingesetzt.367 Die spanische Krone begann bald nach Einführung afrikanischer Sklaven in Amerika eine legislative Tradition, die die Mestizisierung in den urbanen Gesellschaften nicht stoppen konnte, aber zumindest bremsen sollte. Vor allem stellte die Krone dreierlei von Anfang an klar: die Sklaven sollten heiraten, aber möglichst unter sich; zweitens zog die Heirat - etwa die eines Warner-Lewis, Maureen, “Posited Kikoongo Origins of some Portuguese and Spanish Words from the Slave Era”, in: América Negra 13 (1997), S. 83-95; Zeuske, “Atlantik, Sklaven und Sklaverei – Elemente einer neuen Globalgeschichte“, in: Jahrbuch für Geschichte der Europäischen Expansion 6 (2006), S. 9-44. 366 Archivos de los Registros principales de Mérida y Caracas, Protocolos del Siglo XVI, estudio preliminar, resumenes e indíce analítico por Agustín Millares Carlo, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 80), S. 30f. (Protokoll Nr. 89). 367 Lovejoy, Paul E., “Identifiying Enslaved Africans in the African Diaspora”, in: Lovejoy (ed.), Identity in the Shadow of Slavery, London; New York: Continuum, 2000 (The Black Atlantic), S. 1-29. 365 Michael Zeuske/Venezuela Seite 142 13.05.2016 afrikanischen Sklaven mit einer Indianerin -, nicht automatisch die Freiheit nach sich und drittens galt der Rechtsgrundsatz „vientre esclavo engendra esclavo“ (Sklavenbauch bringt Sklaven hervor). Diese Aktivitäten brachten eine legislative und erbrechtliche, durchaus „von oben“ angestrebte, Tradition der Verfestigung des Sklavenstatus in mütterlicher Erbfolge hervor, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkte. Ermila Troconis de Veracoechea zitiert ein Dokument, in dem ein Sklavin zu gleichen Teilen zwei Geschwistern gehört; aber nicht nur das, auch die zukünftigen Nachkommen der Sklavin sollten beiden Erben zu gleichen Teilen gehören: „ ... [eine] Hälfte, die mir gehört, denn die [andere] Hälfte der Geburten gehört meinem besagten Bruder“.368 Diese Tradition der immer weiteren Bestialisierung des Sklavenstatus war (und ist) für afrodescendientes, die Nachkommen von Menschen, die aus Afrika nach Amerika verschleppt worden waren, die tiefste, traumatischste und schlimmste historische Konsequenz des Sklavenstatus. Die Sklaven und ihre Nachkommen wehrten sich mit Aufständen und Flucht. Besonders die Urwälder im Osten, die Guayanas, aber auch Flüsse und die Llanos füllten sich mit Cimarrones aus den Städten des Nordens, aus Suriname und anderen Plantagenkolonien. Die Cimarrones schlossen sich oft Resten von Indiovölkern an und begründeten eigenständige indianisch-mestizische Kulturen, die mit Fug und Recht als Cimarrón-Kulturen gelten können.369 Die Cimarrones schufen sich ihre Siedlungen (cumbes) und eine eigenständige Lebensweise.370 Der Kolonialfunktionär Pedro José de Olavarriaga schätzte im 17. Jahrhundert, dass es in Venezuela rund 20000 Cimarrones gäbe; Ende des Troconis de Veracoechea, “El trabajo esclavo en la economía colonial”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de 2004), S. 59-75, hier S. 69. 369 Pérez, Berta E., “The Journey to Freedom: Maroon Forebears in Southern Venezuela”, in: Ethnohistory No. 47 (2000), S. 611-634; Cwik, Christian, “Cimarronaje en la ‘frontera’ de Guayana. ¿Cómo los españoles aprovecharon este fenómeno para la gestión territorial?”, in: Elías Caro, Jorge Enrique; Silva Vallejo, Fabio (eds.), Los mil y un Caribe ... 16 Textos para su (DES) entendimiento, Santa Marta: Universidad del Magdalena, 2009, S. 237-236. 370 Acosta Saignes, “Life in a Venezuelan Cumbe”, in: Price, Richard (ed.), Maroon Societies: Rebel Slave Communities in the Americas, Baltimore: Johns Hopkins University, ²1979, S. 64-73. 368 Michael Zeuske/Venezuela Seite 143 13.05.2016 18. Jahrhunderts waren es bereits zwischen 25000 und 30000 Cimarrones – die Hälfte der Sklavenpopulation.371 Um 1770 hatte ein Cimarrón-Anführer namens Guillermo Rivas eine Siedlung (cumbe) ehemaliger Sklaven bei Ocoyta in den Montes de Panaquire im Hinterland zwischen Barcelona und Ocumare de la Costa gegründet.372 Er führte andauerende Raubzüge gegen Städte und Haciendas der Gegend und bewegte sich sehr aktiv zwischen Ocoyta, Chuspa, Ocumare und Barcelona, um den Feinde dauernd in Alarm zu halten und Waffen zu rauben, aber gleichzeitig die Verbindung zu anderen Cimarrones zu halten und Überfälle zu organisieren. Er raubte auch Kakao und verkaufte ihne an Schmuggler.373 Neben der inneren Cimarronaje existierte die Cimarronaje zwischen unterschiedlichen Kolonien und Cimarronaje über Meer. Besonders intensiv war diese äussere Cimarronaje zwischen Curaçao und der costa de Coro sowie im Osten zwischen Essequibo und Caroní.374 [Karte der Guayana Maroons „Map 10: Guayana Maroon settlements in the Early nineteenth century“, in: Thompson, Alvin O., Flight to Freedom. African Runaways and Maroons in the Americas, Kingston: University of the West Indian Press, 2006, S. 134].375 Aber insgesamt gilt für alle Menschen, die im urbanisierten Venezuela irgendwo einen „Neger“ (ist im zeitgenössischen public transcript gleich Sklave, ohne Ehre, fast Nicht-Mensch, ohne Kultur, fast Tier) in ihrer Ahnenreihe hatten, mussten diesen verbergen (unter anderem durch den Verweis darauf, criollo zu sein) – oder sie konnten nicht aufsteigen. Allerdings anerkannten die kastilischen Gesetze und der ihnen innewohnende philosophische Geiste des Thomismus (Thomas von Aquin) die Freiheit als den Thompson, Alvin O., “Population Sizes of Maroon Communities”, in: Thompson, Flight to Freedom. African Runaways and Maroons in the Americas, Kingston: University of the West Indian Press, 2006, S. 127-129, hier S. 128. 372 Ramos Guédez, “Mano de obra esclavizada en el eje Barlovento-Valles del Tuy durante el siglo XVIII”, S. 1-24, hier S. 19f. 373 Acosta Saignes, “Life in a Venezuelan Cumbe”, S. 64-73, hier S. 64-69. 374 Aizpurúa, “En torno a la aparición de un pueblo de esclavos fugados de Curazao en la Sierra de Coro en el siglo XVIII”, S. 109-128. 375 Thompson, Colonialism and Underdevelopment in Guyana 1580-1803, Bridgetown, Barbados: Carib Research and Publications, 1987. 371 Michael Zeuske/Venezuela Seite 144 13.05.2016 „Naturzustand des Menschen“. Es entwickelte sich eine Tradition der Freilassung (manumisión) durch Willen und Testament des Herren, durch „bautismo o pila“ (wenn der Sklave einer Spanien feindlichen Nation oder anderen Kolonialmacht spanisches Territorium erreichte, ließ er sich taufen und war damit frei; eine alte Asylgesetzgebung376), durch Kauf einer „carta de libertad“ seitens des Sklaven oder der Sklavin (coartación = Selbstfreikauf377) sowie durch spezielle Freilassung seitens des Staates (etwa wenn ein Sklave einen Aufstand verriet). Oft siedelten ehemalige Sklaven gleicher Herkunft gemeinsam an einem Ort.378 Sklavenhandel, Kreolisierung, Mestizisierung, Cimarronaje und Tradition der Freilassung wurde einem mächtigen sozialen Prozess, der dazu führte, dass bereits nach 250 Jahren die Hälfte der Bevölkerung der Tierra Firme, vor allem in den Gebieten mit hohem Sklavenanteil, zur sozialen Gruppe der „pardos“ gezählt wurde, deren Status als Kaste aber immer unterhalb der „Weißen“ angesiedelt war, aber relativ vom individuellen wirtschaftlichen und sozialen Erfolg abhing. Zwischen 1500 und 1810 wurden nach Brito Figueroa 121 168 Sklavinnen und Sklaven, einschliesslich Contrabando (composición de negros de mala entrada), in das Gebiet des heutigen Venezuela verschleppt; um 1810 mag es 60000-62000 Sklaven in Venezuela gegeben haben; seit 1804 kamen keine Sklavenschiffe mehr an.379 Sklavinnen und Sklaven waren vor allem Haussklaven und rurale Sklaven auf den Haciendas der Küste (vor allem Te Paske, John, „The Fugitive Slave: Intercolonial Rivalry and the Spanish Slave Policy, 1687-1764“, in: Proctor, Samuel (ed.), Eighteenth Century Florida and its Borderlands, Gainesville: University Press of Florida, 1975, S. 1-12. 377 Lucena Salmoral, “El derecho de coartación del esclavo en la América Española”, in: Revista de Indias 216 (1999), S. 357-374; Lucena Salmoral, La esclavitud en la América española, Warszawa: Universidad de Varsovia, Centro de Estudios Latinoamericanos (CESLA), 2002. 378 Archivo General de Indias, Sevilla, Audiencia Santo Domingo, Cartas y expedientes sobre las Misiones de Capuchinos de la Provincia de Venezuela (1588-1695), Legajo 222: “El Gobernador de Caracas, Marqués del Casal, avisa del recibo del despacho sobre la libertad de unos negros de la villa de San Carlos y formarles pueblo separado y retirado de los indios como lo propuso Fray Gabriel de Sanlúcar; y demás que expresa”. 379 Hernández Delfino, Carlos, “La deuda de la abolición”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de 2004), S. 19-57. 376 Michael Zeuske/Venezuela Seite 145 13.05.2016 Barlovento, wo es hohe Konzentrationen von Sklaven gab) und, allerdings weniger dicht, auf den Haciendas und Hatos im Innern des Landes.380 Im 17. Jahrhundert existierten in Venezuela verschiedene Typen des territorialen Eigentums: Eigentum des Königs (realengos), kommunale und ejidale tierras der Städte, Eigentum der Kirche, Nutzbrauch (usufructo) der Missionen, Ländereien unter Verwaltung von Kirche und obras pías, private Hatos und Haciendas, tierras de Indio-Kommunen, conucos des individuellen Eigentums von Indios.381 In den Llanos zählte Bodeneigentums nicht oder kaum - nur an den Rändern im Norden und im Westen. Was zählte, war die Verfügungsgewalt über Menschen und Vieh. Bestimmte Gebiete Venezuelas, aber auch Neu-Granadas, Neu-Spaniens und besonders die Grenzgebiete der Floridas und Guayanas waren quasi unter der Herrschaft von Cimarrones, die von konkurrierenden Kolonialmächten mit Waffen versorgt wurden und zusammen mit Indios „koloniale Völker“ bildeten (wie die Wayúu auf der Halbinsel Guajira). Um 1720 sprechen königliche Berichte schon von 20000 geflohenen Schwarzen nur für die Provinz von Venezuela.382 Wie Humboldt feststellte und Jane M. Rausch bestätigt, befanden sich um 1789 etwa 25000 Menschen, meist Männer, als Flüchtige, Cimarrones, in den Llanos zwischen dem heutigen Venezuela und Kolumbien.383 In Venezuela zählten die entfernteren Llanos und die Guayanas immer zu den Flucht- und Grenzgebieten der Cimarrones. In den tiefen Llanos waren Cimarrones und nichtunterworfene Indios den Spanier in der Kenntnis des Territoriums und in Handhabung von Waffen und taktischer Kriegführung überlegen. So konnten sich Europäer und verbündete Indios bei den reichen Troconis de Veracoechea, “El trabajo esclavo en la economía colonial”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de 2004), S. 59-75. 381 Ebd., S. 65. 382 Olavarriaga, “Negros se pierden por falta de castigo”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 215. 383 Rausch, Jane M., Una frontera de la sabana tropical: los llanos de Colombia 1531-1831, Bogotá: Banco de la república, 1994, S. 439; Thibaud, Clément, “Les Llanos, essai de géographie historique“, in : Thibaud, Repúblicas en armas. Los ejércitos bolivarianos en la Guerra de Independencia en Colombia y Venezuela, Bogotá: Instituto Francés de Estudios Andinos-Planeta, 2003, S. 131-160, hier S. 135. 380 Michael Zeuske/Venezuela Seite 146 13.05.2016 Goldlagerstätten von Nirgua im heutigen Venezuela gegen den Widerstand384 von Indios und Cimarrones nicht durchsetzen. Gouverneur Arías Vaca musste Schwarze und Zambos zu Conquistadoren ernennen; die dann im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert den Cabildo von Nirgua dominierten und ihre Rechte (und die weiterer „farbiger“ Städte) beim König verteidigten.385 Noch Humboldt spricht im Februar 1800 von „Nirgua ... der Mulattenrepublik zwischen Valencia und S[an] Felipe“.386 Die Kreolisierung betraf auch kulinarische Bereiche. Afrovenezolanische Küche arbeitet vor allem mit sofritos (in Öl angebratene Gewürze mit Knoblauch, Salz und Limettensaft), sehr viel Fett beim Braten und Kochen sowie der Nutzung von Ñame, Patilla, Quinchoncho, Cafunga (Kokos und Banane gemischt mit Zucker und in Fett ausgebacken), Mazamorra (junger Mais mit Papelón und Milch), Quimbombó porteño (vor allem in Puerto Cabello), Funche (gemahlener Mais mit Schweine-Fett, Salz und Sofrito).387 Kakao, Zucker und Tabak Trotz riesiger Viehherden und gigantischer Küsten ist die kleine Kakaobohne zum Symbol der Kolonialzeit in Venezuela avanciert.388 Humboldt hebt den Wert des Kakaos für Reisende hervor: „Cacao, die wundersame Erfindung der Span[ischen] Conquistadoren (eine Speise, deren Werth auf Reisen man in Europa kaum kennt, nährend, reizend [aufmunternd] und Dieser Widerstand lässt sich bis zur „Rebelión del Negro Miguel“ 1553 zurückverfolgen, siehe: Agudo Freites, Raúl, Miguel de Buría, Caracas : Alfadil Ediciones, 1991. 385 Acosta Saignes, Vida de los esclavos negros en Venezuela ..., S. 185f.; Mendoza, Irma Marina, “El cabildo de los pardos en Nirgua: Siglos XVII y XVIII”, in: Bolivarium. Anuario de Estudios Bolivarianos 4 (1995), S. 95-120. 386 Humboldt, Reise durch Venezuela, S. 197, FN und S. 210, FN ; siehe auch: Rojas, “Mestizaje y poder en Nirgua, una ciudad de mulatos libres en la provincia de Venezuela 1628-1810”, in: Rojas, La rebellión del negro Miguel y otros temas de africanía, Barquisimeto: Tipografía y Litografía Horizonte, C.A., 2004, S. 119-138. 387 Ramos Guédez, „Los descendientes de africanos en Venezuela: aporte a la cultura e identidad nacional“, S. 147157, hier vor allem S. 148f. 388 Díaz Sánchez, Ramón, „Cacao, símbolo colonial de Venezuela“, in: Revista Nacional de Cultura, Nr. 69, Caracas (1948), S. 70-91; Arcila Farías, Economía Colonial Venezolana, 2 Bde., Caracas: Italgráfica, 1973 (vor allem Bd. I); Harwich, Nikita, Histoire du Chocolat, Paris: Éditions Desjonquères, 1992; Harwich, “Le cacao vénézuélien: une plantation à front pionnier”, in: Caravelle 85, Toulouse (2005), S. 17-30. 384 Michael Zeuske/Venezuela Seite 147 13.05.2016 sättigend in kleinem Volumen)“.389 Heute wird handverlesener venezolanischer Criollo-Kakao wieder in den Produkten europäischer SchokoladenLuxusmarken vermarktet - vor allem in Italien, weil nach 1830 eine ziemlich starke korsische und ligurische Immigration Ostvenezuela erreichte. Der frühe Ruhm des Kakaos der Tierra firme mag daran liegen, dass die einzelnen Kolonialgebiete schon damals danach trachteten, sich in gewissem Sinne durch koloniale „Marken“-Produkte zu definieren. In den einzelnen Provinzen gab es auch Zucker- und Tabakanbau in weit geringerem Umfang als in Surinam, Jamaika oder Saint Domingue. Mit der Kakaowirtschaft kam Massensklaverei ins Land. Besser gesagt, die Nachfrage nach dem milden und süssen venezolanischen Criollo-Kakao in Mexiko und Spanien brachte Sklaven an die Küsten der Tierra firme. Die Kakaowirtschaft nahm seit Ende des 16. Jahrhunderts einen starken Aufschwung. Damit entstanden auch die ersten stabilen Kerne der Stadteliten Venezuelas. Insofern hat der Kakao nicht nur die Sklaverei etabliert, sondern auch die Sklavereieliten.390 Schon seit 1530 segelten portugiesische Sklavenschiffe auf ihren Fahrten zwischen Westafrika und Amerika wieder und wieder an den langen Küsten der Pernambucos, Maranhãos, Guayanas („wilde Küste“) und der Provinzen Venezuelas (etwa 5000 km) nach Cartagena, Puerto Bello und Veracruz. Sklavenhandel war immer auch Schmuggel. Die Kapitäne und Mannschaften der portugiesischen Sklavenschiffe machten in den Unterwegshäfen, obwohl es offiziell untersagt war, unter dem Vorwand der Wasseraufnahme oder notwendiger Reparaturen Halt. Oder sie legten Landungspunkte in der Nähe von Flussmündungen und Süßwasserquellen an (diese Orte wurden oft zu Humboldt, Alexander von, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda“ (30. März-23. Mai 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 236-310, hier S. 239. 389 Ferry, “Commerce and Conflict: The First Caracas Elite, 1567-1620”, S. 13-44; Langue, „Origenes y desarrollo de una élite regional. Aristocracia y cacao en la provincia de Caracas”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión en la Venezuela del siglo XVIII, Caracas: Italgráfica; Academia de la Historia, 2000 (Biblioteca de la Academia de la Historia, 252), S. 46-93. 390 Michael Zeuske/Venezuela Seite 148 13.05.2016 Ausgangspunkten von Kolonien – wie Demerara, Berbice, Suriname oder Essequibo). Dort schmuggelten sie mit allem, was nicht niet- und nagelfest war. Zunächst gab es in Venezuela als „Zahlungsmittel“ nur Indiosklaven oder Nahrungsmittel – und afrikanische Sklaven waren teurer. Dann aber bemerkten die Schmuggler nach ersten Zwischenlandungen an den venezolanischen Küsten in den Ankunftshäfen Porto Bello oder Veracruz, dass dort der – auch wegen der Katastrophe der bisherigen mexikanischen Kakaoproduktionsgebiete (Soconusco und Izalco (siehe Karte391)) – gute venezolanische Kakao hohe Preise erzielte und sie den mittelamerikanischen Kakao unterbieten konnten. Beim nächsten Mal tauschten sie mehrere ihrer afrikanischen Sklaven gegen Criollo-Kakaobohnen in den Häfen der Tierra firme ein. Besonders intensiv entwickelte sich dieser Handel zwischen 1580 und 1640 (Kronunion zwischen Portugal und Kastilien)392; dann übernahmen die Niederländer inoffiziell dieses Geschäft; vor allem nachdem sie 1634 die Insel Curaçao vor der venezolanischen Westküste, einige Küstengebiete Surinams sowie Demeraras (und Brasiliens) und auf afrikanischer Seite die Festung Elmina erobert hatten. Curaçao kontrollierte faktisch die Einfahrt zum Golf von Venezuela. Die Insel wurde zur unsinkbaren Schmuggelplattform vor einer unkontrollierbaren Küste.393 „Portugiesen“, die auch Westafrikaner, Angolaner oder Menschen aus Pernambuco, dem Maranhão, Ceará, Recife oder Bahia im heutigen Brasilien sein konnten, schmuggelten aber weiter. So entwickelte sich ein reger Austausch afrikanische Sklaven gegen Kakao, indianische Sklaven und Maultiere aus den Llanos; dieser Schmuggelhandel wiederum belebte die venezolanische Eigenproduktion von Kakao (die vorher schon von Indios betrieben worden war) ab dem Ende des 16. Jahrhunderts – seit dem 17. Jahrhundert existiert in Europa „Landkarte der kakaoproduzierenden Gebiete Mittelamerikas zur Zeit der frühen Kolonisation. Die Provinz Soconusco war wähend der aztekischen Vorherrschaft der größte Kakaoproduzent Mittelamerikas“, in: Coe, Sophie D.; Coe, Michael D., Die wahre Geschichte der Schokolade. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997, S. 101; Harwich, „La Tragédie de Soconusco“, in: Harwich, Histoire du Chocolat …, S. 36-38; Harwich, „Le ‚boom’ cacaoyer d’Izalco“, in: Ebd., S. 38-42. 392 Ferry, “Cacao in the Seventeenth Century: The First Boom”, S. 45-71, hier S. 48f. 393 Arcila Farias, „Los holandeses y el cultivo del cacao“, in: Arcila Farias, Economía colonial ..., Bd. I, S. 142-144. 391 Michael Zeuske/Venezuela Seite 149 13.05.2016 die Marke „holländischer Kakao“. Zunächst war der wichtigste Absatzmarkt aber Neu Spanien, das alte Azteken- oder Mexicareich, wo sich Eliten seit jeher das Göttergetränk Kakao munden liessen. Auch in diesem gigantischen Austauschgeschäft Menschen gegen Kakao bewahrheitete sich eine generelle Aussage zum Sklavengeschäft – es sorgte für die ursprüngliche Akkumulation von Kapitalien. Zumal die kleinen Sklavenschiffe, die vorher zur Verschleppung von gefangenen Indios über die Karibik (oder für den Transport von Indios aus Nikaragua nach Guatemala und Acapulco) benutzt worden waren, gut für den Transport der Kakaoladungen benutzt werden konnten.394 Kakaobohnen und daraus hergestellter Kakaotrunk wurden schon von den Indios vor Kolumbus benutzt. Die wichtigsten Gebiete, in denen der einheimische Kakaobaum wild wuchs, waren Andentäler, wie Aragua-Tal und Tuy-Tal im Südosten von Caracas, Paria und Gebiete im Süden des Maracaibosees sowie die kleinen Täler der Caracas-Küste; 1579 erschien die erste geschriebene Information über den Kakao in einer Liste von Produkten, die aus Mérida exportiert werden konnten. Der Produktionsprozeß des Kakaos auf den noch relativ bescheidenen Haciandas ähnelte dem des (erst später) einsetzenden Kaffeeanbaus auf Haciendas. Fast der gesamt Prozeß konnte mit menschlicher Arbeitskraft erledigt werden, es waren keine komplizierten Mühlen und nur wenige wirklich technische Installationen notwendig.395 Kakaobohnen konnten relativ gut gelagert und transportiert werden – zugleich galten Kakaobohnen in den Mayagebieten und in Mexiko als eine Art Geld und als Elitegetränk; auch wurde Kakao zu kultischen Zwecken benutzt; die flüssige Schokolade (chocolatl) galt als „Getränk der Götter“. Kakao war in Mittelamerika und im Aztekenreich Nahrungsmittel, Münze und religiöses Symbol.396 Kakao in Form von getrockneten und fermentierten Samenbohnen der Kakaofrucht war zu Beginn Harwich, Histoire du Chocolat …, S. 39. Torres Sánchez, Jaime, “El Cultive del cacao”, in: Torres Sánchez, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en Venezuela. El Colegio de Caracas en el siglo XVIII, Sevilla: CSIC, 2001, S. 27-47. 396 Coe; Coe, Die wahre Geschichte der Schokolade …, passim. 394 395 Michael Zeuske/Venezuela Seite 150 13.05.2016 der Conquista ein teures Produkt. Das lag einerseits darn, dass die Kakaobäume (Theobroma cacao) nur in feuchtem, schattigem Unterholz von Dschungelwäldern bis jeweils 20° nördlich und südlich des Äquators wachsen und bei ausbleibendem Regen ihre Blätter und Früchte abwerfen oder schnell an Pflanzenkrankheiten eingehen. Kakaoplantagen und -bäume müssen ständig gepflegt werden. Andererseits existierte schon vor 1492 eine starke Nachfrage nach dem „Getränk der Götter“, vor allem in den mittelamerikanischen Kulturen. Bestimmte Teile der Kakaofrucht (das weiße und süße Fruchtfleisch, das wegen seiner Süße roh gegessen oder aus dem eine Art Wein hergestellt wurde397) waren aber auch schon bei verschiedenen Indiovölkern Venezuelas und des heutigen Brasiliens, in der Amazonía, sehr gefragt.398 Seit 1620-1630 entwickelten sich Zonen der Kakaoproduktion mit Sklaven. 1622-32 gingen aus Venezuela jährlich 2000 Fanegas auf legalem Wege (der Schmuggel ist noch nicht mitgezählt) in den Export. Das entsprach 166000 Kakaobäumen. Die wichtigsten Kakaogebiete lagen im Süden des Maracaibosees (Gibraltar), wo ein ganzer Haciendaskomplex vom Jesuitenorden (Residencia de Maracaibo: zwei Hatos, eine Hacienda mit Trapiche – Zucker -, Kalk- und Ziegelproduktion sowie zwei haciendas integradas, spezialisierte Kakaoplantagen) betrieben wurde399; um den Valenciasee, bei Cumaná, auf der Pariahalbinsel sowie sowie in einigen Andentälern. An der Küsten von Caracas wurde Kakao auf den Haciendas von Choroní, Ocumare, Chuao, Turiamo und Guaiguaza sowie in den Tälern von Caucagua, Capaya, Curiepe, Guapo, Cúpiro, etwa weiter entfernt bei Aroa, Barquisimeto, Güigüe und Orituco angebaut.400 „Kakao“ als entfettetes Pulver, das in Mitteleuropa als „holländischer Kakao“ gilt, wurde 1828 von dem Niederländer Coenraad von Houten erfunden – der Rohstoff, die Kakaobohnen, aber kamen fast immer aus Venezuela über Curaçao (meist vom Südufer des Maracaibosees) nach Holland; Coe; Coe, Die wahre Geschichte der Schokolade …, S. 31. 398 Ebd., S. 21ff. 399 Rey Fajardo, José del, “El patrimonio económico del colegio jesuitíco del Maracaibo hispánico”, in: BANH, No. 249, LXIII (1980), S. 73-84; Torres Sánchez, Jaime, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en Venezuela. El Colegio de Caracas en el siglo XVIII, Sevilla: CSIC, 2001. 400 Arcila Farias, Economía colonial ..., Bd. I, S. 142-144, hier S. 143; Olavarriaga, “Estado particular y presente de la Costa Marítima de la Provincia de Venezuela, desde Macuto hasta la Punta de los Flamencos, sus puertos, valles, ríos, haciendas, nombres de sus amos, árboles de cacao, su producto, poblaciones y demás circunstancias que sirven de instrucción a la planta de dicha Costa incluida en dicho Capítulo”, S. 221-248; Strauss, Rafael A., 397 Michael Zeuske/Venezuela Seite 151 13.05.2016 Die Jesuiten etwa statteten ihre Colegios und Residencias mit Haciendas aus, um sie zu versorgen, aber auch, um ihnen Einkünfte zu verschaffen (wie zum Beispiel der Colegio de Caracas).401 Mit dem Aufschwung der Kakaowirtschaft, deren Plantagen meist auf Landgütern der ersten Siedlerelite angelegt wurde, die als Mitglieder der Stadträte (ayuntamientos, cabildos) auch die lokale politische Macht kontrollierten, kam es zur Entstehung der ersten Kerne von lokalen Oligarchien der Sklavenhalter. Zum Teil wurde der Kakao zunächst von Encomiendaindios geerntet und verarbeitet. Die Elite der „großen Kakaos“ (grandes cacaos), wie sie bald genannt wurden, waren aber auch die einzigen, die nach den Sklavenschmuggelszeiten relativ schnell soviel Kapital aufbrachten, um offiziell und formal afrikanische Sklaven zu kaufen.402 Eines der Beispiele für erfolgreiche Unternehmer im Kakao, zugleich lokaler Machthaber in Caracas, war der Urahne von Simón Bolívar – mit fast dem gleichen Namen: Simón de Bolívar (von Historikern Bolívar el viejo, Bolívar der Alte, genannt), ein baskischer hidalgo aus dem Dörfchen Bolibar. Nach erfolgreichen Versuchen mit Kakaoexporten aus den Plantagen in der unmittelbaren Umgebung von Caracas expandierte die Haciendawirtschaft in das Tuy-Tal und in die vom TuyFluss durchflossene Barloventodepression östlich von Caracas, ein quasi nach Osten geöffnetes West-Ostdreieck, dass sich in die Küstenkordillere in der Mitte des Landes wie ein breiter Dolch hineinschiebt [Karte in Tamaro, S. 8403] und sie in zwei Ketten aufspaltet. Tuy und Barlovento stehen als Regionen für eine paradigmatische Kakaowirtschaft mit Sklaverei entlang eines Flusstales bis hin “Aproximación a una demografía de la esclavitud negra en Venezuela, siglos XVI y XVII”, in: Tierra Firme Vol. XXII, 22, Nr. 85 (Enero-Marzo 2004), S. 75-105. 401 Torres Sánchez, “Introducción. Patrimonio y riqueza del Colegio de Caracas en 1767”, in: Torres Sánchez, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 1-22. 402 Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes para la historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981; García, Jesús, Contra el cepo: Barlovento, tiempo de cimarrones, Caracas: Lucas y Trina, 1989; Guerra Cedeño, Franklin, Esclavos negros, cimarrones y cumbes de Barlovento, Caracas: Lagoven, 1984; Acuña, Guido, La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993; García, Africanas, esclavas y cimarronas, Caracas: Fundación Afroamérica, 1996. 403 Tamaro, Dorothy C., A new world plantation region in colonial Venezuela: 18th century cacao cultivation in the Tuy Valley and Barlovento, Ann Arbor: University Microfilms International (UMI), 1988, S. 8 (Map 1: “Venezuela: Modern boundary, colonial province and Tuy-Barlovento). Michael Zeuske/Venezuela Seite 152 13.05.2016 zur karibischen Küste. Große und kleine Hacendados (Landbesitzer) bauten am Tuy Kakao an und machten vor allem im 17. Jahrhundert durchaus exzeptionelle Gewinne. Land war im Übermass vorhanden und billig. Schwieriger war es schon, spezialisierte Sklaven für Pflege und Ernte des anspruchsvollen Kakaos zu finden; aber auch spezialisierte Vorarbeiter sowie Verwalter (mandadores, mayordomos) waren schwer zu bekommen. Der weitverbreitete Schmuggel sorgte dafür, dass auch ärmere Einwanderer des 17. Jahrhunderts, vor allem isleños von den kanarischen Inseln, sowie freigelassenen Sklaven oder Mestizen Kakaowirtschaft treiben konnten. Im 18. Jahrhundert begann die königliche Monopolkompanie der Guipuzcoana die Preise zu drücken und verfolgte den Schmuggel. Die Produktion weitete sich insgesamt aber aus, obwohl es nun öfter zu Rebellionen der Kakaohacendados kam. Die kleinen Kakaohacendados machten Gewinne vor allem im Schmuggel. Die großen Kakaohacendados, die Besitzer der großen Kakaohaciendas (grandes cacaos, mantuanos), begründeten ihre wirtschaftliche und soziale Macht im urbanen Zentrum der Kolonie nicht nur auf den Gewinnen des Kakaoexportes, sondern auch aus der Größe der Haciendas und aus der Anzahl der Sklaven – oft heirateten Söhne und Töchter dieser Familien, um nebeneinanderliegende Haciendas zu noch größeren Latifundien und Mayorazgos zusammenzulegen. Humboldt hat während einer Reise nach Valencia und Puerto Cabello im Februar/März 1800 eine eingehende Beschreibung der Kakaolandschaften hinterlassen.404 Humboldt beschrieb die Mantuanos, nicht nur die von Caracas, sondern auch von Cumaná, auch als eine „wahre Munizipalaristokratie“.405 10000 Fanegas Kakao Exporte brachten den venezolanischen Exporteuren bis um 1780/1800 rund 500000 Silberpesos pro Jahr ein. Venezuela blieb in Bezug auf seinen Kakaoexport immer mehr mit Humboldt, Vorabend ..., S. 254 (Nr. 169); Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 185-221; zur Kakaokultur vor allem S. 220f. 405 Humboldt, Vorabend …, S. 265. 404 Michael Zeuske/Venezuela Seite 153 13.05.2016 Mexiko als mit Spanien verbunden; aus mexiko kam Silber (Exporte 16211700406): México 357766 Fanegas407 82,18% Spanien 71595 Fanegas 16,43% Andere 5991 Fanegas 1,39% 435352 Fanegas 100,00% Total Trotz der Bemühungen der Monopolkompanie Compañía Guipuzcoana seit 1729, die Exporte nach Spanien zu steigern, fielen diese zwar relativ ab, aber es fielen auch die nach Spanien und der venezolanische Kakao wurde stärker im atlantischen und karibischen Raum (Kanaren, französische und britische Kolonien), vor allem aber auf der Schmuggelinsel Curaçao (in den ofiziellen Zahlen vorliegender Tabellen nicht ausgewiesen) nachgefragt und auch nach dort exportiert.408 Mexiko 462107 Fanegas Jährlicher Durchschnitt 15403 Fanegas Spanien 54415 Fanegas Jährlicher Durchschnitt 1813 Fanegas Kanaren 4721 Fanegas 5,6% Französische Kompanie 2327 Fanegas 5,3% Englische Kompanie 3433 Fanegas 2,2% Barlovento-Inseln 2577 Fanegas 2,0% 609580 Fanegas 100,00% Total 75% 8,9% Auch Zuckerrohr wurde schon in früher Zeit angebaut. Ebenso wie Weizen in den Anden und bei Barquisimeto war Zucker in Venezuela aber keine „Cacao“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. I, S. 565-568, hier 567. Eine Fanega (Volumen) entspricht hier dem Volumen der Ernte von einer Fanega (Fläche) Boden, gleich 55,5 Liter, siehe: „Pesos y medidas“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. III, S. 607611, hier S. 610. Als Flächenmaß entsprach die Fanega rund 6,5 ha oder 6,438,999 Quadratmetern. 408 Ebd. 406 407 Michael Zeuske/Venezuela Seite 154 13.05.2016 Exportprodukt, sondern für den inneren Verbrauch bestimmt und ging zum Teil in den Schmuggel (Zuckerrohranbau wurde zur Grundlage lokaler Rumproduktion).409 Der Hauptunterschied zwischen Kakao- und Zuckerwirtschaft bestand darin, dass der Kakao zwar eine komplizierte Pflege (auch des Standorts und der Bäume, diese trugen auch erst nach drei-vier Jahren) sowie viele Kenntnisse und Erfahrung bei Ernte der Kakaofrüchte und Verarbeitung der Bohnen verlangte, aber nicht einen solch hohen technischen und technologischen Aufwand wie die „Fabrik im Zuckerrohrfeld“ (Zuckermühle).410 In Venezuela gab es nur relativ wenige Zuckerhaciendas mit geringer technischer Ausstattung.411 Ein Paradebeispiel für die Entwicklung der Hacienda zu einem spezialisierten Agrarbetrieb mit Zuckerproduktion ist die Hacienda y Trapiche „Nuestra Señora de la Guía“ im Valle der Guatire (Barlovento) unter Leitung der Jesuiten von Caracas. Die Jesuiten hatten auch hier ein Pionierfunktion, ohne dass diese Hacienda y Trapiche der Zuckerproduktion jemals den Spezialisierungs- und Technisierungsgrad wie ein Ingenio de nueva planta auf Kuba erreichte, obwohl sich die Jesuiten sehr um Effizienz, Organisation und Technisierung von Agrarwirtschaft und Sklavereinach dem patrón tecnológico de ingenio (Antrieb der Mühle, eiserne Walzen und der gesamte Manufakturprozeß unter einem Dach – eben dem des eigentlichen Ingenio) bemühten.412 Im 16. Jahrhundert war zunächst aber neben Zucker der Tabak eines der Produkte gewesen, das die Dynamik des atlantischen Zeitalters (1440-1900) vorantrieb. Tabak war auch das erste große Exportprodukt Venezuelas (von Perlen und Sklaven abgesehen). Ähnlich wie bei Salz und Kakao nutzten die Spanier die Kenntnisse, Zuchterfolge und die Handelskultur der Indios – von 409 Rodríguez, Los paisajes geohistóricos cañeros en Venezuela, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1986; Rodríguez, Historia de la caña, Caracas: Alfadil Editores, 2005. 410 Tamaro, A New World Plantation Region in Colonial Venezuela …, passim. 411 Torres Sánchez, “El cultivo del azúcar”, in: Torres Sánchez, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 49-74. 412 Torres Sánchez, “La Hacienda y Trapiche „Nuestra Señora de la Guía“ del Valle der Guatire (1753-1772”, in: Ebd., S. 77-101; Torres Sánchez, “El punto de partida: de un patrón tecnológico de trapiche tradicional y uno mejorado”, in: Ebd., S. 133-150; Torres Sánchez, “Transformación productiva: un patrón tecnológico de ingenio”, in: Ebd., S. 151-170. Michael Zeuske/Venezuela Seite 155 13.05.2016 den Kanus und Lanchas des indianischen Transportsystems gar nicht zu reden. Tabak wurde in familiären Wirtschaften in der Nähe ländlicher Bohios auf gutbewässertem Boden, meist in der Nähe von Flüssen angebaut. Früher Exportschlager aus dem Innern Venezuelas war bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts Barinas-„Knaster“413 aus Guanare und Barinas an der Südseite der Kordillere von Barquisimeto. Die Tabakrollen in Körben wurden vor allem über Gibraltar und den Maracaibosee nach Maracaibo gebracht und dort auf Boote verladen, die die begehrte Ware über die Sandbarre zu den Schiffen brachten (oder gleich in der Karibik verteilten). Aus Maracaibo wurden um 1600 1000 arrobas (Zeichen: @, eine spanische Arroba waren damals rund 25 Libras, heute meist mit rund 11,5-14 kg gleichgesetzt414) Barinas-Tabak exportiert; über Caracas-La Guaira wurden 1606 bereits 15500 Libras Tabak exportiert. Der Barinas-Tabak, wie überhaupt der Tabak aus dem frühen Venezuela, stand in der Gunst der Raucher und Schnupfer höher als der frühe Tabak von Kuba (wo die Vueltabajo noch nicht produzierte). Allerdings förderte die Krone die TabakExportwirtschaft in Venezuela aus Furcht vor den Holländern nicht besonders intensiv. Tabak ist ein Schmuggelgut par excellence. Der venezolanische Tabak wurde, wie viele erfolgreiche Kolonialprodukte, zu einem Monopol erklärt (estanco del tabaco, 1779), in diesem Falle sogar zu einem Staatsmonopol (nicht zu einem Kompaniemonopol wie der Kakao).415 Kronfunktionäre bekamen das Recht, die Ernte aufzukaufen. Für das Recht, Tabak anzubauen, mussten Abgaben geleistet werden, wie auch für das Recht, die Überschüsse (über der vom Staat vorgegebenen Erntemenge) frei zu verkaufen. Die Einkünfte aus der Tabakproduktion (renta del tabaco) waren so wichtig, dass noch Bolívar bei seinem Versuch, die Staatsfinanzen neu zu ordnen, die Tabakeinküfte zur Grundlage der Staatseinkünfte zu machen.416 413 Vom spanischen Wort canasta, eine Art großer Korb, in dem die Tabakrollen transportiert wurden. „Pesos y medidas“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. III, S. 607-611. 415 Arcila Farías, Eduardo, Historia de un Monopolio. El Estanco del Tabaco en Venezuela 1779-1833, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1977. 416 La Hacienda Pública de Venezuela en 1828-1830. Misión de José Rafael Revenga como ministro de Hacienda, Caracas : 1935. 414 Michael Zeuske/Venezuela Seite 156 13.05.2016 Die Ernährung sowie der Konsum der frühen Siedler und ihrer Sklaven aus interner Subsistenzproduktion (Yuca, Bananen, Mais, Fleisch) und internem Handel (Tabak, Wein, Salz, Handwerksgüter) waren ziemlich gut; besser als vergleichbare Lebensweisen europäischer Bauern, Küstenbevölkerungen und armer Stadtbewohner. Wegen der starken Nachfrage nach blauer Farbe wurde seit 1770, meist auf kleineren Haciendas mit wenig Sklaven in den Gebieten zwischen Aragua, Valenciasee und Barquisimeto, auch die Farbpflanze Añil (Indigo; indigoferea tintorea) angebaut.417 Die städtischen Oligarchien formierte sich aus den Gründerfamilien der ersten Siedler, die als Conquistadoren die Stadtherrschaft im Cabildo monopolisierten und sich gegenseitig mercedes (Landbesitz in Form von Privilegien) zuschanzten. Diese Landgüter, haciendas genannt, waren die soziale und territoriale Grundlage ihrer Macht. Mit dem Erfolg des venezolanischen Criollo-Kakaos in der Kolonialmetropole Neu-Spanien wurden auf den Haciendas Kakaowirtschaften angelegt, auch Gärtchen oder Wäldchen für Sklaven, in denen sie auch einige Kakaobäume pflegten (arboledas). Die Haciendas bildeten nach einigen Generationen haciendas comuneras, gemeinsamen Landbesitz und soziale Grundlage für Eliten und Oligarchien, oder gar mayorazgos, unteilbare und unverkaufbare Familienerbschaften der Overschichtenfamilien. Der Landbesitz begründete zwar sozialen Status, die Besitzform des Quasi-Gemeineigentums von Oligarchiefamilien verhinderte aber oft eine professionelle Bewirtschaftung, da Haciendas eine Art kolonialer Grundherrschaft darstellten, formell der König das Obereigentum hatte und die Haciendas nicht, wie auf Kuba, aufgeteilt (separiert) wurden. Deshalb verpachteten viele Familien infomell an Sklaven oder ehemalige Sklaven und liessen sich in Arbeit oder Ernten (Kakao) bezahlen.418 Langue, “El añil en la Venezuela ilustrada. Una historia inconclusa”, in: Revista de Indias Vol. LVIII, Nr. 214 (enero-abril 1998), S. 637-653. 418 Arcaya, Carlos I., “Introducción”, in: Arcaya, Pedro M., Población de origen europeo de Coro en la época colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1972 (Fuentes para la historia colonial de Venezuela; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 114), S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXV. 417 Michael Zeuske/Venezuela Seite 157 13.05.2016 Das Problem von Schmuggel, Effizienz der Sklavenwirtschaft und Unmöglichkeit der Kontrolle ging aber weit tiefer. Bischof Mariano Martí, der die Tuy-Region 1784 besuchte, berichtet, dass nicht „der dritte Teil“ des angebauten und durch Sklaven geernteten Kakaos wirklich die Lager der Haciendas füllte419 – der Rest wurde geschmuggelt. Manchmal von den Sklaven selbst, meist aber von „armen“ Weißen oder sogar recht reputierlichen kreolischen Vecinos.420 Schmuggel gehört in Venezuela in gewisser Weise noch heute zum Volkssport. Plünderungen und Beutezüge, sozusagen eine karibische Wirtschaftsform, die eng mit Sklavenfang, Schmuggel, Piraterie, Korsarentum und temporärer Jagd auf wildes Vieh sowie der Herstellung von Häuten und Trockenfleisch (auf dem karibischen boucan, einer Art Grill, deshalb Boucanier) verbunden war, plagten das Land auch nach der Conquista noch bis weit in das 19. Jahrhundert. Städte und Häfen Venezuelas waren oft Opfer von Piraten- und Korsarenüberfällen. Ein typischer „karibischer“ Pirat war Bretone Jean David Nau (Les Sables de Olonne, 1630 – Isla Barú bei Cartagena, 1670), genannt El Olonés. Mit den adligen (oder später geadelten) „Korsaren der Königin“ Raleigh, Hawkins oder Drake hatten Männer wie El Olonés nichts zu tun. Nau war als engagé, als Dienstknecht in die Karibik gekommen. Als er seine drei Dienstjahre absolviert hatte, schloß er sich den Bukaniern von La Española an. Von der Insel Tortuga im Norden des heutigen Haiti aus betrieben die Bukaniern und Flibustier Seeraub auf kleinen Schiffen gegen spanische Siedlungen und Schiffe. Im Norden Kubas war es dem mutigen Nau gelungen, eine spanische Korvette mit 10 Kanonen zu kapern. Schon unter seinem nom de guerre „El Olonés“ schlossen sich Nau und seine Leute den Kaper-Kapitänen Michel Le Basque, Antoine Dupuys und Pedro El Picardo zusammen; sie überfuhren im 419 Martí, Mariano, Documentos relativos a su visita pastoral de la diócesis de Caracas, 1771-1784, 7 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1969, Bd. II, S. 609f.; siehe auch: Waldron, Kathy, “The Sinners and the Bishop in Colonial Venezuela: The Visita of Bishop Mariano Martí 1771-1784”, in: Lavrin, Asunción, Sexuality and Marriage in Colonial Latin America, Lincoln and London: University of Nebraska Press, 1989, S. 156-177. 420 Ferry, „Leon’s Rebellion“, in: Ferry, The colonial elite of early Caracas …, S. 139-176, hier S. 139. Michael Zeuske/Venezuela Seite 158 13.05.2016 August 1666 die Sandbarre des Maracaibosees und plünderten Maracaibo und San Antonio de Gibraltar. Die Beute war riesig: Silber, Tabak, Kakao, Häute und Schätze der Siedler. Die Korsaren kehrten zur Isla de la Vaca (Kuhinsel, heute Isle de la Vache, im Süden Haitis) zurück, wo sie sich über der Aufteilung der Beute und einen neuen Korsarenzug gegen Guatemala verstritten. Nau segelte allein zur Isla Barú (heute Cartagena in Kolumbien), wo er von Indianern angegriffen, besiegt und in einer Opferzeremonie wohl verspeist worden ist.421 Als Korsaren galten anfänglich Monopolbrecher, die sich nicht an die von den Kronen vergebene Handelsprivilegien hielten; in Venezuela, wie in anderen karibischen Territorien waren sie gesuchte Schmuggelpartner der lokalen Bevölkerung. Später waren Korsaren Kapitäne, die ein Korsarenpatent einer europäischen Krone hatten, mit dem sie Kaperkrieg führten. Venezuela gehört zu den Territorien, die bis weit in das 19. Jahrhundert immer wieder von Piraten, Korsaren und Flibustiern heimgesucht wurden – auch weil sie eben den weitverbreiteten Schmuggel, auch von illegal gefangenen Indios, Maultieren und den Schwarzhandel mit Negersklaven, ermöglichten.422 Die Krone mag Schmuggel nicht leiden: bourbonische Reformen (17501800) und imperiale Nation Reformen in Amerika und Venezuela 421 Exquemelin, A.O., Die amerikanischen Seeräuber. Ein Flibustierbuch aus dem XVII. Jahrhundert. Aus dem Holländischen übertragen, eingeleitet und herausgegeben von Hans Kauders, Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1936 (Erste deutsche Ausgabe: Die Americanische See=Raeuber/Entdeckt/in gegenwärtiger Beschreibung der groessesten/durch die Franzoesisch=und Englische Meer-Beuter/wider die Spanier in America/veruebten Rauberey und Grausamkeit: Vermittelst dreyfaeltiger Erzehlung/ Erstlich/ der Franzoesischen Ankunft in Hispaniola (oder S. Domingo) und selbiger Insel Beschaffenheit; Zweytens/ dieser Rauber Ankunft/Regeln/ Wandels/und verschiedener Raub-Haendel; Drittens/ der Stadt Panama Uber= und Untergangs/wie auch andere merkwuerdiger Faelle: Nebst einem kurzen Bericht / Von der Cron Spanien Macht und Reichthum in America / wie auch von allen vornehmsten Christlichen Plaetzen daselbst ; aufgesetzt / durch A.O. Esquemeling, Nuernberg / In Verlegung Christoph Riegels / 1679 [1684]). 422 Courier, Marcos, Piratas en Venezuela, Caracas: El Diario de Caracas, 1979; Exquemelin, Alexander Olivier, Piratas de la América, Barcelona: Los Libros de Plon, 1982; Uslar Pietri, Morgan y los piratas …, passim; Georget, Henry; Rivero, Eduardo, Herejes en el Paraíso: corsarios y navegantes ingleses en las costas de Venezuela durante la segunda mitad del siglo XVI, Caracas: Editorial Arte, 1993; Lucena Salmoral, Manuel, Piratas, bucaneros, filibusteros y corsarios en América: perros, mendigos y otros malditos del mar, Caracas: Grijalbo, 1994. Michael Zeuske/Venezuela Seite 159 13.05.2016 Schon im 17. Jahrhundert, aber vor allem im 18. Jahrhundert, entstand aus den lose verbundenen Städten der Provinzen Barinas, Cumaná und Caracas so etwas wie ein Netzwerk unter der de-facto-Führung der Städte Caracas. Mérida und Maracaibo in der Provinz Mérida de Maracaibo befanden sich, ebenso wie Guayana, am Rande dieses auf Caracas fokussierten kolonialen Raumes, der vor allem von außen mehr und mehr als Ganzes Venezuela genannt wurde. Die Eliten von Caracas reklamierten schon seit 1670 den ersten Platz in diesem Reigen der Kolonialstädte. Caracas war 1680 die größte Siedlung des Landes. Städte im Bistum Caracas waren auch Barquisimeto und Guanare, größere städtische Zentren Trujillo, Valencia, San Carlos und La Victoria. Aber keines dieser städtischen Zentren konnte in Bezug auf Funktionen und Bevölkerung mit Caracas konkurrieren. Caracas war letztlich immer zweimal größer als das nächstfolgende Subzentrum.423 In Caracas sammelten sich Eliten und Institutionen des Imperiums, der Kirche und des transatlantischen Handels, hier lebten die mächstigsten Familien der „großen Kakaos“ und mantuanos, einer städtischen Elite, die auf ihre lokale Macht stolz war. Die ursprünglichen und ersten Konstrukteure, wenn man so will, der neuen Netzwerke und Räume um Caracas herum waren zunächst Missionare, die im 18. Jahrhundert in ihren Berichten, Büchern, Karten, Lebens- und Sprachstudien424 so etwa wie die Umrisse der Karte des Venezuela außerhalb der Städte zeichneten, mit der Orinoko-Flusswelt als Skelett, die noch heute in Atlanten zu sehen sind (nach Osten und Süden - Essequibo, Llanos und Guayana, im Süden und unter Einschluss der Halbinsel Guajira war dieses Venezuela aber größer als heute).425 Seit dem frühen 18. Jahrhundert kamen königliche und vizekönigliche Beamte Lombardi, “Hamlets, Villages, Towns, and Cities”, in: Lombardi, People and Places in Colonial Venezuela. Maps and Figures by Lombardi, Cathryn L., Bloomington & London: Indiana University Press, 1976, S. 47-66, hier S. 62. 424 “Lingüística”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4 Bde., Caracas: Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 962-971. 425 Lombardi, Venezuela ..., S. 84. 423 Michael Zeuske/Venezuela Seite 160 13.05.2016 dazu, die den Schmuggel bekämpften, das Land erkunden und Steuern einziehen sollten.426 Internationale Allianzen Spaniens und Expeditionen zur Klärung von Grenzfragen zwischen Spanien und Portugal im Amazonasgebiet und in Guayana (José de Iturriaga, José Solano) ermöglichten es nichtspanischen Wissenschaftlern – wie dem berühmten Schweden und Linné-Schüler Peter Loefling (Gastrikelano, 31. Januar 1729 – San Antonio del Caroní, 22. Februar 1756) – botanische Forschungen im Lande zu betreiben, unterstützt vom spanischen Franziskaner Antonio Caulín (Bujalance (Spa.), 17. April 1719 – Bujalance, 19. Oktober 1802).427 Die Expedition des überraschend gestorbenen Loefling stellte den ersten Versuch der spanischen Krone dar, lokale Inventare der Ressourcen des gigantischen amerikanischen Imperiums in den Konzepten Linnés zu machen.428 Im Vertrag von San Ildefonso (1777) wurden als Grenzen zwischen portugiesischen und spanischen Gebieten der Río Yapura (oder Caquetá), ein nordwestlicher Zufluss des Amazonas, bis zum Río Negro fest gelegt. Das bedeutet, dass das ganze Einzugsgebiet des Río Blanco zu Venezuela gehörte, und damit ein Direktzugang zur Amazonía; erst zwischen 1859 und 1973 anerkannte Venezuela schrittweise, das zwar die Einzugsgebiete des Essequibo, Cuyuní und Caroní zu seinem Staatsterritorium gehörten, nicht aber das Einzugsgebiet (cuenca) des Rio Branco und Roraima.429 Briceño Perozo, “El Informe de Olavarriaga”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 135-152. 427 Caulín, Historia de la Nueva Andalucía ..., passim; Ryden, Stig, Pedro Loefling en Venezuela (1754-1756), Madrid: Ínsula, 1957; Pelayo, Francisco; Puig Samper, Miguel José, La obra científica de Loefling en Venezuela, Caracas: Lagoven, 1992; Puig Samper, “Malaspina y las expediciones científicas españolas en la Ilustración”, in: Opatrný, Josef, La expedición de Alejandro Malaspina y Tadeo Haenke, Praga: Universidad Carolina de Praga, Editorial Karolinum, 2005 (=Ibero-Americana Pragensia, Supplementum 14/2005), S. 13-40. 428 Puig-Samper Mulero; Rebok, Sandra, „Pehr Löfling en España y su viaje al Orinoco“, in: Puig-Samper Mulero; Rebok, Sentir y medir. Alexander von Humboldt en España, Aranjuez (Madrid): DOCE CALLES, 2007 (Theatrum Naturae. Colección de Historia Natural), S. 24-25. 429 Ireland, Gordon, „Brazil-Venezuela. Amazonas“, in: Ireland, Boundaries, Possessions, and Conflicts in South America, Cambridge: Harvard University Press, 1938, S. 138-144; Hemming, John, Amazon Frontier. The Defeat of the Brazilian Indians, London: Papermac, 1995; Hemming, “How Brazil acquired Roraima”, in: Hispanic American Historical Review 70 (1990), S. 295-325; Mendible Zurita, Alejandro, Venezuela y sus fronteras con el Brasil : desde el tratado de Tordesillas hasta la incursión de los garimpeiros, Caracas : Centro Abreu e Lima de Estudios Brasileños, 1993; Mendible Zurita, La familia Río Branco y la fijación de las fronteras entre Venezuela y 426 Michael Zeuske/Venezuela Seite 161 13.05.2016 Innere Handels- und Marktstrukturen brachten an den Küsten und in den Kordilleren des Nordens und Westens aber auch so etwas wie das Skelett eines protonationalen Infrastruktur-Netzwerkes hervor (Wege, Häfen, Brücken sowie Fluss- und Küstenverbindungen), wie der camino real zwischen Caracas und La Guaira und die Maultierwege sowie Viehtriften zwischen Caracas und den wichtigsten Plantagenregionen (Valles de Aragua, Villa de Cura, Valles del Tuy, Valencia, Maracay) und Viehgebieten (Llanos de Barinas, Llanos de Calabozo)430, mit Nord-Südstichverbindungen in die Llanos und zum Apure und zum Orinoko (San Fernando de Apure).431 Mehrere aktive und robuste innere Handelsysteme um und zwischen den größeren Städte, wie Maracaibo432, von den Andenstädten433 nach Barinas über Gibraltar (Maracaibo) zu den Llanos434, Caracas und Cumaná435 waren entstanden, mit Viehtrieb sowie Nahrungsmittel-, Salz-, Kakao-, Fleisch- und Fischtransporten, Wasser- und Energieversorgung. Schiffstransport überwog, aber auch Maultiertransporte nahmen zu. Guayana lebte von Schiffen, Kanus und Cuiaras. Alltägliche Nahrungsmittel (Mais, Bananen, Bohnen, Weizen, Tasajo und Käse, zum Teil auch Yuca) sowie Rohstoffe für Handwerk (Leder, Hüte, Stiefel, Gürtel, grobe Stoffe, Eisenwaren, Holz, Baumaterialien, Kalk) entstanden in Subsistenzproduktion rings um Städte, Siedlungen und Dörfer. In Caracas und anderen Städten konzentrierte sich auch die Gewerbe und Handwerke (oficios) der Tischler, Töpfer, Brasil : dos momentos definitorios en las relaciones entre Venezuela y Brasil : El Tratado de Límites de 1859 y la gestión del barón de Río Branco (1902-1912), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1995 (Fuentes para la Historia Republicana de Venezuela; 64); Fonseca Adelha, Regina Maria A., “Conquista e ocupação de Amazônia: a fronteira Norte do Brasil”, in: Estudos Avançados 16 (45) (2002), S. 63-80. 430 Marón, Agustín, “Relación. Histórico-Geográfica de la Provincia de Venezuela. 1775”, in: Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 411-474; Arcila Farías, Historia de la ingeniería en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Colegio de Ingenieros de Venezuela, 1961; Valery, Rafael, Los caminos de Venezuela, Caracas: lagoven, 1978; Paredes Huggins, Nelson; Vialidad y comercio en el occidente venezolano: principios del siglo XX, Caracas: Fondo Editorial Tropykos, 1984. 431 „Viaje de Caracas a La Angostura del Orinoco” (1764), in: Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 393-399. 432 “La Real Hacienda de Maracaibo en 1754”, in: Ebd., S. 175-227; Soublette, Antonio, “Noticias sobre la agricultura, comercio y precios corrientes en Maracaibo para el año de 1796”, in: Ebd., S. 511-530. 433 „Informe de don José Sánchez Cosar, referente a la Villa de San Cristóbal. Mayo 16 de 1782”, in: Ebd., S. 483487. 434 Oviedo, Basilio Vicente de, “Pensamientos y noticias para utilidad de Curas del Nuevo Reino de Granada …”, in: Ebd., S. 363-391. 435 „Informe de 1776 relativo a la carta y mapa que en 1773 remitió a España el Gobernador Pedro José de Urrutia sobre las Provincias de Nueva Andalucía y Barcelona”, in : Ebd., S. 475-481. Michael Zeuske/Venezuela Seite 162 13.05.2016 Stellmacher, Zimmerleute, Schiffsbauer, Möbelmacher, Fischer, Segelmacher, Lotsen, Mayorales, Gastwirte (pulperos), Hotelbetreiber (posadas), Kleinkaufleute, Kerzenmacher, Weber und Flechter, Drogisten, Schnitzer, Schneider, Schuster, Bäcker, Friseure, Bauleute, Transporteure, Schmiede, Kunstschmiede, Silber- und Goldschmiede, Ledermacher, Zahnärzte, Bader, Barbiere, Chirurgen und Feldscher sowie der Hebammen, Modistinnen und Putzmacherinnen. Oft wurden Handwerke auch von ärmeren Spaniern und Isleños sowie ihren mestizischen oder farbigen Nachkommen betrieben; nur die reicheren Handwerke der Silber- und Goldschmiede oder der Schreiber und Notare wurden von Kreolen kontrolliert. Die innere Struktur der Handwerke und Gewerbe, die sich in Meister, Gesellen und Lehrlinge untergliederte, war durch munizipale Ordenanzas geregelt. Die Städte hatten einen munizipalen Baumeister (alarife).436 In viele Handwerken, etwa dem der Hafenarbeiter und – transporteure, Bauunternehmer, Begräbnisanstaltenbesitzer und Sargmachereien oder in allen Transportunternehmen (Ruderer, Maultiertreiber) wurden Tagelöhner, Sklaven, Indios und Lehrlinge beschäftigt. Grundsätzlich galt, dass kein Angehöriger der Elite, sofern er sich zur Hidalguía zählte, seinen Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit in profanen Handwerken verdienen durfte. Arbeit war schwarz oder farbig – je schwerer und schlechter bezahlt, desto dunkler; die schwersten Arbeiten machten schwarze Sklaven. Die armen „Weißen“, meist spät eingewanderte Isleños, waren zwar privilegiert durch ihre Hautfarbe, litten aber an Arbeitslosigkeit und Mangel an Boden, wie Berichte schon am Beginn des 18. Jahrhunderts hervorhoben.437 Die einzelnen Gewerbe bildeten Gremien und cofradías, Bruderschaften, die einem bestimmten Heiligen gewidmet waren. Einige Handwerksprodukte, wie feinere Stoffe, Leinenprodukte, katholische Heiligenfiguren, Glaswaren, Iribarren, Mariana, “Historiar oficios. El oficio de alarife en la provincia de Caracas”, in: Rodríguez (comp.), Visiones del oficio. Historiadores venezolanos en el siglo XXI, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 2000, S. 195-210. 437 Olavarriaga, „Isleños sin trabajo“, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 213-215. 436 Michael Zeuske/Venezuela Seite 163 13.05.2016 Waffen, eine Reihe von Nahrungsmitteln, Marmor und Grabsteine, Kerzen, Seife, Duftwässer (wie Eau de Cologne), feine Weine und Liköre, Branntweine, Musikinstrumente, optische Instrumente (Brillen), Quincaillerie (Kleineisenteile wie Messer, Macheten, Scheren, Wasserhähne), Tafelgeschirre, Uhren, Töpfe, Porzellane und Hüte kamen aus anderen kolonialspanischen Provinzen (etwa aus Neu-Spanien) oder aus Spanien und Europa. In den Küstenstädten kamen größere Mengen europäischer Manufakturwaren oder billige Fälschungen europäischer oder chinesischer Waren (pacotille) als Schmuggelgut über Saint Thomas438, Curaçao439, die französischen Antillen, Jamaika oder Trinidad ins Land. Gerade die Konzentration dieser Handwerke und die zunehmende Vernetzung mit anderen Zentren machte Caracas zu einem wirklichen sozialen Anziehungspunkt im Lande. Caracas wurde nicht nur zum Zentrum der Provinz Venezuela und anderer Provinzen, sondern die Stadt kontrollierte mehr und mehr die meisten imperialen Ressourcen, Bildung und Religion; in der Entwicklung von Caracas fokussierte sich auch in gewisser Weise die Geschichte des Landes.440 In den Städten entstand, zusammen mit den freien Berufen, eine wirklich amerikanische Mittelklasse aus gesuchten Spezialisten. Nach den gängigen Normen der Kastengesellschaft waren die meisten Handwerker Pardos. Ein potentieller Teil dieser „Mittelklasse“ war im Dienstleistungsgewerbe allerdings versklavt, was in gewissem Sinne auch für Tagelöhner und Lehrlinge galt.441 Viele der übergreifenden Infrastrukturen liefen je länger, desto deutlicher über die Zentralregion des Landes zwischen Caracas, Valencia und La Guaira. Vogt, Annette Christine, „Die Warenpalette im Karibikhandel des 19. Jahrhunderts“, in: Vogt, Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels im 19. Jahrhundert. Die Kaufmannsreederei Wappäus im internationalen Handel Venezuelas und der dänischen sowie niederländischen Antillen, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 2003 (Beiträge zur Unternehmensgeschichte, ed. Pohl, Hans, Bd. 17), S. 83-110, hier S. 105f. 439 Aizpurua, “Coro y Curazao en el siglo XVIII”, in: Tierra Firme 14 (1986), S. 229-240. 440 Waldron, Kathleen, A Social History of a Primate City. The Case of Caracas, 1750-1810, Ann Arbor: Xerox University Microfilms, 1977. 441 Duarte, Carlos F., Muebles Venezolanos, siglos XVI, XVII, XVIII, Caracas: Grupo Editor 4, 1967; Duarte, Materiales para la Historia de las Artes Decorativas en Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1971 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 104); Duarte, Historia del traje durante la época colonial venezolana, Caracas: Fundación Pampero, 1984; Pérez Vila, Manuel, El artesanado: la formación de una clase media propiamente americana, 1500-1800, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986; Ramírez Méndez, Luis, La artesanía colonial de Mérida, 1623-1678, Mérida: Universidad de Los Andes, 1980. 438 Michael Zeuske/Venezuela Seite 164 13.05.2016 In Caracas selbst sammelten sich immer mehr zentrale Institutionen an. Der von wenigen Elitefamilien kontrollierte Kakaohandel und der Schiffstransport des Kakaos nach Mexiko brachte das nötige Silber in die ewig zahlungsmittelunterversorgten internen Produktions- und Handelssysteme; viel Silber floss sofort wieder über die Häfen in den Schmuggel mit ausländischen Manufaktur- und Luxuswaren ab oder ging nach Spanien. 1751 wurde eine Postverbindung zwischen Maracaibo und Bogotá etabliert; seit 1761 existierte auch eine Postverbindung zwischen Caracas und Maracaibo (19 Tage), die chasquis (Läufer) kamen auch durch Coro und Puerto Cabello; von Mérida auf der Strecke Maracaibo-Bogotá ging eine Linie nach Barinas ab und die meist in Cumaná aus Europa oder von karibischen Inseln eingehende Post wurden ebenfalls von Läufern über Land (wegen der Piraten) nach Caracas transportiert. Als Gründungsdatum der Post in Venezuela gilt ein Dekret des Generalkapitäns Pedro Carbonell vom 6. Oktober 1795 – angesichts der Aufstände und Unruhen in der Karibik und der Angst vor fremden Anlandungen an venezolanischen Küsten wurde die regelmäßige und schnelle Informationsübermittlung immer wichtiger.442 Unter diesen Bedingungen vernetzten sich auch die Eliten des Landes immer stärker, vor allem seitdem in Caracas 1725 das Seminario de Caracas in die Real y Pontífica Universidad de Caracas umgewandelt worden war – kreolische Rechtsanwälte und Kleriker verbrachten seitdem ihr Studiums sowie einen Teil ihrer Zeit in der mittlerweile größten Stadt des Landes.443 Und schließlich sorgten die imperialen Eliten und die vom Mutterland übertragenen Institutionen für stärkere innere Vernetzungen der Gebiete an der atlantischen Küstenfassade Südamerikas. Daran hatte nicht nur das Verteidigungs- und Herrschaftsinteresse einen hohen Anteil, sondern auch die Passion des 18. 442 Vélez Salas, Francisco, Orígenes postales de Venezuela, Caracas: Imprenta Nacional, ²1949; Herrera, Bernardino, “El correo”, in: Herrera, La expansión telegráfica en Venezuela 1856-1936, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 2001, S. 55-63. 443 Cuenca, Humberto, La universidad colonial, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1967; Leal, Ildefonso, Historia de la Universidad Central de Venezuela, 1721-1981, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1981. Michael Zeuske/Venezuela Seite 165 13.05.2016 Jahrhunderts für nützliches und nutzbares Wissen. Eine Reihe von Expeditionen kam ins Land, auch Reisende, wie François Depons (1751-1812), Alexander von Humboldt (1769-1859) und Aimée Bonpland. Ganz im Sinne der Zeit begab sich der Bischof von Caracas, Mariano Martí (1791-1792) zwischen 1771 und 1784 mit dem ganzen Enthusiasmus der Aufklärung auf Inspektionsreisen durch die riesige Kirchenprovinz Caracas. Der energische Bischof besuchte jeden Ort und erstellte einen Zensus; die informationsgesättigte Darstellung seiner Reisen gibt Auskunft über alle Details des Alltagslebens – sogar über die Sünden und Verbrechen.444 Das spanische Reich litt seit 1600 an einem Gebrechen aller Imperien, der Überdehnung. Wie alle großen Reiche war auch das spanische Imperium in Europa, in Amerika und sogar Asien (Philippinen) auf Information und Kontrolle angewiesen und hatte dafür eine imperiale Elite sowie eine Dienstanweisung, die Recopilación de las Leyes de Las Indias (1681) geschaffen. Für das 16. und notdürftig auch für das 17. Jahrhundert erfüllten imperiale Eliten, Anweisungen und Gesetze im Namen des Königs ihre Funktionen – zumal es langsame, aber recht wirksame Kontrollmechanismen in diesem Apparat gab (unter anderem die Inquisition). Das 18. Jahrhundert mit seinem dynamischen sozialen und wirtschaftlichen Wandel im Nordatlantik brachte für Amerika Verwicklungen in eine ganze Kette internationaler Fast-Weltkriege in monarchischer Form (nur die wichtigsten: Spanischer Erbfolgekrieg 1700-1713; Österreichische Erbfolgekriege 1739-1748, auch als „Asiento-Krieg“ bekannt; Siebenjähriger Krieg 1756-1763; Krieg um die Revolution der britischen Kolonien in Nordamerika 1779-1783; Revolutions- und Napoleonische Kriege 1792-1815). Die Kriege enthüllten deutlich die Ineffizienz des imperialen Regierungs-, Kontroll- und Informationssystem sowie der unelastischen Schutzmechanismen Waldron, “The Sinners and the Bishop in Colonial Venezuela: The Visita of Bishop Mariano Martí 1771-1784”, in: Lavrin, Asunción, Sexuality and Marriage in Colonial Latin America, Lincoln/London, 1989, S. 156-177; Rodríguez, Babilonia de pecados -- : norma y transgresión en Venezuela, siglo XVIII, Caracas, Venezuela : Alfadil Ediciones, 1998 (Colección Trópicos ; 60). 444 Michael Zeuske/Venezuela Seite 166 13.05.2016 mit ihrer personalistischen Fixierung auf den fernen König. Der Zwang zu inneren Reformen wegen äußerer Konflikte stieg an, die traditionellen Mühlen der imperialen Staatsmaschine mit ihren gigantischen Schriftverkehr und ihrer bürokratischen, rituellen Steifheit waren zu langsam geworden (auch in ihren durchaus vorhandenen Fähigkeiten zur Selbstüberprüfung und Korrektur). Nach dem Chaos des Spanischen Erbfolgekrieges 1700-1713 entstand nach und nach eine moderne Elite im spanischen Imperium. Während des gesamten 18. Jahrhunderts für das spanische Imperium aber vor allem Kriege und Reformen wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden.445 Die wichtigsten Reformer waren Militärs – was dem Ganzen einen fatalen Zug übertriebenen Zentralismus gab. Zunächst kam es nach dem Spanischen Erbfolgekrieg zum Vollzug des Dynastiewechsels auf dem Thron in Madrid (zugleich Symbol für eine Dynamisierung, die in Spanien schon 1670 begonnen hatte) – von Habsburgern zu Bourbonen. Grosso modo gesagt, ging es bei den seit 1717 deutlich sichtbaren zentralistischen Reformtendenzen der Bourbonen um eine absolutistische Modernisierung des Imperiums, verbunden mit einer „zweiten Conquista“ bürokratischen und wirtschaftlichen Charakters, eine Art gesteuerter „Revolution von oben“, vielleicht sogar um eine „wirtschaftliche Reconquista“ (Wiedereroberung) Amerikas. Gerade in der Karibik, auf den im Vergleich zu den riesigen Flächenkolonien Spaniens kleinen Inseln Jamaika und SaintDomingue zeigte sich, was dezentraler Wirtschaftsliberalismus und Sklaverei für Reichtum schaffen konnten. Jamaika und Saint-Domingue versorgten die halbe Welt mit Zucker und Kaffee. Spanien bedurfte einer intellektuellen und institutionellen Neubegründung. Das Imperium wurde immer öfter als Ort der “spanischen Nation zu beiden Seiten des Atlantiks“ bezeichnet. Allerdings war Amerika in Cayuela Fernández, José ; Pozuelo Reina, Ángel, „Un necesario prefacio histórico“, in: Cayuela Fernández; Pozuelo Reina, Trafalgar. Hombres y naves entre dos épocas, Barcelona : Editorial Ariel, 2004, S. 15-43 (darunter Rivalität zwischen Spanien, Frankreich und Großbritannien (ab 1708) auf dem Meer und um Amerika, Konflikte des 18. Jahrhunderts, Familienpakt, Borbonen, der König „der zwei mal regierte“ (Philipp V.) u.v.a.m. 445 Michael Zeuske/Venezuela Seite 167 13.05.2016 der von den Reformeliten angestrebten gemeinsamen nationalen Monarchie längst in vielen Belangen wichtiger geworden als das so genannte Mutterland. Der Metropole ging es deshalb vor allem um eine höhere Beteiligung Spaniens und der spanischen Großhändler am atlantischen Handel, das heißt, um die Zurückdrängung des kreolisch-englisch-französisch-dänisch-niederländischen Schmuggelhandels bzw. des Fremdhandels überhaupt. Die englischen Privilegien aus dem Erbfolgekrieg waren den Bourbonen beiderseits der Pyrenäen ein Dorn im Auge. Die Reformen sollten die Aufbringung und direkte Abschöpfung höherer Steuern und Zölle sowie Monopolgewinne (Tabak, Kakao) in Amerika und ihre Abführung nach Spanien ermöglichen, mindestens aber ihre Verwendung für die Verteidigung Amerikas durch Festungen, in Amerika unterhaltene Truppen und Milizen, das heißt, wir haben hier eine Variante des empire on the cheap.446 Dafür bedurfte es neuer und effizienter Institutionen. Schließlich ging es auch um die Zurückdrängung des politischen Einflusses der Kreolen im lokalen Bereich und um den Versuch, den kreolischen Oligarchien einen höheren Anteil an den imperialen Kosten aufzubürden, was in gewisser Weise konträre Ziele waren. Mit den in Caracas 1766 von Generalkapitän und Gouverneur gegründeten milicias disciplinadas (batallones de blancos, pardos und morenos) bekamen die Kreolen mehr Einfluss. Die kreolischen Eliten Venezuelas, vor allem die von Caracas, Valencia, Cumaná und Maracaibo hielten sich längst für die besseren Spanier als die europäischen Spanier selbst – ihr ganzes Denken war hispanistisch, obwohl die Provinzen Venezuelas voll von Indios und Sklaven aus Afrika sowie ihren Nachkommen war; einige davon auch Frucht der illegitimen Verbindungen mit den kreolischen Eliten selbst - von der Masse der 446 Suárez, Santiago Gerardo, Las milicias. Instituciones militares hispanoamericanas, Caracas, Academia Nacional de la Historia, 1984; Kuethe, Allan J., “Las milicias disciplinadas en América”, in: Kuethe; Marchena Fernández, Juan (eds.), Soldados del Rey. El ejército borbónico en América colonial en vísperas de la Independencia, Castelló de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I, 2005, S. 101-126. Zu den Risiken der Bewaffnung von Teilen der Kolonialbevölkerung (auch ehemaligen Sklaven) aus spanischer Sicht, siehe auch: Kuethe, “Carlos III, absolutismo ilustrado e imperio americano”, in: Ebd., S. 17-30. Michael Zeuske/Venezuela Seite 168 13.05.2016 Ortsbezeichnungen des Landes ganz abgesehen, die waren und sind alle indianisch. Was waren die allgemeinen Folgen dieser intendierten Ziele? Die Utopie der Reformer war ein modernes „nationales“ Imperium, eine neue Monarchie der „Spanien zu beiden Ufern des Atlantiks“. Allerdings bergen vom Zentrum ausgehende Reformen immer das Risiko, dass lokale Eliten, die alter Privilegien verlustig gehen oder das auch nur fürchten, sich zur Wehr setzen und ihre intime Kenntnis von Herrschaft, Macht und Klientelbeziehungen ausnutzen, um selbst die Herrschaft zu erringen. In diesem Sinne bargen das erste (höhere Beteiligung Spaniens am Atlantikhandel) und vierte Ziel (Zurückdrängung der lokalen Eliten aus der höheren Kolonialadministration) überall dort, wo es nicht gelang, die lokalen kreolischen Oligarchien zur aktiven Partizipation zu bewegen, die Möglichkeit politisch ausgetragener Interessenkonflikte zwischen Oligarchien und einzelnen Vertretern der spanisch dominierten oberen Kolonialverwaltung oder des Großhandels (Monopole) oder gar zwischen regionalen Oligarchien und Metropole generell. Letzteres vor allem, wenn es gelang, eine andere territoriale Grundlage für das politische Modell der „Nation“ zu konstruieren (etwa eine Provinz oder irgend ein anderes Territorium) und die Souveränitätskonflikte zwischen regionalen Oberschichten und metropolitaner Elite „national“ (was in diesem Sinne bedeutete, sich als „bessere“ Spanier zu deklarieren und EuropaSpanier als „Ausländer“ zu stigmatisieren und damit die Gewalt gegen sie zu legitimieren) aufzuladen. Aufklärungsschriften, Literatur, kreolische Mentalität, politische Rhetorik, neue Staatsmodelle, Ideen und Publizistik der USARevolution und der französischen Revolution boten zur positiven Konstruktion einer „nationalen“ Wir-Gemeinschaft vielerlei Mittel und Instrumente. Bei genauerem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass diese „national-hispanistischen“ Diskurse geführt wurden von Angehörigen der Eliten der einzelnen venezolanischen Städte, und dass sie in auch ein starkes konservatives Element Michael Zeuske/Venezuela Seite 169 13.05.2016 hatten – nämlich die Bewahrung der alten Autonomie der Cabildos gegen die zentralistischen Zumutungen, die aus Spanien gekommen waren und die noch kommen konnten.447 Was Wunder, daß die spanischen Behörden zunächst eine Nachrichtenabschottungspolitik zu treiben suchten und gerade die Engländer etwa von Jamaica oder Barbados oder (seit 1797) von Trinidad aus Uhren mit der Aufschrift „Freiheit für Amerika“ oder den Text des Contrat Social von Rousseau in den spanischen Kolonialbereich einschmuggelten? Diese Interessenkonflikte bargen auch immer die Gefahr der Verbindung von Kreolen zu inneren und äußeren Gegenmächten in sich. Die seit der zweiten Jahrhunderthälfte neugeschaffenen - und durch kreolische Pflanzer-Offiziere dominierten - Milizen stellten dabei immer die potentielle Möglichkeit dar, als Instrumente für die Austragung der Interessenkonflikte genutzt zu werden. Der Widerstand gegen die Maßnahmen der Zentrale mußte auch die Aufnahme oppositioneller Ideen befördern, Verschwörungen waren zu befürchten. Nicht von ungefähr ist die Kolonialgeschichte voll von Beispielen über hochrangige Kreolen als Drahtzieher von Tumulten, Straßenaufläufen (riots) sowie regelrechten Aufständen des Stadtpöbels gegen Reformmaßnahmen. Gerade die Kreolen der Provinzstädte an entlegenen Küsten oder im Innern Guayanas ließen sich ihre Schmuggelgeschäfte nicht gern verderben, zumal Spanien nicht in der Lage oder willens war - und schon gar nicht zu Preisen wie die Holländer oder Engländer - ihnen die gesuchten Waren zu beschaffen. Die Opposition konnte auch bis zur Verbindungsaufnahme mit Engländern oder Holländern bzw. Franzosen in der Karibik selbst führen. Solche geflohenen Kreolen waren extrem nützlich bei der Planung von Invasionen dieser Mächte gegen das spanische Imperium. Das Paradebeispiel ist Francisco de Miranda, der nicht umsonst der Spionage für die Briten in Havanna angeklagt war, wo er eine zeitlang als Offizier gedient hatte (in Wirklichkeit hat er bis Hébrard, Véronique, „Le Venezuela au siècle des réformes (1739-1808)“, in : Hébrard, Le Venezuela indépendant. Une nation par le discours – 1808-1830. Préface de François-Xavier Guerra, Paris, Montréal : L’Harmattan, 1996, S. 17-34. 447 Michael Zeuske/Venezuela Seite 170 13.05.2016 1784 keine Spionage für Engländer, sondern für Spanier in Jamaika betrieben).448 Das zweite Ziel (Verdrängung des ausländischen Schmuggels) wurde einerseits zum Grund kreolischer Unzufriedenheit überall dort, wo der Schmuggel weit verbreitet war, andererseits - und das stellte zunächst die deutlichere Hauptgefahr für das imperiale Spanien dar - wurde es zum Grund für äußere Kolonialkriege und Großmächtekonflikte. Die „protestantischen Seemächte“ England und Niederlande ließen sich nicht so einfach verdrängen. Die Geschichte besonders der Karibik ab 1739-1748 (guerra del asiento = Asiento-Krieg; in England auch: War of Capt’n Jenkins’ Ear) bis 1825 (Ende der Unabhängigkeitskämpfe) zeigt neben den offiziellen Kriegen eine ununterbrochene Kette von Konflikten, Rebellionen, Revolutionen, Vertreibungen und Kleinkriegen (Korsaren, Piraten). In diesem Zusammenhang stellte die kreolische Parole nach „Freihandel“ eine eminent politische Forderung dar. Das dritte Ziel (höhere Steuereinnahmen des Staates) führte nach dem verstärkten Ausbau des Steuereinziehungssystems der Territorialverwaltungen zur Belastung der kleineren Binnenhändler und freier Bauern bzw. von ehemaligen Sklaven, die sich zu Pächtern, Kneipenbesitzern (pulperos) oder kleinen Transportunternehmern (arrieros; Besitzer von Lanchas, Kanus und Bongos) emporgearbeitet hatten - also vor allem der Unterschichten. Oftmals lag das Problem ganz einfach darin, daß kein oder nicht genügend Bargeld vorhanden war und lokale Wirtschaften oft mit verschiedenen Typen von Ersatzgeld oder Tausch Ware gegen Ware beziehungensweise Sklavengegen Waren operierten. Grundsätzlich aber gilt, dass es in Venezuela wegen der massiven Kakaoexporte nach Mexiko immer ausreichend mexikanisches Silber 448 Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas. Eine Biographie, Münster/Hamburg: LIT Verlag, 1995 (Hamburger Ibero-Amerika Studien, 5); Hernández González, Manuel, La ruptura de Miranda …. Michael Zeuske/Venezuela Seite 171 13.05.2016 gab, meist in Form einer inoffiziellen Münze ohne fixierten Wert, genannt macuquina.449 Die Venezolaner wehrten sich gegen höhere Steuern. In direkter Folge kam es zu Rebellionen und Aufständen antifiskalischen Charakters, die sich sehr schnell politisierten. Die von Spaniern kontrollierten Monopolhandelsgesellschaften verprellten auch viele Kreolen, wie etwa im Falle des Kakaos von Venezuela, wo einige ihrer Vertreter zwar an den Gewinnen der Guipuzcoana partizipierten, aber die Masse der kleineren und mittleren Kakaoanbauer durch die niedrigen Aufkaufpreise ausgeschlossen blieb und durch die Verfolgung des Schmuggels belästigt wurde. Besonders prekär war das Verhältnis zu Großbritannien. Unter dem Aspekt innere Reformziele-äußere Kriege kann das Verhältnis zwischen Großbritannien und Spanien im 18. Jahrhundert als das von Aktion und Reaktion beschrieben werden. Das umso mehr, als eine der Grundstrategien der thalassokratischen Briten darin bestand, immer die neuralgischen Schnittpunkte, die die Beherrschung von Seeräumen und Zugängen zu Imperien sicherten, zu erobern. Für Venezuela bedeutete diese Strategie vor allem – wie sollten die wenig besiedelten Insel vor den Küsten (wie Margarita und Trinidad) gegen Angriffe gesichert werden? Spanien verfügte über katastrophalen Erfahrungen aus Siebenjährigen Krieg (1756-1762) als Havanna auf Kuba durch die Briten erobert worden war. Die Versuche Spaniens, den englischen Handel und Schmuggel einzudämmen, führten ab 1739 zur Guerra del Asiento. Bald nach dem Friedensschluß und dem Vertrag von Utrecht 1713 neue Probleme zwischen Spanien und England ergeben, die vor allem im Versuch mündeten, das spanische Monopol über Amerika durch ein System der Küstenwachen und des offiziell geförderten Korsarentums, die guarda-costas und corsarios durchzusetzen. Dabei wurde der endemische Schmuggel der Holländer, der 449 Stohr, Tomás, Monedas de Venezuela, Caracas: Petróleos de Venezuela, 1980; Stohr, Macuquinas de Venezuela, Caracas: Armitano Editores, 1992. Michael Zeuske/Venezuela Seite 172 13.05.2016 Franzosen, der Dänen und der Nordamerikaner zum Vorwand genommen, um spanischerseits die Bestimmungen des Vertrages von Utrecht zu unterlaufen was sich vor allem gegen England richten mußte. Die spanische Krone hatte es im Falle der South Sea Company mit deren offizieller Konzession, ihren großen Warenlagern und Sklavenfaktoreien (etwa in Buenos Aires) und Niederlassungen relativ einfach. Die Company war einfach vom guten Willen der Spanier abhängig, weil sich ihre Niederlassungen und Installationen im spanischen Machtbereich befanden. Die Direktoren der Kompanie bevorzugten deshalb zunächst, obwohl ihnen der Schutz durch britische Kriegsschiffe durchaus zustand, die Angelegenheiten durch Druck auf den britischen Botschafter in Madrid zu regeln. Als das nichts fruchtete, kam es von englischer Seite zunehmend zu ernsten Klagen über Behinderungen des „freien“ Handels. Für die spanischen Behörden sah die Sache ganz anders aus. Die preiswerten und guten englischen Waren, und vor allem der Schmuggel, untergruben die spanischen Monopole. Mit dem Schmuggel war auch die Furcht vor illegalen Landungen der Engländer (und Schmuggler anderer Nationen) in verschiedenen schwer zugänglichen Gebieten verbunden (wie in den Guayanas, der großen Insel Trinidad und den ABC-Inseln). Immerhin waren - nach heutigen Maßen – mehr als 3000 km Küstenlinien zu bewachen, und die Unzahl der verlorenen Buchten, Flussarme, Inselchen und Cayos war überhaupt nicht zu kontrollieren. Der spanischen Krone gingen Gewinne verloren durch den aus ihrer Sicht illegalen Farbholzeinschlag der Briten vor allem in Yucatán, am Golf von Campeche, aber auch durch Schmuggel an den Karibikküsten von Honduras, Nicaragua, Guajira und im Guayanagebiet. Dieses Holz- und Schmuggelproblem verband sich mit dem Problem der mit den Spaniern verfeindeten Indios bravos auf der Halbinsel Goajira, den Kuna-Indios des Darién, den Miskito-Indios an der Mosquitoküste und den Kariben der Guayana. Dort hatte sich die spanische Herrschaft nie ganz durchsetzen können, weil sich Michael Zeuske/Venezuela Seite 173 13.05.2016 indianische Widerstands- und Fluchtkulturen mit Niederländern, Engländern oder Franzosen verbündeten. Die mit nichtspanischen Mächten verbündeten Kariben fingen indianische Sklaven aus dem spanischen Kolonialbereich. Generell untergrub ihr erfolgreicher Widerstand die spanische Kolonialordnung; auch Niederländer, Franzosen und Engländer hatten einige Schwierigkeiten damit. Die Spannungen zwischen Großbritannien und Spanien wuchsen, die South Sea Company und englische Kaufleute reichten wegen spanischer Beschlagnahmungen immer längere Listen finanzieller Forderungen an den Board of Trade. Lord Walpole war zunächst Gegner eines Krieges. Er mußte unter dem Druck der englischen Opposition450 - hier zeichnete sich unter anderen der junge William Pitt, später der „Ältere“ genannt, aus - und großer Teile der Londoner Kaufmannschaft mehrere Geschwader gegen das spanische Imperium aussenden. Erstmals nach einer langen Friedenszeit von 26 Jahren erklärte Großbritannien im Oktober 1739 Spanien wieder den Krieg. Mindestens drei große und viele kleine Konflikte sollten im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts folgen. Dieser Krieg von 1739 wurde ausschließlich aus handelspolitischen Interessen451 begonnen. Der Asiento-Krieg verquickte sich auf dem europäischen Kontinent schnell mit den österreichischen Erbfolgekriegen (in borussischer Tradition: „Schlesische Kriege“). Eines der wichtigsten Ziele Spaniens in der Zeit der frühen Bourbonen war der weitere Ausbau einer kriegstüchtigen Flotte, um die atlantischen Verbindung sowie den Schutz und die Kontrolle der amerikanischen Koloniene zu sichern. Zugleich aber versuchte die Krone im Krieg 1739-1748 eine direkte Konfrontation auf See mit den stärkeren Engländern zu vermeiden, deren extrem gedrillte Mannschaften dreimal schneller schossen als spanische Artilleristen. Um die Aufhebung des Asientos für die englische South Sea Company und aller 450 Die Opposition nahm besonders den registro en alta mar (Kontrollrecht gegenüber vermeintlichen Schmugglern auf hoher See) bzw. seine Übertreibungen aufs Korn. 451 Potthast, Die Mosquitoküste..., S.121. Michael Zeuske/Venezuela Seite 174 13.05.2016 anderen Handelsbestimmungen und die Unterdrückung des mit dem Asiento verbundenen englischen Schmuggels im spanischen Amerika zu erreichen, setzte die politische Führung des Imperiums stärker auf lokale Kräfte, worin sich auch eine der Reformintentionen manifestierte – die Kreolen in Amerika sollten einen Teil der Verteidigungsaufgaben und –lasten übernehmen. Jedenfalls sollten im Asiento-Krieg die Briten in der Karibik gebunden werden, damit Gibraltar und Menorca in Europa zurückerobert werden konnten. Dabei stützte sich die spanische Militär- und Marineführung in der Karibik vor allem auf das recht starke Defensivverteidigungssystem der Festungen und regionalen Marineeinheiten sowie lokale Korsaren und Küstenwachen.452 Die Briten setzen auf Schnelligkeit, Drill und neue taktische Verbände sowie Strategien, die man am besten als Amphibien-Kriegführung mit Infanterieverbänden bezeichnen kann (Marineinfanterie). Die Geschwader ihrer Majestät brachen im Juli 1740 aus England auf, „um Spanien auf dem Umweg über Westindien anzugreifen“, wie es schon Jonathan Swift 1710 gefordert hatte.453 Der Hauptschlag sollte sich gegen Cartagena454 richten, die zentrale Sicherungsfestung der nördlichen Fassade Südamerikas (siehe die Karte bei Marchena, S. 56). Admiral Chaloner-Ogle und Kommodore Anson nahmen den Weg über das Kap Horn, um Angriffe gegen Panamá und Portobelo zu führen, um die Südroute der Silberflotte zu stören und um britische Präsenz im Pazifik zu demonstrieren. Das Geschwader unter Admiral Vernon dagegen richtete seinen Kurs direkt auf die Karibik, um den Angriff gegen Cartagena de Indias zu führen. Zunächst ging man in London davon aus, daß Kreolen und Indianer im spanischen Amerika nur auf die Befreiung durch die Engländer warteten und hatte eine Strategie des Angriffs gegen die Nervenzentren Panamá/Portobelo, 452 Zapatero, Juan M., La Guerra del Caribe en el siglo XVIII, San Juan de Puerto Rico: Instituto de Cultura Puertorriquena, 1964, figura 1: Las llaves de los dominios de España en el Caribe, S. 8f. 453 Pares, Richard, War and Trade in the West Indies, 1739-1763, London/Edinburgh 1963, S. 395. 454 Kuethe, La batalla de Cartagena de 1741: Nuevas perspectivas, in: Historiografía y bibliografía americanistas, 18 (1974), S. 23ff; Marchena Fernández, “Sin temor de rey ni de dios. Violencia, corrupción y crisis de autoridad en la Cartagena colonial”, in : Kuethe; Marchena Fernández (eds.), Soldados del Rey ..., S. 31-100. Michael Zeuske/Venezuela Seite 175 13.05.2016 Cartagena und Havanna entworfen, verbunden mit einer Reihe von Überraschungsschlägen gegen die südamerikanische Pazifikküste und Santiago de Cuba. Die britische Flotte richtete mehrere Angriffe auf Cartagena de Indias, um den erwarteten Aufstand schnell auf ganz Südamerika übergreifen zu lassen. Kommodore Anson, ein ehemaliger Korsar, griff von Süden her Panamá an; er hatte freie Hand zur Unterstützung von Aufständen.455 Später galten die Angriffe auch Kuba, weil eben die Region La Habana und Matanzas ein strategisches Nervenzentrum des amerikanisch-spanischen Imperiums darstellte und auf den Werften die besten Schiffe der spanischen Marine gebaut wurden. Britische Marineeinheiten unter Vernon, unterstützt durch den Gouverneur von Jamaika, Wentworth, trugen Attacken großen Stils auf Cartagena de las Indias vor. Besonders der dritte Angriff vom 13. März bis zum 20. Mai 1741 war ohne Vorbild in der Kriegsgeschichte: 140 Kriegschiffe, 1112000 Mann Truppen, darunter 3600 Nordamerikaner, waren am Unternehmen gegen die schwerbefestigte Stadt beteiligt. Der Angriff aber scheiterte. Am Ende stand einer der gloriosen spanischen Siege. Für die spanische Krone und ihre Militärfachleute bestätigte sich das imperiale Defensivkonzept. Der Frieden von Aachen (1748) beendete die Feindseligkeiten. Besonders die schwere Niederlage der gutausgerüsteten und zahlenmäßig überlegenen Briten vor Cartagena bewies die Funktionsfähigkeit des amerikanischen Defensivsystems. Die Küstenlinie Venezuelas von der Festung San Carlos bei Maracaibo über Puerto Cabello bis zu den Festungen in Guayana, am Orinoco, war Bestandteil des Verteidigungssystems von Cartagena. Dieses System hatte im Großmachtkonflikt des 18. Jahrhunderts gewissermaßen seine Feuertaufe überstanden. Der Angriff zeigte aber auch - und das übersah man in Spanien weitgehend - die Fähigkeit der Briten, große Expeditionsflotten, die sich auf eine gutorganisierte ökonomische und demographische Basis in Nordamerika 455 G. Anson, A Voyage around the World in the Years 1740-1744 ..., London 1776 (seit 1748 bereits die 15. Auflage!); English Instructions to George Anson to aid the Spanish Colonists in Revolt, 1740, in: A.C. Wilgus, Readings in Latin American Civilization, New York 1946, S. 163ff. Michael Zeuske/Venezuela Seite 176 13.05.2016 sowie Jamaika stützen konnten, schnell und überraschend zu mobilisieren und mit ihnen nach abgestimmten Plänen weltweit zu operieren. Im Grunde waren die Briten trotz dieser Niederlage in einer günstigen Situation. Das wurde der im Fall von Portobelo deutlich, den die Spanier aber im Taumel des Sieges von den Spaniern ziemlich herunterspielten. Die Briten konnten große Flotten- und Truppeneinheiten auf bestimmte Punkte des riesigen spanischen Kolonialreiches - frei nach ihrem Willen - konzentrieren, während die Spanier ihre Kräfte auf eine Reihe von Festungen und Marinestützpunkten verteilen mußten. War die Generalprobe für die Briten mißlungen, so sollte die Premiere umso überzeugender ausfallen. Das spanische Defensivsystem dagegen war abhängig von viel Geld, den Situados und Donativos, das man durch die Reformen erst eintreiben wollte und das oft im bürokratischen Dschungel versickerte. Es wurde auch zunehmend abhängiger von der Beteiligung der Kreolen an der aktiven Verteidigung. Die Anlagen erforderten auch eine ständige Erhaltung und Modernisierung sowie Erneuerung der stehenden Garnisonen des ejército de América. Das kostete ebenfalls viel Geld und brachte eine Menge von organisatorischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen mit sich. Eines der wichtigsten Probleme waren die Milizen zur Verteidigung Amerikas.456 Nach dem Abschluß des Friedens von Aachen (1748) begann eine relativ lange Friedenszeit (1748-1761) für das spanische Imperium und die vielleicht beste Zeit für Wirtschaftsmaßnahmen der bourbonischen Reformer. Unter dem nunmehr herrschenden Ferdinand VI. und seinem Kriegs-, Finanz-und Indienminister, Marqués de la Ensenada, kam es zu Erfolgen auf vielen Gebieten, vor allem durch eine einigermaßen ausgewogene Finanzpolitik. Ensenada war auch Marineminister. Spanien führte ein Flottenbauprogramm auf Kosten des spanischen Landheeres aus. In Amerika kam es zu einer konsequenteren Personalpolitik und zur Abschaffung der Praxis des 456 Kuethe; Marchena Fernández (eds.), Soldados del Rey ..., passim. Michael Zeuske/Venezuela Seite 177 13.05.2016 Ämterverkaufs (1750). Die Stellung der Vizekönige wurde gestärkt. Ein umfangreicher Beamtenapparat der Fiskalverwaltung zwecks effektiverer Einziehung der Steuern wurde aufgebaut, dazu kam eine Reihe von visitas, das heißt administrative Kontrollreisen, die oft mit wissenschaftlichen Forschungen und Datenerhebung verbunden waren. Zugleich verfolgte Ferdinand eine andere Englandpolitik als sein Vorgänger und berief immer wieder britenfreundliche Minister. Die Folgen dieser Anglophilie in Kombination mit der Sparpolitik für das Landheer trafen vor allem das Verteidigungssystem der Festungen. Auch die kombinierte Verteidigung durch Veteranentruppen und städtisch-kreolische Milizen wurde kaum weiterentwickelt. Einerseits weil man sich auf die Erfolge bei der Verteidigung Cartagenas berufen konnte, andererseits weil gerade die spanischen Reformer in Madrid durchaus die Gefahren erahnten, die sich für die Kolonien aus einer Bewaffnung und militärischen Ausbildung der Kreolen ergeben könnten. Zudem wollte die Krone die neuerbaute Flotte nicht in einem Krieg gegen England riskieren. In dieser Zeit wurde endgültig die unterschwellige Idiosynkrasie einer Trennung der imperialen Oberschichten in „Kreolen“ und „Spanier“ soweit politisiert, daß sie sich als scharfe Gegensätze verfestigten. Nach dem Tode Ferdinands VI. bestieg 1759 Karl von Neapel als Karl III.457 den Thron in Madrid. Der König hegte zunächst Hoffnungen, die Politik seines Vorgängers zu können. Diese Hoffnung allerdings wurde durch die Siege der Briten während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) in Nordamerika (Louisbourg) und in der Karibik (Einnahme von Guadeloupe) zunichte gemacht. Spanien geriet unter außenpolitischen Druck. Karl III. mußte eine totale Überlegenheit Großbritanniens und Preußens befürchten. Spanien würde dann dem mächtigen Feind in Amerika allein gegenüber stehen. Zumal sich der 457 Karl war der älteste Sohn von Elisabeth Farnese. Bis 1734 war er Erzherzog der Toskana und von 1734 bis 1758 König beider Sizilien, siehe: Pietschmann/Bernecker, Geschichte Spaniens ..., S. 180. Michael Zeuske/Venezuela Seite 178 13.05.2016 englische Verbündete, Portugal, die Lage zunutze machte, und auf den Río de la Plata vorstieß. In dieser politischen Lage kam 1761 es zur Unterzeichnung des III. Familienpaktes der französischen und spanischen Bourbonen. 1762 Spanien wurde dadurch und wegen der Feindschaft Karls III. gegen England in einen neuen, den Siebenjährigen Krieg, gezogen. Dieser Krieg war wieder ein FastWeltkrieg. Er währte von 1756-1763. Erst danach setzte der Prozeß der intensivsten Reformen auch in Amerika ein, meist zusammengefasst unter dem Begriff der karolinischen Reformen: Militärreformen, Verwaltungsreformen, Handelsreformen und Territorialreformen. Es hatte in Venezuela aber schon frühere einleitende Schritte gegeben, die auch im Zusammenhang mit der Vernetzung des Territoriums und seiner Bewohner unter der Führung des Zentrums Caracas standen. So zum Beispiel die Schaffung des Vizekönigreiches Neu-Granada (Nuevo Reino de Granada) 1717, endgültig 1739.458 Die früheste interne Reform auf dem Gebiet des heutigen Veezuelas stand ganz im Zeichen des hochgeschätzten Symbols der Kolonie – des Caracas-Kakaos. Grundvoraussetzung war ein dynamischer Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion vor allem der Peripherien des spanischen Imperiums in Amerika im 18. Jahrhundert (Karibik, Atlantikküsten, Río de la Plata, Nordmexiko). Venezuela-Kakao der Criollo-Sorte war wegen seines Wohlgeschmacks, seiner Qualität und seiner Mildheit (die mexikanischen Kakaotrinker brauchten deshalb weniger Zucker im Vergleich zum bittereren Guayaquilkakao aus Ekuador) in Mexiko und Spanien ein sehr gefragtes und relativ teures Exklusivprodukt. Die kreolischen Eliten der Küstenstädte und Täler, aber auch viele einfache Menschen oder sogar Sklaven betrieben Kakaoanbau (und Schmuggel). Die größten Kakaoproduzenten – die Mantuanos oder grandes cacaos von Caracas (beziehungsweise dem Tuy-Tal in Barlovento im Osten der Stadt, in Cumaná oder in Coro) und die großen Orden, wie Jesuiten Briceño Perozo, “Visorrey Habemus”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 41-51. 458 Michael Zeuske/Venezuela Seite 179 13.05.2016 an den Südküsten des Maracaibosees, hatten eigenständig eine koloniale Monopolwirtschaft geschaffen und karibische Infrastrukturen, die es ihnen erlaubten, den Kakao in Mexiko, der damals reichsten Wirtschaft der Welt, abzusetzen. Um diese koloniale Eigenleistung der Kreolen unter Kontrolle zu bekommen, Steuern abzuschöpfen und einen Teil des Exportes nach Spanien umzuleiten, schlugen Unternehmer aus dem Baskenland (Provinz Guipuzcoa) der Krone die Gründung einer Handelskompanie mit Monopolcharakter vor. Handelskompanien wurden in den merkantilistischen Wirtschaftslehren des Absolutismus als vorsichtig dezentralisierendes Allheilmittel betrachtet, um die Preise in der Kolonie zu drücken, beim Verkauf in Spanien Gewinne zu machen (die Ausgaben der Krone zu mindern), die Produktion auszuweiten, den KakaoSchmuggel zu beenden, die Küsten zu schützen und auch noch Negersklaven und europäische Waren und Güter nach Venezuela zu bringen, all dies in einer quasi regierungsamtlichen und rechtlich durch königliche Dekrete verbrieften Stellung. All dies, ohne neue Bürokratien bezahlen zu müssen. Theoretisch sollte die Compañía Guipuzcoana, auch Caracas-Kompanie oder Baskische Kompanie genannt, den Handel venezolanischen Kakaos nach Spanien übernehmen und im Gegenzug spanische Waren sowie Sklaven nach Venezuela bringen.459 An den lukrativen Mexikohandel der Eliten von Caracas und Maracaibo getrauten sich die Reformer zunächst nicht. Als Gegenleistung für diese Monopole verpflichtete sich die Kompanie, vor den Küsten zwischen Araya und dem Golf von Venezuela, eigene Schiffe patrouillieren zu lassen, den lebhaften Antillen-Schmuggel auszuschalten und die regionale Wirtschaft zu entwickeln. 1728 wurde die Kompanie gegründet; ihr Sitz war Caracas/La Guaira (was nicht zuletzt dazu beitrug, die zentrale Rolle von Caracas zu unterstreichen). In einer ersten Phase, von den 1720ern bis Mitte der 1750er Jahre, ging alles relativ gut; auch wenn bald deutlich wurde, dass die Kompanie ihre Ziele der Versorgung Venezuelas mit europäischen Gütern sowie Sklaven Aizpurua, Curazao y la costa de Caracas …, passim; Sonesson, Birgit, Vascos en la diáspora. La emigración de La Guaira a Puerto Rico, 1799-1830, Sevilla: CSIC, 2008. 459 Michael Zeuske/Venezuela Seite 180 13.05.2016 nicht erfüllen konnte (weil die zu teuer waren und der Handel unter Kontrolle von Engländern, Portugiesen, Niederländern, Dänen sowie allgemein Schmugglern stand), die Einkaufspreise für Kakao dagegen immer mehr drückte sowie mit den kreolischen Eliten, aber auch mit einfachen Angestellten vor Ort in Konflikte geriet (mit dem weitverbreiteten Kakaoschmuggel sowieso). Aus Sicht der Kakaoproduzenten in Venezuela war die Monopolkompanie eigentlich von Anfang an eine zusätzliche Belastung für Kakaohacendados und Kaufleute (sowie Transporteure). Im Grunde handelte es sich um eine zusätzliche Steuer, mit der neben den Gewinnen der Kompanieteilhaber (die Guipuzcoana war eine von den Krone kontrollierte Aktienkompanie, in der auch Krone, die königliche Familie, spanisch-baskische Großkaufleute und eine Reihe von venezolanischen Elitefamilien Anteile hielten) Verwaltungsaufgaben bezahlt wurden, deren Erledigung eigentlich dem Staat zukam. Dazu kamen Organisations- und Managementfehler sowie einfach Schlamperei. In jeder wichtigen Siedlung oder Stadt der venezolanischen Kakaoproduktionsregionen wurden Kompanieagenten als allgemeine Bevöllmächtige sowie eine Art Zollkontrolleure eingesetzt, um den Schmuggel einzudämmen. Sie agierten oft selbstherrlich und wirtschafteten in die eigene Tasche. Es ist eigentlich ein Wunder, dass es trotz einer Reihe von Unruhen der Kakaoschmuggler (wie die Rebellionen des freien Zambo Andresote 1733460, von San Felipe 1741 und von El Tocuyo 1744 – alle in einer der wichtigsten Kakaogegenden um den Río Yaracuy und alle gegen die Behinderung des Schmuggels gerichtet461) und kleinen Kakaohacendados erst zu Beginn der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts zu ernsthaften Rebellionen gegen die Kompanievorherrschaft kam. Als die Kompanieverantwortlichen versuchten, den einzigen direkten Zugang der venezolanischen Produzenten zu einem von ihnen kontrollierten 460 Felice Cardot, Carlos, La rebelión de Andresote, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1952. Brito Figueroa, Federico, Las insurrecciones de los esclavos negros en la sociedad colonial venezolana, Caracas: Editorial Cantaclaro, 1961; Felice Cardot, Carlos, Rebeliones, motines y movimientos de masas en el siglo XVIII venezolano (1730-1781), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 31977; Magallanes, Manuel Vicente, Luchas e insurrecciones en la Venezuela Colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 21983. 461 Michael Zeuske/Venezuela Seite 181 13.05.2016 Absatzmarkt, dem von Mexiko (Veracruz) an sich zu ziehen, die Verbindungen ins niederländische Curaçao462 schärfer kontrollierten und dabei auch noch den Niedergang der Kakaoflotille unter venezolanischer Kontrolle riskierten, kam es zur Rebellion. Auslöser war die Ablösung des Siedlungsgründers von Panaquire durch einen missliebigen Kompanievertreter in dem kleinen Ort am Fluss Tuy. In Panaquire hatten sich seit 1730 Isleños niedergelassen, die als Pioniere mit wenigen Sklaven Kakao- und Tabak anbauten. Der Ort war besonders für das Kakao-Schmuggelgeschäft über das Tuytal in die Karibik geeignet. Juan Francisco de León hatte die Ämter des teniente cabo de guerra und des juez de comisos (politische und steuerliche Verwaltung) ausgeübt. León, ein weißer Isleño aus der niedrigen Elite, zog 1749 und 1751 zwei Mal in Begleitung von protestierenden Kakaohacendados und Kolonisten, die nicht der Oberschicht der Mantuanos angehörten, aber eine ziemlich große Gruppe von kleinen und mittleren Pflanzern vertraten, nach Caracas. Er verlangte ein cabildo abierto (eine Art offener Einwohnerversammlung) und liess seine klar definierten Ziele gegen die Allmacht der Kompanie vor Kolonialbeamten und den versammelten Bürgern verlesen, notariell protokollieren und zog (das erste Mal) mit seinen Anhängern nur gegen schriftliche Versprechen ab. Als sich nichts änderte, rückte er 1751 wieder an, diesmal mit viel mehr Anhängern und offensichtlich mit Unterstützung eines Teils der Elite von Caracas. León besetzte die Stadt. Die Krone konnte der Rebellion nur mit Hilfe von 1500 Mann Veteranentruppen aus Spanien Herr werden. Die Aufrührer wurden bestraft. Juan Francisco de León starb im Gefängnis in Spanien. Die Kompanie blieb formal in ihren Rechten, aber diese wurden auf das Mass der Anfangsjahre zurückgeschnitten und ein Preiskomitee (junta de precios) aus lokalen Pflanzern, Kompanieangestellten und dem Gouverneur legte nach 1752 die Einkaufpreise für Kakao fest.463 Aizpurua, “Coro y Curazao en el siglo XVIII”, S. 229-240. Morales Padrón, Francisco, Rebelión contra la Compañía de Caracas, Sevilla: Escuela de Estudios HispanoAmericanos; CSIC, 1955 (siehe die guten Karten zwischen S. 54 und 55: “Escenario de la rebelión ..., 1749-1752” und zwischen S. 118 und 119: “Escenario de la segunda rebelión ... 1751-1752). 462 463 Michael Zeuske/Venezuela Seite 182 13.05.2016 Den endemischen Schmuggel konnten weder die Krone, noch die lokalen beamten oder gar die Kompanie bremsen. Ganz im Gegenteil. Den engen Zusammenhang zwischen formaler Kontrolle, informellem Schmuggel sowie Korruption und Bereicherung im Kompaniedienst zeigt die Biographie von Juan Vicente Bolívar, zukünftiger Vater von Simón Bolívar.464 Quantitativ lässt sich der Schmuggel auf den Schiffen der Compañía Guipuzcoana leicht nachweisen: die Schiffe waren immer mit 10-15% überladen. Sie havarierten deswegen sehr oft, einfach weil sie zu tief im Wasser lagen und schwer manövrierbar waren. Das Problem bestand darin, den Schmuggel formal nachzuweisen beziehungsweise diesen Nachweis durch Bestechung zu verhindern. Ganz klar nachweisbar war die Überlast nur, wenn die Schiffe vollständig entladen worden waren und die Ladung gewogen werden konnte. Das geschah in Wirklichkeit nur, wenn Schiffe havarierten, wie zum Beispiel dasSchiff Santa Ana, das 1765 havarierte und entladen wurde – es hatte 62 Tonnen Überlast bei einer Tragfähigkeit von rund 300 Tonnen. Der Befehl zur völligen Entladung, theoretisch möglich, war aber ein schwerer Eingriff in die Kompaniegeschäfte, kostete viel Zeit sowie Arbeit und die völlige Entladung aller Schiffe war aus pragmatischen Gründen unmöglich. Aber die Gefahr bestand. So bestachen die Kapitäne und Kaufleute die Zollbeamten. Wie lief das ab? Die Schmuggelgüter wurden als rancho (Proviant der Mannschaft) deklariert. Auf Produkte des Rancho waren keine Steuern abzuführen. So führten die Schiffe zum Beispiel hunderte von ganzen BellotaSchweineschinken mit. Diese wurden auf den Zolllisten als „Rancho“ deklariert. Die Matrosen der Schiffe bekamen aber nie auch nur ein Scheibchen des Schinkens zu sehen. Sie verdienten 8 Pesos (64 Reales) im Monat. In Caracas wurde Bellota-Schinken für 3 Reales die Libra (460 Gramm) verkauft. Ein kleiner ganzer Schinken kostete in Caracas um die 33 Reales und ein großer um die 52 Reales. Die Herstellungskosten in Spanien beliefen sich auf rund 20% Vivas Pineda, Gerardo, “Los negocios de Juan Vicente Bolívar y Ponte”, in: Desafío de la Historia, Año 2, No. 11 (2009), S. 28-34. 464 Michael Zeuske/Venezuela Seite 183 13.05.2016 davon (?). Juan Vicente Bolívar war für 10 Jahre (1765-1775) oficial real in La Guaira. Eine Art Zolloffizier. Wenn er nur 2 große Schinken pro Schiff – 72 Schiffe hatte er in den zehn Jahren Dienst fiskalisiert – als „Geschenk“ dafür bekommen hat, dass er die Schiffe nicht entladen liess, hätte er insgesamt 936 Pesos verdient; die Heuer von 117 Matrosen. Er hat aber in Realität sicherlich viel mehr Anteile am Schinken-Schmuggel bekommen, nehmen wir an, 10 Schinken pro Schiff, dann wären die Einnahmen schon 4680 Pesos pro Jahr (Heuer von 585 Matrosen). Und dabei sind die anderen Waren, die für 150-180 Mann Besatzung der Guipuzcoana-Schiffe zum Rancho deklariert wurden, noch gar nicht erwähnt. Nicht umsonst erklärte Juan Vicente Bolívar in seinem Testament 258 000 Pesos sein eigen. Ein gigantisches Vermögen.465 Der Versuch der Krone, den Außenposten „Provinzen der Tierra firme“ zu niedrigen Kosten, sozusagen durch Privatisierung, an die normale Struktur des Imperiums anzugleichen, war am Widerstand der kolonialen Pflanzerelite, der Kakaohacendados und der Küstenbevölkerung, die oft überhaupt nur vom Schmuggel lebte (auch als offiziell beglaubigte corsarios – Korsaren oder guarda-costas - Küstenwachen)466, gescheitert. Die durchaus vorhandenen Leistungen der Caracas-Kompanie, Venezuela einen regelmäßigen und besser organisierten Handel nach Spanien sowie eine Ausweitung der Produktionsflächen für Kakao (vor allem im Yaracuy- und Araguatal im Westen von Caracas, bei der Stadt Valencia) verschafft zu haben, wurden von den Kolonisten als zu teuer betrachtet.467 Außerdem war die Krone aus ihrer Sicht nicht bereit, ihnen die gleichen Interessenvertretungen (Handelskonsulat) wie 465 Ebd., S. 34; siehe auch: Vivas Pineda, La aventura naval de la Compañía Guipuzcoana de Caracas, Caracas: Fundación Polar, 1998. 466 AGI, Audiencia de Caracas, Secretaria de Hacienda de Indias, expedientes del ramo del resguardo en Caracas, años 1781-1792, Leg. 784: “Al Intendente de Caracas. Remitesele la carta de Holanda sobre el contrabando de las Costas de Caracas” (El Pardo, 27. Januar 1779); Ebd., No. 9: “El Intendente Saavedra. Remito en cumplimiento de la Real orden del asunto fecha 1º de Agosto último [1786], el estado general de número, nombre, fuerza, tripulación y costo anual de las embarcaciones corsarias que componen el resguardo marítimo de aquellas provincias” (Caracas, 23. November 1787); Ebd.: “Del comercio clandestino que se hace en las provincias de la Intendencia de Caracas, y del estado de su resguardo de mar y tierra” (Año de 1789). 467 Lombardi, Venezuela ..., S. 95-105; Ebd., Leg. 787: Confidenciales de Saavedra. Caracas, años 1784 y 1785, No. 11: “Oficio de D. José Pizarro, en que tacha de contrabandistas a los individuos del corso y a los empleados de la Real Compañía Guipuzcoana”. Michael Zeuske/Venezuela Seite 184 13.05.2016 den Eliten der zentralen Territorien (Veracruz, Cartagena und Lima) zuzugestehen, das Symbol für diese Herabsetzung war in ihren Augen eben die Compañía Guipuzcoana. Ihrerseits war die Krone wohl wegen des hinhaltenden Widerstands der kreolischen Eliten gegen die Kompanie deutlich verunsichert. Nach und nach wurden der Kompanie bis 1789 die wichtigsten Rechte und Privilegien entzogen; sie ging später in der Philippinen-Kompanie auf. Von all den Handels-, Militär-, Finanz-, Rechts- und Verwaltungsreformen des spanischen Imperiums begannen in den venezolanischen Provinzen vier besonders wichtige Reformen (Intendantur, Consulado, Generalkapitanie und Audiencia) erst zwanzig Jahre nach der Rebellion des Juan Francisco de León, in der Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts. Das stand vor allem mit dem Problem der Kriege, der komplizierten Territorialstruktur, der Konkurrenz der Eliten und dem Druck im Zusammenhang, der für Reformen nötig ist, die viel Wandel bewirken sollen, ohne die hergebrachte Herrschaft in Frage zu stellen, nun einmal verbunden ist. Es bedurfte einerseits erst der Niederlage Spaniens im Siebenjährigen Krieg 1759-1762 (mit dem Menetekel der Eroberung Havannas durch die Briten). Andererseits bekam Spanien mit den Schwierigkeiten der Briten in der Revolution der Kolonisten in Nordamerika bald wieder Oberwasser im atlantischen Raum. Die Reformen begannen nun wirklich. 1776 wurde ein Intendant für sechs Provinzen der Tierra firme ernannte (José de Abalos); zum ersten Mal gab es eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzinstitution der wichtigsten Provinzen der Tierra Firme östlich der Guajira mit Sitz in Caracas. Der Intendant war zwar de jure nur für Militär- und Finanzfragen zuständig, aber da der Finanzbereich alle anderen Bereiche berührte – im Grunde für alles. Die Furcht vor den Angriffen fremder Mächte oder Piraten führte zu einer vielleicht noch weitreichenderen Entscheidung, die den engeren Machtbreich des Militärs betraf; aus den zwei Generalkapitanien (Cumaná und Caracas) und dem Hin- und Her der militärischen Verantwortung für den venezolanischen Michael Zeuske/Venezuela Seite 185 13.05.2016 Andenbereich (zwischen Bogotá und Caracas) formten die Reformer eine Generalkapitanie aus den sechs Provinzen (Maracaibo, Barinas, Caracas, Barcelona, Cumaná, Guayana; die siebte Provinz, Trinidad, befand sich seit 1797 unter britischer Kontrolle, ein Jahr vorher hatten die Briten auch Suriname besetzt). Sitz des Generalkapitäns wurde ebenfalls Caracas (1777). Die Generalkapitanie, wegen der militärischen Notwendigkeiten der Kommunikation und Infrastruktur, war wohl die Reforminstitution, die am meisten zur Zentralisierung aller Fäden der Netzwerke in Caracas beitrug. Von 1777 bis 1810 existierte an der Tierra firme eine Art kolonialer Staat (Estado indiano), der mehr und mehr als Venezuela in der Welt bekannt wurde, aber sich auch mehr und mehr im Bewusstsein der Bewohner verankerte. Alle venezolanischen Verfassungen haben am Beginn des Textes einen Bezug zum Territorium dieser Generalkapitanie. Venezuela hat also eine starke zentralistisch-militärische Tradition. Nach den Finanz-, Wirtschafts- und Militärbereich kam die Frage der Rechtsverwaltung auf. Es konnte nicht angehen, dass Rechtsfragen und –konflikte, die schon lange anstanden, sich aber auch aus den Reformen selbst ergaben, entweder in Bogotá oder in Santo Domingo auf der Insel La Española geklärt werden mussten. 1786 verfügte die Krone die Schaffung der Audiencia von Caracas (oberstes Verwaltungsgericht, Gericht letzter Instanz mit eigener Verwaltungskompetenz, da der Gouverneur von Caracas meist auch Präsident der Audiencia war; auch der Erzbischof gehörte oft der Audiencia an). In den achtziger Jahren, nach langer Überzeugungsarbeit der Intendanten Abalos und Saavedra wurde auch das Real Consulado de Caracas gegründet, eine Bruderschaft der großen Kakaoproduzenten und der spanischen Großkaufleute.468 Der Consulado unterhielt Repräsentanten in den wichtigsten Häfen Venezuelas. Komplettiert wurden die Reformen durch die Schaffung des Erzbistums von Caracas 1804, dem die beiden Bistümer Mérida de Maracaibo und Cumaná unterstellt 468 Nunes Díaz, Manuel, El Real Consulado de Caracas (1793-1810), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1971 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 106). Michael Zeuske/Venezuela Seite 186 13.05.2016 wurden.469 Damit war das institutionelle Skelett des Territoriums geschaffen, das später einmal den Staat Venezuela bildete.470 Und Caracas war bürokratisches Zentrum dieses neuen Territoriums – alle Wege führten nun über die Stadt im Schatten des Monte Ávila. Seit 1808 gab es auch die erste Druckerpresse (Gallagher und Lamb), die erste Zeitung (Correo de Caracas) und seit 1810 den ersten gedruckten Kalender in Caracas (Calendario Manual y Guia Universal de Forasteros en Venezuela471). Neue Bürokratien mit allen ihren Bedürfnissen, Organisationen und Strukturen entstanden – auch die Nachfrage nach Waren, Handwerksgütern, Nahrungsmitteln, Haussklaven, Luxusgütern und Papier stieg. Caracas wurde zum Zentrum der hispanischen Extraktionsmaschinen. In Caracas hielten die großen Landbesitzer, auf deren haciendas oder hatos Kakao, Indigo, Baumwolle, Kaffee, Zuckerrohr oder Fleisch und Häute produziert wurden, ihre Stadtpalais. Sie kontrollierten die munizipale Macht und verhielten sich zu anderen Gruppen der Kolonialgesellschaft „nach der Art Juden, die sich nur innerhalb ihres Stammes verheiraten“.472 Auch die wichtigsten Institutionen, die die Extraktionsmaschine in Gang hielten oder verteidigten und legitimierten fanden sich in Caracas: Handelshäuser, Druckerei, Steuer- und Rechnungshof, Steuereinziehungsbehörden, Universität, Intendantur, Generalkapitanie, Gouverneur, Erzbistum, Armee-, Marine- und Milizkommandanturen sowie Ausrüstungs- und Waffenkammern, Notariate, Schreibstuben, Rechtsanwältsbüros, Gerichte sowie Audiencia. Sichtbar wurden all die Reformprozesse in einem dramatischen Anwachsen der Stadt Caracas zu einem für Kolonialverhältnisse großen Zentrum mit rund 40000 Einwohnern und einem Ayuntamiento (Cabildo), das schon seit 1700 das Recht beanspruchte, im Falle des Ausfalls eines Gouverneurs als Führungsinstanz für die ganze Provinz von Caracas zu 469 Lombardi, Venezuela ..., S. 104-106. Morón, El proceso de integración de Venezuela (1776-1793), Caracas: Acedemia Nacional de la Historia, 1977 (El libro menor; 3). 471 Calendario Manual y Guia Universal de Forasteros en Venezuela para el Año de 1810, Caracas: En la Imprenta de Gallagher y Lamb, 1810. 472 Brief der Intendanten Saavedra vom 3. Mai 1793, zit. nach: Arcila Farías, Economía colonial …. Bd. II, S. 103. 470 Michael Zeuske/Venezuela Seite 187 13.05.2016 operieren.473 Die reichen Kakaopflanzer von Caracas, die Mantuanos, hatten auch schon früher auf das Privileg gepocht, in Wirtschafts- und Handelsfragen für alle Provinzen der Tierra firme zu sprechen. Der dafür notwendige institutionelle Apparat, Habitus, Bildung und Kultur sowie Bedeutung im Denken und Fühlen der aller Einwohner der Kolonie, waren aber erst im 18. Jahrhundert entstanden und eigentlich erst mit den karolinischen Reformen geschaffen worden. Die an der Universität von Caracas als Rechtsanwälte und Theologen ausgebildeten Söhne der kreolischen Eliten hätten nun eigentlich direkt auf die Stellen der Bürokratie von Caracas oder in die Repräsentanzen der einzelnen Institutionen in anderen Städten Venezuelas arbeiten können. Hätte dieser Zustand bis 1850 angehalten, wäre auf friedliche Weise eine Nation aus den Kolonialterritorien der Costa Firme entstanden. Leider geht Geschichte nicht so simpel. Die Reformen kamen zu spät; ihre Schaffung war von den Konflikten um die Compañía Guipuzcoana überschattet und die Krone gestattete den venezolanischen Eliten, die Kakao mit Sklaven produzierten, zu spät, an dem für alle anderen Vizekönigreiche bereits 1778 erlaubten comercio libre („Freihandel“) – eben wegen der Konflikte um Kakao und Kompanie – teilzuhaben. Erst 1789, parallel zur Freigabe des Sklavenhandels für die spanischen Kolonien in Amerika, wurde auch Venezuela in das generelle System des Freihandels integriert.474 Zu spät. Die Kakaowirtschaft war in Krise; die Extraktionsmaschine stellte sich langsam auf neue (Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr) und andere Produkte (Indigo, Weizen, Vieh, Häute, Tasajo, Leder). Besonders der Kaffee in den höheren Lagen der Täler von Aragua und Caracas schien eine große Zukunft zu haben; auch weil Kaffee in Lagen angebaut werden konnten, die bis dahin nicht genutzt worden war und weil Kaffeeproduktion rentabler war als Kakao. 473 Lombardi, Venezuela ..., S. 110. „Informe sobre el Real Decreto de Comercio Libre del 28 de febrero de 1789”, in : Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 489-510. 474 Michael Zeuske/Venezuela Seite 188 13.05.2016 In der ersten Phase der Reformen bis etwa 1788 versuchten die zentralistischen Reformer in Spanien auch, die in ihren Augen „korrupten“ und „unfähigen“ kreolischen Eliten von den Jobs in der Bürokratie von Caracas fernzuhalten – es sollte erst eine „neue“ imperiale Elite durch in Spanien erzogene und dort durch den Militärdienst gegangene Söhne der Kreolen entstehen. Um 1800 schien es den Eliten von Caracas, dass sie ein Territorium von dominierten, das größer als Frankreich und Spanien war, und Teil der imperialen Nation Spanien geworden waren. Trotz oder gerade wegen des doch recht tiefgreifenden Reformen brachen nun aber internationale Ereignisse aus allen Richtungen über das renovierte Imperium und die quasi neue Kolonie Venezuela sowie sein Führungszentrum Caracas herein: in Spanien starb 1788 der Reformkönig Carlos III., in Frankreich rebellierte der Dritte Stand (1789-1795) und auf Saint-Domingue, Martinique und Guadeloupe475, zusagen im Nachbarhaus, erhoben sich die Sklaven der Franzosen zur einzig erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte (Venezuela nahm viele aus SaintDomingue Geflohene auf)476; im Frieden von Basel musste Spanien seinen Teil der Insel La Española (heute DomRep) an Frankreich abtreten (wieder flohen Menschen nach Venezuela477); im Barlovento und in Coro kam es 1794/1795 zu Cimarronajes, Rebellionen sowie einem Aufstand von Sklaven478, freien Dubois, Laurent, Les esclaves de la République: l’histoire oubliée de la première émancipation, Paris: CalmannLévy, 1998. 476 López Bohorquéz, “L’ambivalente présence d’Haïti dans l’indépendance du Venezuela”, in : Outre-mers RH, nos 340-341 (2002), S. 236-237; Gómez, Alejandro E., “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 5 (2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006) (http://nuevomundo.revues.org/document211.html). 477 AGI, Estado, 58 (23-01-1791 – 23-06-1799), Caracas: “Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas (Revolución de la Isla Margarita. Dotrina de franceses emigrados de Santo Domingo. Sublevación en Caracas. Prisión y ejecución de implicados en la sublevación”. 478 Acuña, Guido, La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993; Coll y Prat, Narciso, Memoriales sobre la independencia de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960; Guerra Cedeño, Franklin, Esclavos negros, cimarroneras y cumbes en Barlovento, Caracas: LAGOVEN, 1984; Magallanes, Luchas e insurrecciones en la Venezuela colonial, Caracas: Italgráfica, ³1983; Ponce Longa, José, Tomás, Barlovento: de los orígenes a la independencia, s.l. [Los Teques]: Gobierno del Estado Miranda, s.a [1994/1995]; Archivo General de la Nación, Caracas (AGN), Diversos Vol. LXIX: “Sobre insurrección de los negros bandidos de la jurisdicción de Coro [Valle de Curimagua, 92/06/1795], f. 130r; Arcaya, Pedro Manuel, Insurrección de los negros de la serranía de Coro en 1795, Caracas: Instituto Panamericano de Geografía e Historia, 1949; Aizpurúa A., Ramón, La insurrección de los negros de la serranía de Coro, 1795: revisión crítica, Caracas: 475 Michael Zeuske/Venezuela Seite 189 13.05.2016 Farbigen und Indios. Britische Marineinfanterie besetzte die Insel Trinidad (1797); die vereinigte spanisch-französische Flotte unterlag in der Seeschlacht von Trafalgar der britischen Flotte unter Admiral Nelson (1805). Spanien forderte immer mehr Geld von seinen Untertanen in Las Indias. Schließlich erschien der ehemalige spanische Offizier Francisco de Miranda, 1750 in Caracas geboren, mit englischen, amerikanischen und haitianischen Abenteurern vor den Küsten Venezuelas und besetzte 1806 für kurze Zeit Coro und seinen Hafen La Vela. Zwar konnten die Milizen die das „Heer zur Befreiung Colombias“ vertreiben – aber der Vorgang an sich war ungeheuerlich; zumal Miranda nicht nur Interventionen mit englischer Hilfe durchführte, sondern auch große Pläne für die Zukunft des ganzen Kontinents schmiedete, den er Colombia (Kolumbien) nannte. Er begründete in doppelter Weise ein kontinentale Staatsutopie in Amerika, erstens eine Mixtur seiner europäischen Erfahrungen und zweitens, die Utopie im Quadrat, dass ein solcher Staat quasi voraussetzungslos in den Dimensionen des spanischen Kolonialreiches möglich sei, wo bislang koloniale Parastaatlichkeit und Parasouveränität herrschte, sehr fragil, aber immerhin mit erstaunlich hohem Gewaltabschwächungspotential in den Zentren.479 Mirandas (zum Glück für Spanien) schnell zurückgeschlagene Universidad Central de Venezuela, 1980; Brito Figueroa, Federico, Las insurrecciones de los esclavos negros en la sociedad colonial venezolana, Caracas: Editorial Cantaclaro, 1961; Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes para la historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981; García, Jesús Chucho, Contra el cepo: Barlovento tiempo de cimarrones, Caracas: Editorial Luca y Trina, 1989; Röhrig Assunção, Matthias, “L’adhésion populaire aux projets révolutionnaires dans les sociétés esclavagistes: le cas du Venezuela et du Brésil (1780-1840)”, in: L’Amérique Latine face à la Révolution française, ed. Guerra, François-Xavier, Toulouse : Presses Universitaires Le Mirail, 1990 (=Caravelle. Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 54), pp. 291313; Gil Rivas, Pedro; Dovale Bravo, Luis Osvaldo; Bello, Luzmila, Insurrección de los negros esclavos, libres e indios en la serranía coreana, 10 de mayo de 1795. Mérida: s.n., 1991; Blanco, Jesús, Miguel Guacamaya. Capitán de Cimarrones, Caracas: Asociación para la Investigación Cultural Mirandina; Editorial APIGUM, 1991; Rodríguez, Luis Cipriano y otros, José Leonardo Chirino y la insurrección de la serranía de Coro de 1795: Insurrección de libertad o rebelión de independencia. Memoria del Simposio realizado en Mérida los días 16 y 17 de noviembre de 1995, Mérida: Universidad de Los Andes; Universidad Central de Venezuela; Universidad del Zulia; y Universidad Nacional Experimental Francisco de Miranda, 1996; Scott, Julius, “Crisscrossing Empires: Ships, Sailors and Resistance in the Lesser Antilles in the Eighteenth Century”, in: The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L., Engerman, Stanley, Gainesville: Univ. of Florida Press, 1996, S. 128-143; Geggus, David A., “Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815”, S. 1-50; Gómez, Alejandro, “Haïti: entre la peur et le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens: relations et repères avec Saint-Domingue et les ‘Îles du Vent’, 1790-1830”, in: Bonacci, Giulia et al. (sous la direction de), La Révolution haïtienne au-delà de ses frontières, Paris : Karthala, 2006, S. 141-163. 479 Zum Gewaltbegriff siehe: Hanser, Peter; Trotha, Trutz von, „Zur Typologie von Odrnungsformen der Gewalt – eine neo-hobbessche Perspektive“, in: Hanser; Trotha, Ordnungsformen der Gewalt. Reflexionen über die Grenzen von Staat und Recht an einem einsamen Ort in Papua-Neu-Guinea, Köln: Rüdiger Köppe Verlag, 2002 (=Siegener Michael Zeuske/Venezuela Seite 190 13.05.2016 Intervention an den offenen Küsten Venezuelas sollte nur den Anfang eines kontinentweiten Krieges und von den Idealen der Gironde-Phase der Französischen Revolution geprägten gegen „die Tyrannei Spaniens in Amerika“ markieren.480 Die Reformen und ihr durchaus protonationales Ergebnis - Caracas als Zentrum einer relativ zentralisierten Kolonie mit Namen Venezuela (1777-1810) - hatten historisch gesehen zu wenig Zeit, um sich wirklich zu konsolidieren. Zumal im Gefolge der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege die atlantischen Beziehungen total zusammen brachen und allenthalben Konflikte, Kriege, Vertreibungen, Landbesetzungen, Rebellionen und Revolutionen ausbrachen.481 Englische Flotteneinheiten und Piraten lauerten vor den Küsten von Venezuela482, wie man sogar im fernen Berlin wusste (siehe Anhang).483 Das Kriegsministerium im fernen Spanien bekam viel zu tun484, konnte aber real kaum noch etwas in Amerika ausrichten – die Atlantikverbindung war seit jeher die Achillesferse des Spanischen Imperiums (spätestens seit dem Untergang der Großen Armada 1588). Aus Angst vor britischen Eroberungen erlaubte Madrid 1776 französischen sowie schottischen und irischen Katholiken erlaubt, auf der Insel Trinidad zu siedeln und ihre Sklaven mitzubringen.485 In Guayana drangen schon seit Beginn der karibischen Beiträge zur Soziologie, eds. Trotha; Geißler, Rainer; Neckel, Sighard; Bd. 3), S. 315-320, besonders S. 315, FN 9. 480 Carrera Damas, “De nuevo sobre nuestra Revolución francesa”, in: Caballero, Manuel (ed.), Miranda el extrajero, Caracas: Monte Ávila Editores, 2003, S. 67-78. 481 Castillo Lara, “El Negro Miguel Guacamaya y su Cumbe”, in: Castillo Lara, Apuntes para la historia colonial de Barlovento ..., S. 619-621; Sanz Tapia, Angel, “Refugiados de la Revolución Francesa en Venezuela (1793-1795)”, in: Revista de Indias Vol. XLVII:3, núm. 181 (1987), S. 833-868. 482 AGI, Estado, S.1 (1729-1860) : Estado 1: Santo Domingo, Cuba, Puerto Rico, Luisiana y Florida: “Documentación de la 1ª Secretaría de Estado relativa al ámbito geográfico de Santo Domingo, Cuba, Puerto Rico, Luisiana y Florida. Contiene la correspondencia cruzada entre el Secretario de Estado y las autoridades de estas provincias de América, en las que se dá cuenta de los primeros movimientos independentistas”1, N.5: “El Gobernador [de la Habana]. Conde de Santa Clara: Da cuenta del apresamiento de una Goleta Correo, q.e de la Guayra salió p.a Pto. Rico, por una Fragata Ynglesa, Havana 1º de Febrero de 1797”. 483 Bericht des Kaufmanns Heinrich Rötgers aus San Tomás über die Miranda-Expedition, in: Dahlem, Geheimes Staatsarchiv (GstA), Rep.XI, 21b, 5, Central America (1806) (ohne Foliierung). 484 Archivo General de Simancas, Spanien (AGS), Secretaría Guerra, S. 114 (1771-1804) Venezuela: “Fechos, empleos y retiros ; correspondencia con los capitanes generales y gobernadores ; arreglo de milicias ; emigrados Franceses de Martinica y prisioneros de Santo Domingo ; gobierno y sublevación de Coro”. 485 Laurence, K.O., “Colonialism in Trinidad and Tobago”, in: Caribbean Quarterly (Mona) 9,3 (1963), S. 44-56; Brereton, Bridget (1981): A History of modern Trinidad, 1783-1962, Port of Spain: 1981; González-Ripoll Navarro, María Dolores, Trinidad: la otra llave de América, Caracas, 1992; John, A. Meredith, The Plantation Slaves of Trinidad, 1783-1816, New York: Cambridge University Press, 1988; Laurence, Tobago in Wartime, 1793 Michael Zeuske/Venezuela Seite 191 13.05.2016 Krise 1791 wieder verstärkt Holländer, Kariben, Franzosen und Portugiesen vor. Geflohene Negersklaven bildeten in Essequibo und Surinam, wie die Spanier annahmen, eine „freie und unabhängige Republik“486; aber auch im Zentrum in der Barlovento-Region entstanden Cumbes (wie das unter dem Negro Guillermo um 1770).487 Im Westen lieferten Engländer und Schmuggler aus Jamaika und Nikaragua Waffen an die Guajiro-Indianer. Die Lage war gefährlich und instabil. Kreolen und Spanier in Amerika mussten spätestens seit 1806 ihre Angelegenheiten unter sich regeln. Es gab aber weitere, viel tiefer reichende Konflikte, die mit der extremen, aber unter normalen Bedingungen unterdrückten Gewalt der Sozialbeziehungen in einer äußerlich träge erscheinenden, aber im Innern sehr dynamischen urbanen Kolonialgesellschaften zusammenhingen, die zudem durch kriegerische Konflikte in ihrem Umfeld politisiert worden waren. Rassen- und Kastenschranken für die Masse der mestizisierten Bevölkerung, die bislang die Vorherrschaft der „weißen“ Elite der Abkömmlinge von Conquistadoren und ersten Siedlern gesichert hatten, wurden zum Konfliktfeld erster Ordnung. Kastenordnung, informelle Herrschaft, Grenzkriege und Revolution Die imperialen Träume und Ängste der Eliten von Caracas und der anderen Küstenstädte glichen in etwa denen, die auch andere Eliten des atlantischen Raumes quälten. Wenn die Herren des großen Kakaos und ihre Frauen in den sprichwörtlichen Mantas zur Kirche schritten, glaubten sie - 1815. Kingston: 1995. 486 AGI, Estado, 63 (06-1750 – 26-01-1830), Estado, Caracas: „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas (Alborotos contra la Compañía de Caracas. Sublevaciones en las provincias de Caracas. Miranda y el levantamiento de Caracas. Memorial de Francisco de Azpurua sobre los medios de recuperar las Américas. Separación de Venezuela del gobierno de Bogotá)”, N.2,2: „Aranj.z 28 de Mayo de 1791, del Gobern.or Cap.n Gener.l de Guayana“; in der Information, die am Hof zirkulierte, heisst es: „dando cuenta del estado decadente de esa Provincia de su mando, informa Ud. de que van abanzando en su territorio las posesiones de los Holandeses, Franceses y Portugueses y los Negros profugos de Esequibo, Demorari, Berbi, Surinam, y Cayena establecidos en Republica libre e independiente”. 487 Brito Figueroa, „Las rebeliones de esclavos en Venezuela colonial“, in: Brito Figueroa, El problema tierra y esclavos en la historia de Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1985, S. 205-250; Acuña, Guido, La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993. Michael Zeuske/Venezuela Seite 192 13.05.2016 wenigsten in ihrem näheren Umfeld alles in bester Ordnung. Wenigstens schien in den kolonialspanischen Städten an der Küste und in den Anden alles unter Kontrolle zu sein. In der trügerischen Ruhe der späten Kolonialzeit in den urbanen Zentren ignorierten sie aber, dass im Lande eine tiefgespaltete, extrem ungleiche Gesellschaft und eine sehr ungerechte Ordnung existierte; in den Llanos und in den Guayanas herrschten aus Sicht der städtischen Eliten entweder Conquistazustände, Cimarrones oder Verhältnisse wie vor der Ankunft der Spanier. Das war insofern nicht richtig, als die langanhaltenden Conquistas gerade deswegen so lange anhielten, weil sich die Flucht- und Widerstandsgesellschaften der Indígenas und Cimarrones vieler Waren, Waffen, Tiere und Technologien sowie des Wissens bedienten, die mit den Europäern ins Land gekommen waren – Pferde, Eisengeräte, Schusswaffen, christliche Organisationsformen und Religion, Sprachen. Der Ausländer Humboldt hat die politischen und mentalen Spannungen der Situation in Venezuela sofort nach seiner Ankunft in Venezuela, in Cumaná, Mitte des Jahres 1799, regelrecht gerochen. Er hat sie auch in allen Details beschrieben. Die Konflikte lagen in der Luft. Humboldt wurde nach seiner Landung im Osten Venezuelas fast auf einen Schlag von Nur-Naturforscher zum politischen Wissenschaftler im besten Sinn dieses Wortes.488 Kunst, vor allem gute Kunst, ist neben guter Wissenschaft ein gutes Barometer für soziale Konflikte und Prozesse. Im 18. Jahrhundert kann man die soziale Prosperität, aber auch die Abgrenzung der reichen städtischen Familien der kreolischen Oligarchien an einer neuen Kunstform ablesen: dem Porträt.489 Diese individuellen Bilder und die Tatsache, dass Künstler davon leben konnten (dass es also eine Gruppe von Auftraggebern gab), zeigen gewisse soziale Normen, Qualitäten und Attribute, die die Gruppe der kreolischen Oligarchie sich in Form feiner und auch nicht ganz so feiner Unterschiede erarbeitet hatte Langue, “Humboldt und der ‘Afrikanerstaat’ Venezuela : bürgerliche Zwiste und feindselige Leidenschaften”, in: Humboldt in Amerika, ed. Zeuske, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2001 (=COMPARATIV. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und zur vergleichenden Gesellschaftsforschung, 11. Jg., Heft 2), S. 16-29. 489 Boulton, Alfredo, Historia de la pintura en Venezuela, 2 Bde., Caracas: 1968, Bd. I: Época colonial, S. 131. 488 Michael Zeuske/Venezuela Seite 193 13.05.2016 und ohne die man dieser Gruppe nicht zugehörig sein konnte. Die Bilder waren auch Reflex des Reichtums der Provinz Venezuela und eines kulturellen Aufschwungs, der es erst ermöglichte, überhaupt elitären „Geschmack“ zu haben und den Habitus einer Kaste auszubilden. Das erste Merkmal diese Gruppe, auf den Bilder der Porträtkunst klar sichtbar, ist die Farbe der Haut. Dazu brauchten die Maler neue Farben und vor allem die Frauen der Elite ein neues Modeprodukt europäischer Handwerkskunst, dass damals als Statussymbol (wie heute die frühen Handys) – den Regenschirm, den sie als Sonnenschirm benutzten, um keinesfall etwa Sonnenbräune auf ihren Körpern zu dulden.490 Die Bewohner der kolonialspanischen Städte Venezuelas sahen sich seit ihrer Ansiedlung in Venezuela als Spanier und Träger der spanischen Lebensweise, Mentalität und Kultur – in einem Land, dass noch bis in das 19. Jahrhundert vor allem von Indios und schwarzen Sklaven sowie deren Nachkommen (darunter auch manches illegitime Kind der Siedlereliten) bewohnt war. Kriterien der Zugehörigkeit zu den Oberschichten der Städte waren genealogische Kontinuität von den ersten Conquistadoren und Siedlern oder von den Herkunftsfamilien in Spanien bis zu den jeweiligen Trägern des Familiennamens – symbolisiert wurde diese Kontinuität durch die Ehre der Familie, die sich wiederum zusammensetzte aus limpieza de sangre (Reinheit des Blutes) und hidalguía, Landbesitz (hacienda, hato), oft zusammengehalten durch mayorazgos (rechtliche Untrennbarkeit des Besitzes), Stadtpalais (quinta) sowie lokale Ämter (cabildos) sowie Offiziersposten in den Kolonialmilizen, eventuell sogar einen der neuen Hochadelstitel des 18. Jahrhunderts (wie ihn der Vater von Simón Bolívar lange anstrebt hatte).491 1792 wurden im zentralen Stadtbezirk (Gemeinde) Catedral von Caracas 70 Elitehaushalte (mit rund 1800 Sklaven) in nächster Nähe der Plaza gezählt (siehe die Karte bei Waldron, S. 490 Benthien, Claudia, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbeck bei Hamburg 1999; Finlay, Victoria, Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte, München: Claassen, 2002. 491 Calzadilla, Pedro E., Quimeras de amor, honor y pecado en siglo VXIII venezolano, Caracas: Editorial Planeta, 1994. Michael Zeuske/Venezuela Seite 194 13.05.2016 53).492 In Caracas lebten mehr „Weiße“ als in jeder anderen Stadt der Generalkapitanie.493 All die Statuskriterien der Kolonialelite wurden wiederum sichtbar und für jeden erkennbar in einem äußeren Merkmal – der „weißen“ Hautfarbe, die auch „arme Weiße“ hatten. Deshalb sagte Humboldt, dass die Hautfarbe so etwas wie ein Adelsprädikat in den Kolonien darstellte. Im Volksmund Venezuelas heissen Menschen mit solchen phänotypischen Grundvoraussetzungen noch heute catire oder catira (mittlerweile auch in der Bierwerbung genutzt); sie belegen die höchsten Ränge in der Skala ungeschriebener Schönheitsnormen. Damit wurde Grundlagen gelegt für koloniale Schönheitsideale, die auch die Unterschichten anerkannten, denn sie bekamen sie ebenfalls mit der Muttermilch eingetrichtert. Aus den unsichtbaren Stahlnetzen dieses Rassismus durch Schönheit, aus den Schlangen dieses Laokoon-Komplexes (denn die „Schönheit“ wurde auch noch durch die Wiedererfindung der europäische Antike legitimiert), konnten sie sich nie wieder befreien – zumal die Rückseite dieses Ideals der „weißen“ Haut darin besteht, alles eigene für häßlich und minderwertig, für frech, laut, unanständig und gewaltsam zu halten (später: „Endo-Rassismus“). Trotz der sozialen Exklusivität der Gruppe der kreolischen Oligarchien in den einzelnen Städten waren Kreolisierung und Mestizisierung der Unterschichten aber nicht aufzuhalten. Das schlug auch auf die Elitegruppen durch; die allerdings kulturelle Strategien der formalen Verbergung entwickelten, wie etwa die Einschreibung von Kindern mit farbigen Frauen in Taufbüchern für „Weiße“. Vermischung und Überlagerung sind soziale Grundprozesse von Eroberungsgesellschaften. „Vermischung“ wird in Amerika mit den Konzepten von Mestizisierung oder Kreolisierung beschrieben. Wegen der Dynamik und des Drucks der Mestizisierungprozesse mussten sich die Oligarchien zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert den Begriff criollo 492 493 Waldron, A Social History of a Primate City …, S. 49f., S. 50-53. Ebd., S. 65. Michael Zeuske/Venezuela Seite 195 13.05.2016 „Kreole“ in einer Art Protestumkehr insofern aneigenen, weil die neu zugereisten Spanier den zunächst den afrikanischen Sklaven reservierten Begriff als Spottname für die einheimischen „Weißen“ benutzten. „Überlagerung“ besteht darin, dass der Kern einer herrschenden Eroberergruppe sich nach bestimmten Normen definierte und von diesem ästhetischen Ideal eines Habitus („reines“ christliches Blut, hidalguía, was in Amerika bedeutete, Vorfahren Spanier aus Spanien, möglichst Conquistadoren und erste Siedler) alle anderen Gruppen nach bestimmten körperlichen, sozialen oder gar „biologischen“ Merkmalen als sozial unter ihm stehende Gruppe oder Gruppen definierte, die fast immer an visiblen Kriterien der Physiognomie, des Körperbaus, der Gesichtsformen (vor allem Lippen und Nase), der Haarfarbe und –qualität festgemacht wurden. Die Unterworfenen, die Versklavten und in vielen Fällen die später Hinzugekommenen (wie in Venezuela viele bitterarme Immigranten von den Kanarischen Inseln, so genannte canarios oder isleños494) wurden also auf keinen Fall (oder nur in sehr seltenen Fällen, wenn sie zu Reichtum und Ansehen gelangt waren) integriert, sondern als „Untergruppen“, in denen Männer das aktive Element darstellen (Patriarchalismus), der herrschenden hispanischen Gruppe der „Weißen“ mit Stammbaum, Wappen und Titel sowie Amt untergeordnet. So bildeten sich Kasten in einer Kastengesellschaft des Kolonialismus. Das klingt sehr theoretisch. Es war aber sehr praktisch, denn in der Kastenordnung und im Kastendenken waren in den ersten zweihundert Jahren die Grundwerte von Schönheit und Hässlichkeit sowie gut und böse entstanden und verfestigt worden. Diese Grundwerte entfalten bis heute die vielleicht tiefste und fundamentalste Einwirkung der Geschichte auf die Gegenwart. Moral und Ästhetik des Kastendenkens prägen seit der Kolonialzeit Normen, die bis heute den Alltag jeder Venezolanerin und jedes Venezolaners determinieren, sie zu bestimmten Produkten greifen lässt oder Heiratspräferenzen diktiert. Schön war und ist „weiß“ und „spanisch“ (oder 494 Hernández González, Manuel, Los canarios en la Venezuela colonial (1670-1810), La Laguna: Centro de la Cultura Popular Canaria, 1999. Michael Zeuske/Venezuela Seite 196 13.05.2016 später „Amerikanisch“); hässlich war und ist „schwarz“ oder „gemischt“ und indianisch oder afrikanisch; als besonders hässlich und auch noch hinterlistig gilt die Mischung von Indianisch und Schwarz – der Zambo. Um sich über die Nachwirkungen der Ästhetik des Kastendenkens klar zu werden, braucht man nur eine der im heutigen Venezuela so beliebten Schönheitskonkurrenzen zu beobachten oder etwa die Integration von Marisabel Rodríguez in Chávez’ Wahlkampagne von 1997-1998. Die zweite Ehefrau von Chávez weist alle Stereotypen des venezolanischen Schönheitsideals auf - blanca, ojos azules, rubia (=catira; eine blonde, weiße Frau mit blauen Augen), das „schönste Gesicht Venezuelas“ in einer Konkurrenz von Revlon. Diese „Barbie“ an der Seite des wilden Llanero diente in der Kampagne dazu, die Frauen der Mittelklasse zu gewinnen.495 „Schwarze Herkunft“ gar wurde, weil besonders stigmatisiert, denn irgendwo musste ein Sklave oder eine Sklavin in der Reihe der Vorfahren sein, aus den Stammbäumen auch der Pardos möglichst entfernt und möglichst dem Vergessen anheimgegeben – obwohl es in der Demographie eine klare Dominanz etwa von dem gibt, was man heute afrodescendientes nennen würde. In der Kolonialzeit hiessen diese Menschen Pardos.496 Es entstanden fraktale Identitäten, die sich zu einer historischen Identitätskrise schürzten – deren Folgen bis heute zu spüren sind.497 Die offizielle und sozial anerkannte Vermischung von Spaniern und Europäern mit Indianerinnen in Form von informellen Bindungen und Heiraten, 495 Marcano, Cristina; Barrera Tyszka, Alberto, Hugo Chávez sin uniforme. Una historia personal. Prólogo Petkoff, Teodoro, edición a cargo de Rodríguez, Cynthia, Caracas: Grupo Editorial Random House Mondatori, S.A., ²2006, S. 46; zu den künftigen Schicksalen der Ehe siehe auch: Twickel, “Verheiratet mit der Revolution: Marisabel geht, Fidel kommt”, in: Twickel, Christoph, Hugo Chávez. Eine Biographie, Hamburg : Edition Nautilus, 2006, S. 261264. 496 Historian Aline Helg finds evidence in her work on South America for the pivotal role of the size of the free population of color in racial formation (or in what might be termed racial consciousness from a less constructionist perspective, as suggested by some of Helg's formulations). She writes that "in Venezuela and Caribbean Colombia, where most of the colonial population was free [and] of color, African ancestry and blackness have not been acknowledged" in the national period. (Aline Helg, “The Limits of Equality: Free People of Colour and Slaves during the First Independence of Cartagena, Colombia, 1810-15”, in: Slavery and Abolition 20, no. 2 (1999), S. 24.); Cohen, David; Greene, Jack (eds.), Neither Slave nor Free: The Freedmen of African Descent in the Slave Societies of the New World, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1972. 497 Langue, “Les identités fractales. Honneur et couleur dans la société vénézuélienne du XVIIIe siècle”, in : Caravelle 65 (1995), S. 23-37. Michael Zeuske/Venezuela Seite 197 13.05.2016 wie es in der frühen Conquista und Kolonisation üblich gewesen war, hatte die Krone bereits seit etwa 1570 gestoppt. Eine offizielle Verbindung, über Heirat, zwischen Europäern und afrikanischen Sklaven oder deren freie Nachkommen, war undenkbar für den Status eines „Weißen“ in Amerika und Venezuela. Die Kreolen, vor allem die Oberschichten, hielten sich durch endogame Heiratspolitik exklusiv. Deshalb auch die vielen Heiraten von Verwandten. Auch Bolívar war mit einer Cousine verheiratet. Natürlich gab es inoffiziell viele Liebschaften; Sexualität und Fortpflanzung der Menschen waren in Gesellschaften vor der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft nicht aufzuhalten. Deshalb bestand bereits im 18. Jahrhundert mindestens die Hälfte der etwa 800000-900000 Einwohner Venezuelas aus so genannten pardos. Freundlich ausgedrückt bedeutet dieser Begriff so etwas wie gemischtfarbiges („buntes“) Rind. Offiziell, in einem Sechs-Augen-Gespräch, im 18. Jahrhundert hätte niemand gewagt, einem anderen Menschen ins Gesicht zu sagen: Du bist Pardo (oder „Indio“, oder „Mulatte“) - weil es als schwere und nachgerade blasphemische Beleidigung galt. Aber als noch schlimmer galt, jemanden als „negro“ zu titulieren. Grundsätzlich wurde in informellen Schreiben oder Gesprächen vor allem der Mantuano-Eliten, wenn von Menschen die Rede war, die in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihnen standen, von las castas gesprochen. In den Kolonialstädten entstand bald zwar in Realität eine mestizisierte Gesellschaft, deren Spitzen die mächtige Illusion der „Reinheit des Blutes“ und des blanqueamiento (Erlangung oder Erhaltung des Status eines „Weißen“) vertraten und aufrechterhielten. Das verlieh jeder politischen Bewegung gegen die Vorherrschaft oder Wirtschaftsmonopole auch eine prärassistische Komponente und zwang die wenigen „Weißen“ angesichts der numerischen Vorherrschaft von „Nichtweißen“ fast um jeden Preis offene Konflikte zu vermeiden. Die trügerische und träge erscheinende Ruhe der Kolonialzeit beruhte auf mehreren Komplexen von Hass (die Humboldt meint, wenn er Michael Zeuske/Venezuela Seite 198 13.05.2016 schreibt: „Die europäischen Regierungen haben so viel Erfolg in der Verbreitung des Hasses und der Uneinigkeit in den Kolonien erzielt“498). Unterdrückter Hass herrschte zwischen kreolischen lokalen Eliten und imperialen spanischen Eliten. Zum Kastendenken der Kolonialgesellschaft und dem Hass zwischen Eroberern und Unterworfenen kam der Hass der verschiedenen Indiovölker und -stämme untereinander. Im Grunde betrachten Gartenbauern, wie Aruak und Kariben, Wildbeuter und Sammler, wie Yanomami oder Warao, als eine Art räudige Tiere („Affen“) unterhalb der Stufe des Menschseins.499 José Gil Fortoul (1861-1943), einer der ersten großen Historiker Venezuelas, hat, aufbauend auf Humboldts Essay politique über Venezuela, ein System der siete castas (sieben Kasten) erarbeitet (schon die Numerierung drückt eine Bewertung von „oben-unten“ aus; ich zitiere alles, eben weil es auch enthüllend ist): 1) Die in Europa geborene Spanier; 2) die in Amerika geborene Spanier, genannt „Kreolen“; 3) die Mestizen, Nachkommen von blanco [weißer Mann] und india [Indianerin]; 4) die Mulatten, Nachkommen von blanco [weißer Mann] und negro [eigentlich Schwarzer, soll heissen „schwarze Frau“, in Realität also meist Sklavin – M.Z.]; 5) die zambos, Nachkommen von indio und negro; 6) die indios; 7) die negros, mit den Unterteilungen von: zambos prietos [dunkle Zambos], Produkt von negro und zamba [Zambo-Frau – M.Z.]; cuarterones [„Viertelblütler“, nach dem vorgestellten Anteil „weißen“ Blutes] von blanco und mulata; quinterones [„Fünftelblütler“], von blanco und cuarterona, und salto-atrás, die Mischung, in der die Farbe [color, damit ist die „Farbe“ der Haut Humboldt, „Colonies“, in: Humboldt, Vorabend …, S. 63-67, hier S. 65f (Dokument Nr. 1). Heinen; Pérez, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung Venezuelas”, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276, hier S. 269. 498 499 Michael Zeuske/Venezuela Seite 199 13.05.2016 gemeint – M.Z.]. In Venezuela nannte habituell man alle Personen, die nicht von raza pura [reiner Rasse] waren, pardos, eine Kaste, die am Ende der Kolonie [um 1800] die Hälfte der Gesamtbevölkerung umfasste. Zu Sonntagen und Festen konnte man in den Kirchen von Caracas ein lebendiges Bild der Kasten sehen. Zur Kathedrale gingen vorwiegend die Weißen; zur Iglesia de la Candelaria, die isleños de Canarias [Kanarier]; nach Altagracia die Pardos und zur Einsiedelei von San Mauricio die Neger“.500 In der Erwähnung der Kirchen und Stadtbezirke zeigt sich die Verräumlichung des Rassendenkens, was auch kompliziert klingt, aber ganz simpel darin sichtbar wird, dass „Weiße“, vor allem reiche „Weiße“, in schönen Stadtgegenden wohnen und „Schwarze“ in hässlichen, vom Stadtzentrum entfernten und ungesunden Barrios. Jedes Aussprechen und Niederschreiben rassistischer Schemata ist zugleich Prolongierung, aber auch Enthüllung von Praktiken der Exklusion und ungesagten Unterdrückung von der Wiege bis zur Bahre. Kreolisierung ist immer ambivalent. Deshalb wirkt vielleicht heute nicht so sehr irgendwelche Rationalität von Programmen, die unter Hugo Chávez firmieren, sondern die einfache Tatsache, dass der Präsident von „weißen“ Eliten mono (Affe) genannt wird – ein Schimpfwort für „Neger“, von dem sich aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung von Venezuela angesprochen und beleidigt fühlen kann. Chávez nennt die „weißen“ Eliten im Gegenzug gerne Oligarcas oder Mantuanos. Das Schema von José Gil Fortoul, ein venezolanischer Mann der Oberschicht, der viel auf die katalanische und „weiße“ Herkunft seiner Vorfahren hielt, zeigt deutlich anschwellenden Rassismus ab Untergruppe „3)“ (wo wenigsten noch nach „weißem“ Mann und „india“ unterschieden wird; die weiter unten aufgeführten Gruppen sind reine Objekte und reproduzieren ein Schema, dass Ende des 18. Jahrhunderts von der Krone vorgegeben worden war – Código Negro Español, 1789). 500 Zit. nach: Morón, Guillermo, Breve Historia de Venezuela. Prólogo de Demetrio Ramos, Madrid: Espasa Calpe, 1979, S. 145. Michael Zeuske/Venezuela Seite 200 13.05.2016 Ein mächtiger Grundprozess dieser Gesellschaft war die Mestizisierung501, ihr ideales Ziel aber die Einweißung (was eine Reihe von regelrechten psychosozialen Spaltungen begründet); die Mischung der Mischungen (pardos) machte um 1750 schon über 50% aus. Im 18. Jahrhundert konnte kaum noch jemand in der Masse der Misch- und Rassentypen wirklich auseinanderhalten (und auch nicht wollte - falls es nicht politische oder wirtschaftliche Interessen gab). So unterschied man im Alltag in kultureller Hinsicht vor allem zwischen Leuten, die sich der spanisch-amerikanischen Wirtschafts- und Lebensweise in den Städten angeschlossen hatten. Hispanisierte Mestizen und Mulatten, ziemlich egal mit welchen realen Anteil indianischen oder schwarzen Blutes, wichtig waren Phänotyp und Hautfarbe (nach Humboldt: „In den Kolonien ist die Hautfarbe der wahre Ausweis der Stellung des Einzelnen“) waren in diesem Sinne im 18. Jahrhundert Leute, zumindest zeitweilig in der Stadt lebten und sich an das kolonial-spanische Wirtschaftsleben angepaßt hatten. Ein „Indianer“ mit indianischen Vorfahren konnte in diesem Sinne durchaus als Mestize bezeichnet werden und war es in sozialer Hinsicht auch; während der wirkliche Mestize, wenn er etwa mit seiner indianischen Mutter vorzog in der „Welt“ der ländlichen Indios (in einem Indianerdorf - reducción - oder gar bei den „wilden“ Indios – indios bravos - zu leben) als Indio galt. Humboldt hat die Lebensweise und die Mentalität eines solchen „sozialen Indio“, der sich zugleich mental für einen „Spanier“ hielt, beschrieben (31. März 1800, am oberen Orinoco, Venezuela): „Nachts am 31. Merz, und von nun an immer, unter freiem Himmel bei Vuelta del Joval am rechten Ufer in Art Conuco eines Mata Tigers [502] D[o]n Ignacio, ein Gemisch aller Kasten, erzkupferbraun, ganz nakd wie alle seine Töchter, aber stets von nos otros Cavalleros blancos [wir weißen Herren], seiner 501 Allerdings kann auch die Betonung der Mestizisierung, wie in Brasilien, zeitweilig Kuba und Venezuela üblich, ein „demokratisches“ Mittel der rhetorischen Verschleierung wahrer Machtverhältnisse sein. Noch heute gibt es etwa in Kolumbien keinen Politiker mestizischen oder mulattischen Phänotyps und Hugo Chávez ist der erste „Pardo“ als Präsident Venzuelas – ich betone nochmals die Ambivalenz „rassistischer“ Worte und Begriffe – ihre Anwendung kann auch enthüllen. 502 Mata Tiger = Jaguarjäger. Michael Zeuske/Venezuela Seite 201 13.05.2016 vornehmen Herkunft, der Doña Isabella, seiner Gemahlin, Doña Manuela, seiner Tochter, alle naktarschig, sprechend. So sind die Menschen in diesem Lande. Europ[äische] Laster, Span[ischer] Uebermuth unter allen Kasten verbreitet und den Menschen bis in die Wildniß ((der S[eñor] Don Ignacio hatte nicht einmal eine Palmenhütte, aber Platanus und Wildpret, das er mit Pfeilen erlegt (denn ein Schuß Pulver kostet 1/14 duro) im Ueberfluß)). Unter den Weißen und Indianern, die ihnen gleich sind, eine völlige Gleichheit“.503 Mit der stärkeren Abgrenzung der Oberschichten von den „armen Weißen“ (kanarische Einwanderer und blancos de orilla, ebenfalls meist kanarischer Abstammung) den Pardos und castas mixtas („Mischkasten“) und Verschärfung der Kastennormen (color-lines) während der wirtschaftlichen Prosperität des 18. Jahrhunderts einerseits, des Versuches der Krone, wirtschaftlich erfolgreiche und dynamische Gruppen der Pardos zu integrieren, vertiefte sich auch die sozio-kulturelle Auslese seitens der lokalen Machtgruppe der Eliten „weißer“ Kreolen: diese Art von Auslese hat in den meisten Fällen natürlich auch über die soziokulturellen Wertigkeiten und ethnisch-soziale Mentalitäten (Normen) - zu einer „Einweißung“ der Mischlinge und zur Bildung neuer Kasten geführt. Das galt besonders für die „Mestizen“. Offiziell gab es kaum legale Normen, die sie verfemten, aber sehr viele kulturelle Hindernisse (Sprache, Traditionen, Physiognomie, Outfit (Habitus), Essen, Medizin, Lebensumfeld, Wohngegend, Literalität). Seit der Conquista galten die ersten Mestizen (Weiß-Indio) als „Blancos“, erst nach den ersten ein-zwei Generationen wurden sie gewohnheitsrechtlich und kulturell mehr und mehr den Pardos zugerechnet („las leyes consideraban al mestizo como blanco, aunque las costumbres coloniales lo envolvían en la casta genérica de pardo“504). Mestizinnen generell und auch Mestizinnen der zweiten oder dritten Generation, sofern sie in den Städten lebten, bevorzugten unter dem Druck der Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution …, S. 236f. Morón, Breve Historia de Venezuela …, S. 359f. (Fall Dr. Juan Germán Roscio) (Morón, Guillermo, Breve Historia de Venezuela. Prólogo de Demetrio Ramos, Madrid: Espasa Calpe, 1979, S. ?). 503 504 Michael Zeuske/Venezuela Seite 202 13.05.2016 Kastennormen die Ehe mit einem im zeitgenössischen Status höher stehenden „weißen“ (oder „weißeren“) Mann, so dass deren Nachkommen nach und nach wieder im Typ des amerikanischen Weißen aufgingen (oftmals schon in der dritten Generation). Das alles stellte eine an politisch und kulturell definierten Sozialnormen orientierte Auslese dar; es vollzog sich eine damals als „Entbastardisierung der Mestizen“ genannte oder wie Max Weber schrieb, als sozial-politische (durch Heiratsnormen gelenkte) „Reinzüchtung anthropologischer Typen“, wobei die Merkmale der spanisch-europäischen Ahnen fast rein wieder hervortraten (Halperin Donghi: „soziale Rassen“). Generell galt die offizielle Ehe (die inoffizielle Ehe der barraganía sowieso nicht!) etwa für einen Spanier mit einer Mestizin in erster Generation nicht als gesellschaftlich diffamierend und beeinträchtigte juristisch nicht die limpieza de sangre (selbst in Spanien erst zwischen 1835 und 1865 (Gesetz) sowie Verfassung von 1869 endgültig beseitigt505) seiner Person oder seiner Kinder. In der Realität des Alltagslebens und des täglichen Klatsches wurden Mestizen aber durchaus als „Indios“ diffamiert, die sprichwörtlich als gente sin razón (Leute ohne Verstand) galten. Das ist der Hintergrundkonflikt beim Aufstieg gut gebildeter „Indios“, wie etwa die der Mestizen Benito Juárez in Mexiko, oder Juan Germán Roscio in Venezuela – und heute der intellektuelle Hochmut gegenüber Hugo Chávez. Roscio, einer der geistigen Mentoren der radikaleren Unabhängigkeitsbewegung, musste sich gegen den Vorwurf wehren, er sei Pardo und könne deswegen nicht als Rechtsanwalt tätig werden. Roscio stellte zunächst fest (und in diesen Feststellungen spricht sich der Protorassimus der Kastennormen deutlich aus): „meine Mutter hatte Reputation und wurde als Quarteron-Mestizin angesehen, Tochter einer Mestizin und eines anständigen Mannes von Wertschätzung, … Don Juan Pablo Nieves, und auch wenn ein Bruder und eine ihrer Schwestern sich mit Pardos verheiratet hatten, hatte sie Veracochea, Ermila de, „La ‚limpieza de sangre’ a través de la Real Audiencia de Caracas“, in: Academia Nacional de la Historia, Memoria del segundo Congreso venezolano de historia del 18 al 23 de Noviembre de 1974, 3 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1975, Bd. III, S. 353-385, hier S. 355. 505 Michael Zeuske/Venezuela Seite 203 13.05.2016 nicht von dieser Rasse und auch nichts vom Neger“.506 Roscio argumentierte mit dem „natürlichen“ Gleichheitskonzept der französischen Revolution und drückte auch sein Mitgefühl mit den „durch Sklaverei erniedrigten“ Negros, Zambos und Mulatos aus, die man seiner Meinung nach nicht „Neger“ nennen solle, sondern Afrikaner, Äthiopier, Guineer, Luangos oder Congos.507 Demographisch gesehen, bestand die Bevölkerung der Generalkapitanie um 1800 aus etwa 900000 Individuen (1800), davon 90000 Negersklaven; rund 160000 Indios (inklusive der indios bravos, der in Wirklichkeit ungezählten „wilden“ Indios), 450000-500000 Pardos; rund 180000 „weißen“ Kreolen (rund 20%), zu denen auch die städtischen Oligarchien, der Cabildos und der großen Landbesitzer zu rechnen sind sowie etwa 1500 Spanier (aus Spanien) und 10000 frisch eingewanderte Kanarier. Ich habe in dieser Zusammenfassung (oben) die in der Literatur sehr verbreitete Tabelle (nach Humboldts Schätzungen für die Generalkapitanie) einmal umgedreht und die Negersklaven, Indios und Pardos zuerst genannt, denn schon die andauernde Visualisierung solcher Tabellen hat dazu beigetragen, dass dieses Schema im Grunde bis heute interiorisiert blieb und bis heute ein Mittel sozialer Herrschaft „weißer“ und „lateinischer“ Eliten geblieben ist. Die „normale“ (aber wissenschaftlich etwas elaborierte) Version dieses Schemas der Bevölkerung Venezuelas um 1800 (Capitanía General de Caracas)508 ist die folgende: Kasten (sozialer (legaler) Status) Anzahl % 12.000 172.727 1,3 19,0 % von Gesamt (nach „Kasten“) Weiße („Spanier“) Kreolen (z.T. auch „arme Weiße“ und 20,3 „Información de Calidad del Dr. Juan Germán Roscio, natural de San Francisco de Tiznados y vecino de Caracas, para ser incorporado en el Colegio de Abogados, el cual le rechaza por ser hijo de la cuarterona Paula Nieves, hija de Don Juan Pablo Nieves y la mestiza Francisca Prudencia Martínez, por más que su padre era Don José Cristóbal Roscio, natural del Ducado de Milán, 1798-1799”, in: Cortés, Santos Rodulfo, El régimen de las “Gracias al Sacar” en Venezuela durante el período hispánico, 2 Bde., Caracas : Italgráfica ; Academia Nacional de la Historia, 1978 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 135-136), Bd. II (Documentos Anexos), S. 128-155, hier S. 129. 507 Ebd., S. 137. 508 Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela, 2 Bde., Caracas : Universidad Central de Venezuela, 1966, Bd. I, S. 160. 506 Michael Zeuske/Venezuela Seite 204 Kanarier) Pardos (freie Farbige) Neger (frei/Manumisión) Negersklaven Cimarrones (Schwarze, Mulatten, Zambos) 13.05.2016 407.000 33.362 87.800 45,0 4,0 9,7 45,0 2,6 8,4 3,3 6,7 16,3 Indios (Tribut) Indios (ohne Tribut) Indios (“Wilde”) 24.000 75.564 25.590 60.000 Total 898.043 100,0 100,0 18,4 Lucena Salmoral kommt unter Nutzung der Daten von John V. Lombardi zu folgender demographischer Struktur: 25% Weiße, ca. 13% Indios, ca. 38% Pardos, ca. 8% Negros libres und ca. 15% schwarze Sklaven.509 Die moderste Demographie, die auch wirklich auch die sozioökonomischen Trennlinien und die Status-Grenzen innerhalb der Gruppe der Weißen berücksichtigt, geht auf John V. Lombardi zurück510: Soziale Gruppe Zahl % Bev. Spanier 1500 0,18 Elite-Kreolen 2500 0,31 Kanarier (Inmigr.) 10000 1,25 Blancos de orilla 190000 23,75 Pardos 400000 50,00 Negros 70000 8,75 Indios 120000 15,00 Total 800000 rund 100.00511 Aber auch der entgegengesetzte Trend war möglich, wie schon unter dem Punkt soziokulturelle Phänomene in Bezug auf die Kastengesellschaft skizziert: Männliche Mestizen, die von ihren spanischen Vätern nicht legitimiert wurden, fanden schwerlich eine weiße Ehepartnerin und gingen Verbindungen mit 509 Lucena Salmoral, Vísperas de la independencia americana ..., S. 24. Nach: Lombardi, Peoples and Places in Colonial Venezuela …, S. 132; Izard, Series estadísticas para la historia de Venezuela …, S. 9; Báez Gutiérrez, Historia popular de Venezuela: Período independentista ..., S. 3. 511 Nach: Lombardi, Peoples and Places in Colonial Venezuela …, S. 132; Izard, Series estadísticas para la historia de Venezuela …, S. 9; Báez Gutiérrez, Historia popular de Venezuela: Período independentista ..., S. 3. 510 Michael Zeuske/Venezuela Seite 205 13.05.2016 Mestizinnen oder Indias ein und sanken somit in der sozial-ethnischen Stufenleiter zurück. Die Kirche trug zur Bildung der Kastengesellschaft bei. Die Gemeindepriester führten drei getrennte Register (Taufen, Heiraten und Begräbnisse): 1) für „Spanier“ oder „Blancos“ (Weiße) 512; 2) für „Pardos“ (in Sklavereigesellschaften oftmals noch in „pardos“ und „negros“ unterteilt); 3) für „Indios“ und „Mestizos“; sofern sie in Städten lebten wurde diese Kategorie in Venezuela meist unter „Pardos“ subsumiert.513 Für „Indios“ in Missionen und Resguardos sowie für die so genannten „wilden“ Indios galten andere Normen, ebenso wie für die vielen geflohenen ehemaligen Sklaven (cimarrones). Im 18. Jahrhundert kam eine Vielzahl von Einzelbezeichnungen Kasten und Unterkasten verstärkt auf. Auch sie wurden bildlich dargestellt.514 Diese Visualisierung in zeitgenössischen Medien zeigt die volle Herausbildung der Kastengesellschaft als strukturelle Antwort auf eine Reihe von komplexen Problemen in der Entwicklung der Kolonialgesellschaften Amerikas. Längere Zeit sind Kastengesellschaft und die Klagen über sie (die oftmals in Begründungen für Aufstände und soziale Unruhen zu finden sind bzw. in Forderungen) als Ausdruck einer stark hierarchisierten und festgefügten, ja regelrecht versteinerten Gesellschaft angesehen worden. Die neuere Forschung Im Sinne von Amerikaspanier, also „Kreolen“, denn in Europa geborene Spanier waren dort in die Taufbücher eingetragen; für Rechtsfälle mussten sie Kopien dieser Tauf- oder Heiratszeugnisse beibringen. 513 Allerdings ist die entsprechende Eintragung in das Kirchenbuch nicht immer als Beweis für die tatsächliche Zugehörigkeit einer Person zu betrachten, siehe: Konetzke, Süd- und Mittelamerika I, Frankfurt/Main 1964, S. 101. Das bedeutet, dass Väter mit viel Macht und Einfluss etwa ihre „natürlichen“ Kinder in das Taufbuch für „Weiße“ einschreiben lassen konnten. 514 García Sáiz, María C., „Die Rassenmischung in Amerika und ihr Niederschlag in der Kunst“, in: Gold und Macht. Spanien in der Neuen Welt (Ausstellungskatalog), Köln 1987, S. 132-136. Die Autorin stellt zu den Mestizen-Bildern fest: Der „wirkliche Grund für diese Art von Bildern, die die Werteskala [weiß ist der absolut höchste Wert] ... umdrehen und als Hauptperson unzähliger Gemälde Mestizen ... zeigen, [liegt] in einer teifgreifenden Mentalitätsveränderung innerhalb der Menschen der Stadt und auch der Landbevölkerung“ (S.133). Hier manifestiert sich in der Kunst (als soziales Barometer) die Tatsache, dass Mestizen der größte Teil der Bevölkerung waren. Älteste bekannte Serie aus Schule um Juan Rodríguez Xuarez, von 1725. Die „Rassenbilderserien“ umfaßten stets 16 Einheiten. Meist waren die ersten sieben oder acht Bilder dem Mestizen, bei dem die „weiße Rasse“ einen mehr oder minder starken Einfluß hatte; das letzte Bild dieser ersten Achter-Serie widmeten sie dem reinblütigen Indio; die restlichen acht Bilder den Verbindungen zwischen Neger und Indianer und den verschiedenen Kasten dieser „Rassenmischung“ (S.135). 512 Michael Zeuske/Venezuela Seite 206 13.05.2016 dazu übergegangen, sie als dynamisches Element einzuordnen. Die Verhärtung der Kastenstrukturen war in dieser Perspektive eine Gegenwehr der amerikanischen Spanier, besonders der kreolischen Oligarchien515, die damit den demographisch-sozialen Dynamik der Pardos (die auch noch von seiten der absolutistischen Modernisierung der Krone gefördert werden sollte) aufhalten oder zumindest nach ihren Interessen steuern wollten. Die festgefügten und machtbewußten kreolischen Oligarchien der Städte antworteten mit der Kastenordnung auf die Selbstorganisation einer Gesellschaft, die im biologischsozialen Sinne zu regional unterschiedlichen Formen der Mestizisierung tendierte. Die Kastenordnung, für die einzelnen Städte mit ihren unterschiedlichen konkreten Situationen müsste man eigentlich von Kastenordnungen sprechen, dienten der Abwehr der wirtschaftliche Dynamik der Pardos und Mestizen, freigelassenen Sklaven und freien Farbigen. Die Oligarchien reagierten mit stärkerer Betonung lange vorhandener Unterschiede, Farblinien und kultureller Differenzen. Die Instrumentalisierung des Kastensystems zur Konstruktion und Bewahrung von Herrschaft zeigte sich auf vielerlei Art und Weise (die cum grano salis auch heute noch üblich sind). Die Masse der freien Farbigen und ein großer Teil der armen Weißen (die Masse der Einwanderer, vor allem Kanarier, Isleños, wie Sebastián de Miranda Ravelo, der Vater von Miranda) wurden als Pardos („Mischlinge“) stigmatisiert, was gleichbedeutend war mit „Abkömmling von Negern“ und sehr nach gente sin razón klang.516 Verbunden waren diese Herabsetzungen mit sehr subtilen Formen sozialer Diskriminierung: Sprichwörter, Witze, Zerrbilder, Text- und Denkfiguren, die den „Mischlingen“ vor allem die schlechten Eigenschaften der Ursprungsrassen andichteten („Halbblut“). Oft tritt die rassistische Kastenmentalität in Beobachtungen zu Tage, die anderen hauptthemen Siehe das gute operationale Konzept von „oligarquía“, das auch die politische Dimension einschliesst: Prato Barbosa, N.; Carvallo, Gastón, „La conformación del sistema de dominación oligarquico en Venezuela“, in: Boletín de la Academia Nacional de la Historia (BANH) LXXI, Nr. 283, Caracas (julio-sept 1988), S. 695-705. 516 Miranda, Sebastián, Recuerdos y añoranzas: mi vida y mis amigos, Madrid: Editorial Prensa Española, 51973; Fernández, David W., La familia de Miranda: historial genealógico de la familia del Precursor Miranda en Canarias y en América, Caracas: Instituto de Estudios Históricos Mirandinos, 1972. 515 Michael Zeuske/Venezuela Seite 207 13.05.2016 gewidmet waren. So traf Humboldt auf dem Wege von Valencia nach San Fernando de Apure einen alten kranken Spanier: „In Güigue wohnten wir bei einem alten Sergenten, krank, aus Murcia, lange in Mallorca, sehr lästig gelehrt, die Schöpfungsgeschichte auswendig wissend und zwar lateinisch … sehr stolz. Er glaubt, ein Zambo, Pereida (ein Curioso in Valencia517), der als Arzt großen Ruf hat, könnte seinen rheumat[ischen] Schmerz heilen, aber der Zambe, sagt er, den Gott bestimmt geschaffen hat, eine humilde und niedrigere Kreatur zu sein, verlangt viel Höflichkeit, und deshalb geh’ ich nicht zu ihm“.518 Das bürokratische Instrument des Nachweises der limpieza de sangre („Reinheit der Blutes“519) wurde verschärft angewandt, wie im Falle von Juan Germán Roscio. Dazu konnten sich die kreolischen Oligarchien ihrer geistigkulturellen und bürokratischen (auf den unteren/lokalen Ebenen der Kolonialadministration) Vorherrschaft in den Kolonialstädten bedienen. Schließlich waren (vor allem) die zweiten Söhne Universitätslehrer, Rechtsanwälte, Notare, Kleriker, Lokalrichter (tenientes de justicia, jueces), Milizoffiziere, Angehörige der Stadträte oder im Vorstand von Kirchen, Schulen oder Zünften. Zudem unterhielten die kreolischen Eliten immer auch pressure groups bei Hofe in Madrid, wo sie durch persönliche Beziehungen, aber auch Bestechung versuchten, Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewinnen. Legendär sind die Anlieferungen von ganzen Schiffladungen besten Kakaos für höchste Beamte – so konnte der Conde de Aranda vor dem berühmten Aufklärer Abbé Raynal mit seiner guten Schokolade aus Caracas prahlen. Der Consulado von Caracas finanzierte sogar einen apoderado (Bevollmächtigten) bei Hofe in Madrid520; 1796 war das Bernardo del Toro mit einem Jahresgehalt von 2000 Pesos. Bolívars erster Aufenthalt in Spanien 1799-1802 diente dem Zweck, den 517 Curioso=Curandero, Heiler. Humboldt, Alexander von, „Durch die Llanos von Guacara bis San Fernando de Apure“ (6. März-27. April 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 222-235, hier S. 222. 519 Veracochea, „La ‚limpieza de sangre’ a través de la Real Audiencia de Caracas“, S. 353-385 520 Rivero, Manuel Rafael, Tras las gracias del Rey. Un criollo en la corte de Carlos IV, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericanos, 1996. 518 Michael Zeuske/Venezuela Seite 208 13.05.2016 jungen Mann in die Kreise der Pressure-Group aus Caracas einzuführen (und wurde wohl auch mit Kakaolieferungen finanziert); 1802 heiratete Bolívar die Tochter del Toros, María Teresa del Toro y Alayza (Madrid, 15. Oktober 1781 – Caracas, 22. Januar 1803), die ein Jahr danach an Gelbfieber starb. Entre los privilegios de que gozaban los pertenecientes a los grupos procedentes del viejo continente figuraba el poder llevar armas, vestir a la europea, ocupar cargos de gobierno, y ocupar determinados lugares dentro de la iglesia. Junto a estos privilegios sociales, los blancos recién llegados esperaban mejorar su situación económica por vía matrimonial; la situación social de este grupo no era pues, nada infausta si tenemos en cuenta los puestos a los que sus integrantes podían aspirar. Por el contrario, los mulatos, catalogados genéricamente como "pardos", pese a que podían ser propietarios y de una situación económica desahogada, estaban socialmente discriminados por el color de su piel, delator del dudoso y posiblemente pecaminoso cruce que les había "blanqueado". Los pardos estaban excluidos de los organismos de gobierno coloniales, como los cabildos, o la audiencia; además, de tanta trascendencia como las limitaciones políticas eran las restricciones sociales a las que estaban sometidos, tales como la prohibición de usar oro, prendas de seda, o llevar espada. El control de los mestizo se llevaba a cabo en las parroquias, en las que los curas cumplimentaban el "libro de pardos" en los que se anotaban los bautizos de gentes de color. También otras instituciones, como las órdenes religiosas y colegios profesionales, imponían limitaciones a este grupo racial. La relevancia económica que llegaron a alcanzar los pardos junto con las perennes necesidades de ingresos de la Real Hacienda fueron factores que hicieron que la Corona dictaminase la Real Cédula de "Gracias al sacar", originada en l773 pero dictaminada en l795, en la que se regulaba la posibilidad de "blanquear" la sangre de los pardos previo pago de un canon estipulado. La aplicación de esta ley provocó un profundo malestar entre los criollos, pues rompía el inestable y ya de por sí delicado equilibrio entre los grupos sociales Michael Zeuske/Venezuela Seite 209 13.05.2016 constituyentes de la colonia. Ante esta muestra, considerada de torpeza por parte de los legisladores indianos, el Cabildo de Caracas alzó su voz de protesta en un informe de 28 de noviembre de l796, aludiendo al hecho de que, con la aplicación de la ley, se rompía la estructura socio-racial establecida desde la conquista: "es espantoso a los vecinos y naturales de América, porque sólo ellos conocen, desde que nacen o por el transcurso de muchos años de trato en ella, la inmensa distancia que separa a Blancos y Pardos; la distancia y superioridad de aquéllos, la bajeza y subordinación de éstos: como que nunca se atreverán a creer como posible la igualdad que les pronostica la Real Cédula, si no hubiera quien protegiendoles para depresión y ultraje de los vecinos y naturales Blancos, los animase y fervorizase con la esperanza de una igualdad absoluta con oposición a los honores que hasta ahora han sido exclusivamente de los Blancos"521. Junto a esta desigualdad natural entre los distintos grupos, el Cabildo de Caracas esgrimía otro argumento muy en boga en la época; se trataba del "infame origen" de pardos, zambos y mulatos. Pero, no obstante, había otro argumento de más peso que podía suponer la muerte del sistema esclavista; según el Cabildo de Caracas era imposible la equiparación de blancos y pardos porque el origen de los pardos no era otro que la esclavitud. La Real Cédula equiparaba los derechos de los pardos y los blancos, rompiendo la situación colonial y creando una tendencia a la igualdad entre los dos grupos de suerte que, al tener los pardos su origen en los dos grupos de suerte que, al llegar a perder el espíritu de sumisión, produciéndose la desaparición del sistema esclavista por la pérdida del prestigio y la superioridad por parte de los blancos. Los mantuanos caraqueños, por tanto, dejan ver claramente el temor a los hombres de color y a la revolución social en la Capitanía. Las necesidades defensivas de la colonia habían derivado en la creación de batallones de milicias de pardos, con la misma estructura que los formados por hombres blancos; en estos cuerpos auxiliares del ejército, los 521 BLANCO, J F, AZPURUA, J. Documentos para historia de la vida pública del libertador. Vol I P, 268. Caracas 1975. Michael Zeuske/Venezuela Seite 210 13.05.2016 hombres de color recibían instrucción militar. Esta decisión de incluir en los planes de defensa militar a los pardos tampoco era bien vista por los caraqueños, que desde la revolución de Haití observaban con recelo la evolución de este grupo étnico. Si conseguían además obtener puestos de gobierno, al adquirir condición de "blancos" por medio de la Cédula de "Gracia al sacar", la revolución sería inevitable según los caraqueños, pues provocarían la insurgencia general. El temor de los mantuanos a los pardos se hizo extensivo a las autoridades coloniales, que veían en esos grupos el mejor caldo de cultivo para la revolución; en el fondo se trataba de evitar la influencia de 450000 pardos y negros libres, frente a los l87000 blancos, que tampoco formaban un grupo homogéneo. Creemos que, con esta Real Orden, la Corona pretendía evitar una situación tan tensa como la que podía derivarse de su aplicación. En este proceso revolucionario de Haití los pardos "affranchis" habían jugado un papel decisivo; en un principio, participaron junto a los republicanos que habían propuesto la equiparación de derechos, pero la oposición de los plantadores dejó sin efecto la orden. Posteriormente, radicalizaron sus posturas y se sumaron a la revolución de los esclavos, llegando a jugar así un papel decisivo en los acontecimientos. La Corona española pretendía colmar las aspiraciones de los pardos enriquecidos equiparándoles en derechos a los blancos, y de esta forma fortalecer su posición en la colonia, con ello intentaba evitar una radicalización de aquellos que hiciera peligrar el orden colonial. La oposición mantuana a la reordenación social es una muestra más de la resistencia de los criollos a las reformas del sistema colonial propuesto por los Borbones, que pretendía un mayor control sobre las colonias (Ecos de revolución – Javier L.). Die Krone versuchte auf Basis der Konzepte der Aufklärer, vor allem aber, um Unzufrriedenheit wirtschaftlich potenter Pardos zu kanalisieren, die soziale Aufsteiger-Dynamik der Pardos, Mulatten und Mestizen zu nutzen. Sie stellte in einer Real Cédula (Gracias al Sacar) gegen Geldzahlung Status und Michael Zeuske/Venezuela Seite 211 13.05.2016 „Weiße“ in Aussicht: für den Titel „Don“ sollten soundsoviel Pesos gezahlt werden, sogar der Status eines „blanco“ konnte gegen hohe Summen gekauft werden (die Zulassung zu bestimmten Berufen – wie Rechtsanwalt oder Arzt – sowieso).522 Mit ihrem bürokratischen und kulturell-politischen Widerstand gelang es den kreolischen Oligarchien allerdings oft, den durch die bourbonischen Reformer geöffneten Aufstiegskanal der „Dispensation auf dem Gnadenwege“ (Gracias al sacar) schnell wieder zu verstopfen. In Venezuela war der Widerstand der kreolischen Oligarchien besonders hart.523 Der Vater von Francisco de Miranda, ein Isleño, wurde als „Mulatte, Kleinhändler und unwürdig“ diffamiert. Einzelne Menschen aus den als Pardos und niedere castas definierten Gruppen, in erster Linie Mestizen, versuchten sich durch Selbstdarstellung und Entwicklung eines eigenen Selbstbewußtseins gegen die Kasten-Herabdrückung zu wehren: in friedlicher Form innerhalb der Normen der Kastengesellschaft und der kolonialen Ordnung des Imperiums - Ausdruck waren cabildos (ständische Ratsversammlungen, auch nach Stadtvierteln geordnet), gremios de pardos, cofradías (religiöse Bruderschaften), eigene Milizeinheiten, die mit weißen Milizen in Konkurrenz traten und etwa die schon erwähnten Mestizenbilder; Sebastián Miranda strengte einen Prozeß zur Feststellung seiner hidalguía (niederer Adel) und eine Verleumdungsklage gegen die Mantuanos Nicolás de Ponte und Martín Tovar Blanco an. Viele Pardos reagierten aber auch in Form von Unruhen, Revolten und Aufständen; Informationen aus Saint-Domingue/Haiti fielen bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Ein Schwachpunkt der Pardos war die Kastenmentalität selbst – also das, wogegen sie sich eigentlich zur Wehr setzten. Nach „oben“ wurde das Kastenprinzip nicht akzeptiert, nach „unten“ aber sehr wohl – so funktioniert Unterdrückung (und Herrschaft) durch Diskurse, auch wenn diese Herrschaft Cortés, El régimen de las “Gracias al Sacar” en Venezuela durante el período hispánico..., passim; das Dekret wurde mehrfach wiederholt: “Real Cédula de 3 de agosto de 1801 de ‘Gracias al sacar’”, in: Blanco, José Félix; Azpurúa, Ramón (eds.), Documentos para la historia de la vida pública del Libertador, 16 Bde., Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1978, Bd. II, S. 44-51 (Dokument 287). 523 Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela ..., S. 41. 522 Michael Zeuske/Venezuela Seite 212 13.05.2016 immer instabil war.524 Lösbar war dieser Konflikt im Rahmen der Kolonialgesellschaft nicht – zumindest in dieser politisch angespannten Situation nicht. Im Grunde wurde um jeden einigermaßen einflußreichen Posten - vor allem auf der lokalen Ebene (seien es Offiziersposten bei der Miliz, seien es Richterposten oder Mitgliedschaften in einflußreichen Gremien (síndicos oder procuradores)) - ein langanhaltender und zäher Kleinkrieg zwischen spanischer Kolonialadministration (vor allem den Intendanten) und kreolischer Oligarchie einerseits, zwischen kreolischen Oligarchien und Aufsteigern aus der Gruppe der „armen“ Weißen oder der Pardo-Oberschicht sowie Mestizen andererseits geführt. Nicht nur die kriegerischen Konflikte um Venezuela herum, in der Karibik, stiegen an und wurden intensiver, auch die Konfliktivität innerhalb dieser Gesellschaft stieg exponentiell an (auch durch häufigere Rebellionen und Revolten) und wurde zudem noch dadurch multipliziert, dass es viele Konflikte zwischen den Oligarchien der Städte und Provinzen stattfanden. Unter anderem kam es 1781-1782 zur Erhebung der Comuneros von Mérida (und anderen Andenorten) gegen Steuererhöhungen und gegen das Tabakmonopol; auch unter den Sklaven, Indios sowie den Cimarrón-Llaneros des Casanare und Cunaviche kam es zur Rebellionen.525 Seit dem Ausbruch der Revolution auf SaintDomingue brachen auch in Venezuela immer häufiger Rebellionen aus, die fast alle das gleiche Muster zeigten – fast immer waren Pardos und Milizen der Pardos sowie Korsaren verwickelt oder es kam zu Sklavenrevolten, oft im Zusammenspiel mit Ideen der haitianischen und der französischen Revolution. Die Zirkulation dieser Ideen war auch an Texte526, aber zuallererst natürlich an Menschen, das heisst, an Seeleute, Migranten und Schiffe gebunden, so dass Rodríguez, Manuel Alfredo, “Los pardos libres en la Colonia y la Independencia”, in : BANH, Nr. 299, Caracas (julio-septiembre 1992), S. 33-62. 525 Academia Nacional de la Historia (ed.), Los comuneros de Mérida, 2 Bde., Edición conmemorativa del bicentenario del movimiento comunero, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 152-153); Rausch, “Forgotten Comuneros: The 1781 revolt in the Llanos of Casanare”, in: HAHR 61 (1981), S. 235-257; Álvarez M., Víctor, “La insurrección comunera en la provincia de Antioquía”, in: III Congreso de Historia Colombiana. Memorias. Medellín, noviembre 17 al 21 de 1981, Medellín: Universidad de Antioquia, 1983, S. 93-124. 526 Sosa Llanos, Pedro Vicente, “Influencia del Código Negrero de 1789 en la insurreción de los negros de Coro”, in: Boletín de la Academia Nacional de Historia (BANH), Nr. 310, Caracas (abril-mayo-junio 1995), S. 111-116. 524 Michael Zeuske/Venezuela Seite 213 13.05.2016 „Karibik“ zu einer Chiffre für Revolution wurde.527 Die Chiffre „Karibik“ bedeutete - neben der großen Sklavenrevolution auf Haiti im Zentrum der Karibik - an den Küsten Venezuelas die Rebellionen, Verschwörungen und Insurrektionen der Cimarrones unter Miguel Guayamaya, capitán de cimarrones, von Coro 1795 unter dem Anführer der negros, zambos und indios, José Leonardo Chirino und José Caridad González, Chef der negros loangos von Coro, die transatlantische Konspiration von Manuel Gual und José María España 1797 sowie den Rebellionsversuch von Maracaibo 1799.528 In diesem Sinne kontrollierten Pardos und Cimarrones die Karibik, natürlich nur dort, wo nicht gerade die Fregatten und Linienschiffe der Großmächte auftauchten. Im Zentrum dieser Karibik lag seit 1791 Saint Domingue/Haiti. Deshalb hob der Teniente Justicia Mayor von Coro auch die Rolle der „Ley de los franceses“ als Grund für die Rebellion von Coro hervor.529 Die kreolischen Eliten kontrollierten die Cabildos der Städte und die Exportlandwirtschaften. Und sie stritten mit den Kolonialfunktionären um die Kontrolle der Extraktionsmaschine – das heisst konkret um Steuern, Abgaben und Zölle, aber auch um Bodeneigentum und Kontrolle der Ressourcen. Die stärkere Instrumentalisierung der Kastennormen hatte auch ökonomische Gründe: in den Städten konnten Pardos und arme Weißen kaum ausreichende 527 Zu paradigmatischen Sicherheitsmassnahmen bei Sklavenrevolten in der Karibik, besonders nach Coro 1795, siehe: AGI, Estado 65, N. 30: Carta del Capitán General de Caracas, Pedro Carbonell, al Duque de Alcudia sobre insurrección de esclavos en Curazao, Caracas, 5 de noviembre de 1795. 528 Brice, Ángel Francisco, La sublevación de Maracaibo en 1799: manifestación de su lucha por la independencia, Caracas: Italgráfica, 1960; Díaz Ungría, Jesús, “El zambo precursor: perfil humano de José Leonardo Chirino”, in: BANH, Nr. 170, Caracas (abril-junio 1970), S. 309-317; Blanco, Miguel Guacamaya ..., passim; Scott III, Julius Sherrard, “Crisscrossing Empires: Ships, Sailors and Resistance in the Lesser Antilles in the Eighteenth Century”, in: The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L., Engerman, Stanley, Gainesville: University Press of Florida, 1996, S. 128-143; Geggus, “Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815”, in: Gaspar, Barry D.; Geggus, David A., A Turbulent Time. The French Revolution and the Greater Caribbean, Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1997, S. 1-50; López Bohórquez, Alí Enrique (comp.), Manuel Gual y José María España, valoración múltiple de la conspiración de la Guaira de 1797, Caracas: Editorial Latina, 1997; Geggus, “The Influence of the Haitian Revolution on Blacks in Latin America and the Caribbean”, in : Naro, Nancy Priscilla (ed.), Blacks, Coloureds and National Identity in Nineteenth-Century Latin America, London: Institute of Latin American Studies, 2003, S. 38-59; Zeuske, “Alexander von Humboldt y la comparación de las esclavitudes en las Américas”, in: HiN, VI, 11, Potsdam (2005), S. 65-89, in: www.unipotsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/hin11/inh_zeuske.htm; Gómez, “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, passim. 529 Documentos para el estudio de los esclavos negros en Venezuela. Selección y estudio preliminar de Troconis de Veracochea, Ermila, Caracas : Academia Nacional de la Historia, ²1987 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, Vol. 103), S. 311. Michael Zeuske/Venezuela Seite 214 13.05.2016 Beschäftigung finden (weil die verachtete Handarbeit von Sklaven und freien Schwarzen ausgeübt wurde) - im Gegenzug fehlte es auf dem flachen Land den großen Zucker-, Kakao- oder Indigoproduzenten an billigen Saisonarbeitskräften. Bergbauunternehmer benötigten billige Arbeitskraft für schwere Arbeiten. In den mißachteten Arbeiten des saisonalen Zuckerrohrschneidens oder Kakaopflückens arbeitete aber nur, wer sich auch sozial (und ethnisch) mit einem schwarzen Sklaven vergleichen liess - also musste man (aus Sicht der großen Hacendados) die „faulen“ und „arbeitsscheuen“ Pardos in eine möglichst niedrige ethnisch-soziale Kategorie hinunterdrücken und diese Erniedrigung möglichst noch mit Gesetzen zum Arbeitszwang absichern. Bis um 1780, etwa parallel zu den territorialen und bürokratischen Veränderungen der boubonischen Reformen, gelangt es den kreolischen Oligarchien nahezu vollständig, ihre Konzepte von Sozialdisziplin und „Ordnung“ durchzusetzen und all ihre Normen zu einem regelrechten inneren Herrschaftssystem informeller Natur auszubauen. Faßbar, man könnte sogar sagen sichtbar, wurde dieses innere informelle Herrschaftssystem in einer äußeren Machtstruktur - der Beherrschung der lokalen Ebene durch die Mantuanos in fast allen Dimensionen und Ämtern; symbolisiert wurde diese Ebene im Cabildo, dem Stadtrat. Neben dem Gesellschaftskonzept der Kasten, der Kastenmentalität und ästhetik sowie der Beherrschung der lokalen Machtkorporationen (Cabildos, Universitäten, Milizen) spielten weitere Sozialtechniken eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung des informelles Herrschaftssystem: Korruption, Nepotismus, Klientelismus, Heiratsstrategien, Erbschaftsregelungen, informelle Pressionspolitik bei den hohen spanischen Beamten (Gouverneuren, Generalkapitänen oder Vizekönigen) oder am Hof, das System von Freundschaften und Patenschaften sowie die Interpretation, interessengeleitete Anwendung oder Hintertreibung aller existierenden Gesetze. Und natürlich Michael Zeuske/Venezuela Seite 215 13.05.2016 Verleumdung. Paradox ist, dass diesem ganzen infomellen System eben durch seine Informalität auch ein Keim zur Auflösung inhärent war – nämlich die farbigen Kinder, die die Herren vom großen Kakao mit farbigen oder schwarzen Geliebten zeugten. Alles in allem läßt sich bis Ende des 18. Jahrhunderts von einer De-facto-Unabhängigkeit der Kolonialeliten unter dem informellen Deckmantel der Kastenordnung sprechen. Das Problem für die urbanen Oligarchien war, dass jede Stadt ihr eigenes System entwickelte und die lokalen Eliten oft gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften. Auch die Elite von Coro war, ebenso, wie die von Caracas stolz auf ihre „alten Privilegien“. Sie bezeichneten sich auch als Mantuanos (ebenso wie die von Cumaná), weil sie ihre soziale Präeminenz durch den Habitus einer reichbestickten Manta für ihre Frauen ausdrückten; den Frauen der „Kasten“ war das Tragen solcher Mantas verboten.530 Wie im Falle von Caracas oder Cumaná handelte es sich auch in Coro um Oligarchien, die sich gegen das Aufkommen von neuen sozialen Gruppen oder Ideen, auch und vor allem Mestizen und Mulatten, mit Betonung ihrer alten Privilegien verteidigten. Seit 1810-1813 wanderten große Teile dieser Oligarchie nach Cuba, Spanien und Puerto Rico aus. 531 Die imperialen Reformer aus Spanien glaubten dieses System durch verbesserte Bildung für alle, gerechteren Landbesitz, Anerkennung nützlicher Arbeit und Verbreitung des Konzepts der imperialen Nation (in Summa: ilustración – Aufklärung) aufbrechen zu können. Sie hatten aber nur dort wirklich Erfolg, wo sie die kreolischen Eliten einbezogen. Aber der radikale Zentralismus, die tiefe Überezeugung von der Notwendigkeit tiefgreifender Reformen und das Geschick sowie die Klugheit einer Reihe von imperialen Beamten (vor allem aus der Gruppe der Reformintellektuellen und Praktiker, wie einige Intendanten und Militärs) stellte durchaus eine Bedrohung für die Arcaya, Carlos I., “Introducción”, in: Arcaya, Pedro M., Población de origen europeo de Coro en la época colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1972 (Fuentes para la historia colonial de Venezuela; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 114), S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXVI. 531 Arcaya, “Introducción”, S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXVI. 530 Michael Zeuske/Venezuela Seite 216 13.05.2016 informellen Herrschaftsysteme der Kreolen dar – ebenso wie die Gleichheitsbestrebungen den Pardos. Eigenartigerweise waren es genau diese Zeiten, die ihrem äußeren Anschein nach in den Texten von vielen Reisenden (visitas, spanische Forschungsexpeditionen) als eine Epoche der Anarchie, der Unordnung und der Ineffizienz erscheint – auch bei Humboldt wird das oft deutlich. Gerade dieser äußere Eindruck der kreolisierten Gesellschaften Spanisch-Amerikas veranlaßte die Forscher und Reisende im Auftrag des spanischen Hofes, Jorge Juan und Antonio de Ulloa532, in ihren berühmten Noticias secretas de América („Geheimnotizen von Amerika“, 1749) voller Abscheu über die allgemein verbreitete Korruption und die generelle Nichterfüllung von Gesetzen unter den Kreolen Spanisch-Amerikas zu sprechen. Vor allem die lokalen Institutionen und die Provinzebene - die eigentlichen Wirkungsstätten des kreolischen informellen Machtsystems - strotzten nach Juan und Ulloa nur so vor Korruption und Mißwirtschaft. Die Beobachtungen von Juan und Ulloa waren Teil des äußeren Eindruckes, den die kreolisierten Gesellschaften Amerikas vermittelten, zugleich verraten sie aber totales Mißverständnis ihrer Bedeutung. Der Begriff „Amerika“ im Titel der „Geheimnotizen von Amerika“ zeigt sehr schön, dass es sich hier um eine dem offiziellen spanischen Konzept der Indias quasi fremde Welt handelte. Die beiden Offiziere gingen von rationalen Prinzipien der Beachtung der Gesetze aus, während das in Amerika vorherrschende Prinzip die Manipulation von Gesetzen im Dienst der oligarchischen Interessen war. Das Ganze funktionierte niemals nach irgendwelchen geschriebenen Rechtserklärungen oder Gesetzen, sondern nach den informellen Regeln geschlossener Gruppen, die die innere Machtpyramide wirklich beherrschten. Sie versuchten, die spanischen Beamten in dieses System einzubeziehen, vor allem über Heiratspolitik - was meist auch gelang. Die quantitative Dimensionen 532 Juan, José ; Ulloa, Antonio de, Relación histórica del viage a la América meridional hecho de orden de S.Mag. para medir algunos grados de meridiano y venir por ellos en conocimiento de la verdadera figura y magnitud de la tierra, 2 Teile in 4 Bden, Madrid 1748 (bekannt als “Noticias secretas de América” 1749). Michael Zeuske/Venezuela Seite 217 13.05.2016 einer solchen Lokalgruppe (um 1800): die schon erwähnten Mantuanos (abgeleitet von Manta oder Manto, einem Kleidungsstück als Reichtumssymbol) bestand aus rund 658 Kernfamilien lokaler Oligarchien (rund 4050 Menschen=0,5% der Bevölkerung). Sie hatten sich im Laufe der etwa zweihundertfünfzig Jahre Kolonialzeit vor allem im urbanen Netzwerk von Caracas, in den Küstenstädten und in den Städten der Kordillere von Mérida angesiedelt. In Caracas lebte die größte Teilgruppe. Die mantuanos (auch grandes cacaos) von Caracas gruppierten sich um rund 100 Oberhäupter kreolischer Familienclans. Zwölf der männlichen Familienoberhäupter dieser Clans trugen spanische Adelstitel. Das war die Kolonialelite. Ihre Familien, auch kreolische Elitefamilien verschiedener Städte, waren zum Teil miteinander versippt und verschwägert.533 Und Bolívar mittendrin. Wenigsten die Klugen und Gebildeten unter der imperialen Elite der Kolonialfunktionäre erkannten die Explosivität dieser Situation. Einerseits bezeichnete einer von ihnen die nepotischen Familienclans der kreolischen Oligarchie von Caracas als einen „Stamm von Juden“.534 Auch wurde hervorgehoben, dass besonders die Eliten von Caracas und anderer Städte ethnisch-rassische Diskurse zur Begründung ihrer Herrschaft heranzogen.535 Andere fürchteten zu Recht, die „Ideen von Saint-Domingue“ könnten auf die Pardos von Venezuela übergreifen und zu einer Pardo-Herrschaft (pardocracia) führen – also eine Herrschaft der Farbigen; eine ideologisierte Furchtikone der herrschenden Eliten Venezuelas.536 Als Auslöser vermutete man revolutionäre Korsaren, auch Schmggler oder Kreolsklaven aus anderen Kolonien, die etwa Papiamento sprachen und für Bozales gehalten wurden, die mit dem „Beispiel Saint-Domingue“ unter den Pardos und Sklaven Rebellionsvorstellungen verbreiten würden. Generalkapitän Pedro Carbonell entwarf nach der Rebellion Langue, „Origenes y desarrollo de una élite regional. Aristocracia y cacao en la provincia de Caracas”, S. 46-93. Langue, “El circulo de las alianzas familiares y estrategías económicas de la élite mantuana (siglo XVIII)”, in: BANH LXXVIII, Nr. 309 (Enero-Marzo de 1995), S. 97-112. 535 Langue, “El caso de Venezuela”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión ..., S. 38-42, hier S. 41. 536 Langue, “La pardocratie ou l’itinéraire d’une ‘classe dangereuse’ dans la Venezuela des XVIIIe et XIXe siècles”, in : Caravelle 67, Toulouse (1997), S. 57-72. 533 534 Michael Zeuske/Venezuela Seite 218 13.05.2016 von Coro einen Musterbrief: “podria [ser] conveniente la prohivicion [sic] de que los Barcos de nuestro comercio pasen a ella [Curazao] expedí una orden circular á los Governadores y Comandantes de los P.tos del Distrito de mi mando [...] No crei suficientes esta precaucion, y la hice estenciva [sic] hasta no admitir, ó permitir se introduzcan Negros aun quando sean verdaderamente bozales, esto es procedentes de la Costa de Africa, y viniendo de Curazao, y que no se hayan educado en las colonias vecinas, por que es de recelar que á la sombra de estos [bozales? – M.Z.] procuren los Hacendados de Curazao desprenderse de sus esclavos, y los compradores adquiriendoles á bajo precio no reparen/[1v] en los daños que causaria su introducion en esta Prov.a para cuyo fin [los esclavos introducidos – M.Z.] intimidarán à los esclavos para que no hablen Papiamento (que es el Ydioma Provincial que se usa en Curazao) y sean tenidos por vozales recien benido de Africa [alles sic]. Antes de tal novedad ha sido mui rara la emvarcacion que ha traido negros de Curazao, y empiezan ya à benir Buques con ellos, pues en los dias 10ɩɩ y 13ɩɩ llegaron 2 embarcaciones conduciendo negros nacidos en Curazao, que aunque se dice son de permitida introducion, esto es vozales, no lo he creido, y en mi concepto es un articificio del conductor para introducirlos. Ninguna precaucion en la materia es por demas, maxîme con el reciente exemplar de Coro [se refiere al “ejemplo de Coro” – la insurrección de Coro 1795 - M.Z.], cuyos sucesos, y las reflexîones, y meditaciones que he hecho me han deliverado à estas providencias ...”. 537 Auch der Gouverneur von Maracaibo, Francisco Miyares538, war in diesem Sinne 1804 sehr deutlich: “… observar los movimientos de la Ysla de S.to Domingo, y con mucha mas vigilancia en cuanto pueden ser transendentales [sic] de qualquier modo alos dominios de S.M. es uno de mis maiores cuidados, celar la introducion [sic] de papeles que contengan especies lisonjeras a la independencia delos negros de 537 AGI Sevilla, Estado 65, N. 30, 1r/v: Carta del Capitán General de Caracas, Pedro Carbonell, al Duque de Alcudia sobre insurrección de esclavos en Curazao, Caracas, 5 de noviembre de 1795, f. 1r/v. 538 Berbesí de Salazar, Ligia, El Gobierno provincial de Maracaibo en la gestación de la Primera República, 17991810, Maracaibo: Ed. Sinamáica, 2000. Michael Zeuske/Venezuela Seite 219 13.05.2016 aquella Colonia, por el mal ejemplo q.e influye en la gente de color de nuestras posesiones y particularmente en los esclavos [die Nachrichten könnten vor allem auf Schmuggelschiffen kommen] acia [hacia] á esta costa firma, q.e son los Puertos mas proporcionados desde la Vela de Coro, hasta S.ta Marta, incluso los que ocupan los Yndios Guagiros entre esta Provincia [de Maracaibo], y la de Rio Hacha, y son mui faciles de ganar asu partido, con la ventaja de proveerse de ganado de todas especies, y hacer con aquellos naturales un comercio ...”.539 In dieser konfliktiven Situation von Korruption, verdeckten Machtkämpfen, Angst und Furcht schlug die Proklamation der Unabhängigkeit von Haiti 1804 - unter dem Titel Liberté ou la mort. Armée indigène - wie eine Bombe ein.540 Der Bericht von Gouverneur Miyares zeigt auch, wie er sich die Auslösung von Revolutionen durch Korsaren und ehemalige Sklaven unter der Ideologie des Haitianismus vorstellte: der Kapitän eines in Maracaibo anlandenden französischen Schiffes mit dem schönen Namen Pez Volante (Fliegender Fisch) sagte aus, er käme aus Havanna und habe viel Geld bei sich; der Gouverneur schöpfte Verdacht, der Mann sei ein Korsar: “... me hizo temer una conspiración semejante a la del 19 de Mayo de 1799 tramada por otros dos Corsarios franceses, tripulados con negros, y gente de color”541 – Miyares bezog sich auf den Rebellionsversuch von Maracaibo 1799. Man mag sich in dieser Situation allgemeiner Nervosität vorstellen, wie die Nachrichten über die Ankunft von Francisco de Miranda wirken musste, als dessen Expedition, der Matrosen und Soldaten aus Haiti angehörten, 1806 vor der Küste Venezuelas auftauchte und kurzzeitig die Städte Coro und La Vela de 539 Bericht von Francisco Miyares aus Maracaibo an Pedro Ceballos, 26. Juni 1804, in : AGI Sevilla, Estado, 68 (20-12-1803 – 01-01-1808), Caracas : „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas. Apresamiento de bergantines españoles. Bloqueo Isla Curazao. Dominación Santo Domingo por los negros. Causa seguida contra el francés Francisco Bouchet. Comercio de ganado con Isla Guadalupe. Informes sobre la expedición de Miranda”, No. 17, 1. 540 Ebd., No.12, 2: “Liberté ou la Mort, armée indigène“ (4 Folios, handschriftlich : Unabhängigkeitproklamation des neuen Staates „haïty“ (f.1r); datiert: quartier Géneral de Gonaïves, 1. Januar 1804; unterschrieben: u.a. von Christophe und Magloire Ambroise. 541 „Goleta Francesa el Pez Volante armada en Corso y mercancía, su capitán Fran.co Bouchet”: Bericht von Francisco Miyares aus Maracaibo an Pedro Ceballos, 26. Juni 1804 (5 fols., auf f.1v), in: Ebd., 68, No. 16, 1. Michael Zeuske/Venezuela Seite 220 13.05.2016 Coro besetzte.542 Die Expedition bestand aus erfahrenen revolutionären Schmugglern aus Nordamerika und aus karibischen Häfen, idealistischen Offizieren, französischen Abenteurern mit Freimauererhintergrund sowie ehemaligen Sklaven, die in den Armeen Toussaints Louvertures auf Haiti gekämpft hatten.543 Miranda liess Proklamationen verbreiten, in denen er auch die “edelmütigen Pardos” aufforderte, sich den Kämpfen gegen Spanien für ein unabhängiges Amerika (Colombia) einzusetzen.544 Bei der Vorbereitung der Expedition war Miranda längere Zeit auf Haiti gewesen und hatte unter anderem mit General Magloire Ambroise - einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitsproklamation Haitis - ein legendäres Gespräch über die Art und Weise von Revolutionen.545 Den Kolonialautoritäten Venezuelas gelang es zwar, die Mirandaexpedition zu vertreiben. Aber die Sorgen der Kolonialbeamten wurden nicht kleiner.546 Auch die Eliten der Städte wurden zunehmend nervöser. Denn schon seit Ende des 18. Jahrhunderts hielten die Nachrichten über das Vordringen fremder Mächte und von Cimarrones im Süden und Osten des Landes die Autoritäten in Atem, wie ein Bericht von 1791 zeigt. Der Bericht informiert über den choatischen Zustand der Provinz Guayana und hob hervor, dass “van abanzando en su territorio las posesiones de los Holandeses, Franceses y Portugueses y los Negros profugos de Esequibo, Demorari, Berbi, Surinam, y Cayena establecidos en Republica libre e independiente [in ihrem Territorium AGI Sevilla, Estado, 58 (23-01-1791 – 23-06-1799), Caracas: “Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas (Revolución de la Isla Margarita. Doctrina de franceses emigrados de Santo Domingo. Sublevación en Caracas. Prisión y ejecución de implicados en la sublevación” ; Estado, 68 (20-12-1803 – 01-011808), Estado : Caracas : „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas. Apresamiento de bergantines españoles. Bloqueo Isla Curazao. Dominación Santo Domingo por los negros. Causa seguida contra el francés Francisco Bouchet. Comercio de ganado con Isla Guadalupe. Informes sobre la expedición de Miranda”, No. 44, 1 (2 folios r/v): Bericht von Manuel Guevara Vasconcelos an Ministro de Estado, aus Caracas, vom 3. Juni 1806 über Expedition Francisco de Miranda; Ebd., 2 spricht Guevara Vasconcelos an Ministro de Estado, 3. Juni 1806, aus Caracas, von “incertidumbre en que se halla respecto al paradero de la Expedicion de Miranda”. 543 Gómez, “Haïti entre la peur el le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens : relations et repères avec SaintDomingue el les ‘Îles du vent’, 1790-1830“, S. 141-163. 544 Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas …, S. 234. 545 Thibaud, Clément, “’Coupé têtes, brûlé cazes’ : Peurs et désirs d’Haïti dans l’Amérique de Bolivar”, in : Annales. Histoire, Sciences sociales, 58e année, no 2 (mars-avril 2003), S. 305-331. 546 Bohórquez Morán, Carmen, Francisco de Miranda. Precursor de las independencias de la América Latina. Prefacio de Marie-Cécile Bénassy, Caracas : Universidad Católica Andrés Bello ; Universidad del Zulia, 2001. 542 Michael Zeuske/Venezuela Seite 221 13.05.2016 die Besitzungen der Holländer, Franzosen und Portugiesen expandierten und die der aus Essequibo, Demerara, Berbice, Surinam und Cayenne geflohenen Neger zunähmen]“.547 Seit etwa 1780 war es zu Schwierigkeiten des Kakaoabsatzes gekommen. Der Zuckerboom in der Karibik (Jamaika, Saint-Domingue, Kuba) dagegen wurde immer hitziger. Eine Reihe von venezolanischen Eliten setzte verstärkt auf den Export von lebendem Rindvieh, gesalzenen Viehhäuten, Leder, Trockenfleisch (tasajo) sowie Maultieren in die Karibik. In den Llanos gab es Hundertausende „wilde“ Rinder, Maultiere und Pferde – die nach Meinung der Mantuanos keinem gehörten. Bei der Expansion in die Llanos stiessen sie allerdings auf den Widerstand der dort lebenden Flucht- und Widerstandskulturen der Cimarrón-Llaneros, die ihre Subsistenz und ihre Lebensweise in den wilden Rinderherden begründeten. Die kreolischen Elten waren vor allem darauf aus, das Eigentumsrecht, das hiess, ihr Eigentumsrecht, sowohl über den Boden, wie auch das mobile Eigentum des wilden Viehs (ganado cimarrón, orejanos) durchzusetzen. Sie übten durch juntas de ganaderos (Viehhalterversammlung) Druck auf die Kolonialbehörden aus. Die Mitgliedslisten der Juntas lesen sich wie ein Who is Who kreolischer Eliten aus den großen Städten. Die Juntas schlugen die Schaffung eines Richteramtes für die Llanos vor (juez de llanos), der die von bewaffneten Viehzüchterpatrouillen (cuadrillas de ronda) gefangene „Viehdiebe“ - will sagen, die normalen Llaneros - in Schellverfahren aburteilen sollte. Sie schlugen auch ein Gesetzwerk unter den Titel Ordenanzas de llanos de la provincia de Caracas vor. Die Kolonialbehörden weigerten sich; erst 1811 erklärte die „Erste Republik“ die Ordenanzas zum Gesetz. Das lässt viel vom Charakter dieser „Republik“ erkennen und erklärt, warum sich die freien Llaneros die „Aranj.z 28 de Mayo de 1791, del Gobern.or Cap.n Gener.l de Guayana“, in: AGI, Estado, 63 (06-1750 – 26-011830), Estado, Caracas: „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas (Alborotos contra la Compañía de Caracas. Sublevaciones en las provincias de Caracas. Miranda y el levantamiento de Caracas. Memorial de Francisco de Azpurua sobre los medios de recuperar las Américas. Separación de Venezuela del gobierno de Bogotá)”, N.2,2. 547 Michael Zeuske/Venezuela Seite 222 13.05.2016 Autonomiebestrebungen der Kreolen bekämpften. In den Llanos fern im Süden gab es Herrschaftsrecht, das auch Verfügungsgewalt über Menschen (Unterworfene, Kriegsgefangene, Sklaven) und natürlich Vieh beinhaltete; wie in Afrika.548 Die Kreolen des Nordens hatten einen „römischen“ Eigentumsbegriff, der sich vor allem auf Landeigentum bezog. Das Töten von Rindern wurde aus dieser Perspektive zu “Raub” und “Diebstahl” (abigeato) erklärt, nachdem Elitenfamilien sich von den Kolonialverwaltungen das Recht beschafft hatten, das wilde Cimarrón-Vieh (orejanos) mit ihren Eigentumszeichen zu markieren (marca)549 und auf hatos (Viehhaltungslatifundien) in Rodeos zusammenzutreiben.550 Die Menschen außerhalb der kolonialgesellschaftlichen Kontrolle führten einen regelrechten Grenzkrieg gegen die vordringende „Zivilisation” und die Milizen (rondas) der großen Viehhalter aus dem Norden.551 Humboldts Texte über Sklavenrebellionen, über den vielfältigen Widerstand der Indiostämme, über die „Räubereien und Plündereien” der cuatreros und bandoleros sowie partidas und cuadrillas im Thibaud, “Les Llanos, essai de géographie historique“, S. 131-160, hier S. 135. Siehe die Brandzeichen in einer Besitzerliste von 1766 in : “Padrón de Hierros de San Carlos 1766“, in: Rodríguez Mirabal, “Mecanismos de apropiación de tierras de sabana y ganados”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 240-273, hier S. 271-273. 550 Páez, Ramón, “El Rodeo”, in: Páez, Escenas rústicas en Sur-América o la vida de los llanos de Venezuela. Obra escrita en inglés por Ramón Páez, hijo del General José Antonio Páez. Traducción del Dr. Rancisco Izquierdo, Caracas: Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1986 (Erstpublikation: New York, 1862), S. 167-178; Acosta Saignes, Latifundio, México: Editorial Popular, 1938; Salas, Julio C., Civilización y barbarie, Caracas: Centauro, 1977; Rodríguez, Adolfo, Los mitos del Llano y el llanero en la obra de Rómulo Gallegos, San Fernando: Publicaciones del Cronista del Estado Apure, 1979; Rodríguez, El hato tradicional llanero, San Juan de los Morros: Universidad Rómulo Gallegos, 1981; Rodríguez, “Trama y ámbito del comercio de cueros en Venezuela (Un aporte al conocimiento de la ganadería llanera)”, in: Boletín Americanista 31, Barcelona (1981), S. 187-218; Rausch, “Horsemen of the Tropics: A comparative view of the llaneros in the history of Venezuela and colombia”, in: Boletín Americanista 31 (1981), S. 159-171; Izard, “Ni cuatreros no montoneros, llaneros”, in: Boletín Americanista 31 (1981), S. 83-142; Izard, “Oligarcas temblad, viva la libertad. Los llaneros del Apure y la guerra federal”, in: Boletín Americanista 32 (1982), S. 227-277; Izard, “Sin domicilio fijo, senda segura ni destino conocido: los llaneros de Apure a finales del periódo colonial”, in: Boletín Americanista 33 (1983), S. 13-83; Rausch, A tropical plains frontier. The llanos of Colombia, 1531-1931, Albuquerque: Unversity of New Mexico Press, 1984 (Spanisch: Rausch, Una frontera de la sabana tropical: los llanos de Colombia 1531-1831, Bogotá: Banco de la república, 1994); Carvallo, Gastón, El hato venezolano, 1900-1980, Caracas: Trophykos, 1985; Méndez Echenique, Argenis, Historia de Apure, Caracas: Publicaciones del Cronista del Estado Apure, 1985; Mantilla Trejos, Hugo, Diccionario llanero, Bogotá: Editorial El Guarracuco blanco, 1985; Izard, “Sin el menor arraigo ni responsabilidad. Llaneros y ganadería a principios del siglo XIX”, in: Boletín Americanista 37, Barcelona (1987), S. 109-142. Rodríguez Mirabal, “El hato: Unidad social de producción y explotación”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 277-320. 551 Izard, “Élites criollas y movilización popular”, in: Las revoluciones hispánicas: independencias americanas y liberalismo español, dirigido por Guerra, François-Xavier, Madrid: Editorial Complutense, 1995, S. 89-106; Izard, El rechazo a la civilización. Sobre quienes no se tragaron que las Indias fueron esa maravilla, Barcelona: Península, 2000 (Historia, Ciencia, Sociedad; 305). 548 549 Michael Zeuske/Venezuela Seite 223 13.05.2016 Llanogebiet zeigen aber auch, daß sich die Widerstände und Rebellionen vor allem entlang rassisch-kultureller Linien formierten, entsprechend den Kategorien der Kastengesellschaft. Humboldt hält in einem Text, der bei Calabozo (dem Vieh- und Fleischversorgungszentrum von Caracas) im März 1800 entstanden ist, über den Konflikt in den Llanos fest: „Von Villa de Cura aus gegen Calabozo und den Orinoco hält man das unermeßliche Llano für sehr unsicher. Ehemals raubte man bloß Rindvieh, man tötet (wie in Buenos Ayres), um dann die Haut zu gewinnen... Jezt [sic] mit zunehmender Bildung und zunehmenden Bedürfniß fängt man an, Reisende anzugreifen. Die Begierde ist besonders auf Kleidungsstükke (Wollene Decken), eine schöne mula [Maultier-M.Z.] und Sättel, ja selbst auf Geld gerichtet. Uhren läßt man meist dem Reisenden, der, wenn er ein Weißer ist, an einen Chaparro [niedriger Baum-M.Z] gebunden und tüchtig ausgepeitscht wird. Die Räuber sind Zamben, Mulatten [...]. Ein farbiger Mensch (ombre de Color) glaubt gegen die Pflichten seiner Kaste zu sündigen, wenn er eine Gelegenheit vorbei gehen läßt, einem Weißen einen Teil dessen zurükzugeben, was die bunte Kaste in genere von der Tyrannei der weißen Kaste leidet“.552 Humboldt legt dann die ökonomische Basis dieser vermeintlichen „Räubereien“ offen: „So groß war die Wuth des Lederhandels. In der Prov[inz] Varinas [Barinas-M.Z.] zwischen Río Apure, Pajare und Meta, wo die angrenzenden Indianer Guajibos, Guamos und Jaruros vor sechs Jahren nicht einmal Kuhfleisch aßen, haben aus den Gefängnissen entsprungene Zambos und Mulatten (die sich unter sie gemischt) den Indianern solche Lust nach dem Raube des gannado [Rindvieh] eingeflößt, daß die Attos [hatos = Viehlatifundien - M.Z.] am Meta jezt nicht sicherer als die am Río Guárico sind. Aber die Indianer töten und essen das Rindvieh, sie führen es nie in ihr Land und pflegen es dort. Sie wärmen sich wie die Affen am Feuer, ohne es selbst zu unterhalten [das ist traditionelle Subsistenz – M.Z.]. Die Ronda [die cuadrillas de ronda – M.Z.], welche mit den Jueces de Llano im Jahre 1797 in der 552 Humboldt, Vorabend..., S. 262-264, hier S. 263 (Dokument Nr. 183). Michael Zeuske/Venezuela Seite 224 13.05.2016 Prov[inz] Caraccas und Varinas (nicht in Cumaná und Barcellona troz der Bemühungen des würdigen D[on] Vicente Emparán) eingeführt ward, verminderte sehr das Uebel. Der Viehraub nahm sichtbar ab - aber schon ist das Institut ausgeartet. Statt dass alle im Llano wohnenden und mit ihrem Gelde contribuirenden Viehbesitzer an der Verwaltung des Ganzen und Wahl der Directoren Theil nehmen sollen, haben die in Caraccas anwesenden allein die Directoren gewählt.” 553 Nicht nur der Vieh-, Häute- und Sklavenschmuggel aus den Llanos (oft über die niederländischen Besitzungen554) sowie der Kakao- und Tabakschmuggel der Küstengebiete des Festlandes erlebten am Ende des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung. Einen nachgerade spektakulären Boom verzeichnete auch die Schmuggler-Insel Trinidad vor der venezolanischen Ostküste in den 1780er Jahren; besonders die Stadt Puerto España. Die Insel Trinidad sollte sich, wie die Inseln Santo Domingo und Kuba (sowie seit 1815 auch Puerto Rico) zu einer Experimentalinsel der Karibik entwickeln. Situados kamen aus Bogotá; eine Kommission unter Agusto Crame studierte die Verteidigungsanlagen.555 Bezeichnend allerdings ist, dass auf der Insel vor allem Französisch und Englisch gesprochen wurde. Spanien hatte französische und irische Katholiken aus der Karibik zur Siedlung animiert. Aber die Vorherrschaft von Nichtspaniern lag auch daran, dass englische und niederländische Schmuggler ihren Geschäften auf der Insel mit großer Selbstverständlichkeit nachgehen konnten. 1797 eroberte eine britische Flotteneinheit mit Unterstützung der Marineinfanterie Trinidad. Die Truppen fanden kaum Widerstand.556 553 Ebd. Rodríguez Mirabal, “El hato: Unidad social de producción y explotación”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 277-320, hier S. 314f. 555 The Lilly Library, Indiana University, Bloomington Indiana, Manuscript Department (LLIUB, MD), 1774, Crame mss (darin finden sich 12 Hefter über die Kontrollreisen von Agustín Crame, Zeitraum 1774-1799, während derer Crame auch Trinidad, den venezolanischen Osten, Guayana und Orinoco sowie La Guaira, Maracaibo, Santa Marta und Cartagena besuchte). 556 Sevilla Soler, María Rosario, Inmigración y cambio socio-económico en Trinidad (1783-1797), Sevilla: Escuela de Estudios Americanos, 1988. 554 Michael Zeuske/Venezuela Seite 225 13.05.2016 Der spanische König, die imperialen Eliten und die Krone in Spanien schienen nicht mehr in der Lage, Amerika zu verteidigen. Spanien hatte im Frieden von 557 Basel (22. Juli 1795) auch noch Santo Domingo an Frankreich hatten abtreten müssen, das damit formal die ganze Insel La Española kontrollierte. Seit dem Vertrag von San Ildefondo (18. August 1796) zwischen Spanien und Frankreich stand das „Mutterland“ in der für viele spanische und amerikanische Eliten „widernatürlichen Allianz“ mit Napoleon. Dazu kam, dass die imperialen Feinde näher rückten: die Briten besetzten Trinidad (1797) und zwischen 1800 und 1803 sowie 1807 bis 1815 auch Curaçao. Am Vorabend des Ausbruchs der Unabhängigkeitsbewegung schien Venezuela als nächster Dominostein entweder durch die Eroberung einer fremde Macht oder einer Revolution der Pardos und Sklaven bedroht, die das Modell „Saint-Domingue/Haiti“ aufnahmen.558 Das Land schien von Feinden umzingelt, die Stücke aus ihm rissen (Guyana, Trinidad559) und schien für die Zukunft noch größeren Schwierigkeiten entgegen zu gehen; nur im Süden war mit dem Grenzvertrag (tratado de límites, 1777) zwischen den beiden iberischen Monarchien Portugal und Spanien die Situation etwas entspannter, obwohl es besonders über die Flüsse Rio Negro und Río Blanco, eine portugiesischbrasilianische Expansion nach Norden gab.560 Unter den bedrohlichen Aussichten und Informationen aus der Karibik luden die Anführer der kreolischen Elite von Caracas, wie der Conde de Toro oder der Intendant Francisco de León, immer häufiger zu tertulías in ihre Stadtpaläste ein. Auf den Nachmittags- und Abendgesellschaften wurden immer öfter und immer lauter die Themen und Ängste der Kreolen artikuliert. Nur einer war nicht dabei - der junge Simón Bolívar befand sich bis 1806 auf Kavalierstour in Europa. 557 Kahle, Günter, Lateinamerika in der Politik der europäischen Mächte 1492-1810, Köln, Weimar,Wien: Böhlau Verlag, 1993, S. 77f. 558 Dubois; Garrigus 559 Carpio Castillo, Rubén, „Fronteras con Guyana“, in: Carpio Castillo, Geopolítica de Venezuela, Caracas: Editorial Ariel – Seix Barral Venezolana, 1981, S. 193-220. 560 Carpio Castillo, „Fronteras con Brasil“, in: Ebd., S. 172-192. Michael Zeuske/Venezuela Seite 226 13.05.2016 Alexander von Humboldt im kolonialen Venezuela, 1799-1800 Die beste Arbeit über Humboldt in Venezuela, die es bisher gibt, ist die von José Angel Rodríguez.561 Kaum jemand, der über Humboldt und Venezuela arbeitet sagt, dass Humboldt, als er in Venezuela war, das Land als Teil des spanischen Imperiums aktzeptierte – ohne dass er jemals den Kolonialismus und die mit ihm verbundene Sklaverei akzeptierte. Humboldts Erkenntnisse in Venezuela beruhen auf eigenen Beobachtung, Messungen, Experimenten und Sammlungen, auf kommunikativer Aufnahme von lokalem Wissen, vor allem von Wissen der Indios, sowie auf der Nutzung von bereits vorhandenen Wissensspeichern – den Missionen. In der historischen Dimension, die Humboldt sozusagen als vierte Dimension seiner naturkundlichen, geographischen und botanischen Studien immer beachtet hat, studierte er auch die Cronistas de Indias, Dokumente der staatlichen Verwaltung und vor allem die Werke von Missionsmönchen. Mythos Independencia: Francisco de Miranda, Simón Bolívar und der Kampf für eine Nation mit dem Vornamen Venezuela (1800-1859) „Así Miranda, que conocía las colonias, tenía ideas de blanco”.562 Der Zusammenbruch des Imperiums und die Autonomie Venezuelas Seit dem Aufstand in Saint-Domingue (August 1791), eigentlich schon vorher (Revueltas de los Llanos, 1781-1789563), aber auch während die Revolution auf Saint-Domingue, noch lief (1791-1803), kam es zu Verschwörungen, Rebellionen und Aufständen an der Tierra Firme. Direkt 561 Urdaneta, Gloria (coord.), El asombro: viaje de Humboldt y Bonpland por Venezuela, Caracas: Fundación Galeria de Arte Nacional, 1999. 562 Parra-Pérez, Caracciolo, Historia de la Primera República de Venezuela; estudio preliminar Mendoza, Cristóbal L., cronología y bibliografía Rivas, Rafael Ángel, Caracas: Editorial Texto, 1992 (Biblioteca Ayacucho; 183), S. 533. 563 Magallanes, Luchas e insurrecciones en la Venezuela colonial ..., S. 178-180. Michael Zeuske/Venezuela Seite 227 13.05.2016 gefährlich für Venezuela wurde von den Kolonialbehörden die Revolution von Saint-Domingue eingeschätzt, als 1793 der Krieg begonnen hatte.564 Rebellen und Verschwörer in Venezuela waren vor allem Pardos und freie Schwarze sowie einzelne Weiße, die vom Jakobinismus beeinflusst waren.565 Die Unruhe in der gesamten Karibik war mit den Händen greifbar; das Tagebuch Alexander von Humboldts ist ein hervorragende Quelle über die politische Unruhe: 1795 kam es zur Rebellion der Indios, der Pardo-Milizen und des Cabildos der negros loangos im Schmuggelzentrum Coro, 1798/99 zur Verschwörung von Gual y España in Caracas und La Guaira, 1806 kam Miranda (mit Verstärkungen und Mannschaften aus Haiti), 1812 zum Aufstand der Sklaven von Barlovento, 1811-1818 schließlich, ich greife etwas vor, um eine völlig andere Dimension der Interpretation anzudeuten, zur Bildung von Farbigen-Milizen vor allem im Oriente Venezuelas und in den Llanos.566 Um 1800 deutete nichts auf eine historische Heldenrolle für Simón Bolívar oder gar auf eine offene Rebellion der Eliten hin. Ganz im Gegenteil unter der Perspektive einer dezentralen karibischen Revolutionierung der Sklaven und der Pardos ist alles, was seit 1795 in Venezuela passierte, eigentlich als eine liberale Gegenreaktion der Spanier sowie der kreolischen Oligarchien gegen eben diesen massiven und dezentralen Aufstand „von unten“ zu sehen. Im Mythos der nationalen Geschichtsschreibung, das auch und gerade heute ihr Unwesen in den Köpfen vieler Venezolaner und Venezolanerinnen treibt, ist der Krieg um die Unabhängigkeit (Independencia) die Befreiung einer bereits vorhandenen „Venezuela Nation“ von der Dominanz der Eliten Spaniens. In Wirklichkeit handelte es sich einerseits um die „verborgene“ massive Revolutionierung der Sklaven und Farbigen entlang der Konfliktlinien, die auf Gómez, Alejandro E., “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 5 (2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006), in : http://nuevomundo.revues.org/document211.html. 565 Julius Scott über 566 Geggus, “Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815”, S. 1-50; Geggus, “The Influence of the Haitian Revolution on Blacks in Latin America and the Caribbean”, S. 38-59 564 Michael Zeuske/Venezuela Seite 228 13.05.2016 Saint-Domingue vorgezeichnet worden waren567, sowie andererseits um die Kulmination einer Reihe von schweren Konflikten und Problemlagen, die die imperialen Eliten Spaniens und Amerikas mit den so genannten bourbonischen Reformen zu lösen gedacht hatten. Verdeckt durch die Reformbemühungen, Sklavenrevolution, transatlantische Kriege und allgemeine politische Unruhe handelte es sich aber auch um Machtkämpfe der lokalen Oligarchien und sozialethnische Konflikte zwischen den Kasten. Reformen werden meist durch Beamte von oben durchgesetzt, mit einem Politikstil, der eher weniger auf Partizipation setzt, sondern Politik in Elitenkreisen berät oder einfach dekretiert. Spätestens 1808 war der Impetus dieser Reformen verraucht. Da sich in der Karibik moderne Formen der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft entwickelten und die Eliten von Caracas glaubten, gegenüber der englischen, französischen und antillianischen Konkurrenz zurück zubleiben, liessen sie sich am ehesten davon überzeugen, dass Spanien und die imperialen Eliten nichts mehr für sie tun konnten. Sie versuchten das koloniale Sammelsurium von Küstenprovinzen und Guayana, das seit den 1780er Jahren notdürftig zentralisiert worden war, zunächst in ein autonomes Territorium (in ihrem Verständnis ein Gebiet unter ihrer Souveränität) umzuwandeln. Als das europäische Spanien durch den Einmarsch napoleonischer Truppen 1808 (und die nachfolgenden Kriege bis 1814) faktisch zusammenbrach, wollten die Eliten von Caracas nur noch eines: den Primat ihrer Stadt und ihrer Provinz erhalten sowie die inneren und äußeren Bedrohungen ihrer Quasi-Souveränität - nun selbst, sozusagen als „Tyrannen im eigenen Haus“ - abwehren. Dazu war ein neuer Politikstil nötig. Vor allem musste die neue Politik wenigstens ansatzweise öffentlich werden, neue Räume, wie Marktplätze, Strassen oder die in allen kolonialspanischen Städten zentralen Plazas, Akteure, wie Milizen, und Medien, erste Zeitungen, öffentliche Reden, ansprechen, einbinden und nutzen. Lasso, Marixa, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 1811-1830”, in: Summerhill, Thomas; Scott, James (eds.), Transatlantic Rebels. Agrarian Radicalism in Comparative Context, East Lansing: Michigan State University Press, 2004, S. 117-135; Helg, Liberty and Equality in Caribbean Colombia 1770-1835, Chapel Hill; London: The University of North Carolina Press, 2004. 567 Michael Zeuske/Venezuela Seite 229 13.05.2016 Weil die Elite von Caracas so konservativ war, rebellierte sie als Erste, nach beziehungsweise parallel zu den Eliten von Charcas im heutigen Bolivien und Quito in Ekuador, die eventuell noch einen Tick konservativer war. Konservativ sein bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie etwas (für sie selbst) Gutes erhalten, konservieren, wollten – die Vorherrschaft eines Zentrums (ihre Stadt und Provinz Caracas), die etwa seit einer Generation durch die Reformen bestätigt worden war und die Offizialisierung des bereits lange vorhandenen informellen Herrschaftssystem der Kastenordnung – symbolisiert in der zentralen Rolle des Cabildos von Caracas. Und sie brauchten Freihandel. In Caracas lebte die größte und einflussreichste Abteilung der venezolanischen Elite, die Mantuanos. Alle wichtigen Wege und Institutionen, die wichtigsten Erfahrungen und das meiste Wissen über die Verbindung zwischen Venezuela und der atlantischen Welt und Europa hatten sich in der Stadt angesammelt.568 Dagegen gab es – ebenfalls konservativen – Widerstand von Mantuano-Eliten der anderen großen (und einigen kleinen) Kolonialstädte Venezuelas, die den Zustand von vor 1777 gerne wiederherstellen wollten – gegen die „Tyrannei von Caracas“, wie es bei ihnen hiess. Der schärfste Widerstand kam von den Eliten Coros, Cumanás und Maracaibos (zwischen denen es auch relativ wenig Heiratsverbindungen nach Caracas gab, da sie so endogam waren, dass sie nicht einmal Elite-Caraqueños als Schwiegersöhne und -töchter akzeptierten und umgedreht). Die wichtigsten Feinde aber erwuchsen den Mantuanos von Caracas in der Gruppe der Pardos – nicht zuletzt, weil diese größte soziale Gruppe Venezuelas durch die Privilegien der offiziellen Kolonialgesellschaft und durch die ungeschriebenen Regeln der Kastengesellschaft am meisten behindert worden war. Die Pardos hatten auch am klarsten die Nachricht aus SaintDomingue („Völker, hört die Signale“) aufgenommen – Gleichheit und Freiheit Quintero, Inés, “Honor, riqueza y desigualdad en la provincia de Venezuela, siglo XVIII”, in: Schröter, Bernd; Büschges, Christian (eds.), Beneméritos, aristócratas y empresarios, Frankfurt am Main: Vervuert, 1999 (ACTA COLONIENSIA. Estudios Ibéricos y Latinoamericanos, eds. Prien, Hans-Jürgen; Zeuske, Michael; Vol. 4), S. 183198. 568 Michael Zeuske/Venezuela Seite 230 13.05.2016 für farbige Menschen. Unter ihnen bildete sich so etwas wie ein Republikanismus von unten heraus.569 Es sollte bis um 1816-1820 dauern, ehe es unter dem Druck der Konflikte zu partiellen Allianzen zwischen Pardos und radikalen Kreolen kam. Dazu kamen die Isleños, spät gekommene spanische Kolonisten von den kanarischen Inseln, die den kleinen Handel, die pulperías (eine Mischung zwischen Gasthäusern, Post und Gemischtwarenläden)570, die kleine Landwirtschaft (Tabak, Früchte und Gemüse) und den Maultiertransport dominierten, sowie spanische Armeeangehörigen und Milizen. Auch diese sozialen Gruppen waren von der Änderung des Politikstils betroffen. Sie versuchten durch ihre wichtigsten Organisationsformen, wie Gremios und lokale Cofradías beziehungsweise im Laufe der Konflikte durch Milizen und ganze Armeen, Einfluß auf die Politik zu nehmen. Auch die freien Bewohner der faktisch herrenlosen Orinokosavannen, die Cimarrón-Llaneros, die seit 1750 immer stärker Opfer der von der kreolischen Elite kontrollierten Expansion in die Llanos geworden waren, waren eifrige Empfänger von Nachrichten über Konflikte in den Städten des Nordens. Sicherlich fügt sich die historische Etappe von 1808 bis 1821 in Venezuela auch ein in Prozesse im Rahmen der weiterlaufenden Reformen des Imperiums, die vor allem in Restspanien selbst und auf Kuba vorangetrieben wurden, mit den berühmten Cortes von Cádiz, der einzigen wichtigen nicht von Franzosen besetzten Stadt in Spanien, die 1812 zur ersten europäischen liberalen Verfassung führte – „liberal“ galt damals fast so wie „kommunistisch“ um 1918.571 Innere Prozesse sind aber fast immer ausschlaggebend. Die Vorgänge in Venezuela zwischen 1808-1812 stellten vor allem einen Präventivschlag der Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, in: Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia: University of South Carolina Press, 2001, S. 176-190; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 18111830”, S. 117-135; Gómez, “Haïti entre la peur el le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens : relations et repères avec Saint-Domingue el les ‘Îles du vent’, 1790-1830“, in : Bonacci, Giulia ; Béchacq, Dimitri ; BerloquinChassany, Pascale ; Rey, Nicolas (sous la direction de), La Révolution haïtienne au-delà de ses frontières, Paris : Éditions Karthala, 2006, S. 141-163. 570 Castellanos, Rafael Ramón, Historia de la pulpería de Venezuela, Caracas: Editorial Cabildo C.A., 1988. 571 Chust, Manuel, „De esclavos, encomenderos y mitayos. El anticolonialismo en las Cortes de Cádiz“, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 11 (2), Summer 1995, S. 179-202 ; Chust Calero (ed.), Revoluciones y revolución en el mundo hispano, Castelló de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I, 2000. 569 Michael Zeuske/Venezuela Seite 231 13.05.2016 Mantuanos gegen das „Gespenst Haiti“ dar para no ser entregados a los franceses, geführt aus Furcht vor den vielen Pardos, Isleños, Sklaven, Llaneros, konkurrierenden Eliten. Zugleich war es ein Konflikt zur Erhaltung der für die Elite von Caracas günstigen Ergebnisse des Kolonisationsprozesses und der bourbonischen Reformen. Unter diesen Bedingungen wirkte der Einfluss einer globalen – oder, sagen wir, atlantischen – Ideologie, die sich in der amerikanischen Revolution (1776-1783), der französischen Revolution (1789-1795) sowie der Revolution der Sklaven und freien Farbigen von Saint-Domingue (1791-1803) manifestierte, wie eine ideologische Bombe. Die Hauptideen dieser Ideologie, des Liberalismus, waren Freiheit und Gleichheit. Von den originären Ideen der Liberalismus wollten die Herren der größten Ländereien und der munizipalen Macht nur den Freihandel und die Ideen der „Gleichheit“, ihrer Gleichheit mit den imperialen Eliten, übernehmen. Vielleicht die eine oder andere technische und kulturelle Neuerung. Liberalismus meinte um 1800 aber vor allem Freiheit und Gleichheit für alle, auch für Sklaven. Unter der Sprengkraft der revolutinären Ideen konnte sich sogar der abgrundtiefe Konservatismus der kreolischen Eliten Amerikas erfolgreich verbergen, denn eigentlich war der Gedanke an wirkliche Gleichheit den Mantuanos fremd. Auch ein Bolívar brauchte bis 1815-1816, um seinen konservativen Aristokratismus in der Realität abzulegen: als Habitus hat der ihn bis an sein Lebensende wie ein Halo umgeben. Die Eliten des schmalen Stadtbürgertums, der freien Berufe, der Bourgeoisie, der Plantagenbesitzer und Kaufleute verstanden unter Freiheit vor allem Freihandel. Dieser Wirtschaftsliberalismus sollte allerdings in den Kolonien nicht so weit gehen, den Pardos „Gleichheit“ und den versklavten Arbeitskräften „Freiheit“ zuzugestehen oder den Menschen ohne Land gleichen Zugriff auf den Boden – ganz im Gegenteil. Die Mantuanos forderten für sich, für ihre Gruppe, Freiheit von metropolitaner oder absolutistischer Bevormundung sowie Freihandel. Diese Ideologie, die Worte der Texte, halfen Michael Zeuske/Venezuela Seite 232 13.05.2016 ihnen, ihren Konservatismus in rhetorische und politische Modernität zu hüllen. Auch sie verlangten „Gleichheit“ – und meinten die Gleichheit der Elite von Caracas mit den Eliten der Metropole, den Oberschichten anderer Länder und den absolutistischen Kolonialfunktionären; letzteres vor allem wegen der Zurücksetzung ihrer Söhne durch die zentralistischen Reformer. Sie wollten auch gleiche politische Repräsentation, möglichst fixiert in geschriebenen Verfassungen (wie die Verfassung der USA). In dieser politischen Repräsentation sollte die gesamte Kolonialbevölkerung sozusagen passiv mitgezählt werden (denn Amerika hatte schon weit mehr Einwohner als Spanien); die aktive Vertretung aber wollten die kreolischen Eliten nur für ihre Repräsentanten. Die Grundideen waren revolutionär, der neue Politikstil auch; die Interessen hinter den Worten oder vielleicht avant la lettre, die diese Ideen repräsentierten - die Elite von Caracas selbst, war konservativ und konterrevolutionär. Bis zur militärischen Radikalisierung 1813-1815 einer kleinen Gruppe von Kreolen aus den Oberschichten unter Bolívar, Mariño, Ribas und Bermúdez um 1815-1816 war die gesamte Oberschicht im sozialen Sinne extrem konservativ. Erst unter dem Druck der Radikalisierung befreite sich eine kleine Gruppe der so genannten Befreier, darunter Bolívar, aus diesem Konservatismus; die Oligarchien insgesamt blieben konservativ und konterrevolutionär. Es gab aber auch andere Versuche, die die liberalen Grundideen weitestgehend bei ihrem damals noch revolutionären Sinn nahmen. Radikale Politiker wie Francisco de Miranda (1750 als Sohn eines Isleño in Caracas geboren), suchten Spanisch-Amerika auf einen Schlag, möglichst mit einer einzigen Militäroperation (Intervention) unter französischem oder britischem Schutz, in einen eigenen Staat kontinentalen Ausmaßes zu verwandeln. Miranda suchte damit das in seinen Augen zurückgebliebene spanische Reich in Amerika die Höhe moderner Konzepte bringen, die er in Gebieten außerhalb Spaniens Michael Zeuske/Venezuela Seite 233 13.05.2016 aufgenommen hatte, als er zwischen 1783 und 1789 durch das ganz Europa bis nach Russland gereist war. Miranda plante zwar von Anfang, die freien Farbigen in den Kampf einzubeziehen, aber gegenüber den Sklaven war er genauso konservativ wie die Oberschichten. Unter Nutzung seiner historistischen Bildung formulierte Miranda Grundideen eines kontinentalen Staatskonzept – aus dem Spanischen Amerika sollte durch militärische Befreiung ein neuer kontinentaler Staat werden. Zunächst plante Miranda ein Inkanat, das heisst ein Imperium. Dann entwickelte er - vor allem im Londoner Exil - nach und nach das Konzept einer kontinentalen Republik mit Namen Colombia.572 Miranda war ein Beispiel dafür, wie junge, aufstrebende Menschen aus dem städtischen Milieu unter den Kastenbegriffen Pardo und Isleño diffamiert worden waren – unter anderem vom Vater von Simón Bolívar, Vicente Bolívar.573 Mirandas Konzept eines kontinentalen Staates und einer militärischen Intervention beeinflusste den jungen Simón Bolívar zutiefst - bis mindestens 1816. Zugleich legte Miranda damit die Grundlage für eine bis heute sehr mächtige Utopie des Staates in Lateinamerika, dessen Konzepte aus Europa importiert waren. Die konservativen Eliten der Stadtoligarchien dagegen versuchten, sozusagen durch eine präventive Modellnachahmung der Revolution in den USA, ihre Macht ohne große öffentliche Unruhe in dem ihrer Meinung nach zerfallenden Imperium zu sichern. Aus der Ansammlung kolonialer Provinzen und unerschlossener Gebiete sollte ein Staat werden – möglichst eine föderative Republik unter ihrer Führung. Intellektuelle aus ihren Reihen aktivierten die europäische Denkfigur der Geburt einer Gruppe von Menschen auf gleichem Territorium (natio): die „Nation“. 572 Bohórquez Morán, Carmen, Francisco de Miranda. Precursor de las independencias de la América Latina. Prefacio de Marie-Cécile Bénassy, Caracas : Universidad Católica Andrés Bello ; Universidad del Zulia, 2001; Zeuske (ed.), Francisco de Miranda y la modernidad en América, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Secretaría de Cooperación Iberoaméricana, 2004 (Viejos documentos, Nuevas lecturas; Velhos Documentos, Novas Leituras). 573 AGI, Audiencia de Caracas, Secretaria de Hacienda de Indias, expedientes del ramo del resguardo en Caracas, años 1781-1792, Leg. 784: “Expediente sobre el nombramiento de Comandante del resguardo del Río Yaracuy, en D. Vicente Bolibar y en D. Juan de Ibarra, por muerte del primero, y solicitud de este [Ibarra] para que no se pueda removersele del empleo” (1774). Michael Zeuske/Venezuela Seite 234 13.05.2016 Bereits Ende 1808 begannen die Mantuanos Rebellionen gegen die lokalen Kolonialautoritäten anzuzetteln, nicht weil sie Revolutionäre gewesen wären, sondern aus Angst vor „französischen Einflüssen“, weil die neuen Funktionäre oft von dem in Madrid herrschenden Napoleon eingesetzt worden waren, und aus „Angst vor der Revolution“574 („von unten“) – Generalkapitän Juan de Casas und der Abgesandte der Krone, Regente Visitador Joaquín Mosquera y Figueroa (Verwandter der neugranadischen Bolívaranhängers Tomás de Mosquera), musste schnell die Pardoregimenter aufmarschieren lassen, um die Gelüste der Mantuanos auf eine eigene Junta zu stoppen.575 Ob sich aus dieser politischen Kultur die fatale Neigung, in wirtschaftlichen und sozialen Krisenlagen politische Probleme durch Rückgriff auf möglichst militärisch konfigurierte Gewalt zu lösen ergeben hat, zur Tradition entwickelt hat, kann man zwar vermuten, muss es aber im Konkreten nachweisen. Die Eliten in Spanien, sahen sich angesichts der napoleonischen Invasion 1808 genötigt, entweder mit der Herrschaft der Franzosen in Spanien abzufinden oder die Amerikaner, auf die sie ihrerseits bisher oft mit Hochmut herabgeblickt hatten, um Hilfe anzurufen. Viele der spanischen Reformer schlossen sich in diesem Dilemma wirklich den französischen Besetzern an – kein Wunder angesichts des überwältigenden Sieges der Franzosen, vieler Fortschritte in Frankreich seit 1789 und der Fixierung der spanischen Reformer auf Schriften französischer Aufklärer, Wissenschaftler und Philosophen (Frankreich war das Weltzentrum moderner Wissenschaften, siehe Humboldt, der von 1804 bis 1829 in Paris lebte). Spanien und mit Spanien die Generalkapitanie Venezuela schienen, wie andere Kolonialterritorien und etwa die deutschen Rheinbundstaaten, die Schweiz oder seit 1806-1807 auch Preussen, Teil der napoleonischen Imperiums zu werden. Die Reformeliten Spanien schlossen sich 574 Izard, El miedo a la revolución. La lucha por la libertad en Venezuela (1777-1830), pról. Bagú, Sergio, Madrid: Editorial Tecnos 1979. 575 Quintero, La Conjura de los Mantuanos. Último acto de fidelidad a la monarquía española. Caracas 1808, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2002, S. 129ff. Michael Zeuske/Venezuela Seite 235 13.05.2016 als afrancesados (etwa: „Französlinge“) den Franzosen an.576 Der Kaiser und sein Stellvertreter in Madrid (der Napoleonbruder Josep Bonaparte bestieg als José I. den Thron in Madrid) sandten Emissäre nach Amerika und forderten die kreolischen Eliten auf, sich ebenfalls auch den Franzosen anzuschließen. Die imperialen Kolonialeliten, zum Beispiel der Generalkapitän von Caracas, Las Casas, waren verwirrt. Einige tendierten dazu, sich den lokalen Eliten annähern (da bestand aber die Gefahr der Mantuano-Rebellionen), andere tendierten zur „französischen“ Lösung (zumal einige schon vom neuen König in Madrid, José I., ernannt worden waren). Andere wiederum neigten zu einer harten militärischen Lösung der Erhaltung des Status quo (meist mit Hilfe spanischer Militärs, Milizen und Kaufleute). Insgesamt wird deutlich, dass Napoleon weit war und die lokalen Widersprüche wichtiger waren (unterhalb aller ideologischen Erklärungen) – fast unisono lehnten alle amerikanischen Eliten die „französische“ Lösung ab (mit sehr wenigen Ausnahmen). Vor allem deshalb, weil „Frankreich“ in der Karibik „Saint-Domingue“ und seit 1804 Haiti bedeutete. Im Grunde scheiterten alle Liberalismen – radikale wie konservative – an einer Kernfrage: was sollte in einer Predigt der Freiheit und der Partizipation mit den Sklaven werden?!577 Nachrichten aus Spanien brauchten etwa einen Monat, um nach Amerika zu gelangen (und umgedreht). Aus Sicht der spanischen Kolonien, die durch den Atlantik vom europäischen Mutterland getrennt waren, schien Spanien 1808 drei Könige zu haben. So etwas kann selbst härteste Monarchisten verwirren. Napoleon hatte die beiden spanischen Könige Karl IV. und seinen Nachfolger, Ferdinand VII., ins französische Exil verbannt. In Madrid kam es am berühmten 2. Mai 1808 (Dos de Mayo – Bild von Goya) zu einem Volksaufstand578, dessen 576 Fuentes, Juan Francisco, La monarquía de los intelectuales: élites culturales y poder en la España josefina, in: Alberto Gil Novales (ed.), Ciencia y independencia política, Madrid: Ediciones de Oro, 1996 (Colección: Anejos de la Revista Trienio, Ilustración y Liberalismo, Nº 3), S. 213-222. 577 Marchena Fernández, Juan, “El día que los negros cantaron la marsellesa. El fracaso del liberalismo español en América, 1790-1823”, in: Álvarez Cuartero, Izaskún; Sánchez Gómez, Julio (eds.), Visiones y revisiones de la independencia americana, Salamanca: Ediciones de la Universidad de Salamanca, 2003, S. 145-181. 578 Landavazo Arias, Marco Antonio, „¿El pueblo o la plebe? La participación popular en la España de 1808 según cutro testimonios contemporáneos”, in: Tzintzún. Revista de Estudios Históricos 39 (enero-junio de 2004), S. 39- Michael Zeuske/Venezuela Seite 236 13.05.2016 einigendes Symbol der verbannte spanische König Ferdinand VII. wurde. Von Ferdinana erwartete man, da er erst kurz geherrscht und Konflikte mit der Kamarilla seines Vater gehabt hatte, neue Reformen – diese Hoffnungen hat der bigotte Ferdinand in Wirklichkeit allerdings nie erfüllt. Die Franzosen schlugen den Aufstand blutig nieder (Tres de Mayo – Goya).579 Aber überall im Lande brachen Rebellionen und Guerrillakriege gegen die Franzosen aus, an deren Spitze sich meist traditionellere Eliten, aber auch eine Reihe von Liberalen, setzten. Sie begründeten eine antifranzösische Juntabewegung im Lande; die führenden Juntas der großen Städte (wie Madrid) mussten sich allerdings vor den vorrückenden Franzosen erst nach Sevilla und dann nach Cádiz im äußersten Südwesten Spaniens zurückziehen. Cádiz liegt auf einer Insel vor der Küste und ist nur durch eine lange, schmale Halbinsel mit dem Festland verbunden. Als erstes schlossen die spanischen Juntas ein Friedens- und Beistandsabkommen mit Großbritannien, dem alten Hauptfeind. Die Festungsund Inselstadt Cádiz konnte nun von der britischen Flotte gegen französische Eroberungsversuche geschützt werden. In der Stadt fanden sich viele Liberale, Rechtsanwälte und Kaufleute, die ein modernes politisches System für Spanien anstrebten - gegen den alten Hofklüngel, gegen Absolutismus und Privilegienmonopole, für eine neue, öffentliche Politik. Die Krise von 1808 und der Fast-Untergang Spaniens zwangen die Eliten des Zentrums und die Eliten der Peripherien Spaniens, die lokalen Eliten Amerikas, um Hilfe anzurufen. Zweimal gingen Wahlaufrufe von Cádiz aus: einmal zur Wahl einer Junta Central in Cádiz und einmal zur Wahl eines Parlaments, der Cortes von Cádiz. Die Wahl an sich war eine spanische Revolution im Lichte der französischen Revolution; bisher hatten die Hofkamerillas solche Fragen unter sich entschieden. 1810 übernahm eine fünfköpfige Regentschaft die Macht vom Kollektivorgan Junta (35 Mitglieder 58. 579 Im Gegensatz zur heroischen, so zu sagen „modernen“ Visualisierung bei Goya lautete der Befehl von Murat, dass „Alle, die beim Aufstand gefangen genommen worden sind, sollen durch Armbrustpfeile hingerichtet [arcabuceados] werden“, siehe: Quintero, La Conjura de los Mantuanos ..., S. 37. Michael Zeuske/Venezuela Seite 237 13.05.2016 und endlose Debatte über Strategie), um den Krieg gegen die Franzosen besser zu organisieren. Jedenfalls mussten die spanischen Eliten in Cádiz den Eliten in Amerika Angebote machen und sie erklärten ihnen: „Amerika ist keine Kolonie mehr“. Die neuen politischen Prozesse begannen 1808 als eine neue Stufe genereller imperialer Reformprozesse revolutionären Charakters.580 Kontrafaktisch gesprochen: hätte es nicht eine besondere Akkumulation von Widersprüchen, etwa in der Karibik, wie die Gefahr eines Übergreifens der Revolution von Saint-Domingue auf die freien Farbigen in Venezuela, und in Venezuela selbst gegeben, wie die Konflikte zwischen urbanen Oligarchien einerseits und Kolonialfunktionären sowie der Elite von Caracas andererseits, die letztere fürchten liess, die Kolonialfunktionäre könnten die privilegierte Stellung von Caracas zurückschneiden, wäre eine Entwicklung des spanischen Imperiums zu einem Commonwealth nach britischem Muster möglich gewesen. Eine ganze Reihe von Vertretern der regionalen und lokalen Eliten der großen Städte Spanisch-Amerikas nahm an den Wahlprozessen teil, in Venezuela vor allem Maracaibo.581 Es brachen aber auch viele politischsymbolische Widersprüche aus. Ein Hauptwiderspruch war der der politischen und quantitativen Repräsentanz. Amerika hatte viel mehr Einwohner als Spanien – wenn die „niederen Kasten“ mitzählt wurden. Die hispanoamerikanischen Eliten forderten für sich diese Repräsentanz aller „Amerikaner“; americanos wurde im Grunde zu einem politischen Fahnenwort, dass alle Bewohner Spanisch-Amerikas erfassen sollte.582 Da sich die Juntas und politischen Körperschaften eine Reihe von Titel gaben (zum Beispiel „Vuestra Señoría“ – Chust, Manuel, “La Junta Central : Sendas revolucionarias en caminos independientes”, en : Chust, La cuestión nacional americana en las Cortes de Cádiz, Valencia : Centro Francisco Tomás y Valiente UNED Alzira-Valencia Fundación Instituto Historia Social, 1999 (Biblioteca Historia Social, 2), S. 32-33. 581 Cardozo Galué, Germán; Urdaneta de Cardozo, Arlene, “La élite de Maracaibo en la construcción de una identidad regional (siglos XVII-XIX)”, in: Schröter, Bernd; Büschges, Christian (eds.), Beneméritos, aristócratas y empresarios. Identidades y estructuras sociales de las capas altas urbanas en América hispánica, Frankfurt am Main: Vervuert, 1999 (ACTA COLONIENSIA. Estudios Ibéricos y Latinoamericanos, eds. Prien, Hans Jürgen; Zeuske, vol. 4), S. 157-182. 582 “Representación de los diputados americanos a las Cortes de España (1811)”, in: Pensamiento Político de la Emancipación, prólogo de Romero, José Luis, selección, notas y cronología Romero, José Luis und Romero, Luis Alberto, 2 Bde., Barcelona: Bodoni 1985 (Biblioteca Ayacucho, Bde. XXIII und XXIV), Bd. II, S. 63-77. 580 Michael Zeuske/Venezuela Seite 238 13.05.2016 Eure Herrschaft), kam es gerade mit Neuaufsteigern, wie dem Cabildo von Caracas583, der Vertretung der urbanen Oligarchie, vor dem Hintergrund der Widerprüche in Venezuela (Konkurrenz der Stadtoligarchien, Kastensystem, Einflüsse der Revolution von Saint-Domingue), auch zu einer Reihe von rituellen Konflikten, die als Auslöser (oder Stellvertreter, vulgo Bankettfrage) für andere Konflikte und Prozesse wirkten. So lehnte der Cabildo von Caracas zum Beispiel ab, sich der Junta einer anderen Stadt unterzuordnen, nämlich der Junta von Sevilla, die sich zur Junta Central, sozusagen zur obersten Vertretung des ganzen Imperiums erklärt hatte. Der Hintergrund dieser rituellen Konflikte war, dass für Caracas die Konkurrenz mit anderen Städten (in Venezuela) die Hauptkonfliktlinie darstellte. Der Cabildo von Caracas wollte in diesem Punkt auf keinen Fall nachgeben. Humboldt hat die Spitzen der Oligarchie als „wahre Munizipalaristokratie“ beschrieben: „ … der cavildo [Magistrat] der Städte [besteht] keineswegs aus den Bürgern einer Stadt … Alle Handwerker, alle Kaufleute, die öffentlich boutique und Läden halten [selbst in der Bodega oder Pulpería arbeiten – M.Z.], sind vom Cavildo ausgeschlossen! Dieser besteht bloß aus dem vornehmen, reichen und unthätigen Theile der Einw[ohner]. Diese Aristokraten ergänzen sich selbst, wählen alcalden, corregidores…“. 584 Die ersten Konflikte um Repräsentanz und Rituale wurden noch ganz im Rahmen traditioneller Elitenpolitik gehalten – die Juntas verkehrten vor allem schriftlich und im Innern von Amtsräumen miteinander. Zwischen 1808 und 1810 kam es aber auch schon zu einer Reihe von offenen Konflikten und ersten Verschwörungen.585 Das Fass lief über, als Informationen über neue Niederlagen gegen die Franzosen in Spanien Venezuela erreichten und die Kolonialfunktionäre wegen des Thron-Wechsels (von Bourbonen zu Napoleoniden) in Spanien faktisch in der Luft hingen und keine wirkliche Legitimität mehr hatten. Urbane Eliten sowie Milizoffiziere entschlossen sich im Langue, “Actores económicos y escenarios políticos”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión ..., S. 95137. 584 Humboldt, Vorabend …, S. 265 (Dokument 185), Cumaná, Oktober bis November 1800. 585 Quintero, “Honor, riqueza y desigualdad en la provincia de Venezuela”, S. 183-198. 583 Michael Zeuske/Venezuela Seite 239 13.05.2016 April 1810 zum Handeln. Der neue Gouverneur von Caracas und Generalkapitän von Venezuela, Vicente de Emparan y Orbe586, ein enger Freund Humboldts; wie dieser auf die Erfolge der französischen Kultur und Wissenschaft orientiert587, bot sich als Ziel nachgerade an. Der hochgebildete Emparan war „von Murat ernannt“ worden - von den Franzosen. Anfang April 1810 gelangten die Nachrichten von der Auflösung der Junta und der Bildung der Regentschaft in Spanien nach Caracas, überbracht unter anderem von Carlos Montúfar, dem ehemaligen Reisegefährten Humboldts.588 Am Gründonnerstag 1810, dem 19. April, hatte eine der vielen Verschwörungen im Lande Erfolg. Die Männer im Vordergrund der Osterverschwörung in Caracas waren José Cortés Madariaga, ein Kanoniker, der Rechtsanwalt Juan Germán Roscio, sowie die Milizoffiziere José Félix Ribas und Francisco Salias. Letztere waren die entscheidenden Figuren. Sie repräsentierten die Verbindung von bewaffneter Gewalt und Oligarchie. Die Oligarchie von Caracas zog in Gestalt von Martín Tovar Ponte (Caracas, 1772 – Caracas, 1843), die Fäden. Martín Tovar war der Sohn eines wichtigsten Chefs der Elitenclans von Caracas, des Grafen Tovar. Neben ihm, zum Teil in Konkurrenz um Führungspositionen, spielte der ToroClan um den 4. Marquis von Toro, Francisco Rodríguez del Toro e Ibarra (Caracas, 11. Dezember 1761 – Caracas, 7. Mai 1851)589 und seine Bruder Fernando (Caracas, 29. Mai 1772 – Chacao, 25. Februar 1822), intimer Freund Bolívars und Cousin von dessen Frau, eine wichtige Rolle. Wäre die Revolte gescheitert, hätten nur die Männer im Vordergrund eine Strafe bekommen und der ganze Vorgang wäre als einer der vielen Riots in die Geschichte des Landes eingegangen. Die Gruppe der Eingeweihten der Verschwörung zählte etwa dreißig Personen. Sie gehörten einer breiteren Gruppe an, die politische Morón, Guillermo, „Vicente de Emparan y Orbe“, in: Morón, Gobernadores y Capitanes Generales de las provincias venezolanas 1498-1810, Caracas: Planeta, 2003, S. 159-160. 587 Siehe den Brief Emparans an Humboldt aus Cumaná vom 10. Februar 1804 („Mein geliebter Baron“), in: Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 16), S. 273-275 (Brief 128). 588 Borchardt de Moreno, Christina, “Alexander von Humboldt y la familia Montúfar”, in : Holl, Frank (ed.), El regreso de Humboldt. Exposición en el Museo Nacional de Colombia, Marzo-Mayo del 2001, Quito : Imprenta Mariscal, 2001, S. 139-147. 589 Quintero, El último marqués. Francisco Rodríguez del Toro (1761-1851), Caracas: Fundación Bigott, 2005. 586 Michael Zeuske/Venezuela Seite 240 13.05.2016 Reformen im Sinne von mehr Autonomie anstrebten; zu dieser Gruppe gehörten Männer, wie Vicente Salias590 oder der an der Universidad de Caracas studierte Pardo, Findelkind, Feldscher und Mediziner, Historiker und Zeitungsmann José Domingo Díaz (Caracas, 3. August 1772 – Madrid, c. 1834)591; die nach 1813 zu den Gegnern werden sollten. Am besten lässt sich die Gruppe der Mantuanos, die die politischen Prozesse zwischen 1810 und 1812 steuerte, durch Quellen charakterisieren, die nach dieser Etappe von spanischen Funtionären geschrieben worden sind, um sich darüber klar zu werden, was die Gründe der „revoluciones“ vom 19. April 1810 und 5. Juli 1811 gewesen seien. So schreibt der spanische Kavalleriehauptmann und Kolonialfunktionär Juan Bautista de Arrillaga 1812: „Parte de los males que han infligido esta provincia traen una antelación de fecha que no es fácil descubrir ahora aunque, sí que ha podido tener mucha influencia en el progreso que tomó la Rebolución [sic] en poco tiempo. En las inmediaciones de la Laguna de Valencia poseen entre seis, u ocho poderosos de Caracas, como los Tobares, Toros, etc., cavezas de la rebolución, una inmensidad de las mejores tierras de lavor, como de diez y ocho á veinte leguas quadradadas adquiridas por sus antepasados del Real Patrimonio [meist durch Okkupation und Composición - M.Z.] y cuando todo aquello eran yermo, y países despoblados, por cualquiera pequeño servicio, ó por una pequeña cantidad de dinero de treinta ó quarenta pesos á fávor del Erario, sin medidad prefixada con linderos [das heisst, offen für weitere Okkupationen – M.Z.] y títulos legítimos, donde además de tener los propietarios pingües haciendas cultivadas con numerosas esclavitud y no encontrando los demás 590 Archivo Histórico Provincial de Santiago de Cuba (AHPStC), Fondo Protocolos, Escribanía Real de Manuel Caminero Ferrer, Bd. 58 (1803), f. 124v-125r [ohne Titel und ohne Nummerierung der Escrituras], Santiago de Cuba, 23 de Julio de 1803 [poder] “D.n Vicente Salias Natural de la Ciudad de Caracas, y vecino de la de Maracaybo, y existente en esta, Cap.n y Dueño de la Goleta Francesa nombrada Santa Ana de porte de Setenta y sinco thoneladas ... anclada en el sumidero de este Puerto [Santiago de Cuba] ...daba su poder cumplido amplio ... á D.n. Juan Maria Garlud [¿] recidente en esta mencionada Ciudad ...” [poder amplio, nada especifico]. 591 Barroeta Lara, Julio, Una tribuna para los godos: el periodismo contrarrevolucionario de Miguel José Sanz y José Domingo Díaz, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987; Fortique, José Rafael, Dos antagonistas, Maracaibo: Editorial Universidad del Zulia, 1967; Navarro García, Jesús Raúl, “El proceso de la independencia venezolana en ela trayectoria ideológica del Intendente José Domingo Díaz”, in: Navarro García, Puerto Rico a la sombra de la independencia continental (Fronteras ideológicas y políticas en el Caribe, 1815-1840), Sevilla – San Juan: Centro de Estudios Avanzados de Puerto Rico y El Caribe/CSIC, 1999, S. 103-124. Michael Zeuske/Venezuela Seite 241 13.05.2016 vecinos que hay ahora, tierras donde establecerce, se ven precisados a tomarlas en arriendo a aquellos señores de que resultan muchos males [...] Una posesión de tierras tan dilatada en tan pocas manos después que el territorio está regularmente poblado, trae consigo una agricultura mezquina y mercenaria y en el orden civil otros perjuicios de grave conscuencia; los propietarios por un terreno que a sus antepasados les costó treinta o quarenta pesos, alquilando a diez o doce cada fanega, embolsan anualmente cinco o seis mil pesos.”592 Weiter beschreibt der Kavalleriehauptmann die schwierigen Bedingungen der Pächter, mit ihrer schweren Arbeit, den hohen Pachten und kurzen Pachtverträgen – im Grunde die Ursache der so genannten „Konterrevolution“ von 1811 und 1812, die sich vor allem auf arme weiße Späteinwanderer, Isleños, sowie freie Farbige stützte, die die Masse der Pächter stellte. Der von der kreolisch-patriotischen Historiographie vielbeschriebene Vorgang des so genannten „19 de Abril“ bestand im Kern in der nicht vom Generalkapitän abgesegneten Einberufung eines Cabildo und der mutigen Tat von Salias, der den Generalkapitän am Eintritt in die Kathedrale hinderte, indem er ihn inmitten einer Menschenmenge am Arm faßte und zurief: „Das Volk ruft Euch zum Cabildo, Herr“. Die vorher instruierte Gruppe von Menschen, oft als „Volk von Caracas“ bezeichnet, skandierte auf der Plaza „al cabildo, al cabildo“ [in den Stadtrat].593 Eigentlich ein klassischer Riot mit Elite im Hintergrund. Aber die Unstände waren anders als sonst – das Imperium existierte de facto nicht mehr. Erzbischof Narciso Coll y Pratt, der gerade aus Spanien zwecks Amtsantritt nach Caracas gekommen war, schreibt: „La revolución del diez y nueve de Abril no fue que en un momento causó el estrago, y hablando con exactitud, no hizo más que alzar la compuerta a las aguas corrompidas“.594 Gabaldón Márquez, Joaquín, “Prólogo”, in: Opusculo histórico de la revolución desde el año 1858 a 1859. Prólogo por Joaquín Gabaldón Márquez, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1983, S. 9-34, hier S. 30-32. 593 Pérez Vila, Aportes a la historia documental y crítica, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986. 594 Coll y Prat, Narciso, Memorias sobre la independencia de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 23), S. 59 592 Michael Zeuske/Venezuela Seite 242 13.05.2016 José Félix Ribas (Caracas, 1775 – Tucupido, 1815), der sich als Jakobiner gebärdete, war zum Repräsentanten der Pardos ernannt worden – offensichtlich sahen radikalere Teilgruppen der Elite sich zu einer Art Allianzpolitik mit den Anführern der Pardo-Milizen genötigt.595 Roscio war der geistige Mentor des 19. April, Madariaga forderte den Cabildo auf, keine Kompromisse mit Emparan einzugehen, sondern seinen Rücktritt zu fordern, und gab bei der nachfolgenden Ansprache des Generalkapitäns vom Balkon des Ayuntamientos (Stadtrat), hinter diesem stehend, der versammelten Menge Zeichen, Emparan zurückzuweisen. Emparan, der Ablehnung gewahr, sprach schließlich die Worte: „Nun, so will ich auch nicht mehr“. Er dankte bald darauf ab. Der Intendant V. Basadre folgte ihm bald darauf. Damit waren die Spitzen der Kolonialverwaltung aus dem Land. Ähnliche Vorgänge wie am 19. April in Caracas ereigneten sich in Cumaná (27. April 1810), Margarita (4. Mai), Barinas (5. Mai) und bald darauf auch in Barcelona, Mérida und Trujillo. Coro und Maracaibo erklärten sich für die Regencia und in Guayana kam es zwar zur Bildung einer Junta, aber bald zu einem Gegenputsch. Zunächst sprachen die Eliten der Junta-Städte überschwänglich von „unserer glücklichen Revolution“ – und meinten damit, dass damit die politischen Umwälzungen beendet seien; einige Eliten versuchten ihren eigenen Staat zu gründen, wie die von Barcelona (República de Barcelona Colombiana)596 und Trujillo. Mérida proklamierte die Umwandlung einer kirchlichen Schule (Seminario de San Buenaventura) in eine Universität (die spätere Universidad de los Andes); eine Angelegenheit, die schon über Jahre anstand, aber von der Krone lange nicht entschieden worden war. Alle Eliten hatten die Dynamik soziopolitischer Prozesse in Krisenzeiten gründlich unterschätzt. Für die langen Linien politischer Kultur Venezuelas ist 595 González, Juan Vicente, Biografía del general José Félix Ribas. Primer teniente de Bolívar en 1813 y 1814 (época de la guerra á muerte), Madrid: Editorial América (Biblioteca Ayacucho, Bd. 24), o.J., S. 26ff.; Mudarra, Miguel Ángel, José Félix Ribas 1775-1815, Caracas: Grijalbo, 1991. 596 Mudarra, Miguel Ángel, Integración y evolución político-territorial de Venezuela, Caracas: Publicaciones Mudbell, 1974. Michael Zeuske/Venezuela Seite 243 13.05.2016 festzuhalten, dass das, was heute als „Populismus“ in hehren Theorien beschrieben wird, seit den Riots und Revolten gegen die Compañía de Caracas zum alltäglichen Repertoire der Stadt-Oligarchien gehörte. Die Oligarchie von Caracas erweiterte den Cabildo zu einer Junta de Caracas, die im Namen von Ferdinand VII. sprach und sich der Junta Central sowie der Regentschaft in Spanien wiedersetzte. Sie liess nach dem Vorbild der USA einen Kongress wählen, der allerdings noch keine Unabhängigkeit definierte, sondern eher darauf bedacht war, den Status quo zu wahren. Aber die Konflikte liefen weiter, jetzt verstärkt durch neue Medien (Druckerpresse) und neue politische Gruppen und Räume. Ausländer erschienen, wie der Kaufmann William Watson, mit Niederlassungen in Caracas, Glasgow, Gibraltar und Malta. So verlangten, zum Teil in Strassenprotesten, die kirchliche Prozessionen zum Vorbild nahmen, die Pardos sozusagen eine „kastenfreie“ politische Partizipation. Die Einfuhr von „Negern“ wurde verboten.597 Die Repräsentanten anderer venezolanischer Städte im Kongreß begannen unter den Stichwort „Föderalismus wie in den USA“ die Aufspaltung der Riesenprovinz Caracas zu diskutieren. Kaum jemand sprach von Nation und wenn ja, dann meinte man eher seine Stadt (pueblo oder patria). Die Regentschaft in Spanien erklärte die Junta von Caracas zum Feind und rief spanische Militärverbände in Amerika und Königstreue zum Kampf gegen die „Verräter“ auf. Auf Verrat - infidencia - stand im geltenden Recht Todesstrafe die selbsterklärte Junta Suprema von Caracas („Höchste Junta“) erklärte daraufhin ebenfalls die Todesstrafe für Konspirateure.598 Die Konflikte waren so dynamisch, dass selbst den konservativen Eliten, den Grafen und Marquis von Caracas, nichts anderes übrig blieb, als am 5. Juli 1811 formal die Unabhängigkeit zu proklamieren. Zu den Unterzeichnern der hehren Urkunde “Decreto por el cual se prohibe la introducción de negros en estas provincias”, Caracas, 14. August 1810, in: Acta del 19 de Abril. Documentos de la Suprema Junta de Caracas, Caracas: Litografía Tecnocolor, S.A., 1979, S. 193. 598 “Edicto Pena de Muerte. Contra los Conspiradores y los que propagan rumores sediciosos”, Caracas, 26. Juli 1810, in: Acta del 19 de Abril ..., S. 189-190. 597 Michael Zeuske/Venezuela Seite 244 13.05.2016 zählten auch Miranda und Francisco Isnardi, der venezolanische Turiner. Sieben Provinzen schlossen sich zur Confederación Americana de Venezuela zusammen (Caracas, Barcelona, Barinas, Cumaná, Margarita, Trujillo und Mérida; der Cabildo von Angostura in Guayana unterzeichnete zwar, ging dann aber schnell wieder auf die Seite des Königs über [Karte].599 Der 5. Juli 1811 ist heute Nationalfeiertag. Damals meinten die Mantuanos von Caracas auch damit eine Art Autonomie. Nur Miranda wusste, was Republik bedeuten konnte; er war in gewissem Sinne der Macher der Unabhängigkeitserklärung. Republik aber war nach der Jakobinerzeit ein Reizwort. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit kam es zu massiver und offener Gewalt, denn für alle Feinde der Junta war nun die Maske gefallen.600 Der Krieg der Worte wurde zum Krieg der Waffen. John Lynch bezeichnet den Krieg in Venezuela, der nun seinen Lauf nahm, als „total war of uncontrolled violence“.601 Die Enthnisierung der Konflikte in Form von Kasten-Rassen erfolgte fast explosionsartig. Eine Woche später rebellierten die Isleños von Caracas sowie die Pardo-Regimenter von Valencia gegen Caracas unter dem Zeichen der Virgen de Socorro und dem Motto der Verteidigung von König Ferdinand VII. Die Geschichte der „Unabhängigkeit“, independencia, ist tausende Male erzählt und in venezolanischen Geschichtsbüchern beschrieben worden, meist als ein in sich geschlossener und koheränter Raum-Zeit-Komplex, der mit den römischen Zahlen in französischer Tradition verschiedener Republiken durchnummeriert worden ist: I. Republik (1811-1812); II. Republik (1813-1814) und III. Republik (1818-1819) sowie IV. Republik (1830-2000). Diese Republiken mit ihren Ordnungszahlen spielen heute noch eine wichtige Rolle in 599 Parra-Pérez, Caracciolo, Historia de la Primera República de Venezuela; estudio preliminar Mendoza, Cristóbal L., cronología y bibliografía Rivas, Rafael Ángel, Caracas: Editorial Texto, 1992 (Biblioteca Ayacucho; 183), nach S. 624. 600 Rieu-Millan, Marie Laure, Los diputados americanos en las Cortes de Cádiz (Igualdad o Independencia), Madrid : Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 1990; Guerra, François-Xavier, Modernidad e Independencias. Ensayos sobre las revoluciones hispánicas, Madrid: Ed. Mapfre, 1992; Rodríguez, Jaime O., La independencia de la América española, México : Fondo de Cultura Económica, 1996; Chust Calero, Manuel (ed.), Revoluciones y revolución en el mundo hispano, Castelló de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I, 2000 ; Guerra, “’Voces del Pueblo’. Redes de comunicación y orígenes de la opinión en el mundo hispánico (18081814)”, in : Revista de Indias Vol. LXII, núm. 225 (2002), S. 357-384. 601 Lynch, Spanish American Revolutions ..., 1986, 2. Auflage, S. 220. Michael Zeuske/Venezuela Seite 245 13.05.2016 der politischen Symbolik Venezuelas und als Chiffren der Nation. Der Kampf dieser Republiken, vor allem der ersten drei (I., II., und III. Republik 18111819) suggeriert, dass ganz „Venezuela“ sozusagen als eigenständiger Akteur in einen heroischen Kampf gegen Spanien gegangen sei, der fast zwangsläufig auf eine mythisches Ziel zugelaufen sei – die nationale Freiheit des Staates Venezuela in Form einer Republik. Das ist historisch falsch. Die Territorien, die die Republiken I-III jeweils beherrschten, umfassten im Falle der Republik Nr. I die Provinzen Caracas, Cumaná, Barcelona, Mérida, La Grita sowie Barinas, Margarita. Sie werden durch die sieben Sterne repräsentiert, die auf der Flagge Venezuelas zu sehen sind, seit März 2006 sind es - wieder - acht Sterne – einer für Bolívar. In Realität kontrollierte die I. Republik eigentlich nur einige der großen Städte und befand sich auch hier in der Gefahr, diese Kontrolle an die Pardo-Milizen zu verlieren. Maracaibo, Coro, später auch Valencia und Guayana, erklärten ihre Treue zu Spanien (genauer: zum König, aber das bedeutete Spanien) – eben aus Feindschaft vor einer Übermacht der Eliten von Caracas. In all diesen Perioden entschieden in Wirklichkeit der Krieg, Anführer von Truppen und Milizen, wer in welcher Form herrschen sollte. Der offene Krieg in Venezuela begann Ende 1810 als Elitenkonflikt der Stadtoligarchie von Caracas gegen die Oligarchie von Coro (campaña de Coro) - Mantuanos gegen Mantuanos. Es war ein bewaffneter Konflikt urbaner Oligarchien gegeneinander, die die Führungsposition ihrer jeweiligen Stadt und ihres Territoriums entweder verteidigen (Caracas) oder gegen Caracas verbessern wollten (Coro), bald auch unter Beteiligung spanischer Offiziere und Truppenteile sowie einer Mobilisierung der Isleños, der Llaneros und der PardoMilizen sowie der Sklaven gegen „die Republikaner von Caracas“. Die unfähigen Miliz-Offiziere aus der Elite von Caracas hatten - wie die Junta selbst - von wirklichen Kriegen keine Ahnung; von genozidalen Bürgerkriegen schon gar nicht.602 Es war, als würden alle Höllenschlünde geöffnet. Die Pardo-Milizen 602 Febres Cordero, Julio, El primer ejército republicano y la campaña de Coro, Caracas: Contraloría General de la Nación, 1973; Quintero, “La primera derrota del marqués”, in: Quintero, El último marqués ..., S. 112-116. Michael Zeuske/Venezuela Seite 246 13.05.2016 von Valencia gingen zu den Royalisten über, aus Feindschaft gegen die hochnäsigen Mantuanos - auch und gerade gerade ihre eigenen. Es kam zu ersten Massakern. Wegen der Niederlagen des Milizheeres von Caracas unter dem Marqués del Toro musste Miranda zum Diktator auf Zeit ernannt werden. Militärisch war der professionelle Militär ein sehr erfolgreicher Diktator. Aber die Herren vom großen Kakao schauten mit Argwohn auf die Siege des ehemaligen Revolutionärs. Miranda zehrte von seinem Ruhm als General der französischen Revolutionsarmee. Er berief eine Reihe ausländischer Offiziere in seinen Stab. In seinem Umfeld fand sich eine Reihe von Immigranten aus Haiti.603 Aber Miranda konnte weder Massaker noch Massendesertationen aufhalten und auch nicht die fehlende Disziplin ersetzen.604 Vor allem die PardoMilizionäre dachten gar nicht daran, ihre Haut auf Dauer für Eliten zu Markte zu tragen, die in normalen Zeiten nicht einmal mit ihnen sprachen. Miranda kapitulierte angesichts eines verheerenden Erdbebens, das Caracas in Schutt und Asche legte (März 1812), und des Vormarsches unterschiedlicher Milizen, die von dem spanisch-kanarischen Marineinfanterieoffizier Domingo de Monteverde in Coro organisiert worden waren, unter anderem mit Hilfe des Priester Andrés Torellas und Anführer von Indios und Indio-Mestizen Juan de los Reyes Vargas (Siquisique, 1780 – Coro, 28. März 1823).605 Die Truppen Monteverdes kamen von Westen, im Grunde auf der gleichen Route, die Miranda 1806 hatte benutzen wollen, um Caracas einzunehmen. Im Rücken Mirandas, im Osten, hatten spanische Priester und Offiziere die Sklaven des Tuy-Tales von Barlovento sowie der Küstentäler von Naiguatá und La Guaira zur Rebellion aufgestachelt.606 Gómez, “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 5 (2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006), in : http://nuevomundo.revues.org/document211.html. 604 Márquez, Walter E., La nación en armas, Venezuela y la defensa de la soberanía 1810-1812, Caracas : Graficas Colson, 2005. 605 Rosales, Rafael María, Reyes Vargas: paladín del procerato mestizo, San Cristóbal: Centro de Historia del táchira, 1950. 606 Coll y Prat, Memorias sobre la independencia de Venezuela ..., S. 59-64; Blanco, Bosquejo histórico de la Revolución de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960, S. 141; Urquinaona y Pardo, Pedro, Memorias de Urquinaona (Comisionado de la regencia española para la pacificación del Nuevo Reino de Granada), Madrid: Editorial – América, s.a. (Biblioteca Ayacucho; 14), vor allem S. 142ff.; Yépez Castillo, Aureo, “Los 603 Michael Zeuske/Venezuela Seite 247 13.05.2016 Die Angstwellen vor „Guarico“ (Haiti) zeitigten Erfolg. In seiner Furcht vor rebellischen Sklaven nahm Miranda an, es handele sich den Beginn eines Sklavenaufstandes wie auf Haiti. Wegen der Kapitulation kam es zu zwei Anschlägen auf Miranda und er wurde schließlich in Caracas von Leuten um Bolívar und den Madrilenen Manuel Cortés festgesetzt. Cortés hatte 15 Jahre früher, zusammen mit dem Mallorquiner Picornell und unterstützt von Victor Hugues, versucht, die Prinzipien der Gleichheit auch für die Pardos an den Küsten Venezuelas einzuführen.607 Die anderen Städte sahen ihre Chance im Kampf gegen Caracas gekommen. Maracaibo lieferte den royalistischen Truppen Unterstützung. Im Hafen von Coro landeten Ersatztruppen aus Kuba und Puerto Rico. Die Stadt am Maracaibosee erbat 1810 für ihre Treue zum König, zum Sitz einer neuen Generalkapitanie „independiente de la de Caracas“ ernannt zu werden. Die Krone kam diesem Wunsch ebenso wenig wie den Forderungen der Mantuanos von Coro nach: weder Coro noch Maracaibo gewann die von den lokalen Eliten so sehr erwünschte Autonomie unter derm Dach des Imperiums nicht; 1813 wurde wenigsten das Provinzterritorium unter Gouverneur Miyares erweitert.608 Republik Nr. II umfasste im Grunde einen Teil der Andenstädte und Caracas sowie Cumaná; war aber zwischen Caracas und Cumaná quasi in ein republikanisches Mittelvenezuela (Caracas) unter Simón Bolívar und ein republikanisches Ostvenezuela (Cumaná) unter Santiago Mariño gespalten.609 Maracaibo, Coro und Guayana befanden sich weiterhin auf spanischer Seite – waren im Grunde aber autonom. Schon die Darstellung der Geschichte des Landes aus Perspektive von Caracas und Bolívar ist Ausduck einer venezolanischen Zentrums-Mythe (Caracas im Zentrum aller Geschichtserzählungen); ebensogut könnte man die Geschichte Venezuelas aus esclavos negros en Venezuela en la segunda década del siglo XIX”, in: Boletín de la Academia Nacional de Historia (BANH), Nr. 249, Caracas (Enero-Marzo 1980), S. 113-141, hier S. 124-126. 607 Parra-Pérez, Historia de la primera república de Venezuela ..., Bd. II. S. 436 608 Ojer, “El uti possidetis juris”, in : Ojer, El Golfo de Venezuela …, S. 9-41, hier S. 22f. 609 Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón Bolívar”, in: Revista de las Américas. Historia y presente (RAs), Número 1 (primavera 2003), S. 39-58. Michael Zeuske/Venezuela Seite 248 13.05.2016 Sicht von Cumaná erzählen oder Sicht von Maracaibo, einer der einflussreichsten Konterdiskurse venezolanischer Geschichte bestand immer darin, die Geschichte des Landes aus Perspektive der Llanos zu erzählen. Als die Dämme einmal gebrochen waren, tauchten überall Milizen, Grausamkeit und offene Gewalt auf. Viele Pardos, die bereits über Milizen verfügten, verfolgten eigene Ziele und kämpften gegen die alten Rassenhierarchien. Auch Isleños bewaffneten eigene Milizen. Die Llanerobevölkerung erhob sich unter eigenen Anführern, caudillos und spanischen Beratern, gegen die Republiken im Norden – im Grunde gegen alle urbanen Eliten, egal ob republikanisch oder royalistisch.610 Sie bildeten den Ejército Real de Barlovento (Königliches Heer von Barlovento). Das war darauf zurückzuführen, dass die Republiken I und II nur die Eliten der Stadtoligarchien in ihren Autonomieversuchen repräsentierten, aber nicht die „niederen Kasten“, Pardos und schon gar nicht die egalitäre Kultur der Llaneros sowie Sklaven. Jetzt schlug der präventive Bruch mit der geschwächten imperialen Kolonialordnung voll auf die Eliten zurück. Die Regierung musste 1812 nach Valencia fliehen. Es kam zu einem Sozial- und Rassenkrieg der Llaneros, der „unteren Kasten“ (Pardomilizen), verbunden mit Sklavenrebellionen im Tuygebiet611, gegen die diablocracia, wie die Eliten der Küstenstädte, vor allem die Mantuanos von Caracas, genannt wurden. Bolívar war zunächst nach Curaçao und Cartagena geflohen. Cartagena wie das ganze Tal des oberen Magdalena von Honda nach Cartagena waren das „Nest der Revolution“ im nördlichen Südamerika; die Hafenmetropole Cartagena eine wahre „Republik der Pardos und Seeleute“, die in enger Verbindung zum revolutionären Haiti stand. Der Hafen war 1812 den Rodríguez Mirabal, “La ‘rebellión social’ en los llanos”, in: Rodríguez Mirabal, Latifundio ganadero y conflictos sociales en los llanos de Apure (1700-1800), Caracas: Fondo Editorial Tropykos/Facultad de Ciencias Económicas y Sociales, 1995, S. 139-193. 611 Blanchard, Peter, “The Language of Liberation: Slave Voices in the Wars of Independence”, in: Hispanic American Historical Review (HAHR) Vol. 82:3 (August 2002), S. 499-523; Blanchard, “The Slave Soldiers of Spanish South America: From Independence to Abolition”, in: Brown, Christopher Leslie; Morgan, Philipp D. (eds.), Arming Slaves from Classical Times to Modern Age, New Haven & London: Yale University Press, 2006, S. 255-273. 610 Michael Zeuske/Venezuela Seite 249 13.05.2016 karibischen Korsaren, unter denen sich viele Haitianer befanden, geöffnet worden.612 Bolívar knüpfte hier viele der karibischen Kontakte, die ihm 18151818 und später bei der Gründung von „Groß“-Kolumbien zugute kommen sollten. Vor allem aber begriff der bis dahin noch sehr aristokratische Milizionär Bolívar, dass Kriegführung, zumal Kriegführung in einer Revolution, eines jabobinischen Patriotismus bedurfte. Nicht die „Liebe für ihr Vaterland“613 der kreolischen Eliten, die schon alles hatten und Worte der amerikanischen oder französischen Revolution wie eine neue Mode übernahmen, sondern des Patriotismus von Menschen, die sich eine Patria, ein Land, das wirklich ihr Land darstellte, erst schaffen wollten – und sei es mit Waffen. Seit Ende 1812, Anfang 1813 übernahm Bolívar de facto die Führung über nach Neu Granada geflohene kreolische Milizoffiziere und lokale Milizen einerseits, andererseits über Schwarze, Mulatten und Ex-Sklaven aus dem Magdalena-Gebiet (campaña admirable).614 Er sah sich angesichts der Grausamkeiten und der Manipulation der Gleichheitsideale durch spanische Offiziere (Versprechen der Freiheit für Sklaven, die sich gegen ihre kreolischen Herren erhoben) gezwungen, die guerra a muerte (Krieg bis zur Ausrottung; 1813) zu erklären. Das war militärischer Jakobinismus. Damit schuf Bolívar und die Offiziere seines Stabes, wie Anastasio Girardot und José Félix Ribas (Bolívars Onkel), zumindest militärisch und diskursiv ein napoleonisches Mikrofrankreich und eine Mikro-Haiti; „Mikro“ deshalb, weil die Truppen kaum jemals eine größere Anzahl als 1000 Soldaten hatten.615 Die Gewalt gegen weiße Eliten, wie Mantuanos und Spanier, aber hatte nun ein Textformat. Ob Bolívar 612 Múnera, Alfonso, El fracaso de la nación. Región, clase y raza en el Caribe colombiano (1717-1810), Santa Fe de Bogotá: Banco de la República/El Áncora Editores, 1998; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, S. 176-190; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 1811-1830”, S. 117-135. 613 Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 168. 614 Carrera Damas, “Algunos problemas relativos a la organización del Estado durante la segunda República venezolana”, in: El pensamiento constitucional de Latinoamérica, 1810-1830, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, Bd. II, S. 361-411. 615 Thibaud, “La culture de guerre napoléonique et l’Independance des pays bolivariens, 1810-1825”, La France et les Amériques au temps de Jefferson et de Miranda, sous la direction de Marcel Dorigny et Marie-Jeanne Rossignol, Paris : Société des études robespierristes, 2001, S. 107-124 ; Thibaud, “La ‘guerre à mort’”, in: Thibaud, Républiques en armes …, S. 109-113, hier S. 113. Michael Zeuske/Venezuela Seite 250 13.05.2016 damit die Kanalisierung der Gewalt für die Legitimierung der eigenen Führungsposition nach dem in Venezuela sehr bekannten Motto: „der Radikalste soll Anführer sein“ nutzen wollte oder ob er Gegengewalt legitimieren wollte, um die furchtbaren Gräueltaten des Bürgerkrieges wenigsten lose unter Kontrolle zu halten, ist umstritten. Zumindest unterstrich das gedruckte Dekret seinen Führungsanspruch. Und es zeigt, dass Bolívar ein fähiger und realistischer Anführer war. Mit der Rhetorik des Dokuments zur Proklamation des „Krieges bis zur Ausrottung“ gab er auch eine ideologische und diskursive Begründung von zwei „nationalen“ Lagern: „Españoles y Canarios, contad con la muerte, aún siendo indiferentes, si no obrais activamente en obsequio de la libertad de Venezuela. Americanos, contad con la vida, aún cuando seais culpables“ (Spanier und Kanarier, rechnet mit dem Tode, auch wenn ihr [nur] unentschieden seid, wenn ihr nicht aktiv für die Gewinnung der Freiheit Venezuelas wirkt. Amerikaner, rechnet mit dem Leben, auch wenn ihr schuldig seid).616 Americanos meint alle Oberschichten-Kreolen im Sinne von allen in Amerika Geborenen, auch wenn sie auf Seiten des Königs standen; españoles und canarios (isleños) konnten sich nach den Vorstellungen des Dokuments nur vom Tode nur retten, wenn sie aktiv auf Seiten der Kreolen für die Ziele der urbanen Oligarchie von Caracas mit kämpften – sozusagen eine ideale Konstruktion einer Nation im Diskurs, die in Realität nicht existierte.617 Im August 1813 zogen die Milizen Bolívars wieder in Caracas ein; Bolívar erliess ein Statut, das ihn faktisch zum Diktator auf Zeit ernannte. Er lud Ausländer ein, sich in Venezuela nieder zu lassen, ohne religiöse Vorgaben, und erliess ein Dekret über Todesstrafe.618 Die Reiterbanden der Llaneros aber wollten sich unter dem Titel Americanos nicht den Kreolen in irgendetwas so Fernstehendem und Idealem Bolívar, “Decreto de Guerra a Muerte”, Trujillo, 15. Juni 1813, in: Comité Regional Bicentenario del Natalicio del Libertador (Estado Miranda), Decretos del Libertador, 3 Bde., Los Teques, 1983 (Biblioteca de Autores y Temas Mirandinos), Bd. I, S. 5-9, hier S. 9. 617 Hébrard, Le Venezuela indépendant. Une nation par le discours – 1808-1830. Préface de François-Xavier Guerra, Paris, Montréal : L’Harmattan, 1996. 618 Bolívar, “Invitación a los extrajeros a residir en el país”, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 9-10; Bolívar, “Resolución sobre la turbación del orden y la pena de muerte”, in: Ebd., S. 10-12. 616 Michael Zeuske/Venezuela Seite 251 13.05.2016 wie „Nation“ unterordnen. Sie fegten unter der Führung eines ehemaligen asturischen Schmugglers, José Tomás Boves (Oviedo, 1782 – Urica, 1814)619, die beiden II. Republiken weg. Boves wurde beraten von einem Krämer und Milizoffizier, dem Kanarier Francisco Tomás Morales (Kanaren, 1781 oder 1783 – Las Palmas, 1845)620, „antiguo vendedor de pescado frito“621, und einem spanischen Pfarrer, José Ambrosio Llamozas. Über die Offenheit von Llamozas’ „Memorial“622 war König Ferdinand VII. so erschreckt, dass er sich weigerte, den Pfarrer zu empfangen.623 Die blutige Gewalt nahm ungeahnte Maße an – wie meist in Bürgerkriegen. Nach einer Information von Francisco Tomás Morales soll Boves rund 31000 Kämpfer befehligt haben, darunter viele ehemalige Sklaven, freie Schwarze und Pardos – unter den quantitativen Verhältnissen Venezuelas, in denen ein „Heer“ von 1000 Soldaten schon als „groß“ galt, handelte es sich um die größte Armee des 19. Jahrhunderts.624 Gegen den Plünderungs- und Vernichtungskrieg der wilden Lanzenreiter, vor allen der Llaneros aus dem Casanare-Apure-Grenzgebiet zwischen Neu Granada und Venezuela, war den wenigen verbliebenen kreolischen Milizen kein Kraut gewachsen. Zwischen 1812 und 1814 gab es eine regelrechte Volksrebellion, im Grunde ein Übergreifen der Revolution der Karibik auf das kontinentale Venezuela (über die Wege Cartagena, Río Magdalena, Anden, Caracas sowie Antillen, Trinidad, Paría, Cumaná und von dort in die Llanos), sowie eine Reihe von Scharmützeln und schweren Gefechten mit hohen Todeszahlen, die mit Blankwaffen (Macheten und Säbeln, sicher auch Knüppeln und Söcken, garrote und palos) Thibaud, “Boves”, in: Thibaud, Républiques en armes ..., S. 148-154. Pérez Tenreiro, Tomás, Para acercarnos a don Francisco Tomás Morales mariscal de campo, último capitán general en la tierra firme y a José Tomás Boves coronel, primera lanza del Rey, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1994. 621 Parra-Pérez, Historia de la Primera República de Venezuela ..., S. 499. 622 Llamozas, Pbro. Jose Ambrosio, “Memorial presentado al rey en Madrid”, in: BANH V, Caracas (1921), S. 515-529; Gómez, José Mercedes, La guerra de independencia en el Oriente: el conflicto entre los libertadores, Cumaná: Corporiente, 1991. 623 Armas Chitty, “El tremendo Memorial”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., Bd. II, S. 19. 624 Brito Figueroa, Federico, “La contribución de Laureano Vallenilla Lanz a la comprensión histórica de Venezuela”, in: Vallenilla Lanz, Laureano, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Universidad Santa María, 19831988, Bd. I, S. III-XXIV, hier S. XVII. 619 620 Michael Zeuske/Venezuela Seite 252 13.05.2016 sowie Lanzen (garrocha, púa) ausgefochten wurden. Die kreolischen Milizen waren also nicht feige. Säbel und Musketen der tapferen, aber relativ ungeübten Milizen konnten aber gegen massierte Reiterangriffe mit Lanzen nichts ausrichten. Noch heute wird diskutiert, ob es sich um eine soziale Revolution oder nur um Beutezüge sin contenido alguno protopopulistischer Art, unter Nutzung der vielfältigen Brüche in der herrschenden Elite der Küste (Mantuanos gegen spanische Kolonialbeamte; Mantuanos gegen Mantuanos; spanische Offiziere gegen kreolische Milizoffiziere; kreolische Milizoffiziere gegen Offiziere der Pardo- und Morenomilizen) gehandelt habe. Auch die Spaltung der lokalistischen Eliten machte sich sogar noch in dieser verzeifelten militärischen Lage deutlich: es kam erst nach vielen Niederlagen zu einem gemeinsamen Handels der Milizen des Zentrums unter Bolívar und der Milizen des Osten unter Mariño und Bermúdez – gemeinsame Strukturen gsb es angesichts des tief verwurzelten Lokalismus vor 1817 nicht.625 In langen Linien am plausiblesten ist das Konzept von Miquel Izard, der bereits in den 1970er Jahren von der „Chronik der angekündigten Gewalt“ – vor allem wegen der Expansion der kreolischen Eliten gegen die subsistenzbasierten Flucht- und Widerstandskulturen der Llaneros (1750 – 1870)626 gesprochen hat. Llaneros ohne Pferd waren undenkbar. Los Llaneros waren aber nicht nur Lanzenreiter, lanzas coloradas (rote oder blutige Lanzen627), Cowboys, Viehtreiber, Jäger und Krieger auf Beutezug, sondern hatten auch eine eigenständige Kultur entwickelt, die in ihrer musikalischen Dimension, die immer auch die Dimensionen der Informationsübermittlung, Bewertung und politischem Kommentar einschloss, auf Harfe (harpa), vierseitiger Gitarre (cuatro) und Maracas sowie Gesang in Gómez, José M., “Bolívar en Cumaná: La verdad sobre el asunto Bianchi”, in: Boletín de la Academía Nacional de Historia (BANH), Tomo LXXI (Julio-Septiembre de 1988), S. 629-644 626 Cajigal, Juan Manuel de, Memorias del mariscal de campo Don Juan Manuel de Cajigal sobre la rebelión de Venezuela, Caracas: Archivo General de la Nación, 1960; Uslar Pietri, Juan, Historia de la rebelión popular de 1814, Caracas: Editorial Edime, 1962; Izard, El miedo a la revolución. La lucha por la libertad en Venezuela (17771830), pról. Bagú, Sergio, Madrid: Editorial Tecnos 1979; Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona: Sendai Ediciones, 1988; Izard, “Élites criollas y movilización popular”, in: Las revoluciones hispánicas: independencias americanas y liberalismo español, dirigido por Guerra, François-Xavier, Madrid: Editorial Complutense, 1995, S. 89-106. 627 Uslar Pietri, Arturo, Las lanzas coloradas, ed. Miliani, Domingo, Madrid: Ediciones Cátedra, 1993 (Erstausgabe: Madrid 1931; Deutsch: Die roten Lanzen, Berlin: Verlag der Bücherkreis, 1932). 625 Michael Zeuske/Venezuela Seite 253 13.05.2016 hoher Kehlkopfstimme beruhte.628 Die Aufstände, Kriegführung und Wildheit der Llaneros sind seit damals Legende – und von der immer und immer wieder konstruierten Lebendigkeit dieser Llanero-Tradition in Bezug auf Gesang können sich alle Venezolanerinnen und Venezolaner sowie Ausländer (die sich freilich etwas wundern werden, denn sie kennen kaum noch singende Präsidenten) überzeugen, wenn sie politischen Reden von Hugo Chávez mit ihren Gesangseinlagen beiwohnen oder sein TV-Programm aló presidente sehen.629 Humboldt hat 1803 eine Prognose niedergeschrieben, die besser als alle nachträglichen Freiheitsreden die allgemeine politische Tendenz der kreolischen Unabhängigkeitsbewegungen zum Ausdruck bringt. Humboldt schreibt: „Die europäischen Regierungen haben so viel Erfolg in der Verbreitung des Hasses und der Uneinigkeit in den Kolonien erzielt, dass man in diesen die Freuden eines geselligen Lebens kaum kennt; wenigsten ist jede dauerhafte Geselligkeit unmöglich, zu der viele Familien zusammenkommen müssen. Aus dieser Lage entsteht eine Verwirrung von Ideen und unbegreiflichen Meinungen, eine allgemeine revolutionäre Tendenz. Aber dieser Wunsch beschränkt sich darauf, 628 Vowell, Richard L., Campañas y cruceros, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1973; Vowell, Las sabanas de Barinas, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1973 (www.mindefensa.gov.ve/Pensamiento%20militar/Libros/Las%20Sabanas%20de%20Barinas.pdf (14. Juni 2010)); Aretz, Isabel, Instrumentos musicales de Venezuela, Cumaná: Universidad de Oriente, 1967; Paéz, Ramón, Escenas rústicas en Sur América; o la vida en los Llanos de Venezuela, Caracas: Centauro, 1980; Izard, “Arpa, cuatro y maracas”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 45-51; Sachs, Karl, De los Llanos; descripción de un viaje de ciencias naturales a Venezuela, Caracas: Edime, 1955; Acosta Saignes, El llanero en su copla, Caracas: Corpoimpre, 1979; Ramón y Rivera, Luis Felipe, Cantos de trabajo del pueblo venezolano, Caracas: Fundación Eugenio Mendoza, 1955; Ramón y Rivera, La canción venezolana, Maracaibo: Universidad del Zulia, 1972; Ramón y Rivera, La música afrovenezolana, Caracas: Imprenta Universitaria, 1971; Calzavara, Alberto, Historia de la música en Venezuela, Caracas: Fundación Pampero, 1987; Humboldt hatte übrigens eine zeimlich abfällige Meinung zu den iberischen und kreolischen Volkskulturen, nicht nur was die Musik betraf (auch in Bezug auf Malerei): “Kein Pöbel schreit zur Gitarre so rabenartig durchdringend [das bezieht sich auf die FalsettKopfstimmen – M.Z.] und kläglich als [der] span[ische] und creol[ische] Pöbel, und doch zieht eine Schar Menschen, dieser Töne lüstern, den Singenden nach. Zamben, Mestizen und Mulatten, alle Halbgeschlechter, zeichnen sich in Süd-Amerika durch eine bessere Musik und Poesie aus”. Letzteres dürfte sich auch auf die Kultur der Llanos beziehen, siehe: Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor allem S. 348. 629 Carrera Damas, Germán, Boves: aspectos socioeconómicos de la guerra de Independencia, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 31972; Carrera Damas, Sobre el significado socioeconómico de la acción de Boves, Caracas: Imprenta Universal, 1964; Armas Chitty, José Antonio de, Boves a través de sus biógrafos, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1992. Michael Zeuske/Venezuela Seite 254 13.05.2016 die Europäer zu vertreiben und sich danach gegenseitig zu bekriegen“.630 Im Grunde erahnte Humboldt damit die reale Entwicklung der politischen Kultur in Venezuela. Mit Beginn der Kampfhandlungen 1811 wurden Gewaltspiralen in Gang gesetzt, die im Grunde das Land bis 1908 zerrissen, mit den Höhepunkten 1811 bis 1823 (Independencia) und 1859-1863 (Guerra Federal) auf Basis einer starken allgemeinen Gewalttätigkeit sowie Kriminalität im Lande (violencia) – das hat bis heute Tiefe Auswirkungen auf politische Kultur und Mentalität der Venezolanerinnen und Venezolaner; es existiert so etwas wie eine historische Gewöhnung an Gewalt, die in der individuellen Erinnerung, der politischen Kultur und der kollektiven Memoria der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Zwischen 1813 und 1815 wurden viele Kreolen der Städte von den Llaneros massakriert und Llaneros fielen kreolischen Milizen zum Opfer. Es gab aber auch Llaneros auf Seiten der Patrioten, zunächst meist bei den Orientales unter Führung von Santiago Mariño (Margarita, 1788 – La Victoria, 1854)631, wie Francisco de Carvajal, genannt „der aufgerichtete Tiger“ – er soll mit Lanzen (garrochas, das Arbeitsgerät der Llaneros) in jeder Hand gekämpft und die Zügel seines Pferdes mit Zähnen gehalten haben, oder der junge José Antonio Páez. Die Kriegführung der Steppenreiter - sie machten meist keine Gefangenen - verbreitete solchen Schrecken, dass viele Menschen aus den Städten auf Inseln in der Karibik flohen. Auch die Truppen unter Bolívar mussten fliehen. Für die politische Kultur des Landes in ihrer historischen Dimension ergibt sich aus diesem nach Conquista, Sklaverei und Sklavenrazzien gegen Indiovölker vierten großen Gewaltkapitel der venezolanischen Geschichte (es folgten noch mehrere), dass die historische Erinnerung daran aus Traumata und Leid, aber auch – aus Faszination besteht, vor allem deshalb, weil die einzelnen Aktionen immer und immer wieder als Heldengeschichten, Legenden und Abenteuer erzählt (oder gesungen) worden sind 630 631 Humboldt, „Colonies“, in: Humboldt, Vorabend …, S. 63-67, hier S. 65f (Dokument Nr. 1). Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957. Michael Zeuske/Venezuela Seite 255 13.05.2016 und seit 1870 auch Eingang in die venezolanische Literatur und Schulbildung gefunden haben.632 Die spanische Krone sah sich angesichts des Sozialkrieges der Llaneros veranlasst, die liberalen Truppen des eben beendeten Krieges gegen Frankreich unter der Führung des konservativen Generals Pablo Morillo nach Venezuela zu schicken.633 Offiziell, um die Ordnung wieder herzustellen; inoffiziell, um die unbequemen verbündeten Llaneros und ihre radikalen Anführer zur Räson zu bringen. Die Büchse der Gewalt-Pandora sollte wieder verschlossen werden. Im April 1815 erreichten die Truppen auf Margarita venezolanisches Territorium. In La Asunción wurde der gefangene kreolische Anführer Juan Bautista Arismendi (La Asunción, 1770 – Caracas, 1841)634 vor Morillo geführt. Arismendi hatte unter anderem Hunderte von spanischen Kriegsgefangenen einfach erschlagen lassen. Er bat um Vergebung – Morillo gewährte sie und entzweite sich deswegen mit dem Chef der irregulären Llanerotruppen Tomás Morales. Die Llaneros wurden in die spanischen Truppen eingegliedert, ohne das Morillo ihre oft selbst vergebenen militärischen Ränge anerkannt hätte. Die Llaneros waren gute Reiter, aber sie dienten nicht gerne in regulären Truppen. Viele der einfachen Llaneromilizionäre wandten sich daraufhin von den Royalisten ab oder kehrten einfach in die Llanos zurück. Kurze Zeit später besetzte Morillo Caracas; Ende 1816 waren Cartagena (schon 1815) und wenig später auch Bogotá erobert. Das rebellische Vizekönigreich und die Generalkapitanie Venezuela schienen wieder vollständig unter spanischer Kontrolle. In Europa hatte gab es 1816 ein „Jahr ohne Sommer“ gegeben - wegen eines Vulkanausbruchs in Indonesien im August 1815. Die Nachfrage nach Kolonialprodukten stieg. 632 Siwka, Colette, Historia, biografía y literatura, (Venezuela Siglo XIX), Caracas: UCV, 1982; Harwich Vallenilla, „Construcción de una identidad nacional. El discurso historiográfico de Venezuela en el siglo XIX“, S. 637-653. 633 Quintero Saravia, Gonzalo M., Pablo Morillo. General de dos mundos, Bogotá : Editorial Planeta Colombiana, S.A., 2005. 634 Erminy Arismendi, Santos, Arismendi y la Guerra a Muerte, Caracas: Impresores Unidos, 1941; Salazar Franco, José Joaquín, El general Juan Bautista Arismendi, historia y leyendas, Tacarigua: Fondo Editorial Gabriel Bracho Montiel, 1991. Michael Zeuske/Venezuela Seite 256 13.05.2016 Morillo liess ziemlich schnell und deutlich seine kulturelle Ablehnung der irregulären Milizen und der Sitten des Landes erkennen. Sogar das kreolische Essen blieb ihm fremd; er bekannte in einem berühmten Bonmot, das nicht dokumentarisch nachgewiesen ist, das aber si non vero e ben trovato, dass “todo lo puedo pasar en esta tierra, menos esas perrísimas tortas de maíz que llaman arepas, que sólo se han hecho para estómagos de negros y avestruces [alles könne er aushalten in diesem Land, nur diese hündischen Maistorten nicht, die sie Arepas nennen, die man nur für die Mägen von Negern und Straußenvögeln gemacht hat]“.635 Arepas sind noch heute eine extrem wichtiger Teil der transkulturellen venezolanischen Nationalküche.636 Morillo als kolonialer Rückeroberer verabscheute aus Perspektive der herrschaftlichen Kultur des Weizens den Mais als minderwertiges Nahrungsmittel.637 Die kreolischen Eliten der venezolanischen Städte, so sie den Guerrillakrieg überlebt hatten und nicht von den Llaneros umgebracht worden waren, empfingen Morillo mit offenen Armen. Besonders imposant gestaltete sich der triumphale Einzug der Morillo-Truppen am 8. Mai 1815 in Caracas.638 Für die Oligarchien war jegliche Rebellion beendet. Morillo sprach ihnen die Vergebung des Königs aus und liess zugleich ungehorsame Llaneros, Guerillas, Pardos und Indios entweder in das Heer eingliedern oder erschiessen und auf andere Weise umbringen. Um Munition und Pulver zu sparen, hatte sich in Venezuela eine Tötungsart durchgesetzt, die man pasar por las armas nannte: eigentlich müsste es pasar las armas por heissen, denn Aufrührer, Verbrecher oder Gefangene wurden mit Macheten zerhackt, mit Lanzen erstochen, mit Knüppeln erschlagen oder Quintero Saravia, Pablo Morillo …, S. 318. Lovera, José Rafael, Historia de la alimentación en Venezuela : con textos para su estudio, Caracas, Venezuela : Monte Avila Editores, 1988; Lovera, Gastronomía caribeña: historia, recetas y bibliografía, Caracas: CEGA, 1991; Lovera, Food culture in South America; translated by Ainoa Larrauri, Westport: Greenwood Press, 2005; Cartay, Historia de la alimentación del Nuevo Mundo, 2 Bde., San Cristobal: Ed. auspiciada por la Fundación Polar y la Universidad de los Andes, 1991; Cartay, Historia de la alimentación del Nuevo Mundo, Mérida: R. Cartay; San Cristóbal: Editorial Futuro, 1992; Cartay, La región alimentaria andina, San Cristóbal (Venezuela) : Biblioteca de Autores y Temas Tachirenses, 1997 (Biblioteca de autores y temas tachirenses ; 138); Cartay, El pan nuestro de cada día. Crónica de la sensibilidad gastronómica venezolana, Caracas: Fundación Bigott, 42003. 637 Kaller-Dietrich, Martina, “Kolonialherren ignorieren Alltagskultur“, in: http://www.lateinamerikastudien.at/content/geschichtepolitik/mais/mais-103.html (08. Januar 2007). 638 Sevilla, Rafael, Memorias de un oficial del Ejército Español, campañas contra Bolívar y los separatistas de América, Bogotá: Editorial Incunables, 1983 (Facsimile der ersten Ausgabe San Juan de Puerto Rico, 1877), S. 46. 635 636 Michael Zeuske/Venezuela Seite 257 13.05.2016 ertränkt. Meist werden diese blutigen und schmutzigen Grausamkeiten in Texten über die Unabhängigkeitskriege unter barocken Worten verborgen.639 In Cartagena und Bogotá arbeitete Morillo längst nicht mehr mit Vergebungsdekreten, sondern mit Erschiessungskommandos, denen die Verteidiger Cartagenas und die geistige Elite des Landes zum Opfer fielen.640 Der General verbot auch die Benutzung des Wortes „Patriot“ und liess es durch „Unloyale, … Insurgenten, Rebellen und Fraktionäre“ 641 ersetzen – alles Kriminaltatbestände. Umfangreiche Säuberungen und Enteignungen begannen, auch und gerade unter den Eliten Bogotás. Morillo setzte als de-facto Diktator eine konterrevolutionäre Reform im Norden Südamerikas in Gang.642 Die Härte der Säuberungen, Erschiessungen und Konfiskationen (die auch vor Missionaren und Pfarrern nicht Halt machte) brachte einige Gruppen von Elite-Kreolen Neu Granadas dazu, sich wirklich einer Revolution zu zuwenden. Die Eliten der Städte Venezuelas dagegen liessen als soziale Gruppe jeden Gedanken an Revolution oder Rebellion gegen Spanien wie heisse Kartoffeln fallen – für immer und ewig. Bis 1821 (Caracas) oder 1823 (Maracaibo, Coro, Puerto Cabello) befanden sich alle wichtigen Städte der Küste, der Küstenkordilleren und der Anden unter Kontrolle der spanischen Truppen, zu denen sich bald kreolisch-spanische Einheiten sowie von den Spaniern zusammengestellte Milizen von Pardos, Morenos, Zambos und sogar schwarze Sklaven gesellten. Die Eliten von Venezuela befanden sich, man kann sagen, fast zu 100%, seit 1814 wieder auf spanischer Seite und schworen dem absolutistischen König Ferdinand VII. die Treue oder baten um Vergebung (darunter eine Reihe von persönlichen Freunden Bolívar, etwa aus dem Clan der del Toro). Auch die Masse der Stadtbevölkerung war kriegsmüde und Gegner der Cuño Bonito, Justo, “Tristes Tópicos. Ideologías, discursos y violencia en la independencia de la Nueva Granada 1810-1821”, in: Memorias, Año 2, Núm. 2, Uninorte, Barranquilla (2004) (www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias_4/articulos (08. April 2006)). 640 Stoan, Stephen K., Pablo Morillo and Venezuela, 1815-1820, Ohio: Ohio State University Press, 1974; Quintero Saravia, “El pacificador en Bogotá: seis meses de terror (Mayo a noviembre de 1816), in: Quinterno Saravia, Pablo Morillo …, S. 313-337. 641 Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 298. 642 Quintero Saravia, “El pacificador en Bogotá: seis meses de terror”, in: Ebd., S. 313-337. 639 Michael Zeuske/Venezuela Seite 258 13.05.2016 selbsternannten Patrioten – der schlimmste Frieden war ihnen lieber als der beste Krieg. Ein Teil der Independentisten-Milizen verschwand im Hinterland, in Gegenden, die von den Küsteneliten als Indioland, Frontier oder als Territorien der gefürchteten Flucht- und Widerstandskulturen der Llaneros angesehen wurden. Sie galten offiziell als Verbrecher. Ihr Schicksal bei Gefangennahme wären Strick, Machete oder Würgeeisen (garrote vil) gewesen. Die Masse der berittenen Krieger der Savannen hatte sich nach dem Tod ihres wichtigsten Anführers, Tomás Boves (Dezember 1814, wahrscheinlich von den eigenen Leuten durch einen Lanzenstich von hinten ermordet), und nach den Versuchen von Morillo, sie seinen Truppen als Rekruten einzuverleiben, in die Llanos zurück gezogen. Die Episode „Republik“ in Venezuela schien Geschichte – ich wiederhole, sieben lange Jahre, bis 1821. Bolívar und seine engsten Vertrauten mussten mit dem Blutgerüst rechnen; sie konnten nicht einmal auf dem Territorium der wiederetablierten Generalkapitanie bleiben. Bolívar floh zunächst nach Neu-Granada und operierte zeitweilig als General im Auftrag des Kongresses von Tunja (Präsident: Camilo Torres). Er eroberte (noch vor Morillo) die konservative Hochburg Bogotá, konnte sich aber später nicht gegen konkurrierende Offiziere in Cartagena durchsetzen. Dort bekriegten sich zwei Fraktionen der Patrioten vor dem Hintergrund einer Machtübernahme durch farbige Handwerker und Volksklassen der Stadt (eines der am besten gehüteten Geheimnisse der traditionellen kreolischen Historiographie).643 Bolívar sah sich genötigt, mit revolutionären Piraten der Karibik zu paktieren. Aber es kam noch schlimmer. Kurz bevor die Truppen Morillos Cartagena belagerten, gelang Bolívar und weiteren Venezolanern die Flucht nach Jamaika. Als Bolívar im Mai 1815 in Kingston ankam, musste er zunächst an Freunde schreiben: „Ich habe nicht einen Peso“644 - was bei seinem Kredit als Múnera, “Las clases populares en la historiografía de la Independencia de Cartagena, 1810-1812”, in: Múnera, Fronteras imaginadas. La construcción de las razas y de la geografía en el siglo XIX colombiano, Bogotá: Editorial Planeta Colombiana S.A., 2005, S. 175-192; Cuño Bonito, “Tristes Tópicos. Ideologías, discursos y violencia en la independencia de la Nueva Granada 1810-1821”, in: (www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias_4/articulos (08. April 2006)). 644 Bolívar, Cartas del Libertador corregidas conforme a los originales, ed. Lecuna, Vicente, 10 Bde., Caracas: 643 Michael Zeuske/Venezuela Seite 259 13.05.2016 einer der reichsten Mantuanos nicht viel bedeutete. Bolívar erfuhr vom Sieg der Allierten in Waterloo und von der Besetzung von Paris. Die englischen Kolonialbehörden waren offensichtlich wie Morillo und die konservativen Kreolen davon überzeugt, dass der Kampf für die Unabhängigkeit in Südamerika und Venezuela zu Ende sei. Sie waren von den Volksrebellionen tief traumatisiert. Unterstützung für Cartagena oder gar Waffen waren nicht zu bekommen, obwohl Bolívar sogar davon sprach, im freien Amerika „in wenigen Jahren ein anderes Europa“645 zu schaffen. Privatleute dagegen, vor allem unter den Großkaufleuten und Schmugglern, unterstützten ihn gegen das Versprechen von Handelsvorteilen. Bolívar schrieb in der Öde des Emigrantendaseins einen visionären Text, die Carta de Jamaica.646 Am Tiefpunkt der Independencia sagte er darin die Unabhängigkeit voraus, prognostizierte eine Reihe neuer Republiken und nahm Abschied vom Kontinentalmodell Mirandas, um auf bescheidenerer Ebene die Vereinigung Venezuelas und Neu-Granadas unter dem Namen Colombia (Kolumbien) vorzuschlagen – das war immer noch gigantisch. Eine Reihe seiner Freunde hielt ihn für verrückt. Bolívar beschrieb die Schwächen der bisherigen Unabhängigkeitsbewegung (Föderalismus) und plädierte für unbedingten Zentralismus (militärischer Jakobinismus). Der wichtige strategische Gedanke der Carta de Jamaica findet sich in einem Nebensatz über Demographie: „ …los tributos que pagan los indígenas; las penalidades de los esclavos; las primicias, diezmos y derechos que pesan sobre los labradores, y otros accidentes, alejan de sus hogares a los pobres americanos [die Tribute, die die Indígenas bezahlen; die Pein der Sklaven; die Vorrechte, Zehnten und Steuern, die auf den Landleuten lasten und andere Umstände, die die armen Amerikaner von ihren Häusern fernhalten]“.647 Der Krieg hatte Bolívars Erkenntnisse stark erweitert, vor allem Litografía y Tipografía del Comercio, 1929-1939, Bd. I, S. 222. 645 Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, s.a [1982], Bd. I: Cartas del Libertador comprendidas en el período de 20 de marzo de 1799 a 8 de Mayo de 1824, S. 131-135, hier S. 134 (Brief vom 19. Mai 1815 aus Kingston an Maxwell Hyslop). 646 Bolívar, “Contestación de un americano meridional a un caballero de esta isla” [“Carta de Jamaica”], 6 de septiembre de 1815, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador, Cuatricentenario de la Ciudad de Caracas, Caracas, 1972, Bd. VIII, S. 98-222 (Doc. 1302). 647 Ebd., S. 107. Michael Zeuske/Venezuela Seite 260 13.05.2016 indem er ihn aus den Gespinsten aristokratischer Kreise und Diskurse herausgerissen hatte, der um Worte, Utopien und Stile kreiste, aber nicht etwa wirklich revolutionär war. Für Bolívar wurde das Wort americanos zu einem politischen Instrument. Der Text der Carta ist bis 1833 nicht gedruckt worden. Vorher zirkulierten Versionen in Englisch und handkopierte spanische Versionen, aber Vielen wird die Carta de Jamaica, das wichtigste Dokument von Hand Simón Bolívars, nicht in schriftlicher Form bekannt gewesen sein. Die oben zitierte Stelle aber ist deshalb so wichtig, weil sie verdeutlicht, dass der Mann, den sie El Libertador nannten, die Sklaven- und Bauernfrage sowie das Problem antifeudaler und antikolonialer Freiheitsrechte für alle Männer Südamerikas zu einem seiner inneren Programmpunkte gemacht hatte. Das war sehr viel für einen Angehörigen der konservativen Mantuanos von Caracas. Aber es war in der Situation von 1815 auf Jamaika noch nicht genug. Bolívars Briefe 1815 zeigen, dass er ganz genau wusste, worum es in Bezug auf die Sklaverei und die interessengeleiteten Verschleierungen, die sonst die Sprache seiner Klasse mit ihren gemeinsamen Erfahrungen (die Sklavenhalter der Karibik) dominierte. An den revolutionären Kaufmann und Korsaren Louis Brion schreibt Bolívar: „Yo mismo no voy a esa isla, porque no quiero perder la confianza que hacen de mi estos señores, pues, como Vd. sabe, las manía aristocráticas son terribles [Ich selbst fahre nicht zu dieser Insel [Haiti], weil ich das Vertrauen, das jene Herren [die Sklavenhalter der Karibik, die Engländer – M.Z.] in mich setzen, nicht verlieren will, wie Sie wissen sind die aristokratischen Manien schrecklich]“.648 Bolívar war sich wohl im Klaren darüber, dass der Kampf um die Republik und die republikanischen Diskurse den Sinn (meaning) von Freiheit unter den Sklaven und ehemaligen Sklaven radikal ändern musste. In der monarchischen Sklavereigesellschaft der Kolonialzeit war „Freiheit“ für Sklaven ein fast unerreichbarer, aber selbst wenn er erreicht wurde, instabiler Zusand, der von der Gnade vieler abhing (durch eine besonderen Dienst 648 Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, s.a [1982], Bd. I: Cartas del Libertador comprendidas en el período de 20 de marzo de 1799 a 8 de Mayo de 1824, S. 150-152, hier S. 151 (Brief vom 15. Juli 1815 aus Kingston an Louis Brion). Michael Zeuske/Venezuela Seite 261 13.05.2016 erworben) oder illegal war (wenn er durch Flucht geschaffen). Mit der Vorstellung einer Republik verband sich die allgemeine Vorstellung, dass sie mit Sklaverei unvereinbar und Freiheit der „natürliche Zustand aller Menschen“ sei.649 Bolívar überlegt, bittet die Engländer erneut um Hilfe – und änderte nach der erneuten Ablehnung seiner Pläne seine Strategie auf fundamentale Weise. Er verbündete sich nach dem Muster der Republik der Pardos und Seeleute in Cartagena (1811-1815) nun nicht nur mit revolutionären Piraten650, sondern auch mit den revolutionären Schmugglern von Margarita, den Kaufleute von Trinidad, den Kaufleuten-Korsaren von Curaçao (1804 bis 1816 von den Briten besetzt) und den Revolutionären von Haiti.651 Eine sozialrevolutionäre Wende innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung, eine wirkliche Revolution in der Revolution in dem Sinne, dass sich ein elitärer Aristokrat auf die Insel der Sklavenrevolution begab und dort Allianzen schloß. In gewissem Sinne auch eine antienglische Wende.652 Diese Wende bedeutete völlig neue Allianzen – vor allem Allianzen mit der revolutionären Karibik sowohl in der haitianischen Dimension (Revolution der Sklaven und freien Farbigen), wie auch in der maritimen Dimension (Schmuggler, Korsaren und Piraten, amerikanischer Freihandel) – also mit all dem, was die Sklavenhalter und Sklavenhändler Amerikas, Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens, Dänemarks und vieler anderer Gebiete und Imperien sowie die Kolonialbeamten fürchteten wie der Teufel das Weihwasser (obwohl durchaus auch die revolutionären Kaufleute und Schmuggler Sklaven besaßen).653 Am 27. Dezember 1815 kam Bolívar in Aux Cayes, Haiti, an. Haiti war zu dieser Zeit in zwei Staaten zerfallen: im Norden herrschte in einer Art Mustermonarchie Henri Christophe (1767 als freier Schwarzer auf Grenada Jaramillo, Uribe, Jaime, “La controversia jrídica y filosófica librada en la Nueva Granada en torno a la liberación de los esclavos y la importancia económica y social de la esclavitud en el siglo XIX”, in: Anuario de Historia Social y de la Cultura, Nr. 4 (1969), S. 63-86; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 18111830”, S. 117-135; hier vor allem S. 122. 650 Lucas de Grummond, Jane, Renato Beluche. Smuggler, Privateer and Patriot, 1780-1860, Baton Rouge and London: Louisiana State University Press, 1983. 651 Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia: University of South Carolina Press, 2001. 649 652 653 Verna, Paul, Petion y Bolívar. Una etapa decisiva en la emancipación de Hispanoamérica (1790-1830), Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República/Comité Ejecutivo del Bicentenario de Simón Bolívar, ³1980, S. 150. Michael Zeuske/Venezuela Seite 262 13.05.2016 geboren; General unter Toussaint Louverture) als König Henri I.654; im Süden hatte sich 1806 nach einem Bürgerkrieg die Republik Haiti gebildet, unter dem ehemaligen französischen General Alexandre Pétion, Sohn eines französischen Sklavenhalters und einer Sklavin (siehe Bild655), deren politische Elite sich aus mulattischen Offizieren, Kaufleuten und Großgrundbesitzern zusammensetzte.656 Pétion hatte unter Druck des Widerstandes gegen Toussaints Versuch, die große Plantagenwirtschaft nach der Revolution auf Saint-Domingue wieder einzuführen, die größte Bodenreform durchgesetzt, die es in den Amerikas im 19. Jahrhundert gab.657 Bolívar ging nicht in den Norden. Er setzte auf Pétion. In Port-au-Prince trafen Pétion und Bolívar am 2. Januar 1816 zusammen. Pétion gab Bolívar Mannschaften, Lebensmittel, eine Druckerpresse, Geld, Waffen, Munition und ein Schiff. Bolívar sollte im Gegenzug zusagen, die Sklaven zu befreien. Bolívar gab wohl das Versprechen. Wir wissen es nicht genau, weil die haitianische Aussenpolitik darin bestand, auf Druck der anderen Mächte zwar zugesagt zu haben, dass Haiti nicht aktiv auf Sklavenbefreiung in anderen Staaten hinarbeiten wolle, aber inoffiziell natürlich alles dafür tat, die umliegenden Sklavereigesellschaften zu schwächen.658 In Haiti trafen sich zu dieser Zeit Revolutionäre und Spione aller Länder, unter anderem der Jakobiner Jean-Nicolas Billaud-Varennes (1762-1819), der spanische Guerrillaführer Javier Mina659 auf dem Weg nach Mexiko. Unter den Gefährten Bolívars – quasi eine Truppe kreolischer Miliz-Offiziere (Hauptleute) in der Diaspora – befanden sich unter anderen der mulattische Offizier Manuel Menzel, „Das Musterkönigreich Henri Christophes 1806-1820“, in: Menzel, Der schwarze Traum vom Glück. Haiti seit 1804, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 2001 (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, Bd. 11), S. 42-56. 655 Comité de Homenaje a Pétion, Homenaje al General Alejandro Pétion. Presidente de Haití en el Bicentenario de su Nacimiento, Caracas: Editorial Texto, 1971, S. 5 und S. 24. 656 Menzel, „Pétion oder die Diktatur des Laissez-faire 1808-1818“, in: Ebd., S. 57-69. 657 LaCerte, Robert, “The Evolution of Land and Labor in the Haitian Revolution, 1791-1820”, in: Beckles, Hilary; Shepherd, Verene (eds.), Caribbean Freedom: Society and Economy from Emancipation to the Present, Kingston: Ian Randle, 1993, S. 42-47; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, in: Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia: University of South Carolina Press, 2001, S. 176-190. 658 Verna, „Espías y notas diplomáticas contra Bolívar y Petion”, in: Verna, Petion y Bolívar ..., S. 336-344. 659 Lewis, William F., “Simón Bolívar and Xavier Mina. A Rendezvous in Haiti”, in: Journal of Inter-American Studies and World Affairs 11 (1969), S. 458-465. 654 Michael Zeuske/Venezuela Seite 263 13.05.2016 Carlos Piar, ehemaliger Militärchef des venezolanischen Osten, nachdem Bolívar wegen der Niederlage 1814 abgesetzt worden war und Santiago Mariño, der alte Gegner Bolívars (aus Cumaná). Dazu kam eine Reihe von kreolischen Milizoffizieren (Pedro María Freites, Bartolomé Salom, Mariano Montilla, José Antonio Anzoátegui, Pedro León Torres, José Francisco Bermúdez, der eben aus dem dänischen San Tomás angekommen war, Carlos Soublette, Pedro Briceño Méndez, langjähriger Sekretär Bolívars, Manuel Valdés, Diego Ibarra, Sohn von Vicente Ibarra und Ana Teresa Toro (eventuell auch sein Bruder Andrés Ibarra), ein Mann aus der alten Mantuanoelite und Verwandter der Toros (wie Bolívar). Auch eine Gruppe liberaler Internationalisten - Liberale waren zu dieser Zeit meist Radikale – wie Gregor MacGregor, ein schottischer Abenteurer und Revolutionär (der kurze Zeit darauf versuchte, eine „Republik der Floridas“ zu gründen660), Felipe Mauricio Martín (Filip Maurycy Marcinkowski)661, Teilnehmer der Mirandaexpeditionen, Freimaurer, Emigrant aus Polen und Mitkämpfer der Schlacht von Trafalgar (auf britischer Seite), Henri Ducoudray-Holstein (17631839)662, ein Abenteurer und (später) Verleumder Bolívars663, auf den auch noch ein Karl Marx664 hereinfiel, der neogranadinische Wissenschaftler, paisá und Afrancesado Francisco Antonio Zea (Medellín, 1766 – Bath 1822). Unter den Mitstreitern Mariños befanden sich die farbigen Seeleute, Kapitäne und Schmuggler Juan Bautista Bideau (Santa Lucia, 1789 – 1817)665 und José 660 Arends, Tulio, La República de las Floridas (1817-1818), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986. Sońta-Jaroszewicz, Teresa, “Militares polacos al servicio de Miranda y Bolívar en la guerra de Independencia”, in: Tiempos de América. Revista de Historia, Cultura y Territorio, No. 16 (2009), S. 25-38. 662 Acosta, Ursula, “Ducoudray Holstein: Hombre al margen de la historia”, in: Revista de Historia I, No. 2, San Juan de Puerto Rico (1985), S. 63-89; Baralt, Guillermo A., “Ducoudray Holstein y la Noche de San Miguel”, in: Baralt, Esclavos rebeldes: Conspiraciones y sublevaciones de esclavos en Puerto Rico (1795-1873), Río Piedras: Ediciones Huracán, 1985, S. 47-49. Geboren als Pierre Villaume, Sohn eines hugenottischen Pfarrers in Brandenburg oder Schwedt, gestorben 1839 in Frankreich. Eine enigmatische Person. 663 Ducoudray Holstein, Henri La Fayette Villaume, Bolivar’s Denkwürdigkeiten, hrsg. von seinem GeneralAdjutanten Ducoudray-Holstein; die Charakterschilderung und Thaten des Süd-Amerikanischen Helden, die geheime Geschichte der Revolution in Colombia und ein Sittengemälde des Colombischen Volkes enthaltend, deutsch bearb. von Carl N. Röding, Phil. Dr., 2 Bde., Hamburg: Hoffmann und Campe, 1830. 664 Marx, Karl, “Bolivar y Ponte”, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich, Werke, 34 Bde., Berlin: Dietz Verlag, 1961, Bd. XIV, S. 217-231. 665 Verna, Monsieur Bideau, el mulato francés que fue el segundo organizador de la Expedición de Chacachacare, Caracas: Fundación John Boulton, 1968; Verna, Tres franceses en la historia de Venezuela, Caracas: Monte Ávila, 1973. 661 Michael Zeuske/Venezuela Seite 264 13.05.2016 Prudencio Padilla (Río Hacha, 1788 – Bogotá, 1828)666, der niederländischcurazolenische Kaufmann, Schmuggler, Revolutionär und Kapitän Louis Brion, Sohn eines wallonischen Agenten der Augsburger Textilfirma der Obwexer (der ein Handels- und Schmuggelnetzwerk zwischen Saint-Domingue, Puerto Rico, Jamaika, Curaçao und venezolanischen Küstenplätzen geschaffen hatte)667, der Acadien und Korsar Renato Beluche (New Orleans, 28. Dezember 1773 – Puerto Cabello, 4. Oktober 1860)668, der britische Offizier von Jamaika und Adjuntant Bolívars, William Carlos (Charles) Chamberlain (Jamaika, 1790 – Barcelona, 1817)669 sowie eine Reihe von Korsaren670, die zum Teil in letzter Minute aus dem spanischen Blockadering um Cartagena entwischt waren.671 Eine marginalisierte, transnational-atlantische Elite, die sich von Aux Cayes daran machte, ein Weltreich zu zerstören – sie hatten die explosive Mischung der Ideen der Revolutionen von Saint-Domingue, Haiti und die Sprengkraft der Gleichheitsforderungen (Freimaurertum, Menschenrechte) der französischen Revolution von 1792 begriffen, auch die föderalen und antikolonialen Ideen der amerikanischen Revolutionen und sie werteten die Erfahrungen der Gewalt und des Sozialkrieges aus, denn die Spanier hatten ihnen vorgemacht, mit welchen Versprechungen man Sklaven, städtische Unterschichten der Pardos und Llaneros gegen Eliten mobilisiert.672 Heute gelten (fast) alle als Helden. Ein englischer 666 Torres Almeyda, Jesús C., El almirante José Padilla: epopeya y martirio, Bogotá: Ediciones El Tiempo, 1983. Häberlein, Mark; Schmölz-Häberlein, Michaela, „Zwischen zwei Kriegen“, in: Häberlein; Schmölz-Häberlein, Die Erben der Welser. Der Karibikhandel der Augsburger Firma Obwexer im Zeitalter der Revolutionen, Augsburg: Wissner, 1995, S. 83-100, sowie: Häberlein; Schmölz-Häberlein, „Der Ausgang, 1794-1817“, in: Ebd., S. 101-122; Schmölz-Häberlein, „’Voll Feuerdrang nach ausgezeichneter Wirksamkeit’ – die Gebrüder von Obwexer, Johann Heinrich von Schüle und die Handelsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert“, in: Burkhardt, Johannes (ed.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils, Berlin: Akademie Verlag, 1996, S. 130-146; Díaz Ugueto, Manuel, Luis Brion, almirante de la libertad, Caracas: Editorial CEC, SA., s.a. 668 Lucas de Grummond, Jane, Renato Beluche, smuggler; privateer and patriot, Baton Rouge: State University Press, 1983. 669 Lambert, Eric, Voluntarios británicos e irlandeses en la gesta bolivariana, Caracas : Corporación Venezolana de Guayana, 1981. 670 Gámez Duarte, Feliciano, “Corsarios en las guerras de independencia de Hispanoamérica: entre el patriotismo y la delincuencia”, in: Ramos Santana, Alberto (ed.), La Ilusión Constitucional: Pueblo, Patria, Nación: De la Ilustración al Romanticismo. Cádiz, América y Europa ante la modernidad 1750-1850, Cádiz: Publicaciones de la Universidad de Cádiz, 2004, S. 251-262. 671 Verna, Bolívar y los emigrados patriotas en el Caribe (Trinidad, Curazao, San Thomas, Jamaica, Haití). Caracas: Instituto Nacional de Cooperación Educativa, 1983. 672 Ramos, “La nueva estrategía desde el asilo de Haiti”, in : Ramos, Bolívar y su experiencia antillana. Una etapa decisiva para su linés política, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1990, S. 31-54; Dubois, Laurent, “’Citoyens et amis !’ Esclavage, citoyenneté et République dans les Antilles françaises á l’époque révolutionnaire”, 667 Michael Zeuske/Venezuela Seite 265 13.05.2016 Kapitän drückte völlig richtig die Meinung der zeitgenössischen karibischen Oligarchien, Sklavenhändler und Kolonialbeamten aus, die um die Sprengwirkung wussten, die „Haiti“ als Realität, Symbol und Ikone besaß: „Diese Allianz [zwischen Pétion und Bolívar, M.Z.] hat die Augen des Landes geöffnet über die wahren Absichten der Führer der Insurgenten und hat das Wesen der Sache essentiell geändert. Es befehlen die gleichen Leute, aber es ist schon nicht mehr die gleiche Partei“.673 Als Bolívar Brion vorschlagen ließ, ihn als obersten Befehlshaber zu wählen, kam es in der Offiziersversammlung der Emigranten zum Eklat. Die Korsaren Luis Aury (Paris 1781 – 1821) und Renato Beluche, in den USA zur Piraterie gekommen, schlugen vor, nicht eine Person, sondern eine Junta mit der obersten Führung zu beauftragen. Das war angesichts der schwierigen militärischen Lage Unfug, zeigt aber, dass Bolívar keinesweg unumstritten als oberster Anführer war. Und es zeigt, dass es einen Konflikt zwischen eher föderal orientierten Militärs (was damals vor allem bedeutete, dass sie nicht aus Caracas stammten) und Zentralisten gab. Erst die Intervention Brions - der viel Geld auf den Libertador gesetzt hatte - sicherte die Wahl Bolívars, der wohl auch über weitere Geldmittel von Kaufleuten (z. B. Robert Sutherland) verfügte.674 Die Expedition unter der nominellen Führung Bolívars verfügte über sieben Schooner (Bolívar, General Mariño, General Piar, Constitució, Brión, Félix und Conill). Der Kaufmann Robert Sutherland schickte eines seiner Schiffe, La Fortune, mit der Expedition. Unterdessen glaubte Morillo Mitte 1816 die „Befriedung Amerikas“ beendet zu haben. Besonders die venezolanischen Städte der Zentralsregion um Caracas sowie den nördlichen Llanos, um Cumaná und in den Anden hatten in : Annales. Histoire, Sciences sociales, 58e année, no 2 (mars-avril 2003), S. 281-303; Dubois, Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge, Mass.; London, England: The Belknap Press of Harvard University Press, 2004; Dubois, A Colony of Citizens. Revolution & Slave Emancipation in the French Caribbean, 1787-1804, Chapel Hill and London: The University of North Carolina Press, 2004. 673 Kapitän Stirling an den Konteradmiral Harvey, Februar 1817, zit. nach: Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela …, Bd. II, S. 301-308, hier S. 307. 674 Verna, Paul, Robert Sutherland – Un amigo de Bolívar en Haiti : contribución al estudio de los destierros del libertador en Haití, y de sus expediciones de Los Cayos y de Jacmel Caracas: Fundación John Boulton, 1966. Michael Zeuske/Venezuela Seite 266 13.05.2016 schwer unter den Kriegen gelitten. Für San Carlos de Austria, einer Llano-Stadt zwischen den Llanos de Cojedes und den Llanos de Carabobo mit rund 10000 Menschen Bevölkerung, zugleich Hauptort des heutigen Staates Cojedes, hat John V. Lombardi ein Profil erstellt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich in den Kriegen bis zum Ende der 2. Republik 1815 die männliche und die weiße Bevölkerung, vor allem aber die Eliten, verringerten, es aber zu einem Anstieg von Frauen und Pardos kam.675 Morillo hatte nicht mit dem Oriente Venezuelas, Arismendi, Piar, Mariño, karibischen Schmugglern und den Llaneros gerechnet. Im Mai 1816 landeten die Expeditionäre von Aux Cayes auf der Insel Margarita [Karte in: Quintero Saravia, Pablo Morillo, S. 358]. Die Inselbevölkerung hatte unter Juan Bautista Arismendi einen neuen Aufstand gegen Morillo begonnen und die spanischen Truppen – sogar unter Morillo höchstselbst, ich greife etwas vor – Mitte 1817 zurückgeschlagen.676 Bolívar liess sich auf Margarita nochmals im Oberbefehl bestätigen – vor allem, weil er die Insel als Schnittpunkt zwischen Karibik und Venezuela benötigte. Der gesamte Osten Venezuela wies eine Besonderheit auf, die einmalig war in den damaligen Welten des Atlantiks: hier überlappten sich breitflächig „schwarze“ und transkulturelle karibische Kulturen (Sklaverei von Schwarzen, Cimarronaje, Schmuggel, Piraterie, Missionare, Rodeo- und Plantagenwirtschaft) sowie die mestizischen Kulturen der Llanos – am dichtesten und direktesten im Umland von Barcelona, aber auch im Maturín sowie im Umfeld von Cumaná. Kaum angekommen, in Villa del Norte auf Margarita, liess Bolívar eine Proklamation an die habitantes de la Costa Firme (Bewohner der Costa Firme) verbreiten, in der er die Befreiung der Sklaven verkündete. In Carupanó, einem extrem wichtigen Ort der Unabhängigkeitskriege, proklamierte Bolívar am 2. Juni nochmals 1816 die Freiheit der Sklaven (die sich bereit erklärten, in seinem Heer Lombardi, “A City in the Midst of War: San Carlos de Austria”, in: Lombardi, Peoples and Places …, S. 89-108. Quintero Saravia, “Los Llanos y la obsesión por la isla Margarita (Enero a agosto de 1817), in: Quintero Saravia, Pablo Morillo. General de dos mundos ..., S. 349-367. 675 676 Michael Zeuske/Venezuela Seite 267 13.05.2016 zu kämpfen) unter dem Titel A los habitantes de Río Caribe, Carúpano y Cariaco, Salud (An die Einwohner von Río Caribe, Carupanó und Cariaco. Salut).677 In dem Dekret, dass sich an die Einwohner - was in diesem Falle genauer die Sklavenbesitzer bedeutet - einer der wichtigsten Plantagenregionen Venezuelas richtet, heisst es: „In Anbetracht, dass die Gerechtigkeit, die Politik und das Vaterland in mächtiger Form die unüberschreibbaren Rechte der Natur fordern …, dekretiere ich die absolute Freiheit der Sklaven, die in den vergangenen dreihundert Jahren unter dem Joch der Spanier gelitten haben“.678 Das ist eine ziemliche Verdrehung der Realität verkleidet in die Sprache der Aufklärung. Die Sklaven hatten möglicherweise unter Spaniern gelitten. Vor allem aber litten sie unter ihren kreolischen Herren und Aufsehern. Und noch eines kommt hinzu – die „absolute“ Freiheit wird sofort eingeschränkt, denn nur die Sklaven zwischen vierzehn und sechzig Jahren, die sich binnen 24 Stunden bei den Truppen Bolívars zum Militärdienst melden (sowie ihre Familien und Verwandten), kommen in den Genuss der Freiheit. Alle anderen bleiben Sklaven. Es meldeten sich zunächst kaum Freiwillige.679 Die spanischen Truppen sollten an verschiedenen Stellen angegriffen werden. Santiago Mariño, Manuel Piar, José Francisco Bermúdez marschierten von Carupanó ins Llano-Hinterland. Bolívar liess Segel hissen und landete bei Ocumare de la Costa, um direkt auf Caracas zu marschieren. Spanische Truppen erwarteten ihn und seine Truppen. Die Patrioten erlitten eine schwere Niederlage. Bolívar und die Reste seiner Truppen flüchteten übers Meer. Gregor MacGregor und Carlos Soublette konnten ins Inland fliehen. Sie versuchten, den Kampf um die Unabhängigkeit auch in den Valles de Aragua, dem großen Plantagengebiet westlich von Caracas, zu entfachen. “Decreto de Simón Bolívar sobre Libertad de los esclavos fechado en Carupanó el 2 de Junio de 1816”, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador ..., Bd. VIII, S. 185-187. 678 Ebd., S. 185. 679 Yépez Castillo, “Los esclavos negros en Venezuela en la segunda década del siglo XIX”, in: Boletín de la Academia Nacional de Historia (BANH), Nr. 249, Caracas (Enero-Marzo 1980), S. 113-141, hier S. 138-139 (die zehn Dokumentenstellen, in denen Bolívar von der Abolition der Sklaverei spricht); Röhrig Assunção, Matthias, “L’adhésion populaire aux projets révolutionnaires dans les sociétés esclavagistes: le cas du Venezuela et du Brésil (1780-1840)”, in: L’Amérique Latine face à la Révolution française, ed. Guerra, François-Xavier, Toulouse : Presses Universitaires Le Mirail, 1990 (=Caravelle. Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 54), S. 291-313. 677 Michael Zeuske/Venezuela Seite 268 13.05.2016 Vicente Lecuna, der Bolívarbiograph aus den Zeiten von Juan Vicente Gómez, hat die richtigen Worte zur so genannten Expedición del los Cayos (ein Euphemismus, um den Verweis auf „Haiti“ zu vermeiden) gefunden: „sie öffnete die Türen des Landes zum Ausland [zur revolutionären Karibik – M.Z.] und sichert die Marinebasis der Korsaren“.680 Die im Osten Venezuelas verbliebenen Offiziere der Expedition von Aux Cayes verteidigten mit ihren Truppen (darunter eine Reihe von Haitianern) unter hohen Opfern Carúpano. Bolívar gelangte nach der Katastrophe von Ocumare nochmals nach Haiti. Er kehrte mit Carlos Chamberlain und vielen anderen während der so genannten Expedition von Jacqmel (September bis Dezember 1816) nach Haiti zurück. Pétion gewährte ihm nochmals Hilfe. Ende 1816 kam die neue Expedition in Margarita an, um danach Orte auf der Paria-Halbinsel und Barcelona einzunehmen. Bolívar plante von dort aus, über die Llanos gegen Caracas vorzurücken. Doch seine Caracas-Strategie, deren Niederlagen ihm viel Hohn seiner erfolgreicheren Kameraden und den bösartigen Beinamen „Napoleon des Rückzugs“ einbringen, resultierten aus einer fatalen Fehleinschätzung seiner eigenen Klasse, der urbanen Eliten der venezolanischen Küstenstädte (die auch in Bolívars Korrespondenz an seine alten Freude unter den Mantuanos deutlich wird). Die Mantuanos wollen an keiner causa (Sache), sprich Revolution, mehr teilnehmen. Deshalb hatten die spanisch-kreolischen Truppen Morillos, trotz einer Reihe von Konflikten, immer noch die Unterstützung der Eliten und der Bevölkerung der Küstenstädte. Bolívar opfert dieser falschen Strategie eine Menge Menschenleben. Morillo war bei seiner Rückeroberung des Oriente (1816-1817, Ausnahme: Margarita) so stark, dass es sich erlauben konnte, Bolívar zu verfolgen; er liess bei der Suche nach dem Libertador die Taktik der verbrannten Erde und der verbrannten Orte anwenden (Zerstörung von Cumanacoa bei Cumaná).681 Die Patrioten holten sich bei verschiedenen Gefechten gegen die 680 Lecuna, Expedición de Los Cayos, 2 Bde., Caracas: Litografía y Tipografía Mercantil, 1928 und 1937, Bd. I, S. 234. 681 Qintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 374. Michael Zeuske/Venezuela Seite 269 13.05.2016 Veteranen der Spanier blutige Köpfe. Bei der Verteidigung Barcelonas fallen Chamberlain, der sich vor seinem Tode noch in eine Kreolin verliebt hatte, und Bideau – und viele der haitianischen Soldaten. Die patriotischen Offiziere, die die Stimmung der Bevölkerung besser kannten und von den Mantuanos nie etwas erwartet hatten, konnten bessere Erfolge erzielen. Mariño konnte sich im Maturín festsetzen, unterstützt von einer Reihe autonomer Guerrillaführer. Der erfolgreichste Truppenführer unter den Patrioten aber war Manuel Piar (Willemstad, 1774 – erschossen 1817 in Angostura), ein aus eigener Kraft aufgestiegener General, Sohn einer mulata holandesa von Curaçao und eines kanarischen Kaufmannes.682 Piar, der die Sprachen der Unterschichten perfekt beherrschte, konnte sich die Unterstützung der vielen autonomen Guerrillas im Osten sichern. Zwischen 1815 und 1819 war die Hauptform der Kriegführung seitens der Republikaner die guerra de guerrillas (Guerillakrieg). Ribas war ein Meister dieser Kriegführung. Nach schweren Kämpfen gegen spanische Marine und Landtruppen besetzten die Milizen Piars und Manuel Cedeños Angostura, São Tomé de Guayana und die Missionen am Caroní (Caruachí und Upata; mit 200000 Rindern sowie 80000 Pferden und Maultieren sowie Gold) mit ihren fast unbegrenzten Ressourcen an Rindern, Pferden und Maultieren.683 Dabei unterstützten ihn sogar Kariben mit Pfeil und Bögen sowie Kanus. Das ist eine der wenigen positiven Erwähnungen von Indios in der Heldengeschichte der Independencia684; es gibt allerdings auch viele negative Erwähnungen, wie die im Operationstagebuch Santanders bei seinem Marsch 1818 von Guayana nach Casanare über „indios guahíbos y chiricoas, de que están llenas las costas del Meta: estos indios hacen guerra a muerte a todo ser viviente“.685 682 Brada, Willibrordus O.P., Brion 1782-1821, Willemstad [Curaçao]: Scherpenheuvel, 1954. Armas Chitty, Guayana: su tierra y su historia, 2 Bde., Caracas: Corporación Venezolana de Guayana; Ministerio de Obras Públicas, 1964-1968; Ugalde, Luis, Mentalidad económica y proyectos de colonización en Guayana en los siglos XVIII y XIX: el caso de la compañía Manoa del Orinoco, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1994. 684 Neben Páez und den Llanos wird nur für den Oriente unter José Gregorio Monagas darauf hingewiesen, dass Allianzen mit Indios sehr wichtig waren: Castillo Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 17-23, hier S. 19. 685 González, Vicente, “Diario de operaciones del cuerpo de ejército confiado al general Francisco de Paula Santander. De Guayana, 1818 (25/6), en marcha hacia Casanare. 1818 (12/11)”, in: Santander, Francisco de Paula, 683 Michael Zeuske/Venezuela Seite 270 13.05.2016 Als Bolívar von diesen brillanten Erfolgen Piars hörte, verliess er die Truppen, die Barcelona verteidigten, und richtete seine Schritte nach Guayana. Die patriotischen Verteidiger des Convento de San Francisco in Barcelona fielen der spanischen Gegenattacke zum Opfer. Alle Gefangenen wurden getötet – die Regeln der Guerra a muerte galten noch. Die Sieger verschleppten den kommandierenden General der Patrioten, Pedro María Freites nach Caracas, wo er am 17. April 1817 auf der Plaza Mayor vor großem Publikum standrechtlich erschossen wurde. Damit begann eine neue Phase der Independencia – die der Hinterlandrevolution zwischen Karibik, Llanos und Guayana.686 Humboldt hatte noch 1800 unter dem Stichwort „Militär“ über die Zustände des königlichen Heeres in Guayana geschrieben: „In der Prov[inz] Guayana Militär gehaßt, alle Soldaten unzufireden, jeder sucht sich dem Stande zu entziehen, weil fast alle Truppen dort in aura, Río Negro, Caroní, Grior, Guayana vieja auf estacamento [Garnisonsdienst] stehen, und fast Hungers sterben. Commendanten (meist Sergenten oder Alférez) halten wie Padres pulpería von allen möglichen Lebensbedürfnisse, die sie den Soldaten aufdringen [687] mit 150-200 p.C. [Prozent] Gewinn [Anmerkung von Humboldt im Tagebuch: „Sie sagen, der Soldat brauche hier nicht Geld und wolle es nur zum Verspielen haben! – Gobernador de Angostura hat vom König 3000 pesos.“] … weiter“.688 Aus Sicht Piars und seiner Pardo-Milizen tauchte Bolívar plötzlich in Guayana am Orinoko auf und forderte seinen Status als Oberbefehlshaber ein. Ein General, ein Kreole aus Caracas, der aus Sicht Piars und seiner Pardo-Offiziere seit 1814 nur Verluste aufzuweisen, viele Menschen für eine falsche Strategie und eine Menge Ressourcen geopfert hatte, die von den Haitianern stammten. Zu Diario de campaña, libro de órdenes y reglamentos militares 1818-1834, Bogotá: Biblioteca de la Presidencia de la República, 1988, S. 8-14, hier S. 13. 686 Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón Bolívar”, S. 39-58. 687 Auch unter dem Namen „Repartimiento-Handel“ bekannt. 688 Humboldt, Alexander von, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda“ (30.3.- 23.5. 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 236-310, hier S. 298. Michael Zeuske/Venezuela Seite 271 13.05.2016 diesen Konflikten zwischen Piar und Bolívar kam der Versuch, einer weiteren alternativen Staatsgründung der karibisch-ostvenezolanischen Patrioten um Mariño689, Fernando Rodríguez del Toro, Francisco Javier Yanes, Louis Brion und Cortés Madariaga, die die Stunde für gekommen hielten, nun die föderative Führung unter der Fahne mit sieben Sternen in einem Kongress (Congreso de Cariaco, 8.-9. Mai 1817) durchzusetzen – gegen den zentralistisch-jakobinischen Bolívar und die Kreolen aus Caracas. Bolívar aktivierte seine Netzwerke und sein Charisma, er verkündete Kriegsgesetze (ley marcial, mehrmals), aktivierte den 1813 gegründeten Orden der Befreier, um sich als primus inter pares darzustellen (Orden de los Libertadores de Venezuela).690 Der Libertador proklamierte auch Enteignungen der loyalistischen Eliten (Konfiskation; Sequester691), die mit den Spaniern kooperierten. Es handelte sich nicht um den verkappten Ansatz einer Agrarreform. Die konfiszierten Besitzungen der Spanier und royalistischen Kreolen692 sollten an Offiziere und Soldaten nach Rang vergeben werden. Die Patrioten besetzten die Kapuzinermissionen, töteten die Mönche (bis auf einen) und nutzten die Ressourcen für sich.693 Dazu kamen Verbesserungen für Handel, Kontrolle der Schmuggler und Korsaren (Prisenordnung) sowie Organisation der Kirche und der Finanzen. Bolívar war unermütlich. Er gründete ein 689 Mariño verteidigte immer die Gleichheit, vor allem auch die der Pardos, als Mann aus dem Oriente war er stärker von den Ideen Haitis beeinflusst; er verteidigte auch das Wahlrecht der Soldaten, siehe: Mariño, Santiago, Derecho del soldado colombiano a votar en las elecciones, Caracas: Imprenta de José Núñez de Cáceres, 1825. 690 Planas Suáez, Simón, Historia de la Orden del Libertador: algunas advertencias sobre órdenes de caballería, La Orden del Libertador y la Orden Miranda, Caracas: Tipografía Garrido, 1955. 691 Bolívar, “Sobre confiscación y secuestro de bienes”, Antigua Guayana, 3. September 1817, in: Ebd., S. 74-77. 692 Bolívar, “Repartición de bienes como recompensa a los Oficiales y soldados”, Santo Tomás de Guayana, 10. Oktober 1817, in: Ebd., S. 89-92. Bolívar hielt die Konfiskationen unter enger Kontrolle, wie eine Reihe von Dekreten über das Sequestertribunal zeigen (das zudem unter die Leitung von Fernando Peñalver gestellt wurde). Schon am 18. Oktober 1818 erliess Bolívar in Angostura ein Dekret, dass den Frauen der Royalisten sowie ihren Familien ihre Erbschaften und Mitgiften sicherte sowie ein Drittel der ertragbringenden Besitzungen – damit war eine Reform, die das große Latifundieneigentum hätte zerschlagen können, im Ansatz abgewehrt, siehe: Bolívar, „Regúlase el secuestro de bienes de la familias realistas de América“, in: Bolívar, Decretos …, Bd. I, S. 98f. Kurz nach dem Sieg bei Bogotá dekretierte Bolívar, dass die vom Sequester Betroffenen gegen Geldzahlung ihr Eigentum behalten durften, siehe: Bolívar, “Disposiciones para restituir los bienes secuestrados”, Santafé, 9. September 1819, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 155f.; Bruni Celli, Blas, Los secuestros en la guerra de independencia, trabajo de incorporación del Dr. Blas Bruni Celli como individuo de número de la Academia Nacional de la Historia; discurso de contestación del individuo de numero Carlos Felice Cardot, Imprenta Nacional, Caracas, 1965; Rangel Prada, Egilda, “Los secuestros y la confiscación de bienes en la provincia de Caracas”, en Anuario de Estudios Bolivarianos. Bolivarum, año IV, núm. 4, Caracas (1995), S. 217-259. 693 Sanoja, Mario; Vargas Arenas, Iraida, “Las Misiones capuchinas de Guayana y la guerra de Independencia”, in: Las edades de Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 328-335. Michael Zeuske/Venezuela Seite 272 13.05.2016 Handelskonsulat, dessen Chef Martín Tovar Ponte sein sollte (der sich im Exil in Trinidad befand)694, ernannte Louis Brion zum Admiral, und organisierte den Maultier- und Rinderexport sowie den Austausch Rinder und Maultiere gegen Waffen mit Hilfe seiner Freunde unter den Kaufleuten von Jamaika und Trinidad (sowie ausländischen Kaufleuten, vor allem aus den USA und eventuell Hamburg). Ein Generalstab und ein Staatsrat aus Offizieren und Korsaren sowie Munizipalgesetze (mit ersten Wahlbestimmungen)695 schufen eine Art de-facto Staatlichkeit aus der Mitte der Armee, die nicht zuletzt dazu diente, den Patrioten die Anerkennung anderer Mächte zu sichern. Und Bolívar spielte seine Fähigkeiten, die vor allem in der diplomatischen Verbindung aller Kulturen und Ebenen des Konflikts bestanden (vor allem die Verbindung zu dem Schmuggler, Kaufleuten und Korsaren unter Luis Brion und Renato Beluche). Tomás Cipriano de Mosquera, ein neogranadinischer Offizier aus einem der großen Sklavenhalterclans von Popayan, sagt in seinen Memoiren, der Kongress von Cariaco mit seinem demokratisch-karibischen Impetus habe Piar stark beeinflusst. Piar habe 1817 danach gestrebt, „die oberste Führung des Krieges einem Generalsrat zu übertragen … Man rief das ausschließlich Recht der mestizischen Rassen auf die Regierung des venezolanischen Landes aus, denn weil sie die Mehrheit im Land waren, zählten sie mit unbestreitbaren (Rechts-) Titeln, und in diesem Sinne appellierte man an die Gefühle der mulattischen und Quarteronenoffiziere”.696 Piar versuchte die Pardos, die Schwarzen, Indios und Llaneros in den Truppen und Guerrillas gegen die „vier Mantuanos“, wie er sagte, zu mobilisieren. Er nahm Kontakt zu José Antonio Páez auf. Der Pardo-General betonte “die Notwendigkeit, die Waffen zu ergreifen, in die uns vier Mantuanos versetzen durch die Ambition, alles zu befehligen und uns von den heiligsten und Bolívar, “Creación del Consulado”, Angostura, 7. November 1817, in: Ebd., S. 107f. Bolívar, “Creación de la Municipalidad de Angostura”, Angostura, 6. Oktober 1817, in: Ebd., S. 87-89. 696 Mosquera, Tomás Cipriano de, Memoria sobre la vida del general Simón Bolívar, Libertador de Colombia, Perú y Bolivia, Bogotá: Instituto Colombiano de Cultura, 1977, S. 225f. 694 695 Michael Zeuske/Venezuela Seite 273 13.05.2016 natürlichsten Rechten fernzuhalten”.697 Piar habe die sozialethnische Kategorie der Pardos, vor allem “die Kavalleriekommandanten und viele subalterne Offiziere”, aber auch die farbigen Offiziere der Flotte angesprochen, und diese seien von seinen Argumenten “nicht unbeeindruckt”698 geblieben. Piar artikulierte die antikreolischen und antizentralistische Gefühle vieler Pardos (und einiger Kreolen, wie Mariño) und versuchte, dem sozialethnischen Protest der Pardos in ihrem Kampf um Gleichheit und gegen die alten Rassenhierarchien eine Stimme zu geben und seine Führung damit zu legitimieren: “es sei notwendig, daß sich alle Pardos sammelten und alle Weißen töteten”.699 Vor allem zielte Piars Argumentation gegen die Mantuanos und gegen Bolívar. “Bolívar habe sich zum König proklamiert”700, obwohl er selbst vorgebe, gegen die Könige zu kämpfen. Selbst in diesen Zeugenprotokollen wird deutlich, daß Piar durchaus die politische Terminologie der Karibik sowie Haitis, wie auch die vom Aufklärungsdenken geprägte Sprache seiner Zeit beherrschte. “Die Republik könne niemals glücklich sein, während Bolívar an ihrer Spitze stehe, der an seiner Seite eine Portion von Spitzbuben habe, die nur danach trachteten, die Gesetze zu erlassen und die uns alle Arten von Schlechtigkeiten kosten würden; es sei nötig, das zu verhindern, da die Klasse der Pardos zahlreicher als die der Weißen sei, sollten sie sich vereinigen und mit ihnen aufräumen, besonders mit den Mantuanos von Caracas ... , da er Pardo sei (spricht der General Piar) (und) dem Vaterland so viele Dienste geleistet habe und so viele Proben seines Mutes und seiner übrigen militärischen Qualitäten gegeben habe, müßte er der sein, der sich an die Spitze der Truppen und der Republik setzen solle ... die Pardos würden, während die Weißen regierten, niemals Einfluß noch Repräsentation haben”.701 Aus Briefen Piars, die von den Spaniern abgefangen worden waren, soll sich ergeben haben, dass Piar mit Hilfe 697 Dieses Zitat wie die nachfolgenden stammen alle aus Aussagen im Piar-Prozeß. Diese Aussagen sind kritisch zu betrachten, da sie unter Gefahr der Todesstrafe gemacht wurden, siehe: “Proceso de Piar” (Doc. 233), in: Memorias del General O’Leary, edición facsimilar del original de la primera edición, con motivo de la celebración del Sequicentenario de la Muerte de Simón Bolívar, Padre de la Patria, 34 Bde., Caracas: Ministerio de la Defensa, 1981, Bd. XV, S. 351-422, hier S. 351f. 698 Ebd., S. 357. 699 Ebd., S. 366. 700 Ebd., S. 360. 701 Ebd., S. 368. Michael Zeuske/Venezuela Seite 274 13.05.2016 Pétions eine „schwarze Republik“ am Orinoko gründen wolle.702 Da mag viel antipatriotische Propaganda Morillos dabei sein. Auf jeden stellte Piar in einer offenen Situation, in der verschiedene Entwicklungen möglich waren, die Alternative einer Sozial- und Gleichheitsrevolution gegen die Versuche Bolívars und der liberalen Elite dar, den Unabhängigkeitskrieg in das Korsett eines konstitutionellen, von kreolischen Eliten dominierten liberalen Staatswesens zu spannen. Bei den Spaniern, die eine Liste der „Hauptrebellen“ hatten aufstellen lassen, figurierte Piar auch noch als „Pirat“. Darin werden seine Verbindungen zur Karibik deutlich. José Francisco Bermúdez (San José de Areocuar, 23. Januar 1782 – Cumaná, 15. Dezember 1831), früher ein Gegner Bolívars, verriet Piar. Bolívar isolierte den mulattischen General und liess ihn absetzen. Piar wurde verhaftet und vor ein Kriegsgericht unter seinen persönlichen Feinden Louis Brion und Carlos Soublette y Piar (La Guaira, 1789 – Caracas, 1870) gestellt.703 Zum Tode verurteilt, starb Piar unter den Schüssen eines patriotischen Pelotons am 16. Oktober 1817 in Angostura [ Bild: Bellermann, „Blick von Soledad auf Angostura“].704 Die Gegner Bolívars, vor allem die Caudillos, waren verschreckt; die Truppen, vor allem die Pardos und farbigen Llaneros durch die Verteilung von Besitz sowie die Aufhebung der Sklaverei beruhigt und durch Rhetorik sowie Charisma Bolívars auf die Seite derer gezogen, die sich als Patrioten definierten. Aber immerhin zeigen beide Dekrete Bolívar als einen sehr kreativen Revolutionsführer – er hatte in einem Krisenmoment die beiden, wenn man so González, Asdrubal, Manuel Piar, Caracas: Vadell Hermanos Editores, 1979, S. 185; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, S. 176-190. 703 “Proceso de Piar” (Doc. 233), in: Memorias del General O’Leary ..., Bd. XV, S. 351-422; Armas Chitty, José Antonio de, Vida del general Carlos Soublette, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1991. 704 Cobos, Eduardo, “Piar en la historiografía venezolana”, in: Yépez Colmenares, Germán (comp.), Temas de Historia Contemporánea de Venezuela, Caracas: Fondo Editorial de Humanidades y Educación Universidad Central de Venezuela, 2005, S. 57-77; Röhrig-Assunção; Phaf, Ineke, “'History is Bunk!’ Recovering the meaning of independence in Venezuela, Colombia, and Curaçao: A cross-cultural image of Manuel Piar“, in: Arnold, James A. (ed.), A History of Literature in the Caribbean, Vol. III. Amsterdam and Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, 1997, S. 161-174. Zum Bild von Ferdinand Bellermann (Katalognummer SdZ 150), in: Staatliche Museen zu Berlin (ed.), Ferdinand Bellermann : 1814-1889 : ein Berliner Maler aus der Ära Alexander von Humboldts : [Ausstellung] Kupferstichkabinett und Nationalgalerie, Berlin, 13. August - 25. Oktober 1987, Berlin (Ost): Staatliche Museen, 1987, S. 44 (sowie als Vorsatzblatt zu: Bolívar, Escritos del Libertador …, Bd. XI. 702 Michael Zeuske/Venezuela Seite 275 13.05.2016 will, Achsen der kolonialen Extraktionsmaschine - Bodeneigentum und Sklaverei nicht etwa beseitigt, aber rhetorisch angegriffen und stärker unter politische Kontrolle genommen. Die Ansprüche auf Bodenbesitz wurden allerdings von einem Tribunal unter Leitung von Fernando Peñalver (Píritu, 1765 – Valencia, 7. Mai 1837)705, den Humboldt für einen Rassisten hielt, kontrolliert und als vales ausgegeben - Berechtigungsscheine mit nominalem Geldwert - ausgegeben. Die Berechtigung auf Vales wurde bald auch auf die Zivilbeamten sowie Ausländer mit zweijähriger Dienstzeit im patriotischen Heer ausgedehnt.706 Berechtigungsscheine kann man nicht essen. Soldaten verkauften sie oft zu einem Bruchteil ihres nominellen Wertes – eine Spekulationswelle machte reiche Landbesitzer und hohe Offiziere der Patrioten reicher. Arme Soldaten verloren dabei schnell ihre Ansprüche auf Land.707 Mit dem Tod Piars hatte Bolívar zugleich eine klare Grenze gegen das gezogen, was er die Gefahr der pardocracia (Herrschaft der Pardos)708 nannte. Zugleich befreite er sich in gewisser Weise vom Einfluss Haitis und Pétions, der Piar sehr schätzte.709 Der Piar-Prozeß zeigte aber auch den zahlreichen GuerillaMilizen, die sich als autonome Einheiten immer mehr an den Krieg als Lebensweise gewöhnten, dass Bolívar gewillt war, dem Krieg ein klares politisches Ziel zu setzen, nämlich einen Staat nach den Reglen konstitutionellen Liberalismus, und nicht nur Krieg um des Krieges wegen zu führen.710 Die Guerrillas unter José Francisco Bermúdez, Francisco Vicente Parejo, Francisco Mejía und Andrés Rojas (Cumaná; Maturín), José Tadeo Monagas und Pedro Zaraza (Barcelona), Manuel Cedeño (Caicara del Orinoco), José Antonio Páez 705 Briceño Iragorry, Mario, La tragedia de Peñalver, Bogotá: Editorial Iqueima, 1949; Gómez, Alarico, Fernando Penalver, 1761-1837, Caracas: Ministerio de Educación, 1973. 706 Bolívar, “Modificación a la Ley del 10 de octubre”, in: Bolivar, Decretos ..., Bd. I, S. 97f. 707 Bolívar wusste von der Spekulationswelle und liess einfach die koloniale Mehrwertsteuer (Alcabala) darauflegen, siehe: „Oficio de Bolívar para el director general de rentas, fechado en Angostura el 2 de octubre de 1818, contesta una consulta que le formularon los ministros de las cajas de Angostura sobre derechos por ventas de bienes“, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador ..., Bd. XIV, S. 344 (Doc. 3316). 708 Langue, “La pardocratie ou l’itinéraire d’une ‘classe dangereuse’ dans la Venezuela des XVIIIe et XIXe siècles”, S. 57-72 ; Rodríguez, Manuel Alfredo, “Los pardos libres en la Colonia y la Independencia”, S. 33-62. 709 Verna, Petion y Bolívar …, S. 346. 710 Lynch, John, “Bolívar and the Caudillos” in: Hispanic American Historical Review (HAHR), Vol 63:1 (1983), S. 3-35. Michael Zeuske/Venezuela Seite 276 13.05.2016 (Apure und Barinas) sowie viele Guerrilla-Milizen am Casanare, ordneten sich zwar nicht alle, aber die meisten, nach und nach liberalen Republikanern unter. Oftmals erst durch Aufmarsch von Truppen unter Oberschichten-Offizieren, die es gelernt hatten, mit den rüden Männern der Milizen umzugehen. Einige Guerrillas aber hielten sich autonom, wie die Milizen von Dionisio Cisneros, Juan Celestino Centeno und José Antonio Arizábalo, die den Guerrillakrieg bis in die dreißiger Jahre am Leben hielten.711 Es ist ein Grundproblem von Sozial- und Bürgerkriegen, die zu Subsistenzkriegen werden (das sind Kriege, in denen Bauern sich daran gewöhnen von dem Krieg zu leben, der ihre Landwirtschaften zerstört). Die Autonomie vieler Guerrillas konnte er damit noch nicht abschaffen; wie etwa die unter den Brüdern Monagas im Gebiet von Barcelona und Maturín. Deshalb diktierte Bolívar Ende 1817 ein Reglament der Guerrillas.712 Da Morillo allerdings noch härter als Bolívar gegen die irregulären Milizen vorging, zogen diese es meist vor, weiter in losen Allianzen mit den Patrioten zusammenzuarbeiten. Anfang 1818 wiederholte Bolívar das Dekret über die Freiheit der Sklaven für die wichtigen Regionen der Valles de Aragua, La Victoria und des Valle del Tuy, zusammen mit der Gegend um Cariaco die wichtigsten Kakaoanbaugebiete.713 Mit Angostura gewann Bolívar die Kontrolle über einen strategischen Schnittpunkt zwischen Kontinent, Flusswelt, venezolanischem Hinterland, der englischen Insel Trinidad und dem Atlantik (unter anderem deshalb, weil Segelschiffe mit dem Passat den Orinoko gegen die Strömung hoch segeln und mit der Strömung wieder herunter fahren konnten). Von Angostura aus war auch Europa schnell zu erreichen, wie Humboldt 1800 notierte: „In keinem Span[ischen] Hafen ist [die] Communication mit Europa so schnell. Man gelangt hieher in 18-20 Tagen und kehrt in 30-35 Tagen zurück. Daher [der] Haß in 711 Pérez O., Eduardo, La guerra irregular en la independencia de la Nueva Granada y Venezuela, 1810-1830, Tunja: Publicaciones de la Universidad Pedagógica y Tecnológica de Colombia, 1982. 712 Lynch, “Bolívar and the Caudillos”, S. 3-35; Thibaud, Repúblicas en armas …, S. 325. 713 Bolívar, “Llamamiento a los antiguos esclavos a defender su libertad y otras medidas”, 11. März 1818 aus Villa de Cura, in: Decretos del Libertador …, Bd. I, S. 125-126; Bolívar, “Llámanse a filas todos los ciudadanos útiles comprendiendo en ellos los antiguos esclavos”, 13. März 1818 aus La Victoria, in: Ebd., S. 126; sowie: Bolívar, “A los habitantes de los valles del Tuy”, 14. März 1818 im Generalstab, in: Ebd., S. 127. Michael Zeuske/Venezuela Seite 277 13.05.2016 Caracas (Neid) gegen diese Provinz“.714 In Angostura erlebte die Republik ihre Wiedergeburt – es war die III. Republik (offiziell am 20. November 1818 per Dekret Bolívars gegründet715). Bolívar sprach von einer „dritten Etappe der Republik“; im Grunde ein erneuter Versuch, einen Staat zu gründen, eine periphere Republik des Hinterlandes – ohne die Beteiligung der anderen Provinzen und Städte (von Margarita abgesehen) und zunächst auch fast völlig ohne Beteiligung der kreolischen Eliten. Ein Staat der Schmuggler, Milizhauptleute, Caudillos, renitenten Wissenschaftler, geflohenen Sklaven und Llanero-Anführer. Bolívar war sich der Schäche dieser Konstruktion von der Peripherie her durchaus bewusst; er versuchte, so viel wie möglich Informationen, das heisst handgeschriebene und roh gedruckte Texte, auf denen die Worte „República de Venezuela“ zu lesen sowie so etwas wie ein Wappen zu sehen waren, mit seinen Schmuggler-, Korsaren- und Kaufleutefreunden in die Welt zu setzen, um den Eindruck zu erwecken, die Republik von Angostura sei ein wirklicher Staat. Aus heutiger Sicht wäre der damalige Bolívar ein war-lord irgendwo in einem Urwaldhinterland mit unaussprechlichen Namen außerhalb der zivilisierten Welt. Morillo ging in einer auf Englisch verbreiteten Proklamation genau auf diesen Punkt ein: „It is represented by those revolutionary agents that there exists a well established Republican Government, laws, armies, and populations who have submitted to such Republic and in fact all that may constitute a nation“.716 Aus der Perspektive der Küstenstädte, aus der Perspektive der Eliten von Caracas, oder gar der Zentren Bogotá oder Madrid, schien das, was da in Angostura geschah, eine peinliche und lächerliche Petitesse – Guayana an sich hatte für die traditionellen Oligarchien der Küste und Kolonialbeamten noch nie zur „Zivilisation“ gezählt. Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor allem S. 334. 715 Bolívar, “Declaración de la República de Venezuela”, Angostura, 20. November 1819, in: Decretos del Libertador ..., Bd. I, S. 135-139. 716 “Proclama dirijida en idioma inglés”, Acaguas, 26. März 1819, in: Blanco; Azpurúa (eds.), Documentos, Bd. VI, S. 631 (Dokument 1499); zum Verhalten Spaniens und anderer Mächte siehe: Gleijeses, Piero, “The Limits of Sympathy: The United States and the Independence of Spanish America”, in: Journal of Latin American Studies, 24:3 (October of 1992), S. 481-505; Delgado, Josep M., “La desintegración del Imperio español. Un caso de descolonización frustrada”, in: Illes i Imperis. Estudis d’història de les societats en el món colonial i postcolonial, núm 8 (primavera 2006), S. 5-44. 714 Michael Zeuske/Venezuela Seite 278 13.05.2016 Bolívar nahm Guayana so ernst, dass er schon im November 1817 der neuen Nationalfahne einen achten Stern – für Guayana – hinzufügen liess, betonte aber – was zeigt, dass die Provinz Guayana als eine Art autonomen Grenzterritoriums angesehen worden war – im Artikel 1 einer Verordnung über die Grenzen, dass die „Provinz von Guayana, in ihrer gesamten Ausdehnung, dem Territorium von Venezuela beigefügt wird und ab heute einen integralen Teil der Republik bildet“.717 Morillo und seine Offiziere nahmen Angostura und die III. Republik auch ernst. Sie wussten, dass das ressourcenreiche Gebiet (vor allem die Missionen am Caroní) ein sicheres „befreites Territorium“ für den Aufbau einer patriotischen Armee war. Einen neuen Staat traute Bolívar damals aber noch niemand wirklich zu. Morillo wusste aber auch, das Bolívar über den Orinoko Kontakt zu den Llaneros vom Apure aufnahm, den ehemaligen Soldaten von Yáñez und Boves, die in José Antonio Páez einen neuen Anführer gefunden hatten.718 Anfang 1818 zeigte die politische Geographie Venezuelas in gewisser Weise die Situation von 1813-1814 - nur besetzten jetzt die Patrioten Regionen in den Llanos und in Guayana, die früher royalistische Kräfte hielten und umgekehrt. Morillo wartete auf Fehler Bolívars oder Eigenmächtigkeiten der GuerrillaMilizen. Bolívar musste ein neues Heer aufbauen, aus Guerillas und RekrutenMilizen, aus Llaneros und kreolischen Milizoffizieren. Armeen werden selten mit guten Worten, sondern vor allem mit Gewalt aufgebaut; viele der einfachen Rekruten (bisoños) mussten nachts gefesselt werden, damit sie nicht desertierten. Seit Ende 1817 kamen auch die ersten ausländischen Offiziere (neben den wenigen, die schon in Aux Cayes dabei gewesen waren), meist britische, irische und deutsche Veteranen der napoleonischen Kriege nach Angostura oder Margarita.719 Bolívar musste immer wieder Zwangsrekrutierungen für das Bolívar, “Sobre el pabellón nacional”, Angostura, 20. November 1817, in: Decretos del Libertador …, Bd. I, S. 115; Bolívar, “Señálanse límites a la Provincia de Guayana al ser incorporada al territorio libre de Venezuela”, Angostura, 15. Oktober 1817, in: Ebd., S. 96-97, hier S. 96. 718 Gómez Picón, Aliriro, „Páez a través de la historia”, in: Boletín cultural y bibliográfico Vol. XIV, No. 6 (1979), S. 31-53. 719 Hasbrouck, Alfred, Foreign legionaries in the liberation of Spanish America, New York: Octagon Books/Farrar, 717 Michael Zeuske/Venezuela Seite 279 13.05.2016 patriotische Heer anordnen – durch Kriegsgesetze mit Zwangsaushebungen. Und er nahm in Briefen auf ein wichtiges Problem Bezug – das der Desertionen. Dieses Problem ist eng verknüpft mit dem wirklichen Denken der Venezolaner der Unabhängigkeitszeit über solch abstrakte Ideale wie „Nation“. In einem Brief an Bermúdez schrieb Bolívar über den vermeintlichen Lokalismus: “Die fortwährende Desertion von Soldaten aus ihren Divisionen zu anderen unter dem Vorwand, aus der Provinz zu stammen, in der jene (Division) operiert, die sie sich auswählten, ist ein Grund der Unordnung und militärischen Insubordination, die den Provinzgeist stärkt, um dessen Zerstörung wir uns so sehr bemüht haben. Die Venezolaner müssen mit gleichem Interesse das Territorium der Republikaner verteidigen, wo sie geboren wurden, wie das ihrer Brüder; denn Venezuela ist nichts als eine einzige Familie, zusammengesetzt aus vielen Individuen, die untereinander mit unlösbaren Banden und durch gleiche Interessen verbunden sind”.720 Im Grunde beschrieb Bolívar in diesem Text den Unterschied zwischen seiner eigenen Utopie von einer „Nation aller Venezolaner“ und der Realität im Lande. Eine Nation mit dem Vornamen Venezuela existierte vorerst vor allem in seinem Kopf und in seinen Reden und Schriften. Der im Diskurs gegründete Staat „Venezuela“, im Mythos der Unabhängigkeit die so genannte III. Republik, erwies sich aber als so peripher, dass selbst Bolívar, sicherlich auf einer seiner Blitzreisen auf dem Orinoko zwischen Angostura und den Llanos am Apure oder Casanare, auf die Idee gekommen sein muss, lieber doch nicht weiter an der Idee eines Staates mit dem Namen „República de Venezuela“ zu hängen. Bei allen, die er „Venezolaner“ nannte, bezeichnete das Wort Venezuela eher die Landschaft um Caracas. Und dort herrschten 1818 Spanier und kreolische Oligarchien – und das weckte schlechte Gefühle bei den Patrioten. Bolívar nahm sich irgendwann in dieser Zeit vor, lieber ernst zu machen mit der sozusagen verkleinerten Idee Mirandas von der „República de Colombia“ und einer Übernahme der Straus & Giroux, 1969; Kahle, “Die deutschen Legionäre in der Armee Simón Bolívars”, in: Kahle, Simón Bolívar und die Deutschen, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1980, S. 51-71. 720 Memorias del General O’Leary ..., Bd. XV, S. 449f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 280 13.05.2016 Staatsutopie, die mit diesem Import aus Europa verbunden war. Um die zu verwirklichen, brauchten Bolívar und seine engsten Vertrauten Siege. Die Staatsutopie des europäischen Imports benötigte Bolívar, um Definitionsmacht über drei Gruppen mit eigenen politischen Vorstellungen zu gewinnen: seiner eignen Klasse, die eher einem kleinflächigen Federalismus der Cabildos unter Führung von Caracas anhingen (sofern sie aus Caracas und den Zentralgebieten des Landes stammten), den Eliten anderer Städte, die eher einer autonomistischen Föderalismus der anderen großen Städte (wie Maracaibo und Cumaná) zuneigten (Mariño). Vor allem aber, um den aus seiner Sicht anarchistischen Llaneros überhaupt mit der Idee des Staates anzufreunden, in dem er sich mit seinem Modell als das verbindende und übergeordnete Glied zur atlantischen Welt darstellte. Von Anfang an war seiner Kopie europäischer Staatsutopie aber zwei genuin „amerikanische Elemente“ eingeschrieben. Bei seiner Wahl als oberster Anführer musste sich Bolívar vor den Männern durch Charisma, Beutebeschaffung und gute Verbindungen zu Kaufleuten und Schmugglern der Karibik auszeichnen. Zudem musste er sich in eine enge, fast verwandtschaftliche Beziehung zum Caudillo begeben, der sich ihm unterstellte – aber zugleich dessen Befehlshoheit über seine Klientel stillschweigend anerkennen. Páez behielt das Kommando über „seine“ Llaneros. Diese drei Elemente: europäische Staatsutopie in Form einer Verfassung, die theoretisch das Gewaltmonopol über ein Territorium (Republik) und seine Menschen (Nation) beaspruchte, komplizierte informelle Kandidatur des obersten Anführers und Anerkennung klientelistischer Unterstrukturen im theoretischen Gewaltmonopol, markierten seither die Traditionen in der Geschichte von Macht und Herrschaft in Venezuela. Llaneros und Unabhängigkeit „Páez sí lo deseaba, que al oir, ya cano y viejo, renovarse la lucha de la América en la isla [de Cuba], ¡volvió a pedir su caballo y su lanza! ¡Oh, llanero famoso! Tú erraste luego, como yerra el militar que se despoja, por el lauro venenoso del poder civil ... tú te dejaste seducir por el Michael Zeuske/Venezuela Seite 281 13.05.2016 poder ... pero jamás fuiste cruel, ni derramaste para tu provecho la sangre de los tuyos, ni deprimiste ... el carácter de los tuyos”! 721 Ein patriotisches Heer unter kreolischer Kontrolle war nicht aus dem Boden zu stampfen. Seit Anfang 1818 musste Bolívar vor allem quasi-autonome Guerrilla-Milizen in sein Konzept der Verteidigung der Hinterlandsrepublik und des Angriffs auf die Truppen Morillos einbinden. Das machte seine Pläne in gewissem Sinne von den Milizen abhängig, ein Problem, das Bolívar, weltläufiger und kosmopolitischer Aristokrat, nicht gefiel, aber er meisterte die schwierige Diplomatie besser als etwa Morillo, der selber aus einer armen spanischen Bauernfamilie stammte. Mit José Tadeo Monagas, dem Anführer von Llaneround Indioguerrillas im Oriente, nahm er die traditionellen Beziehungen von padrino und ahijado (Gevatterschaft) auf – so wie es auch Páez mit seinen Llaneroanführern machte.722 Bolívar bevorzugte die Offensive. Das zeigt, dass er Angostura wirklich nur als Provisorium sah. So unternahm Bolívar Eilmärsche, um Anfang 1818 zum Apure zu gelangen und seine Truppen mit den Llanero-Milizen zu vereinen, als dessen Anführer sich seit 1816 José Antonio Páez gegen Offiziere aus der kreolischen Elite durchgesetzt hatte.723 Die Llaneros wählten ihre Anführer; Páez nannten sie bald tata – eine Statusbezeichnung für Älterer, Vater oder Priester mit Wurzeln in der BantuKultur; seine Leibgarde nannte ihn tío (Onkel), auch weil die Beziehungen zwischen Caudillo und Klientel auf individuellen Patenschaftsbeziehungen (compadrazgo) beruhten.724 Bei den Llaneros zählte kein aristokratisches Prestige und kein Kosmopolitismus (und „Staat“ schon gar nicht) – nur die rauen Kraftproben der Männer und das Charisma des persönlichen Beispiels. Bolívar war sich nicht zu schade, die harten Wettkämpfe der Llaneros mitzuspielen – eben Martí, José, “Prólogo”, in: Páez, José Antonio, Autobiografía del general José Antonio Páez, 2 Bde., Bogotá: Editorial Bedout S.A., o.J. (Facsimile des Originals), Bd. I, S. 5-10, hier S. 10. 722 Castillo Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, S. 17-23, hier S. 20. 723 Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 79. 724 Ebd., Bd. I, S. 145. 721 Michael Zeuske/Venezuela Seite 282 13.05.2016 um sich als fähiger und charismatischer Anführer zu präsentieren. Er schwamm mit gefesselten Händen über einen Fluss. Damals konnte außer den Llaneros, die das für ihr Überleben brauchten, in Venezuela kaum jemand schwimmen. Bolívar ritt wilde Pferde. Er zeigte auch, dass er über drei Pferde springen konnte. Ob Bolívar auch gesungen hat, wissen wir nicht. Es ist aber anzunehmen. Abends tanzte er – Bolívar war bekannt als unermüdlicher Tänzer und Unterhalter. Páez stellt sich in seiner Autobiographie als „Obersten Chef“ an der Spitze eines „Heeres unbesiegbarer Männer“ dar, dessen wirtschaftliche Basis eine Million Rinder und 500 000 Pferde, davon 40 000 in Korrälen725, bildete. Páez verfügte auch über eine Flotte von bongos726 (sehr leichte Boote aus Rinderhäuten über einem Holzgestell) und eine Hilfstruppe von 300 Indios mit Pfeil und Bogen – im Grunde eine Truppe zur Amphibienkriegführung in den Llanos mit eingeborenen Scouts; Bolívar nannte die Llaneros caballería de agua (Wasserkavallerie).727 Über das Problem des Eigentums schreibt Páez nur: „Dort am Apure kam ich auch dazu, alle Güter jener Provinz zu besitzen, die ihre Einwohner auf generöse Weise zu meiner Disposition gestellt hatten“.728 Zu dem Eigentum, dass die Bewohner der Llanos unter Páez Kontrolle gestellt hatten „gehörten auch ihre Sklaven, die ich [Páez] für frei erklärte“.729 Unter diesen Worten verbergen sich grundsätzliche Eigentumsformen und -auffassungen; die der gemeinsamen Nutzung des Viehs durch die freien Llaneros und die des geschriebenen Privateigentums in „römischer“ Tradition, vor allem des Eigentums der kleinen und großen Viehhalter. Páez’ Stärke gegenüber diesen Privateigentümern im Sinne des römischen Rechts ergab sich aus der Bedrohung, die er an der Spitze der freien Llaneros ausüben konnte. Gleichzeitig bestand für ihn die Möglichkeit, seine Kämpfer, Unterführer der Guerrilla oder etwa Leute aus seiner Leibwache, in den 725 Ebd., S. 135. Ebd., S. 131. 727 Ebd., S. 141. 728 Ebd., S. 131. 729 Ebd., S. 130. 726 Michael Zeuske/Venezuela Seite 283 13.05.2016 Rang von legitimen Eigentümern zu erheben. Deshalb auch das starke Interesse des Llanerochefs an der Sicherung seiner Stellung eines „obersten Verteilers“ durch das „Gesetz über die Verteilungen“. Zu den ehemaligen Sklaven, die befreit worden waren, gehörte auch Pedro Camejo (San Juan de Payara, 1790 – Carabobo, 1821), genannt el negro primero, einer der besten Reiter und Lanzenkämpfer.730 Bolívar und der schwarze Llanero sollen 1818 ein legendäres Gespräch geführt haben. Der ehemalige Sklave aus der Leibwache von Páez erzählte Bolívar, warum er zunächst bei den Royalisten gekämpft habe: „Ich hatte gemerkt ..., dass alle Welt ohne Hemd und ohne eine Peseta in den Krieg ging und danach mit einer sehr hübschen Uniform bekleidet und mit Geld in der Tasche zurückkehrte. Da wollte ich auch gehen, um das Glück zu suchen und vor allem drei Sattelzeuge aus Silber ... Die erste Schlacht, die wir mit den Patrioten führten, war die von Araure: sie hatten mehr als 1 000 Männer ... wir hatten viel mehr Leute und ich rief, man sollte mir irgendeine Waffe geben, mit der ich kämpfen könne, denn ich war sicher, dass wir siegen würden. Als ich glaubte, dass der Kampf zu Ende sei, stieg ich von meinem Pferd und ging, um einem ausgestreckten und toten Weißen einen sehr hübschen Kasak auszuziehen.” Der Neger gehörte zu den Truppen des gefürchteten Anführers einer royalistischen Guerrilla Yáñez (? Kanarische Inseln – Osorio, Portuguesa, 1814)731, genannt Ñaña. Als ihn einer der Royalisten mit „schlechten Augen” ansah, erschien es Pedro Camejo „besser zu fliehen und an den Apure zu gehen”. Bolívar fuhr fort: „Man sagt, daß sie dort die Kühe töteten, die ihnen nicht gehörten”. „Aber natürlich”, antwortete der Neger, „und wenn nicht, was sollte ich essen? Zu guter Letzt kam der Mayordomo [„Verwalter“, das ist Páez; jegliche Chefs wurden von den Sklaven so genannt - M.Z.] zum Apure und zeigte uns, was das Vaterland war und das die Diablocracia [wörtlich Teufelsherrschaft – für Mantuanos – M.Z.] 730 Rojas, Arístides, El Negro I., Caracas: Tipografía de La Opinión Nacional, 1891; Solorzano, Carlos F., El Negro Primero, Caracas: Ediciones Sesquicentenario de la Batalla de Carabobo, 1971. 731 José Yáñez gehörte zu einer Gruppe aus den Milizen oder aus dem Zivilleben aufgestiegener monarchistischer Offiziere meist kanarischer Abstammung, die den Krieg seit 1812 in der Art eines Bürgerkrieges - sehr grausam führten; zur Gruppe gehörten u.a.: Boves, Francisco Javier Cervériz, Francisco Rosete, Eusebio Antoñazas, Antonio Zuazola, Antonio Puig, genannt Puy, sowie Pascual Martínez. Diese Art von Kriegführung veranlasste Bolívar zur Erklärung der Guerra a Muerte. Michael Zeuske/Venezuela Seite 284 13.05.2016 keine schlechte Sache ist und von da an diene ich den Patrioten”.732 Das Gespräch zwischen Pedro Camejo und Bolívar reflektiert nicht nur die konkreten Interessen ungebundener (männlicher) Sklaven und das Aufnehmen der Patria-Idee durch Teile der Llaneros, sondern auch die spezifische Mentalität der ehemaligen Negersklaven. Camejo fiel 1821 in der Entscheidungsschlacht von Carabobo – heute gehört er als el Negro Primero zu den legendären Helden der Volkskultur und findet sich sogar auf den Hausaltären der Volksreligion (wie auch Bolívar, allerdings ein sehr „farbiger“ Bolívar) – el negro primero ist Teil der Folklore, in der auch ein Hugo Chávez aufwuchs.733 Der Bezug auf die kindliche Sprache des Ersten Negers gehört zur rassistischen Folklore des venezolanischen Bolívarkults. Pedro Camejo sei, kurz bevor er auf dem Schlachtfeld von Carabobo starb, zu Tata Páez gekommen sein und habe sich mit den Worten verabschiedet: „Mi general, vengo a decirle adiós porque estoy muerto [Mein General, ich komme, um Ihnen Adieu zu sagen, denn ich bin [gerade mal] tot]“734 – das Sprachspiel mit kastilischer Grammatik soll die „liebenswürdige“ Primitivität unterstreichen. Páez fährt fort, dass ihn „seine Leute“ wie einen „Vater liebten“ und er eine „allgewaltige Autorität“ ausübte. Diese war ihm durch die „Revolte von Trinidad de Arichuna“ (1816), einer spontanen Erhebung von Llanero- und Pardooffizieren, die sich gegen eine kreolische Führungsgruppe richtete, verliehen worden. Die Llaneros hoben Páez auf den Schild. Der in den Worten der Autobiographie deutlich werdende Legitimierungsdrang des Llanerochefs ergab sich nicht zuletzt aus dem Bemühen, diese „Revolte“ zu rechtfertigen, wie auch aus der Tatsache, daß er in der militärischen Demokratie der Llaneros durchaus ebenso „abgewählt“ werden konnte und sich außerdem gegen andere Guerrillachefs durchsetzen mußte. So ist die Darlegung von Páez zu verstehen, er hätte 1818 „ohne einen Moment zu zögern“ Bolívar als Oberste Autorität anerkannt. Die starken Tendenzen unter den Llaneros, sich als autonome Milizen zu konstituieren, konnte Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 213-215. Pollak-Eltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, in: Anales del Caribe: Centro de Estudios del Caribe 19-20, La Habana (1999-2000), S. 187-191. 734 Blanco, Eduardo, Venezuela heroica, Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1981, S.; 732 733 Michael Zeuske/Venezuela Seite 285 13.05.2016 Páez aber nicht völlig außer Acht lassen: „Sie zeigten große Zufriedenheit, dass sich dieser [ Bolívar – M.Z.] in Guayana befand; aber als ich ihnen davon sprach, dass ich ihn als Chef anerkennen würde, machte mir der größte Teil des Heeres und der Emigrierten die Beobachtung, dass, als man mir in Trinidad de Arichuna den obersten Befehl übergab, man mich nicht ermächtigt habe, ihn an eine andere Person zu delegieren, sie glaubten mich nicht zu diesem Schritt autorisiert.“735 Páez unterstellte sich Bolívar – formal. Er gibt drei Gründe an: die militärischen Fähigkeiten Bolívars, das „Prestige seines Namens“, „schon bis ins Ausland bekannt“ und seine Überzeugung, dass es eine höchste Autorität und ein Zentrum, das die verschiedenen Caudillos lenken könne, geben müsse.736 Das Verhalten von Páez 1818 und die Interessen des Llaneroführers lassen allerdings den Schluß zu, dass es ihm wohl um Prestige und Autorität Bolívars ging - soweit es seinen Interessen entsprach. Daniel Florencio O’Leary hatte ein klares Urteil über die Autonomie von Páez: „ … las tropas de Apure eran más bien un contingente de un estado confederado que una división de su ejército […] Páez, acostumbrado á ejercer su voluntad despótica y enemigo de toda subordinación [die Truppen vom Apure waren eher ein Kontingent eines verbündeten Staates als eine Division der Heeres ... Páez, gewöhnt an die Ausübung seines despotischen Willens und Feind jeder Unterordnung]”.737 Am Text von Páez’ Autobiographie ist nachzuvollziehen, wie sich Páez bei der Artikulation seiner Interessen wohl schon damals „Fahnenworte“ der Unabhängigkeitsbewegung vor allem des Begriffs patria (Vaterland) bediente: „Ich organisierte am Apure ein Kavallerieheer“, schreibt er, welches „in großen Teilen aus jenen grausamen und mutigen Zambos, Mulatten und Schwarzen zusammengesetzt war, die die Armee von Boves bildeten“.738 „Sie waren einst die Geisel der Patrioten ... Wer glaubte jemals, daß diese Männer, durch einige Schreiber als Wilde qualifiziert, die gewohnt waren, den Namen des 735 Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 136. Ebd., S. 136f. 737 O’Leary, Memorias …, Bd. XXVII (O’Leary, Narración Bd. I), S. 453. 738 Díaz, José Domingo, Recuerdos sobre la rebelión de Caracas, Madrid: D. León Amarita, 1829, S. 324; Solorzano Márquez, Carlos F., El Negro Primero, Caracas: Ediciones Sesquicentenario de la Batalla de Carabobo, 1971. 736 Michael Zeuske/Venezuela Seite 286 13.05.2016 Königs wie den einer Gottheit zu verehren, jemals die Sache, die sie heilig nannten, hätten verlassen können, um der des Vaterlandes zu folgen, ein Name, der für sie keinerlei Bedeutung hatte“.739 In Wirklichkeit befehligte Páez zu diesem Zeitpunkt etwa 1000 Reiter und 300 Fussknechte; Bolívar rund 3500 Mann, davon etwa 750 Mann Leibgarde. Wichtig für die politische Kultur Venezuelas ist das Zitat der Beobachtungen eines englischen Offiziers, das Páez in seine Autobiographie aufgenommen hat: „No tienen ningún respeto por sus oficiales superiores; para ellos todos son iguales; pero no por eso dejan de obedecer aus órdenes en el campo de batalla cuando saben quepuede costarles la vida el mirarlas con indiferencia. En esto consiste, á mi ver, toda su disciplina; pues fuéra del campo son sucios, desordenados, ladrones, y tratan á los oficiales, que en verdad no son mejores que ellos, con la misma libertad con que se tratan los unos á los otros. Era muy comun ver á unos de estos bribones acercarse al general Páez, llamarle tio ó compadre y pedirle lo que necesitaba, seguro de que el buen corazon de este no se negaria á concederle lo que pedia [...] Cuando hay algo que les interesa muy particulamente y sobre todo cuando estan enamorados, los llaneros se expresan en coplas improvisadas [Sie haben keinen Respekt vor ihren höheren Offizieren; für sie sind alle gleich, aber deswegen folgen sie nicht etwa ihren Befehlen auf dem Schlachtfeld nicht, wenn sie wissen, dass es ihnen das Leben kosten kann, wenn sie sie [die Befehle] nicht befolgen. Darin besteht meiner Meinung nach all ihre Disziplin; denn außerhalb des Feldes sind sie schmutzig, ungeordnet, Räuber und behandeln ihre Offiziere, die in Wahrheit nicht besser sind als sie selbst, mit der gleichen Freiheit mit der sie sich gegenseitig behandeln. Es war durchaus normal, zu sehen, wie sich einer dieser bribones [Landstreicher] dem General Páez näherte, ihn tio oder compadre [Gevatter] nannte und ihn um etwas bat, was er brauchte, sicher dass das gute Herz dieses sich nicht weigern würde ihm das zuzugestehen, um was er gebeten hatte […] Wenn es etwas gibt, was sie besonders interessiert und vor allem, wenn sie verliebt 739 Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 135. Michael Zeuske/Venezuela Seite 287 13.05.2016 sind, drücken sich die Llaneros in improvisierten Coplas aus, die Verse sind normalerweise sehr opportun und in ihrer Bedeutung der Situation sehr angepasst]“.740 Ein schottischer Freiwilliger schrieb, dass die Wildheit, die man Páez im Kampf nachsagte, von „schweren epileptischen Anfällen“ herrührte.741 Nach einer gelungenen Miniatur über die Person und das Aussehen des „Stadtmenschen“ Bolívars, die erkennen lassen, dass der Llaneroführer seine Fähigkeiten der genauen Beobachtung und der erzählenden Darstellung nie verloren hat, gibt Páez eine idyllisierende, aber in ihrer typologisierenden Art stimmige, Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kreolen und Llaneros. Darin mangelt es nicht an Selbstbewußtsein, das die in Europa verbreitete hierarchische Perspektive des „oben – unten“ völlig vermissen läßt. Viel stärker aber tritt der Kulturunterschied hervor: „Man kann sagen, daß sich dort zwei zur Kriegsführung unbedingt notwendige Elemente vereinigt sahen: die intellektuelle Kraft, die leitet und die Pläne organisiert und die materielle, die sie zu dem vollendeten Ergebnis führt, Elemente, die sich gegenseitig helfen und von denen eine nichts kann ohne die andere. Bolívar brachte die Taktik mit sich, die man in den Büchern lernt und die er schon auf den Schlachtfeldern in Praxis gesetzt hatte: wir für unseren Teil machten uns daran, die Erfahrung zu verleihen, an Orten erlangt, wo es sich nötig macht, auf jeden Schritt die vorher konzipierten Pläne zu ändern nach den Modifikationen des Terrains, in dem man operierte“.742 Mit Textstellen dieser Art erweist sich die „Autobiographie“ als hochinteressantes document humain, aus dem das ungebrochene Selbstbewußtsein einer eigenständigen Kultur spricht, allerdings zunächst verdeckt durch den nach 1830 konstruierten PáezPersönlichkeitskult der kreolisch-patriotischen Historiographie (und den Bolívarkult). 740 Ebd., S. 148. Alexander, Alexander, The Life of Alexander Alexander; Written by himself and ed. by Howell, John, 2 Bde., Edinburgh: Blackwood, 1830, Bd. II, S. 78f.; zu Alexander Alexander siehe: Brown, Matthew, “The Life of Alexander Alexander and the Spanish Atlantic, 1799-1822”, in: Williams, Caroline A. (ed.), Bridging the Early Modern Atlantic World. People, Products, and Practices on the Move, Surrey/ Burlington: Ashgate, 2009, S. 203222. 742 Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 141. 741 Michael Zeuske/Venezuela Seite 288 13.05.2016 Im Grunde ist diese Einschätzung der politische Kultur und des Politikstils (vor allem die „Respektlosigkeit“) heute noch gültig, nicht etwa, weil alle Venezolaner wirklich Llaneros oder, wie Chávez, in der Region geboren sowie mit den Erzählungen, Memorien und Coplas aufgewachsen wären oder weil sie alle die Páez-Autobiographie gelesen hätten (viele haben es), sondern weil die orale Kultur der Llanos zu einem Teil des Mythos der Volksreligion im Lande geworden ist und weil die venezolanischen Eliten sich der rüden und zugleich egalitären Militärs aus den Reihen der Llaneros bedienten, wie Bolívar 1818-1821, um die bäuerliche Bevölkerung des Landes unter Kontrolle zu halten. Zugleich war der Bezug auf das Gleichheitsdenken der Llaneros ein tief in den Erzählungen der Bewohner des Landes verwurzelter Kontradiskurs gegen unpopuläre Eliten aller Art.743 Die orale Folklore befand sich auch immer in Wechselwirkung mit der so genannten Hochkultur.744 Ich greife etwa vor, um zu zeigen, dass Bolívar sich der Sprengkraft des karibisch-venezolanischen Gleichheitsdenkens der Llaneros voll und ganz bewusst war und deshalb möglicherweise schon 1821 aus Venezuela verschwand. An Pedro Gual schreibt er 1821: „Das [die Llaneros – M.Z.] sind nicht die Männer, die Sie kennen, es sind die Männer, die Sie nicht kennen: Männer, die lange Zeit gekämpft haben, die sich sehr verdienstvoll, erniedrigt und elend und ohne Hoffnung glauben, die Frucht [das Ergebnis – M.Z.] der Eroberungen ihrer Lanze zu erlangen. Es sind entschlossene Llaneros, unwissend, die sich niemals den anderen Menschen gleich glauben, die mehr wissen und besser erscheinen. Ich selbst, der ich immer an ihrer Seite gewesen bin, weiß noch nicht wozu sie fähig sind. Ich behandele sie mit höchster Bewunderung; und nicht einmal diese Bewunderung reicht aus, um ich ihnen das Vertrauen und die Freizügigkeit, die unter Waffengefährten und Mitbürgern herrschen sollte, zu inspirieren. Überzeugen Sie sich, Gual, dass wir uns über einem Abgrund Hier ist auch „Hugo Chávez als kulturelles Phänomen“ in historischer Tiefendimension einzuordnen, siehe: Acosta Saignes, El llanero en su copla, Caracas: Corpoimpre, 1979; Pollak-Eltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, S. 187-191; Diehl, Oliver, „Hugo Chávez – Charisma als soziokulturelles Phänomen“, in: Diehl, Oliver; Muno, Wolfgang (eds.), Venezuela unter Chávez – Aufbruch oder Niedergang?, Frankfurt am Main: Vervuert Verlag, 2005, S. 57-83. 744 Almoina de Carrera, Pilar, El héroe en el relato venezolano, Caracas: Monte Ávila, 1990. 743 Michael Zeuske/Venezuela Seite 289 13.05.2016 befinden, oder besser, auf einem Vulkan kurz vor der Explosion. Ich fürchte den Frieden mehr als den Krieg und damit gebe ich Ihnen die Vorstellung von all dem, was ich nicht sage, was man nicht sagen kann“.745 Im Grunde eine Prophetie, geboren aus der Erfahrung, die in groben Linien die Funktion der Llaneros und des Apure als „soziales Pulverfass“ für die nächsten hundert Jahre umschreibt.746 Die Eliten mussten dagegen einen ihnen sehr schwer fallenden Populismus gegenüber einzelnen Führern der Llaneros einerseits und andererseits eine mächtige Kulturund Ideologieformation entwickeln, die sich am besten mit „Zivilisation“ (der Städte) gegen „Barbarei“ (des Landes) umschreiben lässt. Der Gott dieser Zivilisation wurde Bolívar; in den riesigen Lücken zwischen den rationalen Kalkülen des Kartesianismus und den unteren Volksschichten breiteten sich prophetische Besessenheitskulte aus, die auch historische Persönlichkeiten in ihre Pantheone aufnahm.747 Als Bolívar und Páez sich im Januar 1818 am Hato von Canafístola trafen, nutzte der Llanerochef die Möglichkeit, dem Aristokraten den militärischen Wert seiner Reiter-Truppen und ihre Kampfesweise vorzuführen. Die hungrigen Männer aus den Truppen Bolívars konnten nicht schwimmen. So waren sie nicht in der Lage, den Apure zu überqueren, an dessen anderem Ufer Rinder weideten. Die Spanier hielten flecheras (bewaffnete Boote) auf dem Fluß. Páez gab seiner Ehrengarde ein Zeichen und wies sie mit den Worten ein: „wir müssen uns dieser Flecheras bemächtigen oder sterben. Folgen diejenigen ihrem Onkel, die wollen“.748 Eine deutliche Demonstration des informellen Systems von Gehorsam sowie der Mentalität und der bedingungslosen Unterordnung der Llaneros unter ihren Besten im Kampf. Die Llaneros schwammen hinter Páez her, die Lanze zwischen den Zähnen und eine Hand an der Mähne des Pferdes, mit dem anderen Arm ruderten sie. Dabei stießen sie Schreie aus, um die Kaimane zu vertreiben. 745 Bolívar, Brief an Pedro Gual aus Guanare, 24. Mai 1821, in: Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Publicaciones Reunidas, S.A., 1982, Bd. I, S. 559f. 746 Izard, “El polvorín apureño”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 97-101. 747 Pollak-Eltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, S. 187-191. 748 Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 145. Michael Zeuske/Venezuela Seite 290 13.05.2016 Als sie die Boote erreicht hatten, erkletterten sie die Rücken ihrer Pferde und sprangen von dort aus an Bord der feindlichen Boote. Nach kurzem Kampf waren die Boote in ihrer Hand. Wie aus vielen Quellen hervorgeht, hielten Ausländer die Llaneros für einen „Stamm von Eingeborenen” und beschrieben ihre irreguläre Guerrillakampfweise, die Reiter-Überfälle und die „große Metzelei”, die sie unter den Feinden anrichteten. Auf die militärischen Traditionen des Kampfes gegen den Norden weisen auch die Äußerungen von Páez zur Rekrutierung und zum Sold hin: „Sie tragen sich als Milizionäre in die Rolle ein, aber erhalten keine andere Bezahlung als den Teil der Beute, der ihnen in der Schlacht zukommt”.749 Ideologie und Werte der Patrioten spielten unter den Llaneros bis 1816 keine oder eine verschwindend geringe Rolle. Páez präsentierte sich 1818 als ein Praktiker des Guerrillakrieges, der wegen der sozialen Interessen der Llaneros, aber auch wegen der eigenen Ambitionen, die „napoleonische” Vernichtungsstrategie Bolívars gar nicht mittragen konnte. Aber er wollte es auch nicht. Páez mußte mit dem Grundinteresse seiner Leute an diesem Krieg rechnen, der ihrer Lebensweise und ihren spezifischen Kulturen weite Freiräume bot. Die Llaneroführer hielten sich der kreolischen Offizierselite 1818 für überlegen. Páez beanspruchte den Oberbefehl über alle Llanero-Einheiten für sich (hatte ihn aber auch nicht effektiv), nicht nur, weil er Bolívars Plan, seiner Campaña del Centro (im Grunde ein Vorstoß aus den Llanos am Apure direkt von Süden auf Caracas) Morillo in Calabozo einzuschließen und sofort weiter nach Caracas zu marschieren, zu Recht für einen Kapitalfehler hielt. Ein Glückscoup gelang 1818 nicht, trotz einiger erstaunlicher Erfolge der Patrioten. Die spanischen Truppen, fast alles Veteranen der napoleonischen Kriege, vereinigten sich unter Morillo im Bergland bei den bizarren Klippen von San Juan de los Morros und Villa de Cura, das „Tor der Llanos“ nördlich von Calabozo die Hauptstadt Caracas gegen die Ebenen schützte.750 Bolívar, der 749 750 Ebd., S. 147. Páez, “Los Morros”, in: Páez, Escenas rústicas ..., S. 33-38. Michael Zeuske/Venezuela Seite 291 13.05.2016 ungeduldig war, Caracas zu erobern, entschloss sich, den Spanier nach Norden entgegenzuziehen. Nach mehreren Gefechten kam es bei El Semen, einem kleinen Ort, am 16. März 1818 zur Schlacht (batalla de la Puerta). Die Schlacht endete nach verlustreichen Kämpfen mit einer Katastrophe für die Patrioten. Eine schwere Verletzung Morillos, dem eine púa (Lanzenspitze, Lanze=garrocha), der Legende nach geführt von José Gregorio Monagas, den Leib durchbohrt hatte und hohe Verluste auch der royalistischen Seite hinderten die Spanier an einer Verfolgung. Die Niederlage und Flucht sowie die Desertionen seiner Leute waren eine Katastrophe für Bolívar; er verlor auch sein gesamtes Archiv, das dann vom persönlichen Sekretär Morillos, José Domingo Díaz, für seine Schriften (vor allem für die Recuerdos sobre la rebelión de Caracas – „Erinnerungen an die Rebellion von Caracas“) benutzt wurde. Einige hohe patriotische Offiziere hatten sich ergeben und wurden von den Royalisten zur Abschreckung sofort erschossen.751 In Caracas kam es unter dem Eindruck der Nachrichten über Bolívars Vormarsch zunächst zu einer Panik unter der Stadtbevölkerung. Viele sahen Bolívar als einen neuen Boves an der Spitze der Llaneros in die Stadt einrücken. Erst Siegesmeldungen Morillos beruhigten die Lage, was ein Urteil über den Bewußtseinsstand der Mantuanos von Caracas, aber auch über die Wirkung der Erfahrungen von 1814, zuläßt. Ferdinand VII. ernannte Morillo, den vom einfachen Marineinfanteristen aufgestiegenen General, zum Marqués de la Puerta. Das Gelände von La Puerta war Bolívar bereits 1814 zum Verhängnis geworden. Die Spanier glaubten ernsthaft, die Laufbahn des Rebellenchefs sei endgültig beendet. Dieser Lesart schlossen sich die Krone, die öffentliche Meinung in Spanien und die internationale Öffentlichkeit an. Morillos wie Bolívars Einschätzungen der Schlacht von El Semen (so nannten die Patrioten die Schlacht) lassen erkennen, dass die militärische Erfahrung, Disziplin, Routine und Qualität der royalistischen Infanterietruppen 751 Quintero Saravia, “Batalla de La Puerta”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 384-404. Michael Zeuske/Venezuela Seite 292 13.05.2016 über Mut und Ungeduld der patriotischen Milizen sowie der Llanero-Reiter gesiegt hatten. Es war aber mehr – die Llaneros hatten sich geweigert, Bolívar in das ihnen unbekannte Berggelände hinter El Sombrero, San Juan de los Morros, dem Tal von La Puerta und Villa de Cura, dem Tor zwischen Llanos und Valles de Aragua, zu folgen. Páez hatte nichts gegen die Disziplinlosigkeiten und Desertionen seiner Leute getan. Wohl auch, weil er, wie alle weitgehend autonomen Guerilla-Anführer ahnte, dass Bolívar mit einem Sieg über Morillo und Caracas die militärische Oberhoheit über die Guerillas und die Milizen beanspruchen würde. Die Regenzeit setzte im Mai 1818 dem Feldzug ein Ende. 1818 wurde zu einem Jahr des Patts zwischen Morillo und Bolívar. Bolívar organisierte, nun mit Hilfe ziemlich vieler Ausländer (wie dem irisch-katholischen Militärchirurgen Richard Murphy oder dem Brasilianer Abreu y Lima752), sowohl eine neue Armee, wie auch einen Staat. Er hatte begriffen, dass die Caracas-Strategie gescheitert war. Bolívar musste ernst machen mit dem Armee-Staat im Hinterland von Guayana. Vor allem bedurfte der ambulante Staat einer neuen Legitimation; den Bolívar wohl schon Ende 1818/Anfang 1819 darin sah, mit den alten kolonialen Bezeichnungen (wie Venezuela oder Neu Granada) zu brechen und dem neuen Staat auch wirklich einen neuen Namen zu geben – Colombia, die alte Idee Mirandas. Ein verfassungsgebender Kongreß wurde nach Angostura einberufen. In der Idee des Kongresses und eines durch ihn begründeten Staates wird die Tradition des iberischen und europäischen Liberalismus deutlich. Eine Reihe von Kreolen kam aus der Emigration nach Angostura. Zwischen Trinidad und der Pariaküste fuhr 1818 das erste steamboat, wohl ein nordamerikanisches Dampfschiff.753 Wahlen, Vorbereitungen und Ausbau des Heeres sowie die Begründung einer neuen politischen Medienkultur (Zeitung: Correo del Orinoco) dauerten bis Anfang 1819; Bolívar und viele Nucete-Sardi, José, “El brasileño Abreu y Lima, de los “Libertadores de Venezuela”, en las armas y las letras”, in: BANH Nr. 207, Caracas (Julio-septiembre 1969), S. 511-514. 753 Ugueto, “El primer buque a vapor y la fortuna del almirante”, in: Díaz Ugueto, Manuel, Luis Brion, almirante de la libertad …, S. 69-72. 752 Michael Zeuske/Venezuela Seite 293 13.05.2016 patriotische Militärs erhielten vor allem aus Großbritannien Kredite, um Waffen kaufen und Sold an ausländische Offiziere zahlen zu können.754 Der Kongreß von Angostura, die Andenüberquerung und die Gründung GroßKolumbiens „La Esclavitud es la hija de las tinieblas [Sklaverei ist die Tochter der Finsternis]“. 755 Am 15. Februar 1819 trat der in den Gebieten unter patriotischer Militärkontrolle gewählte Kongreß von Angostura zusammen. Die Wahlregeln hatte Bolívar im Munizipalgesetz sowie in einem Wahlreglement von Ende 1818 festgelegt.756 Der Kongress sollte die bisherigen Dekrete und Taten Bolívars beurteilen und eine Verfassung verabschieden. Damit nahm Bolívar, der als militärischer Jakobiner zur Not auch sehr gut ohne breitere Legitimation auskam, die demokratischen und föderalen Bestrebungen seiner kreolischen Kampfgefährten auf. Aus den militärischen Erfahrungen und aus den Lokaltraditionen der pueblos sollte politische Praxis werden – geregelt durch eine Verfassung liberalen Zuschnitts.757 Es war aber mehr: als ob sich ein Wiedergänger der Geschichte in die Worte und Ideen der Aufklärung verkleidet hätten, wurde auf dem Kongreß die alte Ideen der Gobernación de El Dorado y de los Llanos mit Anbindung an Neu Granada einerseits, an die Karibik und den Atlantik (Trinidad, Haiti, Margarita) andererseits wiederbelebt – was gleichzeitig Kellenbenz, Hermann, “La región del Caribe en la primera fase de la Independencia 1815-1830”, in: Liehr, Reinhard (ed.), América Latina en la época de Simón Bolívar. La formación de las economías nacionales y los intereses económicos europeos 1800-1850 (Biblioteca Ibero-Americana, ed. Briesemeister, Dietrich, vol. 33), Berlin : Colloquium Verlag, 1989, S. 453-464 ; Liehr, “La deuda exterior de la Gran colomia frente a Gran Bretaña 1820-1860”, in: Ebd., S. 465-488; Walter, Rolf, “German and U.S. American Commercial Relations with Venezuela, 1810-1830”, in: Ebd., S. 439-452. 755 Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], 15. Februar 1819, in deutscher Übersetzung: König, Hans-Joachim (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Belisario Betancourt; Hamburg: Institut für Iberoamerika-Kunde, 1984, S. 47-59, hier S. 49. 756 Bolívar, “Reglamento para la segunda convocación del congreso de Venezuela”, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador, Cuatricentenario de la Ciudad de Caracas, Caracas, 1981, Bd. XIV, S. 438-455 (Doc. 3406). 757 Hébrard, “La constitution d’Angostura: mise en pratique politique de l’experience militare”, in: Hébrard, Le Venezuela Indépendant …, S. 168-213. 754 Michael Zeuske/Venezuela Seite 294 13.05.2016 die abgrundtiefe Spaltung des Landes zwischen Küste (und Anden) sowie Llanos (und Guayana) symbolisierte und vertiefte. Bolívar war gewillt, die Kontinantalidee Mirandas in abgewandelter Form (wie er es in der Carta de Jamaica enwickelt hatte) in Form des Staates Colombia (Kolumbien, von Historikern, um es vom heutigen Kolumbien zu unterscheiden „Groß“-Kolumbien – la Gran Colombia – genannt) vom Kongreß beschließen zu lassen.758 Die sechsundzwanzig Abgeordneten des Kongresses stammten aus den Kreisen ziviler Intellektueller und Rechtsanwälte, die sich den Patrioten seit 1817 angeschlossen hatten. Aber es nahmen auch höhere Militärs teil, meist aus oligarchischen Familien. Soldaten übten also Wahlrecht aus.759 Bolívars Rede zur Eröffnung des Kongresses ist das wichtigste Dokument revolutionärer Rhetorik der Independencia.760 Die politische Symbolhandlung war hervorragend inszeniert; Bolívar lagen solche rituellen Auftritte. Seine Rede von Angostura Bolívar hatte sie im Kanu oder im Sattel auf dem Marsch zwischen Apure und Angostura seinen Schreibern diktiert - stellte eine charismatische Botschaft an die Generation der Revolutionäre dar, die auf die Vermittlung von Identität zielte. O’Leary berichtet: „Das Auditorium, zutiefst berührt, vergoß bei einigen Passagen Tränen“.761 Francisco A. Zea wurde, nachdem Bolívar mit gezogenem Säbel symbolisch die nationale Souveränität an den Kongreß zurückgegeben hatte, zum provisorischen Staatspräsidenten gewählt. Der Staatspräsident nahm auf dem Präsidentensessel unter der Nationalflagge mit den acht Sternen Platz, auf dem zuvor Bolívar gesessen hatte, während dieser zu den anwesenden Militär sprach: „Meine Herren Generale, Chefs und Offiziere, meine Waffengefährten: wir sind Perazzo, Nicolás, “La Colombia del Libertador: su origen, función y desintegración”, in: Boletín de la Academia Nacional de la Historia Vol. LXIII, No. 251 (1980), S. 573-581. 759 Grases, Pedro (ed.), Actas del Congreso de Angostura (Febrero 15, 1819 - Julio 31, 1821), prólogo Brice, Angel Francisco, Caracas: Publicaciones del Instituto de Derecho Público, Universidad Central de Venezuela, 1969 (im Folgenden; Actas). 760 Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], Angostura, 15. Februar 1819, in: König (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften …, S. 47-59 (Spanisch: in: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VI, S. 585-598 (Dok. 1483, II)); Harwich Vallenilla, Nikita, „Introducción“, in: Simón Bolívar, Estado ilustrado, nación inconclusa: la contradicción bolivariana/Simón Bolívar, Estado ilustrado, nação inacabada: a contradição bolivariana. Estudio/ Estudo de Harwich Vallenilla, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Ediciones Doce Calles, S.L., 2004, S. 1-61 und S. 83-112 (Dok. Nr. III). 761 O’Leary, Memorias, Bd. XXVII (O’Leary, Narración Bd. I), S. 493-516, hier S. 516. 758 Michael Zeuske/Venezuela Seite 295 13.05.2016 nichts anderes als einfache Citoyens bis auf das der Souveräne Kongreß geruhe, uns in der Klasse und den Graden einzustellen, die er für gut hält. Da ich mit Eurer Unterwerfung rechne, werde ich in meinem und eurem Namen die klarste Probe unseres Gehorsams geben, indem ich ihm den Befehl übertrage, mit dem ich beauftragt war“. Daraufhin präsentierte Bolívar Zea seinen Befehlsstab mit den Worten: „Ich gebe der Republik den Generalstab zurück, den sie mir anvertraut hat. Um ihr zu dienen ist jedwelcher Grad oder Klasse ehrenhaft, zu deren der Kongreß mich bestimmt: darin gebe ich ein Beispiel der Unterordnung und des blinden Gehorsams, die jeden Soldaten der Republik auszeichnen sollten“. Der Präsident wandte sich daraufhin an den Kongreß: „Es scheint, daß die Bestätigung aller Grade und Anstellungen, die von Seiner Exzellenz, dem General Simón Bolívar, während seiner Regierung verliehen worden sind, keiner Diskussion bedarf“. Trotzdem verlangte der Präsident eine offene Akklamation und Bestätigung, die in feierlicher Form gewährt wurde. Der Präsident endete also: „Der Souveräne Kongreß bestätigt in der Person Seiner Exzellenz, dem Generalkapitän Simón Bolívar alle Grade und Anstellungen, die durch ihn während seiner Regierung verliehen wurden“. Daraufhin übergab er Bolívar den Befehlsstab und ließ ihn zu seiner Rechten Platz nehmen. Damit erhielt Bolívar die volle Befehlsgewalt über die Armee zurück und alle seine Maßnahmen sowie die „Verdienste“ der von ihm geführten Armee, aber auch der Angestellten des bisherige politischen Apparates, d.h., auch der Aufstieg der einzelnen Angehörigen der Armee und des Apparates, ihren dem zeitgenössischen Wertsystem entsprechende soziale Positionsänderung, fand die symbolische Anerkennung des Kongresses. In einer Eröffnungsadresse stellte Zea Bolívar in den antik drapierten Denkraum der anbrechenden Moderne: „es verschwinden die Jahrhunderte und Distanzen und wir selbst glauben uns Zeitgenossen der Aristides […], der Kamillus und der Epaminondas. Die gleiche Philanthropie und die gleichen liberalen Prinzipien, die die Chefs des hohen Altertums mit jenen wohltätigen Michael Zeuske/Venezuela Seite 296 13.05.2016 Imperatoren Vespasian, Titus, Trajan [und] Marcus Aurelius vereinigt haben, setzen heute diesen bescheidenen General zwischen sie“.762 Der begnadete Redner Bolívar stellte danach sein Projekt einer Verfassung vor, dass auf Wahl, Teilung der Gewalten, präsidialem Zentralismus, Senat mit Senatoren auf Lebenszeit (Bolívar hatte einen Erbsenat vorgeschlagen; gewählt durch den Kongreß unter den Libertadores) und bürgerlichen Freiheiten beruhte. Bolívar hatte die normalen drei Gewalten Montesquieus auf vier erweitert – die vierte Gewalt sollte die „moralische Gewalt“763 sein, eine Art Wählerplebiszit; diese vierte Gewalt findet sich auch in der neuen bolivarianischen Verfassung von 2000. Bolívar lehnte die Verfassung der USA ab und orientierte sich grob an der Struktur des englischen politischen Systems sowie an der kurzen napoleonischen Verfassung. Der Libertador berief sich auf antike Vorbilder, die Geschichte Spaniens und Amerikas sowie die englische (1640-1649) und französische Revolution (1789-1795). Ziel des Regierungssystems sollte „die größte Summe möglicher Glückseligkeit, die größte Summe sozialer Sicherheit und die größte Summe politischer Stabilität“ sein. Es sollte sich gegen die „undefinierte Freiheit“ und „die Anarchie“ sowie „die absolute Demokratie“ richten und die republikanische Form beibehalten. Zu den Grundlagen der Republik bestimmte Bolívar auch die „Proskription der Sklaverei“. Als seine wichtigsten Maßnahmen in der Zeit seit 1816 bezeichnete Bolívar in Reihenfolge die Aufhebung der Sklaverei, die Schaffung des Ordens der Befreier Venezuelas, die Verteilung von Nationalgütern, die Deklaration der (III.) Republik Venezuela. Er beschwor die Abgeordneten, die Schulden als eine Nationalschuld anzuerkennen, die sich aus Bezahlung, Unterhalt und Ausrüstung des Befreiungsheeres ergab, und die Vereinigung von Neu-Granada und Venezuela zu „einem großen Staat“ zu „Discurso de Zea, Presidente del Congreso“, Angostura, 15. Februar 1819, in: Blanco; Azpurúa, Documentos ..., Bd. VI, S. 599-600 (Dok. 1483, IV). 763 Der “Poder Moral” (eine Art Wählerentscheid) wurde nicht in die Verfassung von Angostura aufgenommen, aber als Anhang zur Verfassung publiziert, um sie bekannt zu machen, siehe: Las constituciones de Venezuela, recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 163-194, hier S. 191-194; siehe auch: Grases, Pedro (comp.), El Libertador y la Constitución de Angostura de 1819, Caracas: Banco Hipotecario de Crédito Urbano, 1970, sowie: Las constituciones de Venezuela, comp. y estudio preliminar de Brewer-Carias, Allan R., Caracas: Academia de Ciencias Políticas y Sociales, 1997. 762 Michael Zeuske/Venezuela Seite 297 13.05.2016 vollziehen. Bolívar bezeichnete ausdrücklich die Ausarbeitung der Gesetze über Sklavenbefreiung und Bodenverteilung als seine Ehrenschuld, obwohl er dem Kongreß keine Vorschriften machen könne und wolle. Auf diese Rede von Angostura gründeten sich ideologische Leitlinien, die die Geschichte Venezuelas und Amerikas geprägt haben und prägen. Aber es ist nochmals zu unterstreichen, wichtiger für die konkrete Situation waren die autoritäts- und loyalitätsfördernde Symbolkraft der rituellen Gesamthandlung und der Festkern sozialpolitischer Interessen der kreolischen Oligarchien, vor allem in der Funktion des Kongresses – gegen die „Anarchie“ einer Revolution der Llaneros und Pardos sowie Sklaven (wie es Bolívar ausdrückte). Während aber Bolívar die strategischen Interessen der kreolischen Hegemonie in Form des Kontinentalismus vertrat, verkörperte der Kongreß einen Ausgleich der konkreten, regionalen und lokalen Interessen der Oligarchien und der sich neu formierenden Teile der herrschenden Militäreliten (bolivarianos, militares). 764 Bolívar selbst war sich darüber klar, dass die „römischen Tugenden“ der Schriftgebildeten eine Dimension der heroische Illusion war, wenn er über Juan Germán Roscio an Santander schreibt: „Roscio es un Catón prematuro en una república en que no hay leyes ni costumbres romanas“. Die Szenen im Kongreß machten tiefen Eindruck auf die kreolischen Zeitgenossen; Llaneros waren nicht anwesend. Am folgenden Tag wählte der Kongreß Bolívar zum Präsidenten der Republik; Zea wurde Vizepräsident, Palacio Fajardo Wirtschafts- und Außenminister (Secretario de Estado de los Despachos de Hacienda y Relaciones Exteriores). Da Krieg herrschte, verlieh der Kongreß dem Präsidenten und dem Oberbefehlshaber außerordentliche Vollmachten. Damit verfügte Bolívar über eine deutlich verbesserte staatsrechtliche Legitimation gegenüber den anderen Militärführern, seinen kreolischen Rivalen und in den Augen der Welt. Diese höhere Wertschätzung seiner Person übertrug sich in vielfältiger Weise (oral, schriftlich, Symboldenken) auf breitere Kreise der 764 Zit. nach: Armas Chitty, Historia del Guárico ..., Bd. II (1807-1974), S. 13. Michael Zeuske/Venezuela Seite 298 13.05.2016 Patrioten. Was die Interessen der kreolischen Oligarchien, vor allem die der Provinz Caracas betraf, so kam der Kongreß bereits am 2. März 1819 auf einen der zentralen Punkte. Der Intendant des Heeres, Deputierter der Provinz Guayana und Duzfreund Bolívars, Fernando Peñalver, beantragte die Überprüfung aller „Gesetze“, die Bolívar in der kongreßlosen Zeit erlassen habe – da er das Tribunal der Konfiskationen und Sequester selbst kontrollierte, meinte er vor allem die Überprüfung der Proklamationen Bolívars über die Aufhebung der Sklaverei. Bolívar überliess die konkrete Arbeit Kommissionen. Er plante einen militärischen Geniestreich, der die Patrioten aus dem Patt - und ihn selbst aus der Abhängigkeit von den anderen Milizführern, Guerrillas und von Páez herausführen sollte. Der einzige wirkliche militärisch-soziale Vorteil, über den die Patrioten unter Bolívar gegenüber Morillo mit seinen spanisch-kreolischen Truppen und seiner Basis in den Küsten- und Andenstädten verfügten, waren Schnelligkeit der Bewegung (Reiterei, Orinokoschifffahrt) von Ost nach West. Aus den Zentralgebieten Neu Granadas, vor allem aus Cundinamarca und Bogotá, kamen Nachrichten, die Bolívar wegen des Terrorregimes von Morillo und dem von ihm eingesetzten Vizekönig Sámano als für die Patrioten günstige Nachrichten interpretierte. Am 23. Mai 1819 befand sich Bolívar mit seinen besten Truppen bereits am Ufer des Apure; er wich dem Nord-Süd-Stoß Morillos aus, traf sich am Casanare mit den Llanero-Truppen unter Befehl des Neogranadiners Santander und verkündete seinen erstaunten Mitstreitern seinen Plan, durch Llanos und über die Anden auf Bogotá vorzustoßen. Páez und die Llaneros hatten sich, wie viele Milizen- und Guerrillaführer, an einen längeren Krieg gewöhnt. Allerdings kontrollierte Páez die geflohenen Neogranadiner und Llaneros am Casanare nicht mehr; die hatten sich Santander untergeordnet.765 Páez lehnte den Zug der Llaneros über die Anden ab, brauchte aber Bolívar, um seine eigene Stellung zu González, Vicente, “Diario de operaciones del cuerpo de ejército confiado al general Francisco de Paula Santander ...”, S. 8-14; Matus Caile, Miguel, Historia de Arauca 1818-1819: consagración de Santander en la epopeya de los llanos, Bogotá: Tercer Mundo Editores, 1992; Thibaut, Repúblicas en armas ..., S. 411-415. 765 Michael Zeuske/Venezuela Seite 299 13.05.2016 sichern (Nachschub, Waffen). Bolívar hatte ihm deshalb von Anfang an die Aufgabe, Morillo hinzuhalten, zugedacht; von den Casanare-Llaneros, die trotzdem mit den Truppen Bolívars über die auch im Sommer kalten Anden zogen, desertierten viele [Karte766]. In Angostura gingen Gerüchte, der „verrückte“ Bolívar sei endgültig gefallen. Nach schweren Anstrengungen und Entbehrungen beim paso de los Andes blieb den erschöpften und halberfrorenen Truppen Bolívars keine Wahl – sie mussten siegen oder sterben. Die spanischen Einheiten gerieten in Panik, als die geisterhaften Gestalten von den Bergen in die Hochebene von Bogotá stiegen; die spanisch-kreolischen Truppen liefen nach einigen Gefechten auseinander. Auch in Bogotá kam es zur Massenpanik. Am 10. August 1819 zogen Bolívar und seine siegreichen Truppen in der Hauptstadt des Vizekönigreiches ein. Das Datum markiert ein klares Vorher und Nachher in der Geschichte der Unabhängigkeitskriege. Bolívar verfügte nun über die Ressourcen Cundinamarcas, eines der reichsten Kernterritorien spanischer Macht im Norden Südamerikas.767 Seit dem 10. August 1819 war Großkolumbien eine Realität – und die oligarchische Provinz Venezuela im Norden quasi von den Karten der Modernität verschwunden, auch wenn die Spanier und königstreue Kreolen die Gebiete noch bis 1821-1823 halten konnten. Bolívar eilte nach Angostura zurück. Die „Constitución de 1819“768, eine Verfassung nur für Venezuela, war hinfällig. Bolívar hatte die Regie in Bogotá seinem Stellvertreter Santander überlassen, der erst einmal eine Gruppe kriegsgefangener spanischer Militärs öffentlich erschiessen liess - aus symbolischer Rache für die Grausamkeiten Morillos. “Bolívar Kampagne 1819” (Kolonialbilder Karten), aus: Bushnell, David, Simón Bolívar. Liberation and Disappointment, New York [etc.]: Pearson; Longman, 2004, S. 105. 767 Quintero Saravia, “Bolívar y la Campaña de Nueva Granada (1819)”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 405-415. 768 “Constitución de 1819”, in: Las constituciones de Venezuela, recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 163-194. 766 Michael Zeuske/Venezuela Seite 300 13.05.2016 Am 17. Dezember 1819 nahm der Kongreß von Angostura auf Bitte Bolívars das Grundgesetz Kolumbiens (ley fundamental) an.769 Das war nur möglich, weil der Libertador in der Gloriole des Siegers von Boyacá in Angostura erschienen war. Damit existierte der neue Staat Kolumbien (Groß-Kolumbien) auch staatsrechtlich. Die Patrioten beherrschten 1819 real das Hinterland Venezuelas (nach Provinzen: Margarita, Teile des Maturín, Guayana, Barinas), ebenso das Llanohinterland Neu-Granadas (Casanare) und die Zentralprovinz Cundinamarca mit Bogotá. Das Grundgesetz Großkolumbiens sollte aber gelten für das gesamte ehemalige Vizekönigreich Neu-Granada, inclusive Panamas, der Presidencia Quito und die ehemalige Generalkapitanie Venezuela oder Caracas; es beinhaltete also eine Verpflichtung zur Befreiung der anderen Territorien. Die staatsrechtliche Formel war der Anschluß: “El soberano congreso de Venezuela, á cuya autoridad han querido voluntariamente sujetarse los pueblos de la Nueva Granada”.770 Die Kriegsschulden, die die einzelnen Republiken oder Militärführer vorher aufgenommen hatten, wurden in solidum als eine einzige Staatsschuld anerkannt, was vor allem die Briten sehr von diesem Staat einnahm (und die Offiziere noch verschwenderischer machte). Deshalb wurde auch José Antonio Zea nach London gesandt, um über Anerkennung und finanzielle Fragen zu verhandeln. Es handelte sich ja vor allem um Schulden, die Bolívar aufgenommen hatte. Administrativ sollte dieses Kolumbien in französischer politischer Sprache in Departements (departamentos) unterteilt sein: Cundinamarca mit der Departementshauptstadt Bogotá (Der Vorsatz „Santa Fé de“ sollte wegfallen), Venezuela mit Caracas und die Präsidentschaft Quito mit der gleichnamigen Hauptstadt. Schon dieser Anklang an die französische politische Kultur des Zentralismus bereitete den lokalen Eliten Kopfschmerzen. “Ley Fundamental de la Unión de los pueblos de Colombia”, Angostura, 17. Dezember 1819, in: Blanco; Azpurúa (eds.), Documentos …, Bd. VII, S. 144-146 (Dokument 1611); Las constituciones de Venezuela, recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 195-197. 770 (noch mal nach schauen) Memorias del General O’Leary, edición facsimilar del original de la primera edición, con motivo de la celebración del Sequicentenario de la Muerte de Simón Bolívar, Padre de la Patria, Ministerio de la Defensa, Caracas, 1981, 34 Bde., Bd. XV, Bd. II (Bd. XVI?), S. 19. 769 Michael Zeuske/Venezuela Seite 301 13.05.2016 Bolívar wurde zum Präsidenten und Francisco de Paula Santander771 sowie Juan Germán Roscio (der bald starb, ebenso wie sein Nachfolger Azuola, so daß für kurze Zeit Santiago Mariño Vizepräsident Venezuelas wurde) zu VizePräsidenten mit Sitz in den jeweiligen Departements-Hauptstädten bestimmt - im Falle von Caracas (dessen Munizipalität die Verfassung erst am 1., 2. und 3. Januar 1822 beschwor) und Quito (Quito beschwor die Verfassung von Cúcuta am 21. August 1822; Guayaquil bereits am 11. und 12. Juni 1822772), sobald diese befreit seien - bestimmt. Die Hauptstadt Kolumbiens, für die Bolívar in der Carta de Jamaica noch den Namen Las Casas in Bahia Honda im heutigen Kolumbien oder Maracaibo ins Auge gefasst hatte773, sollte jetzt ihm zu Ehren Libertador Bolívar (wie die Hauptstadt „Washington“ in den USA) genannt werden – der Bolívarkult setzte ein. Realhistorisch ist dieser Ehrenname nur auf das heutige Bolivien angewandt worden; im Überschwang des Neuen wurde Bolívar auch sein Ehrentitel Libertador bestätigt (in römischen Majuskeln): „BOLIVAR; LIBERTADOR DE COLOMBIA; PADRE DE LA PATRIA; TERROR DEL DESPOTISMO“.774 Als provisorische Staatsflagge war die venezolanische vorgesehen, die sich an der von Miranda orientierte (rot - blau - gelb). Als provisorische Hauptstadt diente das Städtchen Cúcuta im Andengrenzgebiet zwischen Venezuela und Neu Granada. Um all die Provisorien nach dem erwartenden militärischen Siegen endgültig klären zu können, sollte das Grundgesetz von Angostura775 bis 1821 gelten. Dann sollte in Cúcuta ein neugewählter Kongreß (congreso general) zusammentreten und endgültig eine Verfassung erarbeiten. Der Kongreß von Angostura löste sich am 15. Januar 1820 auf, nicht ohne beschlossen zu haben, sich in dem zentral zwischen Neu Granada und Venezuela gelegenen Cúcuta zur Beratung einer „endgültigen“ (so glaubten die Abgeordneten) Verfassung wieder Zu Santander siehe den guten Überblick von Bushnell, David, “Santanderismo y Bolivarismo: dos matices en pugna”, in: Desarrollo económico, Vol. 8, 30/31 Buenos Aires (1968), S. 243-261. 772 Blanco, José Félix; Azpurúa, Ramón (eds.), Documentos para la historia de la vida pública del Libertador, 16 Bde., Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1978, Bd. VIII, S. 430-432. 773 König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 38. 774 Dekret des Kongresses von Angostura vom 14. Januar 1820, in: Ebd., S. 48. 775 Bolívar, Decretos del Libertador ..., Bd. I, S. 173-176. 771 Michael Zeuske/Venezuela Seite 302 13.05.2016 zu treffen. Angostura hinterliess ein großes Provisorium, genannt Colombia, in dem das alte Kolonial-Venezuela auf ein kleines Departement im Norden zusammengeschrumpft war, das zunächst aber nur theoretisch zu Colombia gehörte, denn bis 1821 oder gar 1823 herrschten in den großen Städten der Küste noch spanische Offiziere. Die Guerrilla-Milizen im Hinterland aber verstanden das Signal – viele von ihnen, paradigmatisch Juan der los Reyes Vargas (der zwischenzeitlich von Ferdinand VII. die Auszeichnung cruz de Carlos III bekommen hatte), Anführer von Indios und Llaneros, traten auf patriotische Seite über. Es bestand aber immer die Gefahr, dass Spanien oder die Heilige Allianz in Unterstützung Spaniens, noch einmal Truppen nach Maracaibo, Coro oder Caracas sandten, die karibischen Brückenköpfe waren Kuba und Puerto Rico, wohin auch viele royalistische Kreolen aus Venezuela flohen, wie auch viele Offiziere und Soldaten der spanischen Truppen und der royalistischen Milizen. Der Verfassungsgebende Kongreß hatte in einer militärisch schwierigen Situation ein recht stabiles Provisorium geschaffen. Politisch allerdings war die Verfassung vom Angostura ein zentralistisches Regelwerk, vor allem ein schwieriger Kompromiß mit den regionalen Kräften (worunter in den Köpfen der Abgeordneten auch die kreolischen Oligarchien der Cabildos der Küstenstädte rechneten, obwohl deren Vertreter auf dem Kongress gar nicht anwesend waren), den karibischen Demokraten, den kreolischen Föderalisten, das die Probleme mit den lokalen Basisstrukturen der Macht nur in die Zukunft verlagerte. Der Krieg ermöglichte das Kompromiß. Die Utopie, die Bolívar am Ende seiner Rede vor den Abgeordneten von Angostura ausgebreitete, lautet: „Im Fluge durch die nächsten Zeitalter hält meine Vorstellung in den künftigen Jahrhunderten inne, und während ich dort starr vor Staunen und Bewunderung Wohlstand, Glanz und Leben, welche dieses weite Gebiet [Kolumbien] empfangen hat, betrachte, fühle ich mich mitgerissen und es scheint mir, als sähe ich es schon im Herzen des Universums, sich über seine langgezogenen Küsten hin ausbreitend, zwischen jenen Ozeanen, die die Natur Michael Zeuske/Venezuela Seite 303 13.05.2016 geteilt hatte, und die unser Vaterland mit langen und sehr breiten Kanälen vereinigt [Bezug zum Panamakanal – M.Z.]. Ich sehe es schon als Band, als Zentrum, als Handelsplatz der menschlichen Familie dienen; ich sehe schon, wie es in alle Winkel der Erde die Schätze an Gold und Silber sendet, die seine Gebirge bergen; ich sehe schon, wie es durch seine göttlichen Pflanzen den leidenden Menschen der alten Welt Gesundheit und Leben bringt […] und der alten Welt die Majestät der neuen Welt zeigt“.776 Im Grunde eine republikanische Utopie Amerikas, wie sie die USA nach 1945 einnahmen (aber kein Land des ehemaligen iberischen Amerika) vorskizziert. Alle von Bolívar genannten Punkte, mit Ausnahme der Kanals von Panama, – fern davon, für die Allgemeinheit der Völker Lateinamerikas erfüllt zu sein – sind heute noch virulent. Nun könnte man all dies damals für eine heroische Illusion und einen Mythos halten, der in Revolutionen immer bemüht wird, um Menschen für die Ziele von Anführern zu mobilisieren. Das ist es sicherlich auch, allerdings mit dem Zusatz, dass Mythen wahr bleiben, solange Menschen an sie glauben und ihr Handeln davon beeinflussen lassen. Insofern waren diese Utopien Bolívars wahr – damals vor allem für die Offiziere der Patrioten; einige davon sind es heute noch. Das macht eine der geistigen Triebkräfte heutiger Projekte zur Integration Lateiamerikas aus. Die Ergebnisse des Kongresses von Angostura entsprachen ganz Bolívars Konzept einer stabilen Regierung in Kriegszeiten: möglichst diktatorischezentralistische, aber konstitutionell abgesicherte Vollmachten für die Kriegführung, pragmatische Neuaufteilung des Landes in Departements, in denen das Militär die höchste Gewalt verkörperte und in denen Intendanten die Versorgung der Truppen sichern sollten sowie möglichst wenig bürokratischer Aufwand; die wichtigsten Machtinhaber sollte seine vertrauten Offizierskameraden und andere Patrioten sein. Bolívar, ebenso Realist wie Utopist, Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], 15. Februar 1819, in deutscher Übersetzung: König (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften …, S. 47-59, hier S. 59. 776 Michael Zeuske/Venezuela Seite 304 13.05.2016 sagte über die neue Republik: „Kolumbien wird sich so lange geeint halten, wie die Befreier sich um mich scharen; danach wird es Bürgerkrieg geben“.777 Die neue Regierung und ihr Präsident dekretierten eine Reihe wichtiger Gesetze, um dem neuen Staat auch eine neue Legitimation zu geben: zum Schutz der bäuerlichen Indiobevölkerung von Cundinamarca778, die als Indígenas zu gleichberechtigten Bürgern werden sollten. Komplettiert wurde das Dekret durch das Gesetz vom 11. Oktober 1821; es sicherte den Indígenas zunächst ihren bestehenden kommunalen Besitz (resguardos) und hob den Indio-Tribut (tributo) sowie den unendgeltlichen Arbeitszwang (encomienda, informelle Sklaverei) auf, verfügte aber zugleich die Zwangsschulbildung für die Kinder und die Finanzierung der Schulen (um sie zu Staatsbürgern zu machen). Noch schlimmer, aber unter damaligen Zivilisationsvorstellungen erklärbar war, dass ihr Gemeinschaftsbesitz, die resguardos, innerhalb von fünf Jahren in Individualbesitz, in bürgerliches Eigentum, umgewandelt werden sollte (was auch geschah).779 Ein „Decreto sobre Libertad de Esclavos“780 erging, von Humboldt in seinem Essay über die Insel Kuba in höchsten Tönen gelobt. Gesetze gegen Lokalgeld (macuquina, fichas)781, zur Verbesserung der Rechtspflege und zur Aufdeckung „spanischer Verbrechen“, gegen lokale Guerrillas und Banden, zur Gründung von Juntas Proviciales de Agricultura y Comercio, eien Art früher Wirtschaftsförderung, das Patronat und die Verwaltung von 777 Bolívar, Cartas ... Bd. IV, S. 121. “Protección a los naturales en Cundinamarca”, Cúcuta, 20. Mai 1820, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 194-197. 779 König, Auf dem Wege zur Nation. Nationalismus im Prozeß der Staats- und Nationsbildung Neu-Granadas 1750-1856, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1988 (Beiträge zur Kolonial- und Überssegeschichte, hrsg.v. Rudolf von Albertini und Eberhard Schmitt, Bd. 37), S. 210f. (Spanische Version: König, En el camino hacia la nación : nacionalismo en el proceso de formación del Estado y de la Nación de la Nueva Granada, 1750 a 1856; traducción del alemán: Dagmar Kusche, Juan José, Santafé de Bogotá : Banco de la República, 1994). 780 Actas del Congreso de Angostura (Febrero 15, 1819 - Julio 31, 1821), pról. Brice, Angel Francisco, ed. al cuidado de Grases, Pedro, Caracas: Publicaciones del Instituto de Derecho Público, 1969, S. 393-395, siehe auch: “Decreto sobre la Libertad de los Esclavos”, 11. Januar 1820, Hauptstadt Guayanas, in: Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia. Siglo y medio de vida republicana, 2 Bde., Caracas: Editorial Arte, 1962, Bd. I: De la Independencia a la Federación, S. 245-248. 781 Walter, “Das Geld- und Münzwesen”, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870), Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1983 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 22), S. 87-88; Ríos de Hernández, Josefina, „Características de los trabajadores“, in: Ríos de Hernández, La Hacienda Venezolana. Una visión a través de la Historia Oral, Caracas: fondo editiral tropykos, 1988(Serie Agricultura y Sociedad), S. 43-58, hier v.a. S. 53ff. 778 Michael Zeuske/Venezuela Seite 305 13.05.2016 Bildungseinrichtungen . Vor allem Patronat und Kontrolle der Bildung stellte einen scharfen Streitpunkt mit der Kirche und der Kurie in Rom dar.782 Eine Agrarreform war nicht unter den Dekreten – ganz im Gegenteil, das wäre einem militärischen Harakiri der Patrioten gleichgekommen oder hätte einer wirklichen Diktatur bedurft – zu beidem war Bolívar nicht bereit, obwohl der aufklärerische Ansatz, jeden patriotischen Militär zu einem „Bürger mit Landeigentum“ zu machen, sinngemäß in dem Bolívar-Dekret über „Repartición de bienes como recompensa a los Oficiales y soldados“ vom 10. Oktober 1817 enthalten war. Das Ausbleiben einer Demokratisierung des Landbesitzes war ein historischer Fehler. Es gab aber Gründe. Es ist zunächst nicht so, dass kein Wissen über die Schädlichkeit des Großgrundbesitzmonopols vorlag (ein altes Thema spanischen Sozialdenkens). Aber die Reformer, die in Spanien (und in Amerika) durchaus eine Tradition hatten, zählten meist zu den Eliten, die mit dem Imperium eben geschlagen worden waren (oder zu den bäuerlichen Insurgenten in Mexiko unter Hidalgo und Morelos, aber das war weit weg). Die Masse der kreolischen Offiziere, die sie besiegt hatten, war Land- und Latifundienbesitzer. Dazu kam, dass die grundbesitzenden Eliten, vor allem die mit Hacienda- und Sklavenbesitz in den Küstengebieten Venezuelas, den Bergbaugebieten des Chocó und im Süden Neu Granadas für die Patrioten gewonnen werden sollten und als soziale Trägerschichte sowie Fachleute für Wirtschaft und Verwaltung sehr wichtig waren. Die Exportwirtschaft der Latifundien, die Haciendas (und Hatos), bildeten Kernstrukturen der hispanischen Extraktionsmaschine. Diese koloniale Wirtschaftsstruktur sollte unter dem Banner des Liberalismus in eine „freie“, nur noch von Kreolen dirigierte Wirtschaft umgewandelt werden – deshalb wurden später auch die spanischen Großkaufleute des Landes verwiesen. Land, nach bisherigen Rechtskonstruktionen unter königlichem Obereigentum stehend, wurde “Patronato y gobierno de Establecimientos Educacionales”, Cúcuta, 21. Juni 1820, in: Bolívar, Decretos ..., B. I, S. 204f.; Watters, Mary, A History of Church in Venezuela. 1810-1930, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1933. 782 Michael Zeuske/Venezuela Seite 306 13.05.2016 zu „bürgerlichem“ Eigentum. Die Latifundien und Mayorazgos der alten Oligarchie-Familien gingen in das volle Eigentum „im römischen“ Sinne der überlebenden Vertreter über, wurden aber nicht separiert – das bedeutet, sie wurden nicht aufgeteilt, weder unter Bauern, noch unter einzelne Familienmitglieder, sondern behielten meist die alte Rechtsrealität des indiviso bei. Weder konnte eine bäuerliche Subsistenzwirtschaft noch eine vernünftige kapitalistische Landwirtschaft entstehen. Die Gründe dafür waren das weiterlaufende Statusdenken der überlebenden Oligarchien, vor allem auch der Frauen (auf die Bolívar schon bei seinen Sequestergesetzen hingewiesen hatte), der Bedarf des Staates an Zöllen und die militärische Macht über die meist kreolische Offiziere geboten. Die Extraktionsmaschine hatte die amerikanischen Territorien seit 1600 in die Atlanten der atlantischen Wirtschaft integriert. Und die Haciendas und Hatos stellten seit Jahrhunderten die Grundlage des Status, des Habitus sowie des sozialen Kapitals der Elitefamilien dar. Zudem wurden die Extraktionsmaschine in der wirtschaftlichen Zerstörung der Kriege und der Nachunabhängigkeit als einziges Mittel angesehen, die Wirtschaft schnell wieder auf die Beine zu bringen. Im Departement Venezuela, wie die Kerngebiete der alten Provinz im Norden nun genannte wurde, herrschten noch bis in die 1830er Jahre Mangel an Nahrungsmitteln, Vieh und Teuerung (sowie Mangel an Haciendaarbeitskräften). Viele Menschen, vor allen die freie farbige Bevölkerung, sahen sich gezwungen, nach 1815 auf den Haciendas arbeiten – oft waren die kleinen Gärten (conucos), die ihnen die Großgrundbesitzer auf ihren Haciendas boten, die einzige Möglichkeit zur Subsistenz. Viele Generäle, etwa Páez, aber auch eine Reihe farbiger hoher Offiziere, rückten nach dem Krieg in die Klasse Großgrundbesitzer ein (nicht zuletzt durch Spekulation mit den Vales des Tribunals de Repartimiento de Bienes). Der Widerstand des Sklaven war durch die Dekrete über die Sklavenbefreiung und die so genannten Manusmissionsgesetze von 1821 und 1830 geschächt. Michael Zeuske/Venezuela Seite 307 13.05.2016 Der Latifundismus in der Form von Hacienda und Hato erfuhr während des ganzen 19. Jahrhunderts eine Ausweitung (bis etwa 1890, dann bis 1930 einigermaßen stabil) auf Kosten der Realengos (königliches Land) und Baldíos (»herrenloses« Land), der kommunalen Ländereien der Munizipien (Ejidos), der kommunalen Ländereien der Indiogemeinden (Resguardos) sowie der Ländereien der Missionen, die auch oft Indioland waren, der religiösen Orden und der Kirche (Mano muerta, tote Hand). Aus Sicht der lokalen kreolischen Eliten war jahrhundertelang gegen das Fehlen an Zivilisation und den Mangel an Wirtschaftlichkeit bei den Indios angekämpft worden, deren Basis eben eine kommunale und relativ demokratische Siedlungs- und Agrarstruktur bildete. „Demokratie“ als politischer Begriff existierte damals nicht (er entstand weltweit erst wieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts), aber inhaltlich existierten Gleichheitsforderungen durchaus, wie an vielen Beispielen karibischer Einflüsse gezeigt worden ist. Die Gleichheitsforderungen richteten sich gerade unter den Llaneros und den einfachen Soldaten des patriotischen Heeres vor allem auf soziale sowie politische Gleichheit und Freiheit von Hunger, das heisst, in der politischen Dimension auf den Abbau von Titeln, Privilegien und Vorrechten oder auf die Manien der Kastenideologie. Im Grunde wurden, abgesehen von sehr wenigen Sozialliberalen, Haciendas (und Hatos), Extraktionsmaschine und „moderne“ Exportwirtschaft in Verbindung mit der atlantischen Welt und Europa, als integrierender und nicht weg zu denkender Bestandteil der neuen Staaten und der neu zu schaffenden amerikanischen Zivilisation angesehen, die aus der „alten“ spanischen Kolonie entstehen sollten. Und die geistige Konstruktion einer neuen civilización, die von den Städten und den dort lebenden Akteuren und ihrer Kultur ausgehen sollte (deren Kern eben die kreolischen Eliten waren, ebenso wie die einflussreichsten Offiziere des patriotischen Heeres) stand erst am Anfang. In dieser Utopie der Independencia, der eurokreolischen Utopie einer Nation in Form einer Republik, sollte die urbane Zivilisation im neuen Amerika die Wildheit und Barbarei (barbarie) der ungezämten Natur der Hinterländer (wie der Llanos, der Michael Zeuske/Venezuela Seite 308 13.05.2016 Indígenagebiete oder Guayanas) und ihrer Bewohner brechen und einbinden. Noch die Werke Rómulo Gallegos in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts lebten von diesem Konflikt. Unter diesen Bedingungen war eine Agrarreform wirklich schwer zu machen. Aber sie wäre möglich gewesen – das soll gar nicht hinweggeredet werden; ebenso wie eine entschädigungslose wirkliche Abolition der Sklaverei. Im Endeffekt zählen aber auch die Sozialisierung und die Lebenserfahrungen der wichtigsten Akteure, eben auch die Bolívars. All dies führte dazu, dass die Lage sehr instabil war – nicht nur militärisch. Die Instabilität der Lage und die fehlende Balance der Kräfte veranlassten Bolívar dazu, stärker auf Santander, den Vizepräsidenten in Bogotá und einige der Generale zu setzen, unter ihnen einige, mit denen er früher schwere Konflikte gehabt hatte (wie Bermúdez und Mariño); die ihn zwar mehr und mehr in der Öffentlichkeit begannen, ihn in einer Art patriotischem Kult zu verehren, aber in den einzelnen Regionen Machtpositionen, vor allem durch Allianzen mit den Resten der lokalen Oligarchien, gewannen. Das Wichtigste war weiterhin der Krieg. Zunächst kam es unter dem Eindruck des Trienio Liberal, der liberalen Revolution in Spanien (1820-1823) zu Verhandlungen mit Morillo. Die Liberalen in Spanien hingen immer noch der Illusion einer „spanischen Nation zu beiden Seiten des Atlantik“ an. Sie nahmen auch an, dass zwischen Liberalen auf beiden Seiten kein Krieg geführt werden sollte. Morillo und Bolívar trafen sich in Trujillo. Sie schlossen unter Hochrufen, Ansprachen und gegenseitigen Umarmungen einen Waffenstillstand (Tratado de armisticio) und einen Vertrag zur Regularisierung des Krieges – formell war zumindest die Guerra a muerte zu Ende.783 Für Bolívar und die Gründer GroßKolumbiens galten die Unterschriften unter diese Verträge als eine De-factoAnerkennung des neuen Staates durch Spanien. 783 Quintero Saravia, “Los Tratados de Trujillo”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 432-444. Michael Zeuske/Venezuela Seite 309 13.05.2016 Eliten, Sklaverei und Land: das Departement Venezuela in Groß-Kolumbien „Von Miranda erdacht, von Bolívar organisiert“784 Venezuela, das Territorium der ehemaligen Generalkapitanie, hatte in den Kriegen 1810 bis 1823 zwischen einem Drittel und einem Viertel seiner Bevölkerung eingebüsst, ca. 75000- 100000 Menschen. Bis um 1910 verlor Gebiet der Generalkapitanie auch mehr als ein Drittel an Territorium [Karte785]. Das Land war zerstört, die Menschen traumatisiert. Am stärksten getroffen waren Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung und die komplizierte Exportökonomie der Plantagen, das heisst, die Extraktionsmaschine. In der gesamten späten Kolonialperiode war die Basis der Agrikultur eine intensive Produktion für den lokalen Konsum; noch 1839 machte die Produktion landwirtschaftlicher Nahrungsmittel rund 73% der gesamten landwirtschaftlichen Produktion aus.786 Auch die politische Macht war betroffen. Die kreolische Elite in Form der urbanen Oligarchien, die 1810 den Kampf für mehr Autonomie angeführt hatte, war durch den Krieg zum großen Teil ausgerottet worden.787 Ein Staat existierte faktisch nicht. Geld für den Neuaufbau gab es auch nicht. Theoretisch hätten nun die Truppen der Patrioten - die die einzige funktionierende Macht darstellten - das Land in einer großen Bodenreform umverteilen können. Venezuela hätte dann nach relativ kurzer Zeit seine Eigenversorgung mit lokalen Nahrungsmitteln und Ressourcen sicher stellen können und unter einer einigermassen begabten Führung auch wieder eine neue Exportwirtschaft aufbauen können – aber eine 784 Frei nach Miquel Izard; siehe: Izard, Miquel, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona: Sendai Ediciones, 1988, S. 105. 785 “Territorio original de la capitanía general de Venezuela 1777 y mapa de Venezuela 1997”, in: Klein, Marvin (ed.), Atlas de Venezuela, Caracas: Ministerio del Ambiente y de los Recursos Naturales Renovales, ³2002, S. 8. 786 Izard, “La agricultura venezolana en una época de transición, 1777-1830”, S. 3-67, hier S. 3, FN 1; Meissner, Jochen, “Ein weites Feld: Zur Geschichte der Landwirtschaft in den Amerikas zwischen Unabhängigkeit und Weltwirtschaftskrise”, in: Edelmayer, Friedrich; Hausberger, Bernd; Tobler, Hans Werner (eds.), Die vielen Amerikas. Die Neue Welt zwischen 1800 und 1930, Frankfurt am Main: Brandes und Apsel; Wien: Südwind, 2000 (Historische Sozialkunde; 16: Internationale Entwicklung), S. 175-199. 787 Caballero, Manuel, “Las tres muertes del Mariscal Sucre”, in: Insurgencia y Revolución. Antonio José de Sucre y la independencia de los pueblos de América, La Rábida: Universidad Internacional de Andalucía (Colección Encuentros Iberoamericanos), 1966, S. 136. Michael Zeuske/Venezuela Seite 310 13.05.2016 Exportwirtschaft ohne Sklaven und eventuell mit einem eigenständigen Bauernund Handwerkssektor. Dann wären auch massive Immigrationen von Wissenschaftlern, freien Bauern, Handwerkern und Erfindern nicht ausgeblieben, wie sie sich wenig später in die USA richtete. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hätte ihre Breite in Groß-Kolumbien gefunden und wir würden heute nicht von den G-8 des Nordens, sondern vielleicht von den G-7 des Südens sprechen.788 So funktionierte die Geschichte aber nicht. Die Truppen der Patrioten und Llaneros waren mit den Siegen gegen royalistische Truppen und Guerrillas 1820-1823 faktisch Zug und Zug zu Besetzern der großen Küstenstädte im Norden des Landes mit ihren agrarischen Hinterländern geworden. Truppen und Offiziere übten nicht nur militärische Macht aus, sondern übernahmen auch politische Posten. Die Masse dieser Truppen bestand aus Llaneros und Menschen der Unterschichten, die keine Ahnung von Wirtschaft und Staat hatten und auch nicht in Kategorien wie „Nation“ dachten. Sie waren aber bereit, ihren siegreichen Generalen, auch Bolívar, vor allem aber, sofern es Llaneros waren, José Antonio Páez, in deren Zielvorstellungen zu folgen. Das alte Venezuela der Generalkapitanie von vor 1815, das alle anderen Provinzen eingeschlossen hatte, war jetzt auf ein Departament der neuen Republik zusammengeschrumpft. Die Bildung neuer Nationen und die endgültige Stabilisierung der Staaten, die in den Unabhängigkeitskriegen begann, zog sich noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hin.789 Die wichtigsten politischen Eliten des neugegründeten Großstaates Kolumbien, der Zeit seiner Existenz eher eine Utopie der bolivarianos (Anhänger Bolívars) als eine Realität war, glaubten, um überhaupt einen funktionierenden Staat organisieren zu können, die Unterstützung der urbanen konservativen Oligarchien Venezuelas und des ehemaligen Neu-Granadas zu Die bislang kaum gestellte Frage nach einer “industriellen Revolution” in Venezuela findet sich bei: Herrera, “¿Revolución industrial en Venezuela?”, in: Herrera, La expansión telegráfica en Venezuela ..., S. 37-55. 789 López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves, State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S. 195. 788 Michael Zeuske/Venezuela Seite 311 13.05.2016 brauchen. Im Zentrum ihres Wirtschaftsdenkens standen nicht Zwiebeln, Bohnen, Bananen und Fleisch für die Masse der Bevölkerung, sondern Kaffee, Kakao und Rinderhäute sowie Exporte und Freihandel, die über Zölle schnell Geld für die Staatskasse erbringen sollten. Freihandel sollte die Verbindungen nach Europa, vor allem nach England, sichern – das große Modell Mirandas, Bolívars und der kreolischen Independenten. In London, der Schnittstelle globaler Verbindungen, begann Andrés Bello (Caracas, 29. November 1781-Santiago de Chile, 15. Oktober 1865) eine neue kulturelle und diplomatische Offensive für die Independencia.790 Europa schrie nicht nur nach Informationen, sondern nach den Blockaden und Gegenblockaden der napoleonischen Kriege auch nach Kaffee und Zigarren. Europa war seit 200 Jahren an Kolonialwaren gewöhnt; Hegel und Marx konnten, wie sie auch schriftlich zugaben, ihre Werke nicht ohne Kaffee, Zucker und Tabak schreiben. Ohne koloniale Stimulantien keine „Phänomenologie des Geistes“ und kein „Kapital“; die europäische Industrialisierung wäre ohne Tabak, Kartoffeln und amerikanischen Zucker stecken geblieben.791 Die Reste der alten urbanen Oligarchien hatten sich spätestens seit 1814 wieder dem Royalismus verschrieben. Ohne einen Stimmungsumschwung unter den Resten dieser mächtigen agrarischen Oligarchien Venezuelas und NeuGranadas konnten nach den Vorstellungen der Staatsgründer Kolumbiens weder die Wirtschaft wieder aufgebaut werden, noch die spanischen Truppen aus den Küstengebieten und vor allem nicht aus Caracas sowie aus den Südgebieten Neu Granadas (Caucatal, Popayan) und aus Ekuador oder gar aus Peru, wie es Bolívar in seiner Internationalisierungsstrategie seit 1820 plante, vertrieben werden. Es bedurfte sogar erst der Angst vor einer neuen liberalen Revolution in Spanien (Trienio Liberal 1820-1823, durch Intervention der Heiligen Allianz beendet), 790 Grases, Pedro, Antología de Andrés Bello. Selección, Prólogo y Notas de Pedro Grases, Caracas: Editorial Kapelusz Venezolana, S.A., 1964; Bello, Andrés, Obras Completas, 26 Bde., Caracas: Fundación La Casa de Bello, 1981-1984; Cussen, Antonio, Bello and Bolívar, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; Jaksić, Iván, “The Diplomacy of Independence, 1820-1829”, in: Jaksić, Andrés Bello. Scholarship and Nation-Building in NineteenthCentury Latin America, Cambridge: Cambridge University Press, 2001, S. 63-93. 791 Mintz, Sidney W.; Price, Sally (eds.), Caribbean Contours, Baltimore and London: The Johns Hopkins University Press, 1985; Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt am Main; New York: Campus, 1986. Michael Zeuske/Venezuela Seite 312 13.05.2016 damit diese alten Oligarchien, weil sie einen noch radikaleren Liberalismus befürchtete, ihre Fahnen wieder für das „Vaterland“ in den Wind hängen ließen und sich zur „Sache der Vaterlandes“ und zu Allianzen mit den neuen Eliten des Unabhängigkeitskrieges (hohe Offiziere, Generale) öffneten.792 Die Patrioten glaubten diesen kleinen, aber noch einflußreichen sozialen Gruppen, deren Familien de jure noch Besitzer von Latifundien waren, wirtschaftliche Horizonte öffnen und ihren sozialen Status sowie ihr Eigentum sichern zu müssen. Das Hauptargument dabei war - neben dem der „Zivilisation“ und „Heiligkeit des Eigentums“ - die Effizienz der Wirtschaft. Damit meinten die kreolischen Patrioten die Exportwirtschaft der Haciendas und Hatos, nicht etwa die Effizienz der bäuerlichen Kleinwirtschaften (conucos, corrales de cría). In der Nähe der Städte gehörten diese Kleinwirtschaften oft zu den Haciendas oder zu indianischen Kommunen. Diese „alte“ Exportwirtschaft sollte den Besitzern ein Leben in gewohnter Kultur ermöglichen - auch ein Bolívar war an die kosmopolitischatlantische Kultur der kreolischen Elite gewöhnt - und dem Staat über Zölle und Abgaben Einnahmen bringen und zugleich die Lebensmittelversorgung sichern, ohne dass der Staat die Conucos und Kleinfelder für Bananen als „richtiges“ Eigentum anerkennen musste. Das hätte nur langwierige juristische Prozesse nach sich gezogen und den Bauern eine Rechtsposition garantiert, etwa in den Auseinandersetzungen um Saisonarbeit, von der die Haciendas nach dem Ende des Sklavenhandels abhingen. Zugleich waren aber die latenten Forderungen nach Land und Reform der großen Latifundien durchaus da. Viele der ziemlich lang anhaltenden Konflikte auf den beiden Kongressen von Angostura und Cúcuta und um die endgültige Vertreibung der spanisch-kreolischen Truppen. Insgesamt verzögerte sich die „Befreiung“, wie die Patrioten es in ihren Zeitungen und Reden 792 Stoan, Stephen K., Pablo Morillo and Venezuela ..., passim; Costeloe, Michael P., Response to Revolution. Imperial Spain and the Spanish-American Revolutions, 1810-1840, Cambridge 1986; Zeuske, Política colonial, reforma y revolución: Cuba y la Independencia de la Tierra Firme, 1808-1821, in: Transformación, reforma y revolución en la historia de América Latina, 1750-1898. Ensayos de historia comparada, Caracas: Fondo Editorial Tropykos 1996, S. 17-62. Michael Zeuske/Venezuela Seite 313 13.05.2016 nannten, um drei Jahre (1820-1823); im rein militärischen Sinne hätten die bolivarianischen Truppen schon 1820 die Küstenstädte besetzen sollen können. Der Kern dieser Probleme - aus Perspektive der Oligarchien, der meisten Politiker Groß-Kolumbiens und fast aller kreolischen Intellektuellen Garanten eines Neuaufbaus nach den Kriegszerstörungen - waren großes Landeigentum und Sklaven. Land stellte die wichtigste Produktionsressource und zugleich das wichtigste fixe und soziale Kapital für die Oberschichten, uach für die neuen Eliten, dar. Sklaven und abhängige Bauern waren die einzige Arbeitskraft, die gezwungen werden konnten, rurale Schwerstarbeit unter tropischer Sonne zu leisten. Zwischen 1815 und 1825 wuchs die Nachfrage nach Zucker, Kaffee, Häuten und anderen tropischen Produkten in Europa Jahr für Jahr explosionsartig an; in England kam es gar zu einem Spekulationsboom wegen der erwarteten Gewinne in den „neuen“ Staaten des ehemaligen Spanisch-Amerika. Land und Sklaven waren genau jene Institutionen, die Bolívar im Kampf gegen den Kolonialismus 1816 (Dekret zur Aufhebung der Sklaverei) sowie 1817 in der Auseinandersetzung mit dem Pardo Manuel Piar angegriffen hatte (Ley de Repartos). Die einzige Land-„Reform“, die die liberalen Patrioten anstiessen, war die Auflösung der resguardos de indios. Die Landfrage war aber auch im Kriege politisch nie aus dem Ruder gelaufen. Es hatte zwar furchtbare Zerstörungen gegeben, aber eine wirklich Reform oder gar Aufteilung des Bodens hatte niemand der Eliten auf seiner Agenda, auch Bolívar nicht. Eine solche Verteilung des Bodens war Teil der Schreckenserzählungen über Haiti, wo wirklich die größte Landumverteilung der karibischen Geschichte stattfand. Llaneros, die wirklich eine militärische Gefahr hätten darstellen können, forderten kein Bodeneigentum – ihre engere Kultur kannte dieses Konzept nicht und die Caudillos wie Páez, die das Konzept des Bodeneigentums entweder schon kannten (Páez war kein gebürtiger Llanero) oder es kennenlernten, wurden durch Übergabe konfiszierter Latifundien in den Plantagengebieten ruhig gestellt.793 Carrera Damas, „Sobre el alcance y el significado de las políticas agrarias en Venezuela durante el siglo XIX“, in: Jara, Álvaro (ed.), Tierras nuevas. Expansión territorial y ocupación del suelo en América (siglos XVI-XIX), 793 Michael Zeuske/Venezuela Seite 314 13.05.2016 Schwieriger war es schon, Freiheitsdiskurs und Sklaverei unter einen Hut zu bekommen. Die Sklaverei musste aber aus Sicht der kreolischen Eliten der Küstenstädte aber unbedingt restauriert werden, denn eine der wichtigsten Folgen des Krieges war eine Verteuerung der Arbeitskraft. Die Rekonstruktion der Sklaverei bei so viel Reden und Texten über die „Freiheit“ war kompliziert – aber die kreolischen Notablen und Notare verfügten über lange Herrschaftserfahrungen. Und sie verfügten über gute Beziehungen, oft sogar familiäre Verbindungen zu den kreolischen Generälen der Patrioten – sie verheirateten nämlich ihre Töchter mit den hohen Offizieren der Unabhängigkeitstruppen. Zunächst zu den Fakten. Die sind schwer zu bekommen, da der Krieg die Verwaltung mit ihren Berichten, Quellen und Statistiken vernichtet hatte: im Departement Venezuela, im Umland von Caracas, in den Tälern von Caracas, Aragua und Barlovento-Tuy, arbeiteten nach Informationen des Anuario de la Provincia de Caracas in der Dekade der 1830er Jahre 701 Kaffee-Haciendas (mit 7364 Bäumen) und 356 Kakao-Haciendas (mit 7197 Bäumen); Federico Brito Figueroa, frühverstorbener Dekan der Strukturhistoriker Venezuelas, gibt für den gesamten Plantagensektor Venezuelas die Zahlen von 1995 Haciendas für 1833 (351 Kaffee, 671 Kakao und 175 Zuckerrohr) an, für 1840 hatte sich die Gesamtzahl auf 9125 etwa vervierfacht – wenn jede nur 1000 Hektar umfasst hätte, wären das über 9 Millionen Hektar, faktisch alles Land in der Nähe der Städte. 794 Eine starke restaurative Tendenz. Sie lässt Rückschlüsse auf die Dimensionen in den zwanziger Jahre zu. Die Viehwirtschaft war durch den Krieg so schwer getroffen, dass nach 1817 auch 1826 nochmals der Export von Hengsten, Stuten, Eseln und Maultieren verboten werden musste. So hatte es auch Bolívar in Angostura praktiziert, um seine Truppen mit Reittieren ausrüsten zu können. Das zeigt, dass der Exportlandwirtschaft vor allem Transporttiere fehlten, México D.F. : El Colegio de México, Centro de Estudios Históricos, 1969, S. 121-138, hier S. 133-137. 794 Acosta Saignes, Latifundio, México: Editorial Popular, 1938; Acosta Saignes, Latifundio, Caracas: Procuraduría Agraria Nacional, 1987; Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela. Una estructura para su estudio, 6 Bde., Caracas: Universidad Central de Venezuela, Ediciones de la Biblioteca, 1971-1987, Bd. I, S. 232f.; Fuentes, Cecilia; Hernández, Daria, Cultivos tradicionales de Venezuela, Caracas: Fundación Bigott, 1993; “Agricultura”, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 69-81. Michael Zeuske/Venezuela Seite 315 13.05.2016 weil sie vom Heer als Reit- und Zugtiere benutzt wurden und als mitlaufende Fleischreserve. Das Funktionieren und die Rentabilität der Haciendawirtschaft hingen ganz entscheidend von Geldkapital und von Arbeitskräften ab. Je weniger Geld es gab, desto wichtiger wurden die (billigen) Arbeitskräfte, die sich auf den Haciendas auch noch versorgten und so völlig unter Kontrolle der Herrn standen. Investitionen und private Kredite in Form von Geld gab es faktisch nicht zwischen 1815 und 1834. Arbeitskräfte waren wegen der Kriegsverluste extrem knapp. Um überhaupt ihren Familien ein Überleben zu sichern und nicht Hungers zu sterben, arbeiteten viele Pardos der Städte, in der Kolonialzeit stolze Handwerker, deshalb unter Bedingungen auf den Conucos der Haciendas, zu denen sie vor 1810 nie gearbeitet hätten. Das minderte zwar den Hunger ihrer Familien, aber weder das Arbeitskräfteproblem noch den Landhunger. Die Kosten der Produktion wiederum hingen ganz entscheidend der von der Nähe der Haciendas zum Meer und zu Flüssen bestimmt (Transportkosten) ab; selbst wenn die meisten traditionellen Haciendas, wie es Humboldt beschreibt, in der Nähe von Flüssen lagen, brauchten sie viele Tiere für Arbeit und Transport. Politische Probleme kamen hinzu, von denen die kreolischen Libertadores befürchten mussten, die würden die Oligarchien weiterhin zu Aliierten der Spanier machen. Die komplizierten Fragen ergaben sich aus der Organisation der neuen Macht. In diesem Sinne drohte den kreolischen Eliten der Küstenstädte Statusverlust durch ein so unschuldig wie langweilig bürokratisch klingendes Wort wie Territorialorganisation. Beide Kongresse, der von Angostura 1819 bis 1820 und der von Cúcuta 1820 bis 1821, gingen von einer Umwandlung der alten Provinzen in neue Departements aus. Wenigsten in der Rhetorik sollten die Verfassungen revolutionär sein, denn das Wort „Departement“ kam aus der Sprache der französischen Jakobiner. Die alten Oligarchien aber sahen darin durchaus einen Fehdehandschuh. Die alte Provinz „Venezuela“ oder „Caracas“ sollte in das „Departement“ Venezuela umgewandelt werden, aber verkleinert und Michael Zeuske/Venezuela Seite 316 13.05.2016 nur noch den Nordteil der alten Provinz umfassend. Und das bei einem Cabildo von Caracas, dessen oligarchische Mitglieder nicht nur daran gewöhnt waren, eine riesige Provinz als Expansionsraum ihr Eigen zu nennen, sondern seit 1777 mit Stolz sogar von einer Generalkapitanie Venezuela gesprochen hatten, die alle anderen Städte und Provinzen eines Großteils der Tierra Firme einschloss. Nicht so sehr von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Kongressleute ging ihrer Meinung nach Gefahr für sie aus, sondern in erster Linie von den uns heute relativ bescheiden anmutenden politisch-administrativen Vorstellungen der Kongresse. Als die Patrioten unter Páez und Bolívar 1821 in Carabobo gesiegt hatten, ging die Oligarchie von Caracas (speziell der Cabildo, die Municipalidad) zwischen 1821 und 1826/1830 deshalb sehr zügig daran, ihren politischen sowie sozialen Status und ihre politische Dominanz herzustellen, zu verteidigen oder zu restaurieren. Erstens liessen sie Vorbehalte gegen die Verfassungen von Angostura und vor allem von Cúcuta festschreiben – und untergruben damit von Anfang an die Legitimität der Verfassung als Institution.795 Fast zwangslaüfig entwickelte sich in Venezuela seit 1857 ein wahres Verfassungskarussell. Zweitens bekämpften sie Debatten über die Aufhebung der Sklaverei und die Landverteilung sowie Steuern und Sonderabgaben für die Armee – unter dem Argument der Wirtschaftlichkeit.796 Bolívar selbst liess die Sklaven seiner Haciendas (El Ingenio in San Mateo in den Valles de Aragua; Santo Domingo de Macaire in Caucagua im Tuy-Tal), die bis 1821 unter spanischer Herrschaft verblieben waren, nach dem Sieg von Carabobo frei.797 Die Erzählungen über seine Amme Hipolita Bolívar (San Mateo 1763 – Caracas, 25. Juni 1835) und die Haushälterin Matea Bolívar (San José de Tiznados, 21. September 1773 – Caracas, 29. März 1886), beide mit dem Sklavennachnamen „Bolívar“, zeichnen den Mijares, Augusto, “La evolución política de Venezuela (1810-1960)”, in: Picón-Salas ; Mijares; Díaz-Sánchez, Ramón ; Arcila Farias ; Liscano, Juan (eds.), Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio Mendoza, 1962, S. 51-84, hier S. 68 796 López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves, State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S. 193-211. 797 Quintero, La criolla principal. María Antonia Bolívar, hermana del Libertador, Caracas: Fundación Bigott, 2003, S. 55. 795 Michael Zeuske/Venezuela Seite 317 13.05.2016 Übergang von der Haussklaverei zum Hausdienstpersonal nach und prägten ein die auf dem Lande weiter existierende Sklaverei verschleierndes diskursives Muster, das paradigmatisch Gilberto Freyre in Casa grande e Senzala um 1930 (am Ende dieser Übergangszeit) beschrieben hat.798 Drittens betonten die Mantuanos unter dem Stichwort „Zivilisation“ ihre Kultur und Bildung sowie ihre Verbindungen nach Europa, das damals als Zentrum aller Kultur, Kunst, Lebensstile und Wissenschaft galt; die intellektuellen Wortführer der Elite kämpften damit vor allem und in erster Linie um die Herrschaft über die geschriebene Geschichte, die gedruckten Texte und Diskurse sowie das gesprochene offizielle Wort, die die Ursachen und den Verlauf der Unabhängigskeitskriege betrafen. Sie behaupteten, auch unter Zuhilfenahme der eben erscheinenden Werke Alexander von Humboldts (vor allem die „Relation historique“), dass es die Mantuanos von Caracas gewesen seien, die am 19. April 1810 die Unabhängigkeitsbewegung ausgelöst hätten – in gewissem Sinne stimmte das zwar, aber nicht so, wie die Aktion vom 19. April 1810 gemeint gewesen war - nämlich zur Stabilisierung am Ende der Kolonialzeit erreichter Positionen. Ganz nebenbei entstand damit der venezolanische Humboldt-Mythos, der bis heute anhält.799 Herrschaft wird aber nun einmal über Diskurse hergestellt. Mit dieser relativ einfachen „Diskurs-Operation“ wurde auch der größte nationale Mythos begründet, der bis heute nicht aus den Köpfen der Venezolaner, auch der Chavistas, herauszubekommen ist – weil er zusammenfliesst mit dem allgemeinen Gründungsmythos der Nation mit dem Vornamen Venezuela. Komplizierter war die Rekonstruktion der Hegemonie über Philologie (klassisches Kastilisch und Latein) und Schriftlichkeit sowie europäische Bildung, Kunst und Literatur, als deren Symbol der hervorragende Wissenschaftler Andrés 798 Freyre, Gilberto, Casa-Grande & Senzala, o.O.[Rio de Janeiro:] , Schmidt-Editor, 1933; Freyre, The masters and the slaves : a study in the development of Brazilian civilization; translated from the Portuguese of the fourth and definitive Brazilian edition by Samuel Putnam, New York : Knopf, 1946; Freyre, Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft. Köln und Berlin. Kiepenheuer & Witsch, 1965. 799 Zeuske, “Vater der Unabhängigkeit? - Humboldt und die Transformation zur Moderne im spanischen Amerika“, in: Alexander von Humboldt. Aufbruch in die Moderne, ed. Ette, Ottmar; Hermanns, Ute; Scherer, Bernd M.; Suckow, Christian (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 21), Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 179-224. Michael Zeuske/Venezuela Seite 318 13.05.2016 Bello gelten kann, der auch die Kontakte mit den Utilitaristen (Jeremy Bentham, James Mill, John Stuart Mill) vermittelte. Bello lebte von 1810 bis 1829 in London und wirkte und danach bis zu seinem Tode 1865 in Santiago de Chile.800 Allerdings hat die Elitenherrschaft über Kultur, gedrucktes Wort und Diskurse nie verhindern können, dass es in Venezuela eine starke orale, perfomative und egalitäre Tradition der Interpretation der Geschichte gab und gibt; diese wurde in den Kneipen der Unterschichten, in den Dörfern, auf kirchlichen Festen (San Juan y San Pablo, San Benito, San Francisco de Yare, San Antonio), in Häfen und auf den Feldern und Märkten, im Verborgenen und an den Lagerfeueren der einfachen Llaneros erzählt oder gesungen. All das lief parallel zur konstitutionellen Restauration der sehr realen Sklaverei – real vor allem für die Sklavinnen und Sklaven sowie für ihre Kinder. Sklaverei und rurale Zwangsarbeit oder Milizdienst waren der Schlüssel zur Restauration der Plantagenwirtschaft sowie der Staatseinnahmen, des Lebens- und Herrschaftsstiles der Eliten und ihrer Dominanz in der Politik. Die Fortexistenz der hispanischen Extraktionsmaschine jedenfalls hing mehr denn je von billiger Arbeit auf dem Land, im Innern ab, entweder durch Sklaverei oder Angleichung des Status der „freien“ Bauernbevölkerung an die Sklaverei. Deshalb durfte es aus Sicht der Eliten auch kein rechtlich gesichertes Landeigentum für Unterschichten geben, deren Lage musste unsicher, auch im rechtlichen Sinne, bleiben. Sklaverei war auch der Schlüssel, um die Legitimität des großen Landeigentums am Leben, es effizient zu halten und zugleich die Landreformforderungen der Pardos zurückzuweisen. Die Konflikte und Allianzen im Kampf um die oligarchische Neuformulierung der Herrschaft füllten die Jahre zwischen 1821 und 1830. Zunächst aber ging es um den Schlüssel für die Herrschaft über die Extraktionsmaschine – die Sklaverei. Die Sklaverei war die Institution, die den Cussen, Antonio, Bello and Bolívar, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; Jaksić, Andrés Bello. Scholarship and Nation-Building in Nineteenth-Century Latin America …, passim. 800 Michael Zeuske/Venezuela Seite 319 13.05.2016 Schutz des Eigentums, seine wirtschaftliche Funktion (billig produzieren und möglichst teuer verkaufen) und den sozialen Status der Elite und ihrer Familien garantierte. In der Wiedereinführung und Festigung dieser Institution waren beide Kongresse, sowohl der von Angostura, wie auch der von Cúcuta (ab 1821), so „reaktionär, wie die politische und militärische Situation es erlaubte“.801 Bolívar hatte 1821, wie gesagt, seinen auf der Hacienda San Mateo verbliebenen Sklavinnen und Sklaven (María Jacinta Bolívar, José de la Luz Bolívar, María Bartola Bolívar, Francisco Bárbara Bolívar, Juan de la Rosa Bolívar, Nicolasa Bolívar)802 die Freiheit gegeben. In Angostura, hatte Fernando Peñalver, enger Vertrauter und Duzfreund Bolívars sowie Vorsitzender des Sequester-Tribunals, bereits am 2. März 1819803, zwei Wochen nach Beginn des Kongresses, vorgeschlagen, alle Gesetze, die der Präsident (Bolívar) als „Jefe Supremo de la República“ in den Zeiten ohne Legislative erlassen habe, „zu prüfen und ihnen zuzustimmen oder sie abzulehnen und im besonderen jenes [Gesetz], das man mittels einer Proklamation zugunsten der Freiheit der Sklaven gemacht habe“.804 Die Frage sei besonders dringend, betonte Peñalver und deshalb in der ersten Sitzung des Tages zu behandeln. Denn es sei fast sicher das „unsere Waffen die Provinz Caracas besetzen“, deren Reichtümer und Ressourcen vor allem in der Landwirtschaft - er meinte die Exportlandwirtschaft - bestünden. Deren erfolgreicher Betrieb hänge „von den Sklaven ab“. Denen habe man „die Freiheit gegeben“ und er bitte den Kongreß diese zu bestätigen. Er bitte aber weiter darum, daß man diese Gesetze „noch nicht ausführe, während der Kongreß Bierck, Harold A., “The Struggle for Abolition in Gran Colombia”, in: HAHR, XXXIII (1953), S. 365-386; Lombardi, “Los esclavos en la legislación republicana de Venezuela”, in: Boletín Histórico No. 13 (Enero 1967), S. 43-67, S. 58; zusammenfassend in (spanische Ausgabe:) Lombardi, Decadencia y abolición de la esclavitud en Venezuela, 1820-1854, Caracas 1974; sowie: Lombardi, “The Abolition of Slavery in Venezuela: a Non-Event”; Lombardi, “La abolición de la esclavitud en Venezuela. Historia y fuentes”, in: UCV (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela (1822-1860) …, Vol. II, Bd. 5, S. V-XIX; siehe auch: Pollak- Eltz, “Los últimos años de la esclavitud en Venezuela y su abolición en 1854”, in: Tierra Firme Vol. XXII, 22, Nr. 85 (EneroMarzo 2004), S. 7-15. 802 Ramos Guédez, “Simón Bolívar – la abolición de la esclavitud en Venezuela 1810-1830. Problemas y frustración de una causa”, in: Revista de Historia de América 125 (Jul.-Dic. 1999), S. 7-20; Ramos Guédez, “150 años de la abolición de la esclavitud en Venezuela: de José Leonardo Chirino a José Gregorio Monagas”, in: TF Vol.22, Nr. 85, Caracas (2004), S. 17-32. 803 Parra-Pérez, La monarquía en la Gran Colombia, Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1957, S. 23. 804 Actas ..., S. 116f. 801 Michael Zeuske/Venezuela Seite 320 13.05.2016 noch keine Bestimmungen erlassen habe, die die Weise bestimmten, wie jene, die nicht an die Freiheit gewöhnt seien, sie benutzten“.805 Am 31. Juli 1819 hatte die Kommission das Reglamento sobre la libertad de los esclavos fertiggestellt806, aber erst am 19. November 1819 kam es, nach einer Reihe von Verzögerungen, zur Diskussion im Plenum.807 Diese dauerten. Noch im Januar 1820 kam es zu intensiven, sehr kontroversen Debatten über die „Freiheit der Sklaven“. Dabei spielte auch das Argument eine Rolle, was mit der sehr erwünschten - Imigration von den Antillen geschehen solle, die ihre Sklaven mitbrächten, weil sehr viele Pflanzer von Haiti geflohen waren.808 Die Diskussion dauerte. José Antonio Zea mußte das Projekt eines Dekretes vorlegen, “que concilie por ahora las opiniones encontradas [das für jetzt die entgegengesetzten Meinungen beruhige]”.809 Am 11. Januar 1820 erging ein Decreto sobre Libertad de Esclavos 810 Eines der verlogensten „Freiheitsgesetze“, die es jemals gegeben hat! Voller Euphemismen und an einem liberalen Diskurs orientiert, der seine Inhalte noch verlogener macht. Der Souveräne Kongreß von Kolumbien nahm „die zwei Proklamationen“ Bolívars von 1816 und 1817 in Betracht. Die Notwendigkeit der Freiheit und die Richtigkeit der Dekrete seien nicht anzuzweifeln, aber es bedürfe „verschiedener vorbereitender Dispositionen“. „In dem Zustand der Ignoranz und moralischer Degradierung, in der sich dieser unglückliche Teil der Menschheit befindet, ist es notwendig, sie erst zu Menschen zu machen, bevor man sie zu Bürgern macht ... Der Kongreß betrachtet die Freiheit als das Licht der Seele, glaubte auch, das er sie ihnen in Einzelschritten geben solle, so wie die, die das Augenlicht verloren haben, auch nicht sofort dem hellen Glanz des Tages ausgesetzt werden“.811 805 Ebd. Ebd., S. 220. 807 Ebd., S. 336. 808 Ebd., S. 189. 809 Ebd., S. 388. 810 Ebd. S. 393-395, siehe auch: “Decreto sobre la Libertad de los Esclavos”, 11. Januar 1820, Hauptstadt Guayanas, in: Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 245-248. 811 Actas ..., S. 393. 806 Michael Zeuske/Venezuela Seite 321 13.05.2016 Zea hatte einen Plan ausgearbeitet, der zu einer totalen Ausrottung der Sklaverei in den nächsten fünf Jahren führen sollte (also bis Anfang 1825). Aber die Widerstände innerhalb des Kongresses führten dazu, daß dieser Plan bis „zum nächsten Jahr“ ausgesetzt wurde.812 Bis dahin sollte laut Gesetz gelten: Die Sklaverei war de jure aufgehoben; die genauen Modalitäten, dieses auch de facto zu vollziehen, sollten auf dem nächsten Kongreß geklärt werden. Bis dahin sollten „die Sachen in dem gleichen Zustand bleiben, in dem sie sich heute befinden, in jedem der drei Departements, ohne die geringste Veränderung in irgendeiner Provinz oder an irgendeinem Ort; die die Freiheit erlangt hätten, sollten in Freiheit bleiben, die, die sich in Knechtschaft befänden, sollten darauf warten, sie von Generalkongreß zu erhalten“.813 Nur der Präsident erhielt das Recht (Zentralismus), denjenigen die Freiheit zu geben, die er zu den Waffen riefe.814 Die Besitzer sollten Entschädigung erhalten. Die Einführung von Sklaven auf das Territorium der Republik blieb untersagt. Fremde Sklaven aber, die von anderen Nationen auf das Territorium der Republik kämen, würden ihren Herren zurückgegeben. Die Kosten der Rückführung müßten diejenigen tragen, die sie gebracht oder die, die sie unterstüzt bzw. verborgen hätten.815 Allerdings war die Einführung „persönlicher Diener“ erlaubt, was ein Schlupfloch für den illegalen Sklavenhandel ließ.816 Damit war Großkolumbien etwa für Kuba oder andere Sklaveninseln der Karibik (wie Saint Thomas, Jamaika oder Guadeloupe, aber auch für den Süden der USA) keine passive Gefahr mehr. Allerdings gab es so etwas wie einen Geheimbeschluß des Kongresses, der in einem Brief (vom 9. August 1819) dem König von Haiti mitgeteilt worden war, das „die Afrikaner, die von unseren Kriegsschiffen und Korsaren aufgebracht würden, nach dort [Haiti] gebracht werden würden“. 817 812 Ebd., S. 394. Ebd., S. 394f. 814 In dem Brief an Santander aus San Cristóbal im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Neu Granada vom 18. April 1820 beruft sich Bolívar auf dieses Recht, siehe: König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 61 (Dokument Nr. 9). 815 Ebd. S. 395. 816 Izard, El miedo ..., S. 63. 817 Actas ..., S. 333. 813 Michael Zeuske/Venezuela Seite 322 13.05.2016 Viele der Sklavenbesitzer stimmten daraufhin einem Protest von Mitgliedern der „alten“ Familien von Caracas gegen den Ley de Repartos (28. Juni 1821) zu, mit dem die Unterzeichneten Bolívar aufforderten, das Gesetz und seine Folgeregelungen (trotz ihrer Begrenztheit; aber immerhin waren in der Provinz Caracas 312 Haciendas sequestruiert worden) aufzuheben.818 Immerhin bestand der Vorteil für alle Landbesitzer, die Haciendas besaßen, darin, diesen vorher kolonialfeudalen Besitz stillschweigend in „bürgerliches“ Privateigentum im „römischen“ Sinne fest zu schreiben. Diese Transformation war extrem wichtig; das Land konnte aber nur mit Arbeiter „in Wert“ gesetzt werden. Soweit das „Sklavenproblem“ als Symbol für die Restauration alter Herrschaftsformen auf dem Kongreß von Angostura - wir kommen darauf zurück. Bis 1830 mussten die Eliten, vor allem die von Caracas immer noch den Einfluss Bolívars oder Massnahmen der Zentralregierung in Bogotá befürchten. Anfang 1821 zog die Regierung von Angostura nach Cúcuta um. Das war auch ein Symbol für die politische Schwerpunktverlagerung vom Hinterland Venezuelas nach Neu-Granada. Hatte Santander während des Kongresses von Angostura noch auf die Gefahren der Majorisierung der Neu-Granadiner durch die Venezolaner verwiesen und die Ansprüche auf Gleichberechtigung durch den Abgeordneten Vergara von Casanare in die Verfassungsberatungen einbringen lassen819, so fühlten sich seit 1821 mehr und mehr die Venezolaner durch NeuGranada majorisiert und beherrscht.820 Allerdings drückte diese Schwerpunktverlagerung auch die Bedeutung Cundinamarcas als Menschen- und Ressourcenbasis für den Krieg aus, denn die gesamte Küstenregion der alten Tierra Firme und der Süden Neugranadas sowie Ekuador waren ja noch unter spanisch-royalistischer Kontrolle. Die Masse der Geldmittel, der Rekruten und der Brito Figueroa, “Los fenómenos de transferencia de la propiedad territorial agraria”, in: Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela ..., Bd. I, S. 192-220 (Ausgabe in sechs Bden.). 819 Cortázar, Roberto (ed.), Cartas y Mensajes del General Francisco de Paula Santander, 10 Bde., Bogotá 19531956, Bd. I, Bogotá 1953, S. 236f; Brief Santanders vom 8. April 1819 an Vergara. 820 König, Auf dem Wege zur Nation …, S. 238ff. 818 Michael Zeuske/Venezuela Seite 323 13.05.2016 Nahrungsmittel für die militärischen Kampagnen sowohl zur Befreiung Venezuelas und später Ekuadors und Perus kamen aus Neu-Granada.821 Der neue, der Allgemeine Kongreß, in der Historiographie auch als Congreso de Cúcuta bekannt, wurde am 6. Mai 1821 eröffnet. José Manuel Restrepo822, ein Neugranadiner und Historiker aus Antioquia (paisá), wurde zum ersten Präsidenten des Kongresses gewählt, bald von Dr. Miguel Peña (Abgeordneter für Isla de Margarita) abgelöst.823 Der Kongreß von Cúcuta ratifizierte das in Angostura beschlossene Grundgesetz der Republik und erließ am 30. August die Verfassung der Republik Kolumbien (unterschrieben vom Präsidenten des Kongresses, Dr. Miguel Peña)824, die am 6. Oktober 1821 sanktioniert wurde. Die Konstitution sollte für zehn Jahre unantastbar sein. Die Hauptstadt wurde nach Bogotá verlegt. Diese Verfassung sah eine zentralistische und repräsentative Regierungsform vor. Die Souveränität lag bei der „Nation“. Diese war in Realität nicht da, wurde aber imaginiert als Nation von Staatsbürgern, nicht als Abstammungsnation. Beim „Volk“ (pueblo) lag die Souveränität nicht, sondern bei den pueblos (Gemeinden); in Realität bei den Cabildos der „alten“ Oligarchien. Das reale Volk hatte sich nach dem Geschmack der Eliten zu sehr politisiert und galt ihnen zugleich als zu wenig „zivilisiert“. Überhaupt war das „Volk“ in Gestalt der Verfassungsfigur (pueblo) in den Verfassungen seit 1819 zwar symbolisch, aber an den entscheidenden Punkten der Macht- und Herrschaftsausübung nur noch marginal oder überhaupt nicht präsent. In der Verfassung von 1811 hatte der Begriff pueblo noch für die Gemeinschaft der städtischen Oligarchien gegolten; der Pueblo übte in dieser Verfassung das Recht auf Kandidatenaufstellung für Wahlprozesse aus. Seit der Verfassung von 1819 (Angostura; bis zur Verfassung von 1999) hatte das „Volk“ dieses Recht 821 Siehe die Darlegungen Santanders in einem Brief an Páez vom 12. Juni 1826, in dem Santander angesichts von La Cosiata die Einheit Kolumbiens verteidigte: Cortázar (ed.), Cartas y Mensajes ..., Bd. VI, Bogotá 1954, S. 355363, hier besonders S. 358. 822 Restrepo, José Manuel, Historia de la Revolución de la República de Colombia, Paris ¹1827, Besançon ²1858 (nach der Ausgabe 1858: Bedout, Medellin 1969, 6 Bde.); siehe: Múnera, Alfonso, El fracaso de la nación ..., passim. 823 Siehe die Liste der Abgeordneten in Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VIII, S. 191f. 824 Ebd., S. 24-40. Michael Zeuske/Venezuela Seite 324 13.05.2016 nicht mehr, sondern es wurden spezielle Körperschaften konstituiert, die immer der Auswahl durch den Staat und damit durch die jeweils Herrschenden unterlagen. Alle anderen Kandidaten, die sich als solche zu erkennen gaben, waren eigentlich nicht verfassungsgemäß – damit wurde der Rebellion von Caudillos sozusagen mit konstitutioneller Förderung Tür und Tor geöffnet.825 1821 traten die Bewohner der Gemeinden nur in der ersten Stufe des Wahlprozesses als Versammlung der sufragantes, in Erscheinung (Besitzzensus von 100 Pesos, ab 1840 sollte auch lesen und schreiben gefordert sein), die die eigentlichen Wahlmänner (electores; Zensus 500 Pesos) zu bestimmen hatte.826 Bolívar selbst war in der engen Fassung des Bürgerstatus radikal: “El que no sabe escribir, ni paga contribución, ni tiene oficio conocido, no es ciudadano [Der, der nicht Schreiben kann, keine Steuern zahlt noch anerkanntes Gewerbe betreibt, ist kein Bürger]”. 827 Die Exekutive bestand aus einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten, die für vier Jahre (von Provinz-Versammlungen) gewählt werden sollten. Der Präsident war dem Kongreß verantwortlich; ein Grundproblem der Macht, das speziell den Instituitonalisierungsfeind Bolívar diese Verfassung verhaßt machte. Die Minister waren dem Präsidenten verantwortlich. Die Legislative war in Senat und Repräsentantenkammer aufgeteilt. Die Mitglieder beider Kammern wurden auf indirekte Weise von den Electores bestimmt, die 500 Pesos828 Besitz nachweisen mußten. Das passive Wahlrecht war noch höher angesetzt. Ein Senator mußte, um gewählt zu werden, vierzig Jahre alt sein und einen Besitz von 4000 Pesos nachweisen; ein Repräsentant 25 Jahre alt und einen Besitz von 2000 Pesos haben. Ein extrem elitäres System, wie alle politischen Systeme der damaligen Zeit, auch wenn sie Republik hiessen. Njaim, Humberto, „Der Umgang mit der partizipativen Demokratie in Venezuela“, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela ..., S. 205-232. 826 Blanco; Azpurúa, Ramón, Documentos, Bd. VIII, S. 24-40. 827 Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, 1982 (im Folgenden: OC), Bd. II, S. 294. Brief aus Chuquisaca vom 27. Dezember 1825 an Santander. 828 Izard, “Período de la independencia y la Gran Colombia, 1810-1830”, in: Frankel, Benjamín A. (ed.), Política y economía en Venezuela, 1810-1976, Caracas: Italgráfica, 1976, S. 1-33, hier S. 28. 825 Michael Zeuske/Venezuela Seite 325 13.05.2016 Alle Kolumbianer aber erhielten die politischen „bürgerlichen“ (civiles) Grundfreiheiten: Rede-, Druck- und Versammlungsfreiheit ohne Zensur, allerdings mit der Einschränkung, daß keiner diese Rechte mißbrauchen solle. Damit, und mit einer auf Europa ausgerichteten Bildung sollten alle Kolumbianer die Möglichkeit erhalten, sich zu „Vollbürgern“ weiterzubilden und ihre „Zivilisation“ zu entwickeln. In diesem Sinne vertrat Bolívar die Konzeption einer „Erziehungsdiktatur“, wie es Masur bezeichnet hat. Allerdings sprach Bolívar in Briefen an Vertraute deutlich sein Mißfallen an dieser Verfassung aus829; sie war ihm noch zu wenig zentralistisch. Weitgehend sofort durchsetzen konnten sich die Repräsentanten der alten Oligarchien in ihren Vorstellungen zum Latifundium als privates Eigentum sowie die Oligarchien Venezuelas und der Plantagenregion des Caucatales im Süden Neu Granadas mit ihren Vorstellungen in der Sklavenfrage. Der Kongreß von Cúcuta erließ das so genannte Manumissionsgesetz (Libertad de los partos, manumisión y abolición del tráfico de los esclavos).830 Es besagte, dass ab Proklamation alle Kinder von Sklavinnen frei seien – ein „Gesetz des freien Bauches“ (Ley de partos oder Ley de vientre libre). Die jetzt formell „freien“ Sklaven wurden zu manumisos. Sie mußten aber dem Herrn ihrer Mutter bis zum 18. Lebensjahr dienen. Der hatte sie im Gegenzug zu beköstigen, unterzubringen, zu bekleiden und ihnen eine elementare Erziehung angedeihen zu lassen. Kontrollen für diese Bestimmungen waren nicht vorgesehen. Wenn die Volljährigkeit (18 Jahre) erreicht sei, sollten lokale Juntas entscheiden, wo und wie der Manumiso im normalen Arbeitsleben einzusetzen sei. Gleichzeitig sollten sich diese Juntas um eine Befreiung der 1821 vorhandenen Sklaven und Sklavinnen kümmern - gegen 829 Siehe die Briefe an Santander: Bolívar, OC, Bd. I. 365ff. Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela (18101865), 2 Vols. in mehreren Bden., Caracas: Rectorado de la Universidad Central de Venezuela, Facultad de Humanidades y Educación, 1994-1995. Vol. I, Bd. 4: Mano de obra: legislación y administración, estudio preliminar y selección por Antonieta Camacho, S. 43-45; siehe auch die heftigen Debatten auf dem Kongreß zwischen dem 27. Juni und dem 19. Juli 1821, also erst nach Carabobo: Congreso de Cúcuta. 1821, Libro de Actas, Bogotá 1971, S. 175-269. 830 Michael Zeuske/Venezuela Seite 326 13.05.2016 Entschädigung natürlich aus einem fondo de manumisión (für den die Republik kein Geld hatte, auch weil sie die Nationalschuld zurückzahlen musste).831 Mit dieser Restauration der Sklaverei war die entscheidende Weiche für die Wiederherstellung der alten hispanischen und nun „neuen“ republikanischen Extraktionsmaschine gestellt. Bolívar versuchte wenigstens rechtliche Festlegungen durchzubringen, die die Position der Sklaven stärkten, so erliess er - allerdings in lokalem Rahmen - am 24. März 1824 ein Dekret mit dem Titel Protección a los esclavos para que escojan en libertad el dueño que les convenga832 und am 28. Juni 1827, gab er ein Dekret heraus mit dem Titel Dando eficacia a la Ley de Manumisión (Effizienz für das Gesetz über Manumission).833 Beide Dekrete zeigen, dass es sich wirklich um eine Restauration der Sklaverei handelte, die allerdings im Gegensatz etwa zur atlantischen Massensklaverei auf Kuba stark eingeschränkt – was vielleicht am besten in der vor Bolívar erlassenen Höchststrafe von 29 Peitschenhieben zum Ausdruck kommt. Weder auf Kuba, noch in Brasilien oder im Süden der USA gab es diese Grenze.834 Bolívar hatte zwar eine hohe Sensibilität für die politische Wirkung sozialer Fragen entwickelt hatte, aber er erlahmte in seinem Kampf gegen die Sklaverei. Das Gesetz der Manumission zielte sicherlich auf eine graduelle Abschaffung der Sklaverei, die durch den Wegfall des Sklavenhandels sowieso auf die Dauer hätte nicht existieren können. 1821 aber sicherte diese Sklavengesetzgebung den Herren der Haciendas die Kontrolle über die Arbeitskräfte - und der Extraktionsmaschine das Funktionieren. Trotz allem verbalen Liberalismus war klar, dass die Besitzer bestimmen wollten, wie sie ihre Arbeitskäfte behandelten und wie die Institution Sklaverei aufzuheben sei. Vor allem aber schoben sie der Selbstbefreiung der Sklaven einen Riegel vor, sicherten ihre Herrschaftsrechte und beschränkten das Recht Bolívars und des Staates, 831 Universidad Central de Venezuela, Cuerpo de leyes de la República de Colombia. 1821-1827. Introducción Siso Martínez, José M., Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1961, S. 31-32. 832 Bolívar, “Protección a los esclavos para que escojan en libertad el dueño que les convenga” (Trujillo, Peru, 24. März 1824), in: Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 289f. 833 Bolívar, “Dando eficacia a la Ley de Manumisión” (Caracas, Cuartel General Libertador, 28. Juni 1827), in: Ebd., Bd. II, S. 345-352. 834 Ebd., Artikel 10, S. 348. Michael Zeuske/Venezuela Seite 327 13.05.2016 Sklaven zu den Waffen zu rufen. Damit war auch die Herrschaft der alten Oligarchien und der neuen Eliten der Städte über das umgebende Land und seine bäuerlichen Bewohner gesichert. Venezuela kannte keine freie Bauernschaft mit eigenem Bodeneigentum. Bereits im August 1821 klagte eine Gruppe von Hacendados aus Ocumare de la Costa, wo Bolívar 1816 die „absolute Aufhebung der Sklaverei“835 verkündet hatte, dass sie ihre Sklaven nicht an das Heer abgeben wollten.836 Ähnliches geschah in anderen Landesteilen, so dass der Kongreß von Cúcuta auch im Falle der zu den Waffen gerufenen Sklaven über Entschädigungen diskutieren und dekretieren musste (14. Oktober 1821).837 Vom Kongress von Valencia sollte dann aber 1830 das Alter, bis zu dem „freie“ Manumisos ihren Herren zu dienen hatten, von 18 auf 21 Jahre heraufgesetzt werden. Im Grunde hatte sich die so genannte „Sklavenbefreiung“ zu einer rechtlich abgesicherten Institution verwandelt, die die jungen Sklaven zu abhängigen peones machte. Die Haciendabesitzer behandelten aber nicht nur Sklaven als Peones, sondern alle farbigen Bauern. Um 1830 gab es in Venezuela noch ca. 42500 Slaven, die ca. 4,5-5% der Gesamtbevölkerung ausmachten (man vergleiche mit Kuba: 1827 - Slaven ca. 30%! der Bevölkerung, knapp 200.000).838 1844 war dieser Anteil nur 1,75% groß oder klein. Allerdings stellten Sklaven immerhin noch 17% der Arbeitskräfte in den Hacienda-Regionen der Küste und nur 3% der Bevölkerung Venezuelas fiel unter die Kategorie Sklavenbesitzer. Diese Zahlen verschleiern, dass sich seit 1830 fast alle landlosen Bauern in ähnlicher Lage wie Sklaven und ehemalige Sklaven befanden – das ländliche Venezuela mit Ausnahme der Llanos und der Guayanas war, wenn überhaupt, eine „Nation“ sehr vieler Peones und weniger Hacendados, die meist auch noch in den Städten der Küste lebten. Die Gemeinden der Indios in den Peripherien verloren das recht auf ihre Territorien. 835 Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 55-56. Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela …, Bd. I, 1800-1830, Estudio preliminar Carrera Damas, S. 297. 837 Izard, El miedo ..., S. 63, FN 74. 838 Lombardi, Decadencia ..., S. 202f. 836 Michael Zeuske/Venezuela Seite 328 13.05.2016 In den 1840er Jahren dann war die Sklaverei im Wortsinne eine „sterbende Institution“839, weil ihr einerseits langsam die Sklaven wegstarben, andererseits immer mehr liberale Rebellionen die Aufhebung der Sklaverei zum Kernpunkt ihrer Propaganda machten. Mit der Sklaverei wurde nochmals Politik gemacht, als José Gregorio Monagas die Sklaverei am 24. März 1854 vor allem aus dem Grunde aufhob, um seinen Gegnern die Möglichkeit zu nehmen, mit Propaganda gegen die Sklaverei Volksaufstände anzuzetteln. Bolívar konzentrierte sich seit 1820 auf die Vollendung der VenezuelaKampagne und ab 1821 auf die Befreiung des „Südens“ (Ecuador und Peru sowie Hochperu, heute Bolivien, 1822-1825). Die Eroberung des „spanischen“ Kernvenezuela dauerte noch erstaunlich lange, nämlich von Mitte 1821 (Schlacht von Carabobo sowie patriotischer Aufstand in Maracaibo) bis zur endgültigen Eroberung von Coro, Maracaibo und Puerto Cabello 1823. Das Land wurde in kleinere Departements unterteilt. In der Verfassung heißt es „sechs oder mehr Departements, für die leichtere und bequemere Verwaltung“, das heißt, der Kongreß konnte die Zahl der Departements verändern. In den Departements entfaltete sich faktisch eine Doppelherrschaft: regierungsseits und de jure (der Verfassung nach840) wurde sie von Intendanten verwaltet, die direkt der Regierung in Bogotá unterstanden, dazu kam wegen der unsicheren Zeiten ein militärischer Chef, der Comandante General; die Silhouetten des spanischen Systems der Generalkapitäne sind überdeutlich. Die nächste territoriale Untereinheit waren die Provinzen, die von Zivilgouverneuren verwaltet werden sollten. Die alten Provinzen der Generalkapitanie (Guayana, Cumaná, Barcelona und Margarita) wurden zum Departement „Orinoco“ zusammengefasst (Militärkommandant José Francisco Bermúdez), die von Coro, Maracaibo, Mérida und Trujillo zum Departement „Zulia“ (Militärkommandant Santiago Mariño) und die von Caracas und Barinas zum Departement „Venezuela“ (Militärkommandant José Antonio Páez). Damit war unterhalb der Decke Großkolumbiens die 839 840 Ebd., S. 164f. Blanco; Azpurúa, Documentos ..., Bd. VIII, S. 37. Michael Zeuske/Venezuela Seite 329 13.05.2016 Dreiteilung des Landes de jure vollzogen, wogegen sich vor allem die Reste der alten kolonialen Oligarchie von Caracas wütend mit dem Argument wehrte, kein Angehöriger des Cabildos sei auf dem Kongreß von Cúcuta gewesen.841 Angesichts des militärischen Sieges des Patrioten konnten die Mantuanos keinen offenen Widerstand leisten. Die Oligarchien von Maracaibo und die der östlichen Städte, vor allem von Cumaná, waren eher begünstigt durch diese Dreiteilung, denn Cumaná und Maracaibo wurden de jure Caracas gleichgestellt. Venezuela, vormals eine selbständige koloniale Einheit unter der Führung von Caracas (seit 1777), wurde damit zu einer Provinz des alten Vizekönigreiches Neu-Granada, obwohl alle Departementshauptstädte auch einen Hohen Gerichtshof (Corte Superior), nach der Tradition der Audiencias, bekamen. Die Oberschicht von Caracas, die Bogotá sowieso hasste, fand sich in der Feindschaft zur Metropole vereinigt. Eine Reise von Caracas in die Hauptstadt Bogotá dauerte bei normalen Witterungsverhältnissen 50-70 Tage (wie eine solche Reise in der Gegenrichtung verlief – die den Vorteil hatte, die Flüsse abwärts fahren zu können – zeigt der Bericht von José Cortés de Madariaga über die Reise von Bogotá über die Flüsse Río Negro, Meta und Orinoko nach Caracas).842 David Bushnell hat die kolumbianischen Kongresse in der Zeit von 1821 bis 1829 und die Beteiligung der Abgeordneten an ihne untersucht. Er konnte zeigen, dass schon wegen der räumlichen Entfernung viele Abgeordnete aus Ekuador und Venezuela nicht an den Sitzungen teilnahmen. Wegen dieser eigentlich simplen Mißachtung der infrastrukturellen Gegebenheiten verlor der Kongreß in Bogotá einerseits an Autorität in den Peripherien. In Venezuela etwa gab es vor 1840 außerhalb der 841 Ebd., S. 191f. “Diario y observaciones del Presbítero Doctor José Cortés de Madariaga, en su regreso de Santa Fe a Caracas, por la vía de los ríos Negro, Meta y Orinoco ... Salió de Santa Fe el 14 de junio y llegó a Calabozo el 15 de agosto de 1811“, in : Relaciones Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno, Antonio, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 70), S. 497-532; siehe auch den Reisebericht von: Romero, Juan María, “Viaje que hizo Juan María Romero, desde Guayaquil, por Bogotá, el Meta, el Apure, hasta el pueblo de Cabruta, y de aqui por el Interior hasta Caracas, en 1801”, in: Blanco; Azpurúa (eds.), Documentos, Bd. II, S. 36-44 (Dokument 286). des US-Amerikaners Duane, William, A visit to Colombia, in the years 1822 & 1823, by La Guayra and Caracas, over the cordillera to Bogota, and thence by the Magdalena to Cartagena, Philadelphia: Thomas H. Palmer, 1826. 842 Michael Zeuske/Venezuela Seite 330 13.05.2016 Städte überhaupt keine künstlich angelegten Strassen oder Brücken (mit relativer Ausnahme des so genannten „neuen“ Weges843 zwischen Caracas und La Guaira), sondern nur Wege und Wasserwege (das blieb auch so bis etwa 1870).844 Andererseits wurde der Kongreß immer mehr zum Instrument kapitaliner Interessen der Gruppe um Santander wurde845, obwohl zunächst keine bewußte antivenezolanische oder antiekuadorianische Politik betrieben wurde.846 Die beiden Historiker Barbara und Stanley Stein haben hinter den Konflikten des politischen Konstrukts Großkolumbien sogar ein makrostrukturelles Grundproblem politischer Steuerung von Konflikten der frühen republikanischen Zeit sehen wollen: die alten Zentren der Kolonialzeit wollten ihre beherrschende Stellung ausbauen oder wiedererlangen (wie Bogotá, Cartagena oder Panama), die neuen, in den bourbonischen Reformzeiten des 18. Jahrhunderts emporgestiegenen Zentren von Regionen (wie Maracaibo und Cumaná in Venezuela) wollten mehr Autonomie. Im Falle von Caracas ist diese Beziehung besonders kompliziert: die Stadt war ein traditionelles Zentrum einer eigenen politischen Einheit, die allerdings formell erst mit den bourbonischen Reformen geschaffen worden war. Die lokale Ebene der Verwaltung laut der Verfassung von Cúcuta waren die „cabildos o municipalides de los cantones“847, die ihrerseits in parroquías unterteilt wurden – die munizipale oder kommunale Ebene war also ganz traditionell, wie in spanischen Kolonialzeiten, konfiguriert; was ganz praktisch bedeutete, dass die lokale Macht bei den traditionellen Eliten der pueblos (Kommunen) blieb.848 Am 8. Oktober 1821 erging jedenfalls ein Dekret des Kongresses über die „Organisation der Departements, Provinzen und Kantone, in 843 Siehe die Beschreibung bei Robert Ker Porter, die eher an eine Gebirgswanderung auf Madeira erinnert: Dupouy, Walter (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842. A British Diplomat in a Newborn Nation, Caracas: Editorial Arte, 1966, S. 20-22, 27. 844 Walter, “Transport und Verkehr”, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) ..., S. 67-79; Karte, S. 70; Olivar, José Albert, „Caminos y carreteras en Venezuela desde la óptica Liberal y Conservadora”, in: Olivar, Caminos y carreteras en Venezuela. Construcción de la carretera del Este Caracas-Guatire, Caracas: Comala.com, 2004, S. 25-41. 845 Bushnell, David, El regimen de Santander en la Gran Colombia; traduccion de Jorge Orlando Melo, Bogota : El Ancora, 1985, S. 71 und S. 317-339, passim. 846 König, Auf dem Wege ..., S. 239. 847 “Constitución de la República de Colombia”, Rosario de Cúcuta, 6. Oktober 1821, in: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VIII, S. 24-40, hier 37 (Dok. 1864). 848 Ebd., S. 25. Michael Zeuske/Venezuela Seite 331 13.05.2016 die sich die Republik Kolumbien unterteilt“.849 Kolumbien wurde in sieben Departements unterteilt: 1. Orinoco mit den Provinzen Guayana, Cumaná, Barcelona und Margarita; Sitz des Intendanten: Cumaná. 2. Venezuela mit den Provinzen Caracas und Barinas; Sitz: Caracas. 3. Zulia mit dem Provinzen Coro, Trujillo, Mérida und Maracaibo; Sitz: Maracaibo. 4. Boyacá mit den Provinzen Tunja, Socorro, Pamplona und Casanare; Sitz: Tunja. 5. Cundinamarca mit den Provinzen Bogotá, Antioquia, Mariquita und Neiva; Sitz: Bogotá. 6. Cauca mit den Provinzen Popayán und Chocó (Nóvita und Citará); Sitz: Popayán. 7. Magdalena mit den Provinzen Cartagena und Islas (San Andrés, etc.) sowie Santa Marta und Río Hacha; Sitz: Santa Marta bis zu Befreiung von Cartagena.850 1824 wurde dieses System auf Betreiben des starken Mannes Páez durch eine admistrative Reform geändert. Aus drei venezolanischen Departements wurden vier gemacht; zu „Venezuela“; „Zulia“ und „Orinoco“ kam noch das Llanodepartement „Apure“ hinzu aus den alten Provinzen Apure und Barinas, mit Sitz des Intendanten in Barinas.851 Der Apure galt als Páez’ politisches Feudum. Damit wurde aber auch eine Tradition der Schaffung administrativer Strukturen für die Klienteln von Caudillos in Gang gesetzt, die in Venezuela bis in das 20. Jahrhundert lebendig blieb. Der Sieg der Patrioten und Bolivarianer galt den Zeitgenossen keineswegs als endgültig. Spanisch-monarchistische Truppenkontingente hielten sich bis 1823 in Küstenfestungen Venezuelas; in Peru standen bis 1824/25 starke Verbände unter spanischen Generalen. Kuba und Puerto Rico waren Aufmarschgebiete für spanisches Militär; die Häfen der Inseln und – bis 1823 – die Küstenstädte von “Ley sobre la organización y réjimen político de los departamentos, provincias y cantones en que se divide la República”, Cúcuta, 8. Oktober 1821, in: Ebd., S. 134-139 (Dok. 1907). 850 Ebd., S. 134. 851 Ley del 25 de Junio, in: UCV, Cuerpo de Leyes de la República de Colombia, Caracas 1961, S. 191-195. 849 Michael Zeuske/Venezuela Seite 332 13.05.2016 Puerto Cabello bis Maracaibo im Westen Venezuelas bildeten Stützpunkte für die spanische Marine.852 Den Truppen unter Bolívar und Páez fiel es schwer, die kreolischen Soldaten unter spanischen Offizieren endgültig aus den Küstengebieten und einigen großen Städte Venezuelas zu vertreiben. In Maracaibo hatte es 1821 eine kurze Rebellion der Stadtbevölkerung (check) und eines Teils der Oligarchie gegeben, die sich beeilte, die Stadt der „Sache der Republik“ anzuschließen (wie auch Coro und Panama). Cartagena wurde von Montilla und Padilla befreit. Maracaibo und Coro wurden aber fast sofort wieder von den aus Carabobo fliehenden spanischen Truppen zurückerobert. Deutlich wird das Muster, dass die Patrioten alle Städte befreien mussten; pejorativ ausgedrückt, sie mussten die Städte gegen den Willen der Mehrheit der lokalen Oligarchien besetzen. Ende 1821 entschloß sich Bolívar zur Internationalisierung des Konfliktes. Der erste Schritt des Angriffs auf die Hochburg spanischer Macht in Amerika, das relativ intakte Vizekönigreich Peru, führte über Ekuador. Eine neue Generation junger Offiziere, die im Krieg groß geworden waren und deren Exponent Antonio José de Sucre y Alcalá (Cumaná, 3. Februar 1795 – Berruecos, ermordet, 4. Juni 1830)853 war, begleitete ihn. Damit trennten sich das Schicksal Venezuelas und Bolívars – zumindest räumlich, denn Bolívar ist danach nur noch kurz in Venezuela gewesen. Zugleich wurden Grundlagen für protagonistische Rolle Venezuelas im ehemaligen Spanischen Amerika gelegt – in der Tradition der nuestra América [unser Amerika]. Die Royalisten unter Tomás Morales hatten Puerto Cabello, Coro und Maracaibo noch starke Positionen; erst 1823 gelang der republikanischen Marine unter dem Admiral José Prudencio Padilla854, die spanische Marine auf dem 852 Semprún, José; Bullón de Mendoza, Alfonso, El ejército realista en la independencia americana, Madrid: Mapfre, 1992; Fernández, Delfina, “El caso del ejército pacificador aniquilado: Costa Firme”, in: Fernández, Últimos reductos españoles en América, Madrid: Editorial Mapfre, 1992, S. 73-135; Fernández, “El caso del virreinato del Perú ante la pérdida del domino del mar”, in: Ebd., S. 137-153. 853 Sucre, José Antonio de, De mi propia mano. Selección y Prólogo de Salcedo-Bastardo, José Luis; Cronología Quintero Montiel, Inés Mercedes; Romero, Andrés Eloy, Caracas: Biblioteca Ayacucho, 1981. 854 Helg, Aline, „Simón Bolívar and the Spectre of Pardocracia: José Padilla in Post-Independenca Cartagena”, in: Journal of Latin American Studies Vol. 35:3 (2003), S. 447-471; Helg, “The Pardo and Liberal Challenges to Michael Zeuske/Venezuela Seite 333 13.05.2016 Maracaibosee zu schlagen (24. Juli 1823). Morales kapitulierte und floh nach Kuba. Die hochdekorierten konterrevolutionären Truppen des venezolanischkanarischen Generals Francisco Tomás Morales erreichten den kubanischen Oriente und Santiago de Cuba. Sie bestanden vor allem aus schwarzen und farbigen Soldaten und Offizieren. Der kubanische Generalkapitän Francisco Dionisio Vives hatte angesichts der hochdekorierten Soldaten mit Militärrängen Bauchschmerzen und schrieb an Tomás Gener über seine Angst vor: „la ambición de los negros y mulatos que desearan llegar a esos honores por cualquier otro camino“.855 Páez konnte im November 1823 auch die Festung Puerto Cabello einnehmen. Damit war der Unabhängigkeitskrieg in Venezuela offiziell zu Ende, nicht aber die Zeit der Guerrillas; sie hielten sich im Grunde bis 1915. Viele Männer aus den Unterschichten schlossen sich nun als Feinde einzelner patriotischer Offiziere, aus sozialem Protest oder als Monarchisten, als Gegner der Sklaverei oder einfach, weil sie das Leben im Bürgerkrieg gewohnt waren, den Guerrillas in den Hinterländern Venezuelas an. Diese Hinterländer, da der patriotische Mythos immer Bolívar in den Mittelpunkt stellt und Bolívar niemals mehr nach Angostura kam, fielen wieder in ihre Rolle als periphere Gebiete zurück (mitAusnahme von Angostura/Ciudad Bolívar); die Apureregion blieb ein soziales Pulverfass und vor allem die südlicheren Gebiete Guayanas (Alto Orinoco, Amazonas) blieben gar bis um 1950 am Rande der Nation. Die Begründung des informellen Machtsystems der Republik In der Geschichte des westlichen Konstitutionalismus und überhaupt in der Politikgeschichte des atlantischen Raumes gibt es ein eigentümliches Verhältnis Bolívar’s Project”, in: Helg, Liberty and Equality in Caribbean Colombia 1770-1835, Chapel Hill; London: The University of North Carolina Press, 2004, S. 195-236. 855 Zitiert nach: Deschamps Chapeaux, Pedro, “Distinciones”, in: Deschamps Chapeaux, Los batallones de pardos morenos libres. Apuntes para la historia de Cuba colonial, La Habana: Editorial Arte y Literatura/Instituto Cubano del Libro, 1976, S. 44-51, hier S. 51. Michael Zeuske/Venezuela Seite 334 13.05.2016 zwischen Europa und dem ehemaligen Kolonien Spaniens in Amerika (sowie Brasilien), dem heutigen Lateinamerika, das vielleicht zu dieser Zeit begann. In Europa herrschte nach 1815 die konservativ-christliche Restauration („Heilige Allianz“) – in Amerika retteten die Bolivarianer mit ihren militärischen Erfolgen und ihrem konstitutionellen System, der Republik und der Verfassung selbst, das Überleben des revolutionären Liberalismus, der in Europa erst mit der Julirevolution 1830 wieder zum Zuge kam. Als revolutionäre Liberale legten sich die Staatsgründer um Bolívar sich auch mit der katholischen Kirche an. Auf dem Kongreß in Cúcuta wurden (Gesetz vom 28. Juli 1821) die Konvente der Mönchorden aufgehoben (die Franziskaner für das 19. Jahrhundert endgültig 1837), in denen nicht wenigsten 8 Vollmönche Mitglied waren. Alle Massnahmen der Liberalen zielten vor allem auf die Zerstörung der Macht der Kirche als Säule des Kolonialismus und die Kapitalisierung des Bodenbesitzes (mano muerta) der Kirchesowie des kommunalen Gemeinbesitzes der Indios und der Städte.856 Die Liberalen wollten auch den übermäßigen Einfluss der Orden und der Kirche auf die Landbevölkerung brechen. Damit gingen auch die traditionellen Formen politischer Vertretung der Unterklassen, die religiösen Gremios und Cofradías zu Bruch. Die Unterschichten mussten sich noch dichter an Caudillos und Caziques anschliessen, um ein Minimum an Schutz zu haben.857 Lino Gómez Canedo ist in seiner Geschichte des Franzikanerordens auch ganz deutlich in Bezug auf das Gesetz von 1821: er hielt es zunächst für eine Anwendung eines Reformgesetzes des Heiligen Stuhls, musste sich aber bald eines besseren belehren lassen.858 Die geschriebene oder besser, gedruckte, Verfassung, ein neues staatsrechtliches Instrument der Politik seit der französischen Revolution, um die Gómez Canedo, “La supresión de las ordenes religiosas en Venezuela”, in: Memoria del Tercer Congreso Venezolano de Historia Eclesiastica, Barquisimeto, 28 de febrero al 4 de Marzo de 1977, Caracas: Editorial Arte, 1980, S. 269-288; Zeuske, “’Gott regiert im Himmel, auf Erden wir’: Bemerkungen zum Verhältnis von Revolution und Religion im Werk von Simón Bolívar, in: Asien, Afrika, Lateinamerika (AALa), 17:1 (1989), S. 112-121. 857 Gilmore, Robert, Caudillism and Militarism in Venezuela, 1810-1910, Athens : Ohio University Press, 1964, S. 24. 858 Gómez Canedo, “Destrucción y extinción”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 171-176. 856 Michael Zeuske/Venezuela Seite 335 13.05.2016 sozialen und politischen Gruppen eines Territoriums zu einer souveränen, begrenzten und imaginierten „Gemeinschaft von Gleichen“, die man mehr und mehr mit dem Wort „Nation“ bezeichnete, zu formen, mußte in Amerika aber und hier werden die alten Korporationen der Macht deutlich - von den korporativen Trägern der lokalen Macht beschworen werden. Ein Dekret des Kongresses legte am 20. September 1821 fest, wer alles schwören sollte: „Die Departementschefs, Tribunale [Gerichte] jedweder Klasse, Gouverneure, Richter, Cabildos, die sehr respektablen Erzbischöfe, Bischöfe, Prälaten, Kirchencabildos, Universitäten, religiöse Gemeinschaften und andere Korporationen, Angestellte und Büros der Republik“, aber auch „überall dort, wo militärische Einheiten existierten ... (sollte) vom Chef, der Offizialität und der Truppe“ geschworen werden.859 Der erste deutliche Widerstand gegen die Verfassung von Cúcuta ging eben von einer solchen Lokalkorporation aus, wie bereits erwähnt, dem sehr traditionellen Cabildo von Caracas: Bereits im Dezember 1821 und im Januar 1822 protestierte der Cabildo von Caracas gegen die Verfassung der Republik Kolumbien. Die Mitglieder des Cabildos beschworen die ungeliebte Verfassung nur mit Vorbehalten unter dem formaljuristisch berechtigtem Vorwand: „los representantes [del Cuerpo Municipal de Caracas] no han tenido parte en su formación ni creen adaptable á este territorio algunas disposiciones de aquel código, y de las leyes que emanen de él [Die Repräsentanten der Munizipalkorporation von Caracas haben keinen Anteil an ihrer [der Verfassung] Ausarbeitung gehabt und glauben einige Dispositionen diese Kodex und der Gesetze, die von ihm ausgehen, auch nicht anwendbar für dieses Territorium].“860 An der Machtposition des Cabildo von Caracas zeigte deutlich sich das Überleben der alten kolonialen und lokalen Machtstrukturen. Der trockene Kommentar von José Félix Blanco (Caracas, 24. September 1782 – Caracas, 18.März 1872), dem Pfarrer der Llaneros, dazu lautete: Er habe auf dem Kongreß von Cúcuta sehr wohl „5 caraqueños naturales y 2 vecinos casados en Caracas [fünf in Caracas Geborene 859 860 Blanco; Azpurúa, Documentos ..., Bd. VIII, S. 99-100 (Dokument 1888). “Publicación y juramiento de la Constitución, in: Ebd, S. 230-237, S. 236 (Dok. 1961). Michael Zeuske/Venezuela Seite 336 13.05.2016 und zwei in Caracas verheiratete Bürger]”861 gesehen. Der patriotische Pfarrer und Guerrillaführer empfahl den „señores Municipales protestantes, que si no hubiesen preferido quedarse con los godos, en vez de ir á los campos de la batalla á pelear por la libertad de la Patria ..., no habría habido lugar á protestas ni a condiciones“.862 Relativ schnell erschien 1822 ein Artikel in einer Zeitung, die wie das spätere liberale Blatt El Venezolano hiess (Caracas), der auf das Konto eines Intellektuellen und Zeitungsmannes, Tomás Lander (Caracas, 29. Dezember 1787 – Caracas: 6. Dezember 1845) ging, der 1813 Sekretär Bolívars gewesen war (und somit eventuell das Dekret über die Guerra a muerte mitformuliert hatte) und selber den Protest des Cabildo mitgetrug.863 Darin hieß es: „Drei unterschiedliche Verfassungen und alles republikanische, sind auf dem was sein [Kolumbiens] Territorium bildet, formuliert worden: die föderale Verfassung von Venezuela [1811], die von Santo Tomás de Angostura [1819] und die der Villa del Rosario de Cúcuta [1821]. Wenn wir zunächst nur die Weise, Ruhe und das Maß beachteten mit denen diese Verfassungen formuliert worden sind, würde die von Venezuela [1811] ohne Zweifel den Vorzug vor den anderen erhalten“. 864 Damit hatte die antikolombianische und separatistische Bewegung der Mantuanos von Venezuela einen ersten Grundsatztext.865 Bogotá ließ seinen Innensekretär (Innenminister) protestieren.866 Er erinnerte daran, dass sich ganz „Neu-Granada ... dem in Guayana [also Venezuela] angenommenen Grundgesetz angeschlossen“867 habe, ebenso wie „der Isthmus von Panamá, der die Verfassung [von Cúcuta] proklamiert habe, ohne miserable Proteste“.868 1823 wurden die Spanier durch ein Dekret des Landes verwiesen - da sie nach Meinung der neuen Machthaber gegen die Unabhängigkeit konspirierten. Die 861 Ebd., S. 237. Ebd. 863 “El próximo Congreso de Colombia en Bogotá”, in: Ebd., S. 273-276 (Dok. 1972). 864 Ebd., S. 273-276, hier S. 273. 865 Der Cabildo legte die Gründe für seinen Schwur mit Bedingungen nochmals in extenso am 15. Juli 1821 in einem Acta dar, siehe: Ebd., S. 475-476. 866 “Oficio de Ministro del Interior para el Intendente de Venezuela”, Bogotá, 26. Februar 1822, in: Ebd., S. 317318 (Dok. 1992). 867 Ebd. 868 Ebd. 862 Michael Zeuske/Venezuela Seite 337 13.05.2016 Ausweisung traf vor allem den Rest der Kaufleute. Ein großer Teil hatte schon schon seit 1820 oder früher das Land verlassen, wie die katalanischen Händler des venezolanischen Ostens. Viele flohen nach Kuba gingen.869 Sie nahmen ihre Erfahrungen und ihr Metallgeld mit. Einige wenige blieben aber auch in CaracasLa Guaira. Sie schlossen sich den Konservativen um den Cabildo und Páez (ab 1826 an). Die Krise von 1825 führte auch dazu, dass die meisten von Bolívar gerufenen Spekulanten, Waffenhändler, Kapitäne und Schmuggler dem Land der Rücken kehrten. Damit gab es faktisch kaum noch eine Geldwirtschaft, schon gar keine souveräne Geldwirtschaft. Das Land verlor die Kontakte zu den traditionellen Märkten des Kakaos in Mexiko und Spanien; Spanien seinerseits sperrte die Märkte Kubas und Puerto Ricos. Die Kaufleute und ihre Familien galten auch in Spanien und seinen Restkolonien (Kuba und Puerto Rico) als Verräter. Dazu kamen die Probleme mit den ausländischen Kaufleuten (vor allem Engländer), die die Staatsschuld Kolumbiens nur noch als finanzielle Spekulations-Akkumulationsmaschine870 sahen. Auch mit Arbeitskräften gab es Prolem, denn viele freie Pardos der Städte mussten zwar auf den Plantagen arbeiten, aber keiner wollte wirklich unter den Bedingungen wie früher die Sklaven arbeiten; die Gruppe der Sklaven alterte schnell, da es keinen Sklavenhandel mehr gab. Steuern flossen nicht und das Land hatte eine riesige Auslandsschuld. Unter diesen Bedingungen konnten Staatseinnahmen nur aus Zöllen oder aus dem Verkauf der Ländereien der Kirche sowie kommunaler Ländereien (Indiogemeinden und Städte) kommen. Alle Politiker Freihändler oder wurden es und stimmten darin überein, dass das wirtschaftliche Heil des Landes nur in einer Rekonstruktion der Extraktionsmaschine aus Plantagen- und Sklavenexportwirtschaft sowie Exportund Importzöllen bestehen konnte - im Grunde bis 1936. Das musste zugleich eine soziale Restauration sein. Das Land hätte aber einer wirklichen sozialen Banko, Catalina, „El papel de los comerciantes en el movimiento separatista venezolano“, in: Banko, El Capital Comercial en La Guaira y Caracas (1821-1848), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1990 (Biblioteca de la Academía Nacional de la Historia, 47), S. 65-69. 870 Banko, „La deuda pública como fuente de acumulación de capital”, in: Ebd., S. 69-74. 869 Michael Zeuske/Venezuela Seite 338 13.05.2016 Revolution und eines gesunden Protektionismus durchaus bedurft, vor allem um die Subsistenzlandwirtschaft, die Nahrungsmittelversorgung sowie den inneren Handel, die interne Akkumulation und das Handwerk zu fördern. In die Lücke, die die Ausweisung der Spanier hinterlassen hatten, waren Spekulanten vorgedrungen – vor allem Engländer, Amerikaner, Deutsche, Schotten, Iren (oft ehemalige Offiziere, karibische Kaufleute aus Jamaika oder Trinidad oder Waffenschmuggler), oft auch die Handelspartner, die in Angostura 1817-1819 begonnen hatten, Schmuggelgeschäfte mit den Patrioten zu treiben. Die erste Welle dieser Spekulanten und Glücksritter, die meist als bitterarme Handelsgehilfen ins Land kamen und Gewinne machten, zog sich schon 18261830 wieder zurück, nachdem die erste Bonanza durch die Krise von 1825 ein Ende gefunden hatte. Ein weiterer Ankerstein der Restauration der Dominanz kreolischer Eliten war die Legitimierung der der neuen Macht zwischen Realität der vielen Generale mit ihren patriotischen Truppen sowie Guerrillamilizen, der formalen Verfassung und der Sicherung des informellen Machtsystems. Die alte Tradition des sozusagen natürlichen Legitimation des Königs fiel aus und die neuen und alten Eliten (Generale und Reste der alten Oligarchie) konnten sich nicht auf ein neues Königtum einigen. Informell und formal (nicht inhaltlich, denn der Inhalt war vorher durch Körperlichkeit, Mut, Charisma und Gleichheit der Starken geprägt) übernahmen die Eliten den Wahlmodus der Llaneros aus den Unabhängigkeitskämpfen – der beste Krieger und beste Charismatiker soll Caudillo sein. Darin zeigte sich eine für die Geschichte des neuen Venezuela, bis 1830 noch unter dem konstitutionellen Dach „Groß“-Kolumbiens, außerordertlich wichtige Facette der politischen Kultur. Die Eliten mussten eine neue Methode finden, die Kandidaten für die Regierung zu bestimmen, die gleichzeitig von den Unterschichten und Oligarchien akzeptiert wurden. Ganz pragmatisch – es ging um das Recht der Kandidatenaufstellung und – prüfung. Nach einigen Konflikten zwischen 1821 und 1825, die sich vor allem um die Kosten für Armee und Michael Zeuske/Venezuela Seite 339 13.05.2016 Kriegführung drehten, aber auch mehr und mehr um die soziale und politische Stellung der Militärs, wurde eine infomelle Methode entwickelt, den durchsetzungsfähigsten militärischen Anführer als obersten Chef (ab 1830 auch als formalen Präsident) zu wählen, der in der Lage war, die schlagkräftigste Armee persönlicher Milizen zu organisieren und unter Kontrolle zu halten und zugleich die Interessen des Machtkerns der Oligarchie zu sichern. Diese eher krude erscheinende „Wahl“ gibt einen Schlüssel für die politische Geschichte Venezuelas von 1821 bis 1908 und für die Traditionen der politischen Kultur bis heute. Das informelle System der Wahl des besten Caudillo durch die grauen Eminenzen der Oligarchie, der durchaus auch eine radikale Sprache führen durfte, um von Llaneros und Volk verstanden zu werden, gewann beträchtliche Flexibilität und Subtilität, man könnte sogar von Eleganz sprechen. Ansatzpunkte dieses informellen Systems waren die Wahlen unter militärischer Kontrolle, wie sie bei den Llaneros üblich waren; Bolívar hatte dieses Procedere bei seinen Treffen mit Páez vorgemacht und im formalen Wahlreglement von 1818 etwas anderes festgeschrieben, wobei er natürlich die Truppen unter seiner Kontrolle meinte. Seit 1825-1830 gehört dieses informelle Wahlsystem zur Sozialisierung der Venezolaner und Venzolanerinnen. Die oberste Autorität, sprich die informelle Macht im Staate, beruhte auf zwei Kernelementen: erstens die Fähigkeit eines individuellen Caudillo vor allem durch seine Charisma und seine Rhetorik in konkreten Situationen große Mengen bewaffneter Männer zu kontrollieren, die willens sein mussten, für ihren Führer zu marschieren und für ihn und die Beute, die er versprach, zu sterben. Dafür musste der Caudillo die rüde und respektlose Sprache der Llaneros führen können und ihre raue Körperlichkeit demonstrieren können. Zweitens sollte der oberste Machthaber mit Hilfe von Doktoren (Rechtsanwälten, Wissenschaftlern) die Bürokraten von Caracas kontrollieren können, zugleich aber auf ihren Rat hören. Und er musste sich mit der Elite der Metropole ins Benehmen setzen können – und gleichzeitig den Zerfall des Gebietes, das 1777-1811 als Venezuela entstanden war, verhindern (wozu auch Michael Zeuske/Venezuela Seite 340 13.05.2016 der mächtigste Militärchef die Hilfe der Bürokratien, der Juristen und der freien Berufe in Caracas brauchte).871 Mitglieder dieser Elite bildeten die Gruppe, die die wirkliche Herrschaft im Lande innehatte – da sie sich auf die alte Mantuanaje von vor 1810 zurückführte, gehörte der Besitz einer Hacienda sowie Sklaven und der urbane Lebensstil mit einem großen Haus im Zentrum von Caracas zu den unbedingten Statusmerkmalen von Herrschaft - auch der neuen Herrschaft. Für die politische Kultur Venezuelas (und für die Zukunft) bedeutete diese Konfiguration der Macht, dass die Regierenden immer unter den militärisch Mächtigsten und rhetorisch Radikalsten ausgewählt wurden - nach der „Wahl“ freilich sollte sich der neue Machthaber nach der Regeln der alten Elite verhalten. Im Grunde eine Janusgesicht der politischen Elite Venezuelas: nach vorn, zum Atlantik und nach Europa hin, das „zivilisierte“ Gesicht, die Sprache und die Kleidung sowie der Lebensstil der Eliten Europas und Nordamerikas, nach „hinten“ und in den Zeiten der Konflikte im Innern, die respektlose und oft rüpelhafte Sprache des Machismo und die harten Mutproben der Llaneros. An Diktatoren und Militärs als politisches Personal waren die venezolanischen Oligarchien gewöhnt: früher hatten sie versucht, die militärischen Konsuln Spaniens, die Generalkapitäte und Gouverneure872, in ihr informelles Herrschaftssystem einzubauen. Nach dem kurzen Versuch einer oligarchischen Basisdemokratie hatten sie Miranda als „Diktator“ die Kastanien aus dem Feuer holen lassen; Bolívar und seine Milizhauptleute hatten sie 1813-1814, in der so genannten „II. Republik“, ebenfalls als „Diktator“ und Libertadores notdürftig akzeptiert. Dem militärischen Diktator Morillo aber hatten sie sich in einer regelrechten Liebesheirat an den Hals geworfen. So traten sie auch den Militärs der Patrioten gegenüber, als diese 1821 Caracas besetzten. Es war aber keiner aus ihren Reihen mehr da, der den Diktator hätte spielen können. Die Masse kreolischer Offiziere war mit Bolívar nach Lombardi, “The Commercial-Bureaucratic Outpost, 1830-1935”, in: Lombardi, Venezuela ..., S. 157-211, hier S. 158f. 872 Morón, Gobernadores y Capitanes Generales de las provincias venezolanas 1498-1810 ..., passim 871 Michael Zeuske/Venezuela Seite 341 13.05.2016 Ekuador und Peru gezogen. Es dauerte eine Zeit, bis die Oligarchie von Caracas begriff, dass nun Páez „ihr Mann in Caracas und Großkolumbien“ sein musste. Im historischen Längsschnitt kann man sich aus der Perspektive dieses fest in Tradition und Kultur verwurzelten informellen Wahl- und Machtsystems nur wundern, dass es den Venezolanern zwischen 1960 und 1980 gelang, dieses System unter einer relativ funktionierenden „Demokratie“ nach westlichen Vorstellungen nicht etwa abzuschaffen, sondern unter der Hand in den personalisierten Wahlkämpfen anzuwenden und in ein „demokratisches“ System einzupassen. Das sind die langwirkenden historischen Gründe der Schwäche der Institutionen und der Stärke von Personen in der Geschichte des venezolanischen politischen Systems. Zu dieser Zeit mag auch der fatale Hang der konservativen Oberschichten entstanden sein, in wirklich populistischem Sinne keinesfalls als „konservativ“ zu scheinen873 – in Venezuela mussten und müssen Eliten „populär“ sein und ihre Klienteln mit Geschenken und Privilegien versorgen. Das ist natürlich übertrieben, um für alle Zeiten und Gelegenheiten seit 1821-1825 zu gelten, ich habe aber bewusst übertrieben, um die Tendenz zu zeigen. Zur Sozialisierung der Unterschichten in Venezuela gehörte seit jeher auch das informelle Wissen um die soziale Präeminenz der Besitzer von Haciendas und Mitgliedern der „alten“ Familien, um das informelle Wahlsystem des geschicktesten und grausamsten Caudillos und die Organisation des Staates in einem elitären Konstitutionalismus, unter dem all dies zwischen 1821 und 1830 nochmals zusammengefasst und systematisiert wurde. Parallel zu Etablierung des neuen Machtsystems kam es zu einer der großen Neuerfindungen Venezuelas. Die Diskurs-Operation fand statt zwischen 1821 und 1827 mit der textlichen Fixierung der Geschichte im neuen Medium Zeitung, dass die Mantuanos von Caracas, Cumaná, Mérida, Barcelona und Trujillo 1810-1814 „revolutionär“ gewesen seien.874 Im Grunde kann seit dieser Zeit als Regel gelten, 873 Uslar Pietri, Juan, Historia política de Venezuela, Caracas-Madrid: Editorial Mediterráneo, 1970, S. 71. Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón Bolívar”, S. 39-58. 874 Michael Zeuske/Venezuela Seite 342 13.05.2016 dass besonders konservative Eliten sich als besonders „revolutionär“ und populistisch oder, als Variante, besonders mitfühlend, geben mussten. Das verband sich noch nicht (oder seit 1822 zunächst nicht mehr) mit dem Bolívarkult, denn der reale Bolívar war als jakobinisch-militärischer Zentralist und Präsident Kolumbiens noch eine reale Bedrohung für diese konservativen Eliten. Der Unabhängigkeitsrevolutionskult als „unsere französische Revolution“ begann zu dieser Zeit.875 Seit 1826 begann sich das informelle Machtsystem in Venezuela gegen Bolívar zu wenden. Die Zerstörung des bolivarianischen Projekts und die endgültige Gründung Venezuelas „El que sirve una revolución ara en el mar [Der, der der Revolution dient, pflügt im Meer].“876 Die unerwarteten Siege der Patrioten in Amerika stellten für die Zeitgenossen eine grundstürzende Änderung ihres Weltbildes dar, vergleichbar nur mit dem Zusammenbruch des russisch-sowjetischen Imperiums 1989-1990 und den Balkankriegen 1991-1997. Allerdings waren die globalen Bedingungen nicht eben günstig für die neuen Gesellschaften. Zunächst kam es zu einem kurzen politischen und wirtschaftlichen Boom. Die atlantische Weltwirtschaft befand sich aber seit Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in einer schwierigen Phase. Die alten Kakao-Märkte der venezolanischen Exportwirtschaft (Spanien und Mexiko) waren zusammengebrochen. Venezuelas Haupthandelspartner (Großbritannien) brauchte die venezolanischen Agrarprodukte eigentlich gar nicht, einerseits weil es eigene Kolonien hatte, andererseits, weil Kaffee und Kakao in Großbritannien kaum konsumiert wurde. Nur Kaffee konnte mit einigem Gewinn Carrera Damas, “De nuevo sobre nuestra Revolución francesa”, S. 67-78. Quasi das politische Vermächtnis Bolívars in einem Brief aus Barraquilla vom 9. November 1830 an Juan José Flores, der als Reaktion auf die Ermordung Sucres im Juni 1830 geschrieben worden ist, in: Bolívar, Cartas del Libertador …, Bd., IX, S. 376-377; Bolívar, OC, Bd. III, S. 501-502, eine sehr schöne neue Ausgabe findet sich in: Simón Bolívar, Estado ilustrado, nación inconclusa: la contradicción bolivariana/Simón Bolívar, Estado ilustrado, nação inacabada: a contradição bolivariana …, S. 149-154 (Dok. Nr. XI). 875 876 Michael Zeuske/Venezuela Seite 343 13.05.2016 nach Europa (Hamburg877) weiter verkauft werden. Die Kakaoproduktion verlagerte sich immer mehr nach Osten.878 Die Kriegsfolgen in Venezuela selbst, der laufende, aber ungeliebte kontinentale Krieg in Peru, und die Gefahr einer neuen Eskalation des Sozialkrieges entweder unter Einfluß der Royalisten oder weil die Patrioten nicht wirklich demokratische Agrarreformen gemacht hatten, verschärften die schwierige Situation. Es gab auch Positives. Die Freiheit schien eine Heimat gefunden zu haben. Aus aller Welt kamen Liberale, avantgardistische Reisende und Patrioten nach Kolumbien – paradigmatisch die Söhne Francisco de Mirandas mit seiner englischen Frau Sarah Andrews, Leandro und Francisco Miranda Andrews (London, 9. Oktober 1803 und 27. Februar 1806 – Paris, 1886 und Cerinza, 26. April 1831).879 Der kolumbianische Kongress dekretierte 1823 ein Immigrationsgesetz, das besonders auf eine nach damaligem Sprachgebrauch „zivilisierte“ (was damals als positiv galt, heute eher als rassistisch) nordamerikanische und europäische Migration zielte. Agrarische Colonias (Kolonien) wurden angelegt, wie etwa die Colonia Topo de Tacagua, nahe Caracas, wo rund 200 Schotten angesiedelt wurden. Die Kolonien scheiterten meist (die Schotten mussten 1827 nach Kanada gebracht werden), aber für das weitere 19. Jahrhundert begann eine Immigration, die für Venezuela vor allem aus Kanariern, Niederländern (nach Adolfo Ernst „in ihrer Mehrzahl Schwarze aus Curaçao“ 880), Englisch sprechenden Bewohner Grenadas und Trinidads, Franzosen (die meisten davon Korsen881), Portugiesen, Italienern und Deutschen sowie (nach 1830) aus Neugrandinern/Kolumbianern und Brasilianern bestand. 877 Walter, Rolf, Venezuela und Deutschland (1815-1870), Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1983 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 22). 878 Harwich, „Le cacao vénézuélien: une plantation à front pionnier”, in : Caravelle. Cahiers du Monde Hispanique et Luso-Bresilien 85, Toulouse (2005), S. 17-30. 879 Blanco Fombona de Hood, Míriam, El enigma de Sarah Andrews, esposa de Francisco de Miranda, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1981, Miramón, Alberto, La llama no muere, Caracas: Instituto Panamericano de Geografía e Historia, 1983. 880 Morón, “Venezuela, Deutschland und der Vertrag von 1837”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart, München: Eberhard Verlag, 1988, S. 6782, hier S. 69. 881 Siehe die Charakteristik eines der Korsen bei Geldner, “Reise nach Upatá“, in: Geldner, Venezuela 1865-1868 …, S. 200-223, hier besonders S. 215. Michael Zeuske/Venezuela Seite 344 13.05.2016 Angesichts der miserablen Infrastrukturen, der geringen Wirtschaftsleistung, der Krankheiten, vor allem aber wegen des Latifundismus und der Herrenallüren der Sklavenbesitzer sowie des Kastenimages der Handarbeit reichte vor allem die Immigration freier Menschen für die Landwirtschaft nie aus. Von den kanarischen Inseln, vor allem von Tenerife, setzte die Immigration armer Landarbeiter ein – einer Art „weißer Sklaven“ ein.882 Mitteleuropäische Einwanderer waren vor allem Kaufleute, Apotheker und qualifizierte Handwerker und blieben meist unter sich. Es kam vor 1950 nicht zu einem wirklichen Immigrationsstrom (wie ab 1830 in Richtung USA oder ab 1850 nach Argentinien und Südbrasilien); Farbige, „Mulatten“ und „Neger“ aus der Karibik wurden offiziell abgewiesen, wanderten aber inoffiziell ein. 883 Geschichte ist immer konkret. Die drei alten Kolonialgebiete, aus denen Großkolumbien durch mirandinische Utopie und politischen Willen Bolívars und seiner Generale zusammengefügt worden war, wiesen erhebliche Unterschiede auf. Vor allem und zuerst gab es, neben komplizierten Schiffs- und Flussverbindungen, praktisch keine Infrastrukturen (Strassen, Brücken und Wasserversorgung, vor allem Aquädukte). Die agrarischen Produkte NeuGranadas, wie Weizen aus den andinen Zentralgebieten und Tabak-, Zucker- oder Rumproduktion und Früchte der tieferen karibischen und pazifischen Küstengebiete, meist auf kleineren Haciendas oder auf Kleinbesitz produziert, waren für den inneren Verbrauch bestimmt; Neu Granada war kein Exportland; es hatte nur einige spezialisierte und regional sehr begrenzte Exportsektoren (vor allem Gold und Saphire). Die breitere Basis der Landwirtschaft zur Versorgung der Bevölkerung Subsistenzproduktion waren Bohnen, Mais, Reis, Zwiebeln, Bananen, Yuca, Kleinvieh und Großvieh in den Llanos. In der Ostkordillere des alten Neu-Granada, um Socorro, waren in der Kolonialzeit kleinere Paz, Manuel de; Hernández, Manuel, “Uruguay y Venezuela y partir de 1830”, in: Paz, Manuel de; Hernández, Manuel, La esclavitud blanca. Contribución a la historia del inmigrante canario en América. Siglo XIX, Santa Cruz de Tenerife: Taller de Historia, 1992, S. 35-55. 883 Acosta Saignes, Historia de los portugueses en Venezuela, Caracas: Publicaciones de la Librería Suma, ²1977; Arango Cano, Jesús, Inmigración y colonización de la Gran Colombia, Bogotá: Librería Voluntad, 1953; Fleitas Núñez, Germán, Colonos y colonieros, Villa de Cura: Editorial Miranda, 1988; Perazzo, Nicolás, Historia de la inmigración en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Congreso de la República, 1982-1983. 882 Michael Zeuske/Venezuela Seite 345 13.05.2016 Manufakturzentren mit Eisen-, Textil- und Lederproduktion (Schuhe, Stiefel, Westen, Gürtel, Sättel, Zaumzeug, Pferdegeschirre, Möbel, Messer und Macheten) entstanden. In der Westkordillere, in der Provinz Antioquia, stellte seit hunderten von Jahren das koloniale Prestigeprodukt Gold das Hauptausfuhrgut dar. Schon innerhalb der Großregionen des alten Vizekönigreiches gab es keine Kohärenz und keine gemeinsamen Strukturen. Panamá im Norden lebte von den Fernhandelsverbindungen, die sich seit 1810 im Niedergang befanden.884 In der Presidencia von Quito war Guayaquil ganz auf den Kakaoexport und auf den Cabotage-Zwischenhandel von Mexiko und Panamá nach Callao und Lima orientiert, während im Hochland von Quito Agrarwirtschaft für den Selbstverbrauch sowie Woll- sowie Fleischproduktion für die Textilmanufakturen vorherrschte und der Indianertribut etwa ein Drittteil der Steuern einbrachte. Besonders die preiswerten europäischen Importe, die durch die liberale Zollgesetzgebung befördert wurden, trafen die einheimische Textilindustrie und darunter speziell die ecuadorianische, zutiefst. Erst 1829 erließ Bolívar für Ekuador ein Importverbot für Textilwaren, aber eher aus politischen Gründen, wegen des Krieges zwischen Großkolumbien und Peru.885 Venezuelas Kakao- und Kaffeeproduktion in den Küstentälern war seit jeher auf Export und Schmuggel nach den Antilleninseln, Frankreich, Spanien und Deutschland gerichtet; Zuckerproduktion angesichts der starken karibischen Exportkonkurrenz eher für den inneren Verbrauch (raspadura und Rum).886 Exportorientiert waren seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch die Produkte des Llanos (Häute, Trockenfleisch, Leder, Horn, lebendes Vieh), der Guayanas (Holz, Gold, Drogen, Rohstoffe für Parfümerie, Mode und Lederindustrie) und der neuen Kaffeegebiete, vor allem im Westen, in den fruchtbaren Anden-Gegenden im Umfeld des Maracaibo-Sees. In Venezuela Zum Niedergang Panamas und der alten kolonialen Handelszentren, siehe: Johnson, John J., “The Racial Composition of Latin American Port Cities at Independence as Seen by Foreign Travellers”, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (JbLA) 23 (1986), S. 247-266, hier S. 265. 885 Bushnell, El regimen de Santander en la Gran Colombia ..., S. 177-192; siehe auch: Herrera, “¿Revolución industrial en Venezuela?”, S. 37-55. 886 Rodríguez, Los paisajes geohistóricos cañeros en Venezuela ..., passim; Harwich, „Le cacao vénézuélien: une plantation à front pionnier”, S. 17-30. 884 Michael Zeuske/Venezuela Seite 346 13.05.2016 waren sich die vorherrschende breite Subsistenzproduktion und die Exportproduktion unter Kontrolle einer dünnen Bevölkerungsgruppe in den Küstengebieten besonders entgegengesetzt. Wenn die Patrioten, die, soweit sie mit ökonomischen Vorstellungen befasst waren, alle überzeugte Freihändler waren, also freihändlerische Maßnahmen in Gesetze gossen, kamen diese zwar den exportorientierten Gruppen in Venezuela und Guayaquil entgegen, sprich den landbesitzenden Eliten und Kaufleuten, wirkten sich aber verheerend auf die Manufakturproduktion für den internen Markt in Cundinamarca (wie Socorro) und Quito aus. Diese freihändlerischen Maßnahmen mußten die Patrioten aber, neben ihren eigenen wirtschaftstheoretischen Überzeugungen, auch vornehmen, da sie damit die Verbindung zu Großbritannien ausbauen konnten und sich somit die notwendigen Finanzmittel (Anleihen) sichern konnten, die sie für ihren Kampf, die Ausrüstung von Armeen und für den Aufbau des Landes brauchten. Diese Auslandskredite und -anleihen nahmen bald inclusive Zinsen die damals enorme Summe von 63 515000 Pesos an (über 63 Millionen Pesos887; Brito Figueroa kommt nur auf 46 505638 Pesos, immerhin aber immer noch auf über 46 Millionen888). Die Kongresse von Angostura und Cúcuta hatten diese Schulden als verbindlich anerkannt. Um die Schulden abbezahlen zu können, brauchte Kolumbien Einnahmen. Diese konnten nach Abschaffung des Indianertributs und vieler kolonialer Steuern nur aus Zöllen kommen. Das bedeutete mehr Freihandel, was wiederum die interne Entwicklung der industria, das heisst, von Handwerk, Lebensmittel-, Konsum- und Getränkeherstellung, Papier- und Textilproduktion, Fleischsalzereien, Transport, kleinem Handel und Eigenversorgungslandwirtschaft verlangsamte und behinderte.889 Ein Teufelskreis: Die erste Schuldenkrise König, „Ecuador, Kolumbien, Venezuela“, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Band II: Lateinamerika von 1760 bis 1900, hrsg.v. Bernecker, W. u.a., Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 578ff. 888 Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela ..., Bd. IV, S. 1343; Fundación para la conmemoración del bicentenario del natalicio y el sesquicentenario de la muerte del general Francisco de Paula Santander (ed.), Santander y los empréstitos de la Gran Colombia 1822-1828, Bogotá: Fundación Francisco de Paula Santander, 1988 (Colección documentos; no. 10). 889 Banko, Contribución a la historia de la manufactura en Venezuela, Caracas: Universidad Santa María, 1983; Cartay, “Los albores de la industria en Venezuela, 1830-1899”, in: BANH, No. 275, Caracas (julio-septiembre 887 Michael Zeuske/Venezuela Seite 347 13.05.2016 lateinamerikanischer Länder nahm ihren Lauf; die neuen Staaten mussten Zwischenkredite bei dubiosen Financiers aufnehmen.890 Auch andere Kernmaßnahmen trafen die Großregionen sehr unterschiedlich. Die liberale Grundüberzeugung der Befreier - zu der sich auch Bolívar durchgerungen hatte - , dass kein Mensch das Eigentum eines anderen sein könne, d.h., die Maßnahmen und Gesetze zur Sklavenbefreiung, fanden schärfsten Widerstand in den Plantagenregionen an der Küste Venezuelas, an den karibischen Küsten des ehemaligen Neu-Granadas und in der Provinz Cauca, wo sich der Widerstand gegen die Maßnahmen gegen die Sklaverei mit allgemeinem Widerstand gegen die Republik verband. Über das Recht, dort auch nur einige Sklaven für den Militärdienst auszuheben, geriet Bolívar sogar sehr zeitig mit Santander in Konflikt.891 Gleiches galt für die Maßnahmen, die Bolívar glaubte zugunsten der Indios dekretieren zu müssen. Bolívar war in dieser Beziehung einerseits ein Revolutionär gegen seine eigene Klasse (Indiotribut), andererseits ein Liberaler, der die Kommunalstrukturen indianischer Kontrolle über ihre traditionellen Territorien zerstörte. Zugleich setzte Bolívar mit der Erschießung des mulattischen Admirals José Padilla (Oktober 1828 in Bogotá) eine Grenze gegen das, was er als „Pardocracia“892 verstand – den Einfluss von Gleichheitsbewegungen gegen die weißen Kreolen unter der Führung erfolgreicher mulattischer Offiziere des Unabhängigkeitskrieges (vor allem Cartagena und Guayaquil).893 Dazu kam die komplizierte Indianerfrage. Bolívar verfügte die Abschaffung des Tributs der 1986), S. 779-788; Cartay, Historia económica de Venezuela. 1830-1900, Valencia: Vadell Hermanos, 1988; Herrera, “¿Revolución industrial en Venezuela?”, S. 37-55. 890 Liehr, “La deuda exterior de la Gran colomia frente a Gran Bretaña 1820-1860”, S. 465-488 891 Siehe den Brief an Santander vom 18. April 1820, in: König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 61. 892 Bolívar, Cartas del Libertador ..., Bd. IV, Brief an Santander: “Mi hermana, que tiene mucho talento, me escribe que Caracas está inhabitable por las tentativas y amenazas de la pardocracia”; siehe auch: Deschamps Chapeaux, “Oportunidades ocupacionales”, in: Deschamps Chapeaux, Los batallones de pardos morenos libres ..., S. 61-63. 893 Otero D’Costa, Enrique, Vida del Almirante José Padilla, 1778-1828, Bogotá: Imprenta y Litografía de las Fuerzas Armadas, 1973; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, S. 176-190, speziell S. 184-186 (Marixa Lasso zitiert ein Dokument aus dem Archivo General de la Nación, Bogotá mit dem Titel: “Cartagena, Sumaria averiguación para aclarar asuntos relacionados con la seguridad pública y con la subordinación y disciplina en las clases del ejército” in: AGN, Bogotá, R-AC, 44, fols. 86-118, von mir hier zitiert nach: Ebd., S. 190, FN 47-52); Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 1811-1830”, S. 117-135; Helg, “The Pardo and Liberal Challenges to Bolívar’s Project”, S. 195-236. Michael Zeuske/Venezuela Seite 348 13.05.2016 Indianer, der mit der intendierten staatsbürgerlichen Gleichstellung und Gleichberechtigung der Indios in den Dekreten von 1820894 und 1821895 verbunden war. Die Verfassung sah nur Staat und Bürger als Subjekte vor. Zugleich wurden die kollektiven Schutzgebiete der Indios, die Resguardos aufgehoben. Die Aufhebung der Tribute traf vor allem die Steuersituation Ecuadors. Der Indianertribut machte im Hochland etwa ein Drittel des Steueraufkommens aus, im Gegensatz zu Neu-Granada und Venezuela, wo die meisten Indio-Siedlungsgebiete viel peripherer lagen und kaum in das System der Steuererfassung eingebunden waren.896 Zusammenfassend ging es nach 1820 in Venezuela in gewissem Sinne erst einmal darum, überhaupt die Bedingungen für einen funktionierenden Staat zu schaffen, nachdem die alte Extraktionsmaschine, die Kolonialordnung mit ihrer Kastengesellschaft und der repressiven Sozialdisziplin in den langen Kriegen faktisch in ihre Einzelteile zerfallen war. Aber die geringe soziale Strukturierung der Bevölkerung (80% rurale Sklaven-, Indio- und Pardo-Bevölkerung), die Subsistenzproduktion, die fehlenden Infrastrukturen und die fehlende Bevölkerung (zwischen 700000 und 950000), die eine ökonomische Integration auf der Basis von Arbeitsteilung fast unmöglich machte, das Fehlen einer geregelten Steuerpolitik, die dünnen Fäden einer ungeübten republikanischen Administration und die fehlenden Polizeikräfte, die es unmöglich machten, Gesetze überhaupt durchzusetzen. Dazu kamen die riesigen geographischen Unterschiede, die ungleiche Verteilung der Bevölkerung, die Weite des Landes, die unkontrollierbaren Flüsse und die Stürme und Wetterkapriolen an den Küsten, die die Verbindungen auch dort, wo sie von Wasser, Schiffen und Häfen ermöglicht wurden, extrem unsicher machten.897 Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 194-197 (20. Mai. 1820): Rückgabe und „Verteilung“ des Bodens der Resguardos an die Indio-Familien; Verkauf des Restes (falls er existierte) an die Meistbietenden. 895 Ebd., S. 227-231 (12. Februar 1821). 896 Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, in: Frankel (ed.), Política y economía en Venezuela ..., S. 33-89. 897 Zu den indianischen Völkern und ihrem Verhältnis zur Unabhängigkeit siehe: Hill, Jonathan D., „Indigenous Peoples and the Rise of Independent Nation-States in Lowland South America“, in: Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Vol. III, Part II, S. 704-764. 894 Michael Zeuske/Venezuela Seite 349 13.05.2016 Aus dem Krieg, der fast 15 Jahre gedauert hatte, waren in Venezuela drei größere kulturell-soziale Gruppen von Akteuren hervorgegangen, die glaubten, legitimerweise die Macht beanspruchten zu können. Die beiden wichtigsten Gruppen, militares und civiles (auch: generales y doctores – Militärs und Intellektuelle), verdankten ihren Aufstieg dem Unabhängigkeitskrieg und formierten sich 1819-1826. Dazu kamen im Hintergrund die Reste der traditionellen Familien der Oligarchie und der verbliebenen iberischen Kaufleute, genannt die godos (Goten), aufgespaltet in eine größere konservative Gruppe und eine noch sehr kleine Gruppierung, die in Bezug auf die Sklaverei auch sehr konservativ war, aber öfter mal eine liberale Idee hegte; zu dieser Gruppe gehörte eine Reihe von Intellektuellen und freien Berufen. Die Oligarchie kontrollierte immer noch die Masse der Plantagen, Hatos, das Land und die Sklaven. Inoffiziell schon seit der Kolonialzeit und während der Morillo-Herrschaft sowie den ersten Zeiten der patriotischen Rückeroberung machten diese drei Gruppen seit 1825-1826 die Macht im Lande offiziell, in Bezug auf Mitglieder der alten Mantuanos allerdings durchaus als graue Eminenzen im Hintergrund, als cúpula dominante (Herrschaftsspitze) aus, wie es Gastón Carvallo genannt hat.898 Die Militares wurden, nach ihrem Anspruch „Venezuela“ von der spanischen Tyrannei befreit zu haben, libertadores oder próceres (Vorkämpfer) genannt; der Politikstil dieser Gruppierung wird protagonismo militar genannt. Aus diesem militärischen Protagonismus entfaltete sich ein Traditionsstrang der politischen Kultur Venezuelas, der vom Damals bis in das Heute reicht. Die Militares lassen sich grob in Karriere-Militärs und Caudillos sowie Chefs von Guerrilla-Milizen unterscheiden, mit einem erheblichen Einfluss auf die Männer der Gruppen der Pardos und Llaneros. Die militärische Gruppierung, der protagonismo militar war aus dem Offizierskorps der bolivarianischen Armee, den Guerrillas (wie die von Juan de los Reyes Vargas) und den Milizen der Llaneros 898 Carvallo, Gastón, Próceres, Caudillos y Rebeldes. Crisis del sistema de dominación en Venezuela (1830-1908), Caracas: Grijalbo 1994. Michael Zeuske/Venezuela Seite 350 13.05.2016 hervorgegangen. Da es sich selbst bei Offizieren, die aus den Eliteclans der Oligarchien hervorgegangen waren, meist um zweite oder dritte Söhne handelte, waren sie dem Latifundium oder der ruralen Sklaverei entfremdet, was für Haussklaverei nicht gelten musste. Oft behandelten sie neu eingezogene Soldaten (bisoños), vulgo Burschen, wie es gewöhnt waren – also wie Sklaven. Das Offizierkorps Groß-Kolumbiens war von Venezolanern dominiert. Eine Liste für das Jahr 1827 weist 74 Generale und Obersten aus Venezuela, 29 aus NeuGranada und 4 aus Ecuador aus; 18 waren Ausländer; insgesamt gab es in dem armen Land 125 Generale; Venezuela stellte rund 60%; Neu-Granada rund 23%; Ecuador 3 % und rund 14% Ausländer; dagegen hatte Venezuela, nur zum Vergleich, zwischen 1831 und 1859 nur etwa 80 Militäringenieure (die etwa auch Stadtbau- und Strassenbauprojekte leiten konnten).899 Die Mantuanos aus den alten Oligarchien nahmen in ihrem Kampf gegen den neuen Staat das Argument der Wirtschaftlichkeit sowie des real existierenden Geld- und Arbeitskraftmangels auf und schlugen vor, die Militärs nach Ende des Krieges zu entlassen und die Armee aufzulösen.900 Das mit der Armee gelang ihnen zeitweilig; die Armee wurde durch Privatmilizen von Caudillos ersetzt (also quasi „privatisiert“) – die Militärs allerdings spielten bis in das 20. Jahrhundert eine extrem wichtige Rolle. Im 19. Jahrhundert etwa musste der deutsch-venezolanische Wissenschaftler und Begründer des Positivismus, der Statistik und der Folklorestudien in Venezuela, Adolfo Ernst901, 1873 feststellen, dass es allein in der Provinz Carabobo, einem Großgrundbesitzerterritorium par excellence, 449 Generäle, 627 Oberste, 967 Majore, 818 Hauptleute, 504 Leutnants und 85 Unterleutnants gab; insgesamt 899 König, Auf dem Wege ..., S. 240; Arcila Farías, Historia de la ingeniería en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Colegio de Ingenieros de Venezuela, 1961; Zawisa, Leszek Alberto, Arquitectura y obras públicas en Venezuela, 3 Bde., Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1984-1988; Zawisa, Alberto Lutowski: contribución al conocimiento de la ingeniería venezolana del siglo XIX, Caracas: Ministerio de la Defensa, 1990. 900 López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves, State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S. 193-211. 901 Hernández González, “Raza, inmigración e identidad nacional en la Venezuela finisecular”, in: Contraste. Revista de Historia Moderna, No. 9 – 10, Murcia (1994-1997), S. 35-48. Harwich Vallenilla, „Las ilusiones del progreso: Adolfo Ernst (1832-1899) y el proyecto positivista venezolano“, in: Farré, Joseph M.; Martinez, Françoise, Olivares, Itamar (eds.), Hommes de science et intellectuels européens en Amérique latine (XIXe-XXe siècles). Actes du colloque international et interdisciplinaire 18, 19, 20 novembre 2004, Université Paris X, Paris : Éditions Le Manucrit, 2005, S. 1-23. Michael Zeuske/Venezuela Seite 351 13.05.2016 3450 höhere Militärs. Bei einer Anzahl von 22952 Männern in dieser Provinz machten Großgrundbesitzer mit Militärrang allein 15% der männlichen Bevölkerung aus.902 Páez hatte die Ansprüche der Väter dieser Militärs von 1873 mit der Legitimation der Befreier in einem so genannten “Napoleon-Brief” (1825) an Bolívar zunächst ziemlich deutlich und in eindeutig sozialrevolutionärer Sprache formulieren lassen: “Vd. no puede figurarse los estragos que la intriga hace en este país, teniendo que confesar que Morillo le dijo a Vd. una verdad en Santa Ana, sobre ‘que le había hecho un favor a la república en matar à los abogados’ [Morillo bezog sich hier auf die Erschiessungen in Neu Granada – M.Z.]; pero nosotros tenemos que acusarnos del pecado de haber dejado imperfecta la obra de Morillo, no habiendo hecho otro tanto con los que cayeron por nuestro lado; por el contrario, les pusimos la república en las manos, nos la han puesto a la española, porque el mejor de ellos no sabe otra cosa, y están en guerra abierta con un ejército a quien deben todo su ser, y de cuyo cuartel general han salido los congresos sin tomar la más mínima parte en ellos como corporación ... La situación de este país es muy semejante en el día a la de la Francia cuando Napoleón el Grande se encontraba en Egipto ... y Vd. está en el caso de decir lo que aquel hombre célebre dijo entonces: ‘los intrigantes van a perder la patria, vamos a salvarla’. [...] éste es el sentimiento o el deseo de todos los militares [Euer Ehren können sich nicht vorstellen, welchen Schrecken die Intrige in diesem Land ausbreitet, denn ich muss Euch gestehen, dass Morillo Euch in Santa Ana eine Wahrheit gesagt hat, darüber [nämlich], dass er ‚der Republik einen Gefallen getan hat, als er die Rechtsanwälte tötete’; wir aber müssen uns selbst beschuldigen, dass wir die Arbeit Morillos unvollendet gelassen haben, da wir nicht das gleiche mit denen auf unserer Seite gemacht haben; im Gegenteil, wir haben ihnen die Republik in die Hände gelegt, sie haben sie uns hispanisiert, Morón, “Venezuela, Deutschland und der Vertrag von 1837”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 67-82, hier S. 69, siehe die exzellente Zusammenfassung: Irwin G., Domingo, Relaciones civiles – militares en Venezuela 1830-1910 (Una visión general), Caracas: Litobrit, C.A, 1996. 902 Michael Zeuske/Venezuela Seite 352 13.05.2016 weil der Beste von ihnen nichts anderes kann und sie sind in offenem Krieg mit einem Heer, dem sie all ihr Sein verdanken und aus dessen Hauptquartier die Kongresse entstanden sind, ohne dass es als Korporation den geringsten Anteil an ihnen genommen hätte … die Situation dieses Landes ist heute derjenigen Frankreichs ähnlich, als Napoleon der Große sich in Ägypten befand und Euer Ehren befindet sich in dem Fall, dass zu sagen, was jener berühmte Mann damals sagte: ‚Die Intriganten ruinieren das Vaterland, lasst es uns retten’ … Das ist das Gefühl oder der Wunsch aller Militärs].“903 Die Mehrzahl der einflußreichen Karriere-Militärs, die in Venezuela verblieben waren, stammten aus einer oligarchischen Familie (wie Carlos Soublette (La Guaira, 15. Dezember 1789 – Caracas, 11. Februar 1870)904, Rafael Urdaneta (Maracaibo, 24. Oktober 1788 – Paris, 23. August 1845)905, Montilla, Mariano (Caracas, 8. September 1782 – Caracas, 22. September 1851)906; die meisten Caudillos waren lokale Machthaber, manchmal Landbesitzer, meist aber „Weiße“ oder Pardos bescheidenster Herkunft. Das Problem für die Erhaltung Großkolumbiens war, dass die meisten der Bolivarianos, der engeren Anhänger des Libertadors unter den Militärs, darunter alle Ausländer, mit Bolívar nach Süden gezogen waren. Bolívar war weit [siehe ein Bild Bolívars um 1825 in Parra-Pérez, La monarquía en la Gran Colombia, Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1957, Frontispiz]. Prototyp der Verschmelzung zwischen „armem Weißen“ (blanco de orilla), Llanero, Caudillo und patriotischem Offizier sowie bald auch Politiker, dem auch die alten Oligarchien zustimmten, aus den unteren Schichten wurde eben José Antonio Páez. Noch nicht vierzigjährig, genoß der Llanero ein ungewöhnliches 903 Bolívar, OC, Bd. II, S. 326-328. Brief von Páez aus Caracas an Bolívar vom 1. Oktober 1825. Morón, “Wer ist Carlos Soublette”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 75-77; Soublette, Carlos, Archivo de general Carlos Soublette, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1992; Amas Chitty, Vida del general Carlos Soublette, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1991. 905 Párraga Villamarín, Eloy [et al.], Venezuela en los años del general Rafael Urdaneta, 1788-1845, Maracaibo: Comité Organizador del Bicentenario del Natalicio del General Urdaneta, 1988, Mudarra, Miguel Ángel, Rafael Urdaneta 1789-1845, Caracas: Grijalbo, 1991. 906 Presidencia de la República, General de División Mariano Montilla, 2 Bde., Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1982. 904 Michael Zeuske/Venezuela Seite 353 13.05.2016 Prestige und Charisma. Er war der Held des Guerrilla-Krieges in den Llanos gegen viel stärkere spanische Einheiten 1816-1820. Er hatte sich und seine Llaneros zwar formal Bolívar unterstellt, behielt aber als Caudillo die Kontrolle über sie. Páez war auch der militärische Held von Carabobo (1821) und er hatte die letzten royalistischen Truppen aus Puerto Cabello vertrieben (1823). In der konstitutionellen Ordnung von Cúcuta hatte sich Páez, da er als ungebildet galt und immer gewisse Spannungen zwischen ihm und Bolívar, Santander; Soublette und den anderen kreolischen Militärs existierten, zunächst dem Intendanten und Soublette unterordnen müssen. Auf einer Stufe mit ihm standen die beiden anderen Militärkommandanten Santiago Mariño und José Bermúdez. Keiner von ihnen aber verfügte über ein solche Machtbasis und ein solches Charisma wie Páez. Páez war außerdem, und das macht ihn für die alte Oligarchie bald akzeptabel, durch Spekulation mit den Vales aus dem Reparto de Bienes in die Klasse der größten Grundbesitzer des Landes aufgestiegen. Er hatte die Hacienda Trinidad de Tapatapa vom Marqués de Casa León, dem Señor de Maracay, einem Royalisten, nach 1821 übernommen.907 Der Besitz lag in den fruchtbaren Tälern von Aragua. Auf ihm wurden, wie in Kolonialzeiten, Zuckerrohr, Kaffee und Indigo durch Sklaven angebaut und geerntet. Gleiches galt für den immensen Vieh-Hato San Pablo, den Páez in den Llanos von Calabozo, dem Fleischversorgungszentrum von Caracas, an sich gebracht hatte. Diese Latifundien, und das gilt nicht nur für Páez, sondern auch für Mariño und die Gebrüder Monagas, waren so groß und hatten soviel angesiedelte Peones und Sklaven, das sie allein manchmal als militärische Rekrutierungsbasis für die Caudillos fungierten.908 Je deutlicher wurde, dass Páez auch ohne formale Armee immer militärisches Zünglein an der Waage der Politik bleiben würde, desto schneller gaben er und seine engeren Anhänger den Widerstand gegen die Briceño-Iragorry, Casa León y su tiempo, Caracas 1946, S. 32, 223f.; Dupuy, Crisáldia, “La Trinidad una hacienda que perteneció al marqués de Casa León y a los generales José Antonio Páez, Cipriano Castro y Juan Vicente Gómez”, in: Revista de Control Fiscal, Nr. 104, Caracas (enero-febrero 1982). 908 Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 67; Castillo Blomquist, “La Post-Independencia”, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 27-52, hier S. 27. 907 Michael Zeuske/Venezuela Seite 354 13.05.2016 Demobilisierung der bolivarianischen Armee auf. Da aber auch die Mehrzahl der in Venezuela verbliebenen Soldaten und Offiziere bis in die Hauptleute- und Oberstenränge in den zwanziger Jahren aus den Llanos stammte und Pardos waren, blieben Páez’ Klientelbeziehungen zu den Unter-Caudillos und den Mannschaften intakt, auch wenn diese schon offiziell aus dem Heer entlassen worden waren. Páez verfügte also sowohl real wie auch potenziell über größten militärischen Einheiten, d.h., die einzige Kraft, die im Lande real Macht ausüben konnte.909 Der so genannte sector civil bestand zunächst aus einem etwas liberaleren Teil der alten Mantuanofamilien, die den Krieg an der Seite der Patrioten oder in Opposition zu den Royalisten durchgemacht hatte (oft im Exil in Trinidad oder Jamaika). Die grauen Eminenzen in dieser Gruppe aber waren immer noch die (überlebenden) Clanchefs der alten Mantuanofamilien, die ihren traditionalen Status verteidigten. Hinter der Gruppe ziviler Akteure bildete sich in den zwanziger Jahren eine recht kleine Gruppierung ziviler Machteliten haraus, die élite civil y civilista (civilismo); ein recht heterogener ziviler Sektor. Er bestand aus Intellektuellen (Journalisten), Rechtsanwälten, Ärzten, und Kaufleuten („hacendados, comerciantes, letrados, profesionales, funcionarios“910), die die Kongresse beschickte. Der Kern dieser zivilen Elite, aus dem politisch zunächst die konservative Partei hervorging, war oligarchischer Herkunft und hatte die direktesten biographischen Verbindungen zu den alten Kolonialoligarchien, wie die Namen zeigen: im wirklichen Vordergrund (Regierungschef) eher nicht die Vertreter der ganz großen alten Familien, wie der Mediziner und Politiker Dr. José María Vargas (La Guaira, 10. März 1786 – New York, 13. Juli 1854)911; eher im Hintergrund, als Minister, Kommissionschefs, Leiter diplomatischer Missionen oder ganz als graue Eminenzen: Fermín Toro (aus dem Toro-Clan; El Valle, 14. Irwin, “La estructura militar del Gobierno Deliberativo”, in: Irwin G., Relaciones civiles – militares en Venezuela 1830-1910 …, S. 15-54. 910 Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S. 33-89, hier S. 42f. 911 Uslar Pietri, Arturo, Cuéntame a Venezuela, Caracas: Editorial Lisbona, 1981; Bruni Celli, Imagen y huella de José Vargas, Caracas: INTEVEP, 1987. 909 Michael Zeuske/Venezuela Seite 355 13.05.2016 Juli 1806 – Caracas, 23. Dezember 1865)912, Martín Tovar Ponte (aus dem TovarClan; Caracas, 27. September 1772 – Caracas, 26. November 1843)913 und Manuel Felipe de Tovar y Tovar (sein Neffe, also ebenfalls aus dem Tovar-Clan; Caracas, 1. Januar 1803 – Paris, 20. Februar 1866).914 Diese konservative Elite in der PáezRegierung (oder hinter ihr) vertrat am deutlichsten die wirtschaftlichen Interessen der großen Besitzer des Zentrums, das heißt, der alten Provinz Caracas, Valencia oder Venezuela sowie ein Herrschafts- und Gesellschaftsmodell, das man als die republikanischen Bedingungen, der Wirtschaftsform des atlantischen Freihandels und nationalen Diskursformen angepasste alte koloniale Sozialordnung bezeichnen kann. Sie beanspruchten mit der Formel des uti possidetis iuris auch die alten Kolonialterritorien als ihre neuen republikanischen Machträume. Allerdings gab es keine direkte Kongruenz zwischen der Klasse der ländlichen Haciendabesitzer, der sich neu formierenden Elite und der Gruppe politischer Akteure in den Städten. T. R. Ibarra sagt in seinen Erinnerungen über die Familie Tovar: „So zahlreich waren die Häuser der Tovares in meinem Caracas, dass wenn man einen Caraqueño über die Geschichte dieses oder jenes wichtigen Stadtpalais’ befragte, war es möglich, dass es antwortete: ‚ach, das ist ein Haus von Tovar’“.915 Ibarra setzt fort: „Die Mehrheit der Venezolaner meiner Kindheit, die noch etwas auf das blaue spanische Blut [der aristokratischen Tovar – M.Z.] gaben, gehörten der konservativen Partei an. Aus dieser Perspektive der Familie [Ibarra bezieht sich auf die alten Familien der Oligarchie – M.Z.], hätten meine Ybarras Konservative sein müssen; aber im Endeffekt waren sowohl mein Großvater [José Félix Ribas – M.Z.] und mein Vater begeisterte Liberale.“916 Die institutionelle Basis der Gruppe der zivilen Politiker waren die Cabildos, die seit 1826 reformierte republikanische Universität (Universidad Central de Venezuela; 1827 nochmals von Bolívar reformiert) und die sich 912 Toro, Fermín, La doctrina conservadora, Caracas: Consejo Supremo de la República, 1982; Toro, Elías, Fermín Toro, 1807-1865, Caracas: Grijalbo, 1990. 913 Uslar Pietri, Juan, Martín Tovar Ponte, Caracas: Fundación Eugenio Mendoza, 1979. 914 Tovar, Manuel Felipe de, Archivo de Manuel Felipe de Tovar, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1984. 915 Ibarra, T.R., “Mi Caracas”, S. 442-449, hier S. 447. 916 Ebd. Michael Zeuske/Venezuela Seite 356 13.05.2016 herausbildenden administrativen Strukturen der höheren Verwaltung, die Legislative und die Judikative.917 Die kreolischen Oligarchien mußten unter den gegebenen Umständen der Beibehaltung der kolonialen Sozial- und Kastenstruktur sowie der Extraktionsmaschine, Nichterfüllung der Versprechen Bolívars über sofortige Sklavenbefreiung und Bodenverteilung sowie wirtschaftliche Krise um die soziale Disziplin der Unterschichten fürchten. Sie hatten vor allem Angst vor einem neuen Kastenkrieg der vielen Pardos gegen die relativ wenigen Weißen, ähnlich der guerra a muerte. Und die oligarchischen Oberschichten der venezolanischen Städte mußten zugleich fürchten, dass es der Regierung im fernen Bogotá, die ihre Aufmerksamkeit auf den Krieg in Peru, auf die Interventionsgefahr von den spanischen Antillen oder gar von seiten der Heiligen Allianz richetete, unmöglich sein würde, die innere Ordnung Venezuelas zu garantieren. Deshalb auch die Nervosität gegenüber den Milizen und den Zusammenrottungen ehemaliger Soldaten, Guerrilleros und Militärs, den diese bestanden ja zum größten Teil aus Llaneros, Indios und ehemaligen Sklaven, aus Pardos und UnterschichtenMestizen. Dazu kam eine intellektuelle, kollektivpsychische und kulturelle Anstrengung, auf die die überlebenden Vertreter der „alten“ Familien viel Geld und Zeit verwandten: auf die Obsession, die historische Memoria der Notabelnund Adelsgenealogien der Stadt Caracas zu bewahren, um zu zeigen, das nur sie „zivilisiert“ waren.918 Die Zeitgenossen, denen diese alte, neue Sozialordnung als normal galt, nahmen die politischen Gruppierungen in anderen Kategorien als wir wahr. Nach den Worten der königstreuen Schwester Bolívars existierten in Venezuela zwischen 1821 und 1825 die drei Parteiungen der monárquicos, demócratas y pardocratas.919 Diese Interpretation ist interessant, da sie die Bedrohung der Mantuanos durch die Pardo-Unterschichten betonte, von denen 917 Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 70ff. Múnera, Fronteras imaginadas. La construcción de las razas y de la geografía en el siglo XIX colombiano, Bogotá: Editorial Planeta Colombiana S.A., 2005, S. 182 919 Vertraulicher Brief Bolívars an Santander aus Magdalena vom 21. Februar 1826, in: Bolívar, OC, Bd. II, S. 311313. 918 Michael Zeuske/Venezuela Seite 357 13.05.2016 auch der aristokratische Bolívar die Stabilität in Venezuela bedroht sah. Mitte der 20er Jahre existierten drei größere politische Gruppierungen in Caracas: die Monarchisten, die Konformisten (die „Demokraten“ der Schwester Bolívars) und die Separatisten, zu denen auch auch die Anhänger von Páez gehörten, die Bolívars Schwester als Pardokraten bezeichnete.920 Führungsfigur der ersten war Andrés Level de Goda (14. Juni 1777, Cumaná - 19. April 1856, Caracas); ein ehemaliger königlicher Funktionär. Die Konformisten waren die Träger Großkolumbiens, die meist als Funktionäre von dem Großstaat profitierten. Aus freien Berufen und weniger einflussreichen Mantuano-Familien oder aus der Gruppe der „armen Weißen“ entstanden die „Liberalen“ unter Tomás Lander mit ihrem Presseorgan El Venezolano. Sie profilierten sich zumindest zeitweilig zusammen mit den Anhängern Páez’ (pardocratas) nach und nach zu derjenigen Gruppierung, die die Separation der antigua Venezuela (altes Venezuela) von Großkolumbien zu ihrem Ziel erklärte; erst seit etwa 1840 bildete sich – nun schon gegen Páez und die Konservativen, ich greife etwas vor - die Gruppe der hombres nuevos („neue Männer braucht das Land“), die liberale Partei. Was dieser Allianz der „Venezolaner“ allerdings bis 1825 fehlte, war ein Führungsfigur, der auch militärische und populistische Gewalt ausüben konnte. Erst als Páez sich in der Folgezeit nach und nach an die Spitze der Separatisten stellte, machte ihn endgültig den alten Oligarchien akzeptabel. Bolívar meinte dazu: „Der General Páez ist an der Spitze dieser Ideen, die ihm von seinen Freunden, den Demagogen, suggeriert worden sind“921; der Mann hinter ihm war der Militär und Mitglied einer der alten Mantuanofamilien wie Bolívar, Francisco Carabaño Aponte (Cumaná, 6. September 1781 – Cariaco, 19. August 1848). Unter diesen komplizierten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen schwelte die Krise des Großstaates. Der Wille, zwei ferne Zentralismen - 920 Díaz Sánchez, Ramón, Guzmán. Elipse de una ambición de poder, 2 Bde., Caracas-Madrid: Editorial Mediterráneo 1975, Bd. I, S. 30; 921 Bolívar, OC, Bd. II, S. 311-313. Michael Zeuske/Venezuela Seite 358 13.05.2016 Santander in Bogotá und Bolívar in Peru922 - zu ertragen, nahm auch bei Gutwilligen mit den militärischen Erfolgen der Patrioten immer mehr ab. Unmittelbare Gründe für die gesellschaftliche und politische Krise waren der ausbleibende Wirtschaftsaufschwung, die separatistischen Bestrebungen in Venezuela und der weiterschwelende Krieg. In Militärfragen, die zugleich auch immer Finanzfragen waren, wurden die Bruchlinien am deutlichsten sichtbar. Nach der nur mit Säbeln und Lanzen geführten Schlacht von Junín (6. August 1824) hatte Santander am 31. August 1824 in Bogotá auf Bitten Bolívars923 ein Dekret über einen Alistamiento General (etwa: Allgemeine Mobilmachung) veröffentlichen lassen. 50000 Mann sollten ausgehoben werden.924 Die separatistische Presse in Caracas, die sowieso alles Schlechte aus Bogotá kommen sah, reagierte mit einem Aufschrei gegen die hohen Militärkosten. Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidungsschlacht von Ayacucho (9. Dezember 1824) noch nicht geschlagen. Bolívar befürchtete ein „mexikanisches Peru“ (eine direkte Machtübernahme der alten konservativen Oligarchien), das alle neuen Republiken bedroht hätte. Auch danach befürchtete er bei jeder schlechten Nachricht aus Europa oder der Karibik eine Intervention der Heiligen Allianz. Außerdem ließ sich seine eigene starke Stellung nur auf Basis eines starken Heeres halten. Deshalb plante er auch eine amerikanische Konföderation und sich selbst sah er in der Rolle eines Protektors (das bedeutet, eine nicht national gebundener Anführer eines „amerikanischen“ Heeres, das faktisch zu einer schnellen Eingreiftruppe wird) der neuen Republiken. Aber dazu fehlte das Geld. Santander selbst schrieb 1826 an ihn: „Unser Heer hat heute 23000 Mann und die Marine ist ziemlich stark ... die Zinsen der äußeren Schuld schätzt man auf sechzehn bis achtzehn Millionen Pesos. Die Steuern ergeben 922 Siehe die Verfassung von Bolivien, in: König (ed.), Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 97-106. Siehe den Brief von Bolívar aus Huamachuco, 6. Mai 1824 an Santander: “Mande Vd. esos 4.000 hombres que ha ido a buscar Ibarra”, in: Bolívar, OC, Bd. I, S. 962f. 924 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. IX, S. 265f. 923 Michael Zeuske/Venezuela Seite 359 13.05.2016 sieben bis acht Millionen [Pesos]. Woher nimmt man das Fehlende?“925 Die Republik begann mit einem Finanzkollaps. Die Regierung in Bogotá unterstützte zunächst Páez bei der Umsetzung des Rekrutierungsdekrets926 gegen den Cabildo von Caracas (und anderen Städten, vor allem Valencia), die gegen die Aushebung protestierten. Zu dem Grund Militärkosten, hinter dem politisch auch immer das Problem Militärs-Zivilisten stand, kamen andere Anlässe eher politischer oder stimmungsmäßiger Art, an denen sich die Spannungen hochkochten; so der Fall Infante und der Fall Peña, bald auch der Fall Páez. Oberst Leonardo Infante war ein Pardo-Offizier aus Venezuela, aus den Llanos. Er war im Befreiungsheer aufgestiegen. In das mondäne Bogotá versetzt, wurde er nach 1819, also im Frieden, zum Trunkenbold und Bürgerschreck. Bei einem seiner vielen Händel tötete er einen weißen Leutnant aus „alter Familie“. Der Oberste Gerichtshof in Bogotá verurteilte ihn 1825 zum Tode. Nur der Präsident des Obersten Gerichtshofes, der venezolanische Jurist Dr. Miguel Peña aus Valencia, trug das Urteil nicht mit. Im Gegenteil, er nutzte es, um, Mitte 1825 nach Venezuela geflüchtet, die allgemeine antikolombianische Stimmung anzuheizen. Er klagte die Bogotaner des AntiVenezolanertums, des Rassismus gegenüber dem aufgestiegenen Pardo-Offizier und einer Anti-Militär-Haltung an. Peña war einer der wenigen Zivilisten unter den Veteranen der Patrioten. Bolívar kannte die Listen des Miguel Peña schon aus den Jahren der Verhaftung Mirandas. Er fürchtete den Juristen, der seinerseits einige der bestgehüteten Geheimnisse des Befreiers kannte. Bolívar hatte deshalb an Santander geschrieben: “El doctor Peña es un hombre vivo, de talento, audaz ..., y conviene mucho que Vd. lo mantenga al lado del gobierno, halagado con la esperanza de un alto destino, y que por ningún pretexto vaya a Venezuela, para que la Patria, Vd. y yo no tengamos algún día algo que llorar [Der Doktor Peña ist ein unruhiger Mann, hat Talent, kühn ... und es wäre sehr gut, dass Euer Ehren ihn 925 Restrepo Tirado, Ernesto [et al.] (eds.), Archivo Santander, 24 Bde., Bogotá: Academia Colombiana de Historia, 1913-1932, Bd. XIX, S. 32. 926 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. IX, S. 473-478. Michael Zeuske/Venezuela Seite 360 13.05.2016 an der Seite der Regierung halten, ihn mit der Hoffnung auf eine großes Schicksal locktet und dass er unter keinem Vorwand nach Venezuela gehe, damit das Vaterland, Euer Ehren und ich nicht nicht eines Tages weinen müssten].”927 Kurz, dieser Fall war Öl im Feuer der antikolombianischen Agitation in Venezuela. Der Fall Páez Gefährlicher und im Grunde Keim der endgültigen Loslösung Venezuelas von Großkolumbien wurde der „Fall Páez“. Páez, seit 1820 Freimauer, hatte sich 1824 auf der Suche nach Verbündeten sowohl gegen Mitkonkurrenten unter den Militärs, wie auch gegen den Hochmut der aristokratischen Zivilisten mit profilierungssüchtigen Intellektuellen aus dem früheren royalistischen Lager, wie Antonio Leocadio Guzmán oder Montenegro Colón zusammengetan. Die Monarchie, der Monarchismus als politisches Stabilitäts- und Legitimitätskonzept, hatten allerdings, quer durch alle politischen Gruppierungen, eine ganze Reihe von Anhängern. Beraten von bolivarianischen Monarchisten (wie Carabaño), schlug Páez jedenfalls Bolívar 1825 ein „napoleonisches Verhalten“ (wie Napoleon in Ägypten), d.h., im Klartext, die Rückkehr der siegreichen Truppen aus „Ägypten“ (Peru), die inrichtung einer Monarchie und seine, Bolívars, Krönung, zur Lösung der Probleme der Militärs und der Erhöhung der Legitimität der Staatsgewalt vor. Páez stützte sich bei den Monarchieplänen um 1825 auf eine eigenartige Koalition aus seinen direkten Anhängern unter den Militärs und Monarchisten, während die zwei anderen Gruppen der Demócratas und Godos aus den alten Familien noch Abstand zu ihm hielten. Erst nach der Ablehnung Bolívars und mit den Vorgängen 1826 sowie durch die Fädenknüpfungen von Miguel Peña erfuhr Páez bald auch die Unterstützung der konservativen Zivilisten aus der alten Oligarchie (Felipe Fermín Paúl, der Marqués del Toro, José Santiago Rodríguez, Lino de Clemente) 927 Bolívar, Cartas …, Bd. V, S. 32 und 67 (FN), S. 68 und 225. Michael Zeuske/Venezuela Seite 361 13.05.2016 sowie der Separatisten um Tomás Lander, die als Liberale den Monarchieplänen noch ablehnend gegenübergestanden hatten und untereinander spinnefeind waren. In der gemeinsamen Frontstellung gegen Bogotá, die zwischen 1823 (nachdem Páez Puerto Cabello hatte einnehmen können) und 1826 noch unterschiedlich artikuliert wurde, kam, trotz erheblicher Reibereien, den verschiedenen Oppositionsgruppen ein Kristallationspunkt wie gerufen. Der charismatische Páez, der wegen seiner militärischen Erfolge und wegen seines robusten Caudillismo und seiner militärischen Erfolge bei der Einnahme von Puerto Cabello, die höchste Legitimität aller Próceres besaß, bot sich für konservative Gruppierung sowieso, aber mehr auch für die eigentlich dem Militärischen abholden Liberalen, als politischer Frontmann an. Eine Schlüsselfigur in der Verknüpfung zwischen der ehemaligen Monarchiefraktion und den Separatisten war der Journalist und zeitweilige Sekretär von Páez, Antonio Leocadio Guzmán García (5. November 1801, Caracas – 13. November 1884, Caracas; Vater des späteren Präsidenten Antonio Guzmán Blanco).928 Er hatte zunächst den Monarchiebrief (Oktober 1825) von Páez aus Caracas an Bolívar in Perú als Bote überbracht. Briceño Méndez, der Vertraute Bolívars, schrieb über Guzmán in einem vertraulichen Kommentarbrief: “es verdad que él se educó en España y estuvo allí hasta el año de 22; que es hijo de un oficial español, godo rancio; también lo es que tiene buen talento y juicio y que se separó de su familia en Puerto Rico porque era patriota y no podia vivir con ella.”929 Bolívar selbst hatte wegen der Unüberschaubarkeit der politischen Gemengelage in Venezuela Santander schon seit längerem vorgeschlagen, Páez ganz konstitutionell zum Intendanten für das gesamte ehemalige Venezuela zu machen und ihm auch die militärischen Befugnisse zu lassen, d.h., auch de jure die starke Stellung anzuerkennen und damit formell das sich herausbildende informelle System der Venezolaner.930 Bolívar war bereit, Páez zum Quasi928 Díaz Sánchez, Ramón, Guzmán. Elipse de una ambición de poder, 2 vols., Caracas-Madrid: Editorial Mediterráneo 1975. 929 Bolívar, OC, Bd. II, S. 330. Brief von Briceño Méndez aus Panama vom 23. Dezember 1825 an Bolívar. 930 Ebd., Bd. II, S. 129. Brief aus Ocaña, 8. Mai 1825. Michael Zeuske/Venezuela Seite 362 13.05.2016 Präsidenten des historischen Venezuela zu machen, allerdings mit einem „ excelente y hábil asesor, consejero o secretario.“ Bolívar schlug Briceño Méndez, Montilla, Peñalver, White oder Mendoza vor – im Klartext bedeutete dies, dass Bolívar um das informelle politische System der Machtauswahl wusste und nichts anderes wollte, als es die konservative Oligarchie tat – eine Galionsfigur, umringt von Beratern und grauen Eminenzen aus der alten Elite.931 Insgesamt hatte Bolívar, der bis September 1826 in Peru und Bolivien weilte, in dieser Zeit Vorahnungen, vor allem über die Gefahren einer so genannten Pardocracia in Venezuela - denn er war immerhin ein ziemlich elitärer Angehöriger der ehemaligen kolonialen Oberschicht. An Santander schrieb er aus Peru: “La igualdad legal no es bastante por el espíritu que tiene el pueblo, que quiere que haya igualdad absoluta, tanto en lo público como en lo doméstico; y después querrá la pardocracia, que es la inclinación natural y única, para exterminio después de la clase privilegiada. Esto requiere, digo, grandes medidas, que no me cansaré de recomendar.”932Als er immer neue Hiobs-Nachrichten über die politischen Vorgänge in Venezuela und die Widerstände gegen Bogotá erhielt, schrieb er seine wahre Meinung über sein Vaterland an Santander: „más miedo tengo a mi querida patria que a toda la América entera. Soy capaz de encargarme con más facilidad de la dirección de todo el Nuevo Mundo, más bien que de Venezuela [...] no quiero nada con esos abominables soldados de Boves; con esos infames aduladores de Morillo; con esos esclavos de Morales y de Calzada. A esos obedecían y querían esos fieros republicanos que hemos libertado contra su voluntad, contra sus armas, contra su lengua y contra su pluma.”933 Er stellte Santander knapp 5000 Mann (danach 3000) in Aussicht, als ejército de reserva contra las insurreciones (Reserveheer gegen die Insurrektionen), das in Caracas stationiert werden sollte.934 Im Grunde mußte das eine großkolumbianische Besatzungsarmee für Venezuela sein. Als guter Machtpolitiker wußte er auch, das 931 Ebd. Ebd., S. 116. Aus Lima, 7. April 1825. 933 Ebd., S. 128-130. Aus Ocaña, 8. Mai 1825. 934 Ebd., S. 185f. Aus Cuzco, 25. Juli 1825. 932 Michael Zeuske/Venezuela Seite 363 13.05.2016 dies keine Soldaten aus dem Lande, nicht einmal aus dem ehemaligen NeuGranada sein durften: “alguna tropa que no pertenezca a Venezuela ni a Colombia tampoco, a fin de evitar cualquier desorden de parte de aquellos hombres de color [die venezolanischen Truppen bestanden vorwiegend aus Pardos - M.Z.], que no dejan de tener aspiraciones muy fuertes.”935 Er bezog sich damit auf den Wunsch vieler Menschen, die Monarchie wieder einzuführen. Bolívar lehnte aber für sich, trotz der Schwierigkeiten in Bezug auf die Legitimität der Republik, eine „Bürgerkrone“ mit den Worten ab: „Ni Colombia es Francia, ni yo Napoleón.“936 1826 rebellierte Páez dann offen gegen Santander. In der Historiographie hat dieser inszenierte Protest den Namen La Cosiata937 erhalten. Die Oligarchien Venezuelas und die unterschiedlichen politischen Gruppen des Landes hatten ihren starken Mann gefunden. Páez wurde zur der Galionsfigur der Opposition und zum Steuermann bei der Wiederherstellung der antigua Venezuela. Die Paecistas formierten sich. Bereits in den Zeiten des Monarchiebriefes - als er ihn konzipierte oder eingeflüstert bekam - hatte Páez als Militärkommandant des Departements Venezuela 1824 versucht, nach den Anweisungen des Alistamiento General (Allgemeine Aushebung; Aug. 1824) Rekruten für die Truppen Bolívars auszuheben. Im Laufe des Jahres hatte er dreimal die Einberufungsdekrete proklamieren lassen, aber keiner kam. Die Militärs, d.h., diejenigen, die in den Unabhängigkeitskriegen gekämpft hatten, wollten zwar Privilegien in Venezuela, aber sie wollten als Llaneros nicht nach Südkolumbien, nach Lima oder Oberperu. Für die jungen Jahrgänge, die im Krieg aufgewachsen war, stellte das Militär kein erstrebenswertes Ziel dar, zumal sie auch sahen, wie schlecht die einfachen Soldaten der Unabhängigkeitskriege belohnt worden waren. Keiner wollte Soldat sein. Im Januar 1826 mußte Páez Militärstreifen durch Caracas patrouillieren lassen, um neue Soldaten einfach einzufangen. Der Intendant Escalona, der formal dem Páez übergeordnet war, sah in diesen rigoren Methoden eine Bedrohung der 935 Ebd., S. 211. Brief aus La Paz an J. Hipólito Unanúe vom 2. September 1825. Ebd., S. 324. Brief vom 6. März 1826 aus Magdalena an Páez. 937 Siehe die Erklärungen über die Herkunft dieser Bezeichnung bei: Díaz Sánchez, Guzmán ..., Bd. I, S. 61f, FN 1. 936 Michael Zeuske/Venezuela Seite 364 13.05.2016 Zivilgewalt. Páez an der Spitze seiner Truppen ähnelte sehr den vielen Banden und Caudillos, d.h., den Sozialbanditen, die überall im Lande ihr Unwesen trieben. Wie es unter Páez bei Rekrutierungen und bei der Disziplinierung der Truppen zuging, kann man sehr schön bei dem Hannoveraner Söldner Carl Richard nachlesen.938 Außerdem hatte es schon seit der Etablierung der Doppelherrschaft zwischen konstitutionellen Intendanten und Militärkommandanten, die ihre Legitimität aus der gesonderten Kriegsgesetzgebung zogen, Reibereien um die Ressourcen gegeben939. Der Intendant beschwerte sich bei Santander, der nur auf eine juristisch abgesicherte Gelegenheit, mit Páez abzurechnen, gewartet hatte. Im März 1826 wurde im Parlament in Bogotá offiziell Anklage gegen Páez erhoben. Páez schrieb zunächst nach Bogotá, dass er kommen und sich verantworten wolle. Er legte den militärischen Oberbefehl im Departement Venezuela nieder. Da kam es aber zu einem Umschwung in der Stimmung der wichtigsten Gruppen politischer Akteure aus den alten Oligarchien. Miguel Peñas Rat tat viel dazu. Fernando Peñalver war mittlerweile Gouverneur der Provinz Carabobo. Als Kaufmann sprach Peñalver fließend Englisch und Französisch und er besaß eine Hacienda am Valenciasee (Los Aguacates). Humboldt hatte über ihn gesagt: „D[on] Fernando Peñalver gebildet wie sein Bruder, ebenso hundemager, aber größer und sich ein Adonis dünkend, elend eitel, die ersten Tage immer von Raynal, Encyclopédie, Menschenfreiheit … sprechend. Aber nachher brach die gemeine Menschennatur durch. Der Portugiese meinte, man solle eine weiße Republik stiften, zu der Zeit, wo die franz[ösische] Republik, wie nicht zu zweifeln, die Sklaverei wieder erlaubt hat; … in der weißen Republik giebt man selbst den freien Mulatten [Pardos – M.Z.] keine Rechte, die Sklaven bedienen ihre Herren knieend, jene verkaufen die Kinder der letzteren … Das ist die Frucht ameran[ischer] Aufklärung! Verbannt Eure Encyclo[pédie] und Euren Raynal, ihr schändlichen Menschen.“940 Peñalver rief die Hacendados in Carabobo auf, 938 Richard, Carl, Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde, neu hrsg. und komm. von Hans-Joachim König, Leipzig : Brockhaus, 1992 (Americana Eystettensia. Serie C, Texte ; 2). 939 Siehe für 1822: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VIII, S. 370-374. 940 Humboldt, “Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (7.2. – 5.3.1800), in: Humboldt, Michael Zeuske/Venezuela Seite 365 13.05.2016 Spenden für die Militärs (unter Páez) zu machen.941 Die Godos, die zunächst Páez an der Spitze der Milizen mit dem Intendanten verurteilt hatten, stellten sich jetzt ganz auf Páez’ Seite. Der ganze Vorgang ist als La Cosiata (April-Dezember 1826, mit Folgen bis 1830) in die Geschichte Venezuelas eingegangen.942 Die Verbindungsnetze der Stadtcabildos traten in Aktion. Am 27. April 1826 erklärte der besonders konservative Stadtrat (cabildo, Munizipalität) von Valencia auf Anraten von Miguel Peña, dass Páez das Vertrauen der Bevölkerung und der Truppen in Venezuela besäße. Die Paecistas (und Antisantanderistas) von Valencia waren: Francisco Carabaño, Manuel Escurra, José Jacinto Mujica, Pedro García, Carlos Pérez Calvo, Rafael Vidoza, José María Sierra, Antonio Villanueva und die Aktivisten Matías Escuté, Mérida und Cala y Arguíndegue. Es geht das begründete Gerücht, daß beiden letzteren in der Nacht vor der Entscheidung des Cabildo von Valencia drei Bauern getötet hätten, sie vor die Tür des Ayuntamiento gelegt hätten und am Tag auf die mangelnde Sicherheit in Venezuela verweisen.943 Die Stadt Nueva Valencia del Rey und ihre Umland, die Ebenen am See von Valencia und die Täler von Aragua (siehe Karte944), hatte bei ihren knapp 7000 Einwohnern die größte Dichte von Großgrundbesitzern und Hacendados im Land. Eine paradigmatische Plantagen- und Sklavereilandschaft am See von Valencia zwischen Meer und Küstengebirgstälern, von Caracas im Osten durch die fruchtbaren Araguatäler getrennt, Nirgua im Westen und Villa de San Luis de Cura im Süden, wie sie Humboldt im Februar/März 1800 beschrieben hat.945 Hier nahm die Regierung des unabhängigen Venezuela 1830 ihren Sitz. Die Tatsache, daß Valencia der Ursprungsort des unabhängigen Venezuela geworden war, wurde auf dem Kongreß von 1830 damit anerkannt, dass die Provinz Carabobo gegründet wurde; unter den Unterzeichneten der Verfassung von 1830 finden sich besonders Reise durch Venezuela …, S. 185-221, hier S. 208. 941 Restrepo, Historia de la Revolución de la República de Colombia ..., Bd. V, S. 250. 942 Acusación contra el jeneral Páez, Colombia: Imprenta de M.M. Viller Calderón, 1826; “La Cosiata”, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 872-876. 943 Magallanes, Manuel Vicente, Historia Política de Venezuela, 3 Bde., Caracas: Monte Ávila Editores, 1975, Bd. I, S. 284. 944 Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 72. 945 Humboldt, “Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (7.2. – 5.3.1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 185-221. Michael Zeuske/Venezuela Seite 366 13.05.2016 viele Abgeordnete mit dem Zusatz „Carabobo“. Miguel Peña, der Architekt der Allianz, wurde nicht von ungefähr Präsident des Kongresses von Valencia. Andere Munizipalitäten schlossen sich an, erst Maracay, dann Calabozo, schließlich Caracas.946 In Caracas schlossen sich dem Putsch die Vertreter der wichtigsten politischen Richtungen, vor allem aber Vertreter der der wichtigsten Familien als Antibogotaner, Reformisten und Separatisten an: José de Iribarren (Síndico procurador municipal), José Núñez de Cáceres, Andrés Level de Goda, Pedro Pablo Díaz, Tomás Lander, Martín Tovar y Ponte, Francisco Ribas und José María Pelgrón y Pardo y Ruiz (Caracas, 12. Januar 1781 – Caracas: 17. August 1845). Páez riß den Oberbefehl wieder an sich. Am 16. Mai 1826 wurde er auf Betreiben der Oligarchien der zentralen Landesteile um Caracas und Valencia zum zivilen und militärischen Oberhaupt des ganzen antigua Venezuela (will sagen, dem bourbonischen Venezuela von 1777) akklamiert: „solange wie es die Umstände erforderten oder bis die Völker Venezuelas mit Sicherheit ihre Vereinigung verwirklichen könnten, um über die Form der Regierung verhandeln zu können, die ihrer Situation, ihren Bräuchen und Produktionen angemessener seien.“947 Damit stand ein venezolanischer Putsch, getragen von einer eigentümlichen Allianz ehemaliger Royalisten, neuer Monarchisten, Patrioten, städtischer Funktionäre von Caracas und „alter“ Mantuanofamilien, neuer Funktionäre sowie freier Berufe (vor allem Rechtsanwälte), gegen die konstitutionelle Regierung in Bogotá.948 Ich will es gerne noch einmal wiederholen: am Beginn der eigentlichen nationalstaatlichen Entwicklung Venezuelas, engstens verbunden mit einem Verrat der Eliten an Bolívar (der den „Verrat“ gegen Santander ausnutzen wollte), stand ein Putsch gegen den Staat Großkolumbien und seine rechtmäßige Regierung. Der Putsch der Eliten nutzte die Drohung einer Rebellion von Bauern, Llaneros, Indios, Pardos und städtischen Unterschichten gegen die Ergebnisse des Unabhängigkeitskrieges. 946 Siehe die Actas der Municipalidad von Valencia und der weiteren Cabildos von Venezuela, in: Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 313-363. 947 Vega, José de la, La Federación en Colombia (1810-1912), Tesis doctoral, Bogotá 1952, S. 179. 948 Ich folge hier: Masur, Simón Bolívar ..., S. 557-559. Michael Zeuske/Venezuela Seite 367 13.05.2016 Páez ging nach Caracas. Dort verpflichtete er sich, die Gesetze Venezuelas einzuhalten und keine Anweisungen aus Bogotá mehr anzunehmen. Er konnte auf die Unterstützung des Departements Venezuela und der „Provinz Apure im Departement Orinoco“ verweisen. Der Apure war eine soziale Pulverkammer; Páez brauchte das Wort nur zu erwähnen, damit sich alle Eliten darüber klar waren, dass er mit dem Einsatz der Llaneros vom Apure drohte.949 Restrepo schrieb zu Recht über die Unterstützer von Páez: “este partido no podía sufrir que el Ejecutivo de la nación residiera en Bogotá, que Caracas no fuera la capital de un Estado y que sus miembros no ocupasen los primeros destinos en el Gobierno sin moverse de su casa”.950 Die Departements Zulia (vor allem die Eliten von Coro von Maracaibo; bei Trujillo und Mérida sah es schon anders aus), deren alte Eliten immer Gegner der Zentraloligarchien gewesen waren und der Großteil des Departements Orinoco, sprich Angostura und Guayana, erklärten ihre Treue zur Verfassung von Cúcuta. Der Konflikt hatte soziopolitische Dimensionen, auf die wir gleich kommen werden, aber er hatte auch eine persönliche Dimension. Zwei der prominentesten Befreier standen sich gegenüber. Sie kannten sich seit fast zwei Jahrzehnten. Santander wie Páez hatten an Bolívar geschrieben und jeweils dem anderen die Schuld gegeben. Bolívar aber befand sich in einer komplizierten Lage. Er war dabei, Peru und Bolivien zu organisieren und die Genüsse des kontinentalen Sieges auszukosten („in Peru hatten sie alle Verführungen und Annehmlichkeiten eines Sultanats angenommen“951). Aber die Oligarchien Limas und Oberperus warteten nur auf den Abzug der bolivarianischen Truppen, die vor allem aus venezolanischen und neogranadinischen Soldaten bestanden: „Wenn der Befreier Peru verläßt, wird es in eine schreckliche Unordnung versinken“, schrieb Antonio José de Sucre, „die Parteien werden sich bald mit Waffen bekämpfen; und wie Izard, “El polvorín apureño”, S. 97-101. Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XI, S. 134. Es handelt sich bei diesem Dokument um den Bericht von José María Restrepo vor dem konstitutionellen Kongreß in Bogotá. Restrepo war zu dieser Zeit Staatssekretär im Innenministerium Kolumbiens. Titel des Berichts “Historial de la revolución de Venezuela orijinada en la rebelión de Valencia, en abril de 1826”, Ebd., S. 133-157. 951 Masur, Simón Bolívar …, S. 559. 949 950 Michael Zeuske/Venezuela Seite 368 13.05.2016 kann ich dann Bolivien retten?“952Auch Rafael Urdaneta schrieb aus Maracaibo, Bolívar möge schnell kommen. Und er deutete ebenfalls an, dass seiner Meinung nach nur eine Monarchie die neuen Staaten retten könne; Bolívar mußte Peru nolens volens verlassen. Im September 1826 traf er sich mit Santander in Tocaima; die beiden Politiker trafen die Vereinbarung, daß Bolívar Páez im Rahmen der konstitutionellen Ordnung von Cúcuta zur Räson bringen sollte; Santander wollte dann den Kongreß einberufen und vom Gesetzgeber den Termin für eine neue Verfassung-Versammlung bestimmen lassen. Die politischen Elite-Gruppierungen Venezuelas versuchten den sozialen Zündstoff ganz bewußt gegen die Zentralregierung in Bogotá auszurichten. Dazu brauchten sie Páez - er war, um das mit einem sehr umstrittenen Konzept des venezolanischen Soziologen und Historikers Laureano Vallenilla Lanz zu bezeichnen, der gendarme necesario, den Venezuela seit 1821 in regelmäßigen Abständen gehabt habe, bis 1958, dem Sturz des Diktators Pérez Jiménez. Vallenilla Lanz hat sein Konzept des „notwendigen Gendarmen“ (sprich: „notwendiger Diktator“) seit 1902 an der Figur von José Antonio Páez begonnen zu entwickeln.953 Der Erste aus den neuen Elite Venezuelas, der das erkannt hatte, war - kaum verwunderlich wenn wir uns der Worte Humboldts entsinnen Fernando Peñalver bereits 1823.954 Diese soziale Explosivität hatte bald auch die Reste der alten Oligarchie und die neue Elite des Landes begreifen müssen, die ja selbst mit der verschleierten Beibehaltung der Sklaverei und dem Unwillen, an Agrarreformen auch nur zu denken, an diesem Rad gedreht hatte. Páez schien den Eliten zwischen 1825 und 1830 der einzige Caudillo zu sein, der sowohl eine massive Rebellion von unten, einen Sozial- und Kastenkrieg (wie die Guerra a muerte 1813-1820) wenn nicht völlig verhindern, so doch vielleicht in genehme Kanäle lenken und unter Kontrolle halten konnte; die konstitutionellen Maßnahmen, wie Gesetze gegen 952 Restrepo Tirado [et al.] (eds.), Archivo Santander, Bd. XV, S. 106. Vallenilla Lanz, Laureano, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Universidad Santa María, 1983-1988. 954 Vallenilla Lanz, “El gendarme necesario”, in: Obras Completas ..., Bd. I, S. 79-94, hier S. 80. 953 Michael Zeuske/Venezuela Seite 369 13.05.2016 Bettler und Vaganten (ley de hurtos 2. Mai 1826) reichten da lange nicht aus, zumal wenn keine reale Kraft im Lande da war, die sie durchsetzen konnte. Mit der Allianz zwischen Peña und Páez 1826 hatte sich gezeigt, daß Páez auch für Godos (und nicht nur für Bolivarianer, wie Carabaño) lenkbar war; es konnte also die berechtigte Hoffnung bestehen, daß er auch konstruktiv im Sinne des Macht-, Staats- und Gesellschaftsprojektes der Mantuanos wirken konnte. Bolívar war auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner fast mythischcharismatischen Stellung zu den einfachen Soldaten zwar in der Lage, Páez persönlich zu beeinflussen, aber dieser Einfluß verflüchtigte sich, sobald Bolívar wieder weg war. Die Oberschichten, vor allem die alten Notabelnclans, brauchten in dieser Situation Páez, den Mann der „die Sprache des Volkes sprach“, und zugleich ein Symbol sozialen Aufstieg in die Klasse der Grundbesitzer war. Páez verstand es auch, die unteren Kasten in Bezug auf die Landfrage zu mobilisieren und zu manipulieren. Die Enttäuschung der unteren Volksklassen betraf neben den normalen Alltagssorgen und Wirtschaftsschwierigkeiten sowie den Problemen und Ängsten, die sich für die Pardo-Bevölkerung aus der ungelösten Frage der Sklaverei (familiäre Nähe zur Sklaverei) ergab, vor allem das ebenfalls ungelöste Problem des Zugriffs auf Landeigentum. Rechtlich abgesichertes Landeigentum war die Basis jeglicher Produktion, familiärer Stabilität und des sozialen Status. Egal, ob Bolívar nun eine Agrarreform mit seinen Dekreten über die Repartición de bienes vom 10. Oktober 1817955 oder nicht angestrebt hat956 und ebenfalls egal, ob er mehr dem „modernen Großbesitz“ oder der Aufteilung des Landes in Kleinbesitz anhing, wurde dieses Problem in den Jahren nach 1821 gegen eine demokratische Verbreiterung des Landbesitzes gelöst. Welche soziale Bedeutung die Landfrage hatte, zeigt sich darin, dass Páez bereits 1816 damit begonnen hatte, „allen [Land]-Besitz, der der Regierung gehörte“ (das heißt, damals der spanischen Krone) am Apure seinen Anhängern zu 955 956 Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 89-92. Siehe die Diskussion dieses Problems bei: Izard, El miedo ..., S. 158-163. Michael Zeuske/Venezuela Seite 370 13.05.2016 versprechen.957 Als Páez sich mit seinen Llaneros Anfang 1818 Bolívar anschloß, “no exigió sino la ratificación de aquella oferta”. Bolívar aber habe sie für “muy justa en su objeto” gehalten, “aunque demasiado extensa é ilimitada”.958 Deshalb habe er sie 1817 in dem bereits genannten Dekret genauer gefasst (und begrenzt). Der Kongreß von Angostura bestätigte am 6. Januar 1820959 das Bolívar-Dekret von 1817 mit einigen substantiellen Änderungen: Die Rechte wurden auf alle Zivilbeschäftigten auf patriotischer Seite ausgedehnt960 und - die folgenschwerste Änderung: „El pago de estas asignaciones se hará por el total a la tropa, y por mitades á la Oficialidad en vales del tesoro Público, que serán admitidos por su valor nominal en las Almonedas de Bienes Nacionales“.961 Im Grunde eine Art Ersatzgeld. Damit waren der fraudulenten Spekulation Tür und Tor geöffnet. 1821 kam es zu Protesten wegen der schleppenden Umsetzung der Dekrete durch den Kongreß von Cúcuta. Páez erhielt in einem Dekret von Januar 1821 Sondervollmachten Bolívars zur Umsetzung des Dekrets, um den Llaneros „asegurar la subsistencia de sus familias“.962 Nach dem Sieg von Carabobo war es der Sekretär Bolívars, Pedro Briceño Méndez, der mehrfach auf die Dringlichkeit der Umsetzung verwies, um soziale Unruhen in den Llanos zu verhindern: “por lo menos con respecto á la división de Apure y demas del Llano es de forzosa necesidad esta medida, si se quieren prevenir los desastres ... de los disturbios y trastornos que turben la tranquilidad pública”.963 Am 28. September 1821 schließlich erließ der Kongreß von Cúcuta ein Gesetz über Haberes Militares.964 Darin wurde bestimmt, dass die Festlegungen des Dekrets von Bolívar vom 10. Oktober 1817 und des Kongresses von Angostura vom 6. Januar 1820 für alle diejenigen gelten sollten, die in der Zeit zwischen 1816 und dem 15. Februar 1819 mindestens zwei Jahre gedient hatten und für Ausländer, die vor dem 6. Mai 1820 Brief von Briceño Méndez an Pedro Gual aus Valencia vom 20. Juli 1821, siehe: O’Leary, Documentos, Bd. XVIII, S. 399-400. 958 Ebd., S. 400. 959 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VII, S. 162-163. 960 Ebd., Art. 8, S. 163. 961 Ebd. 962 Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 222f. 963 O’Leary, Documentos ..., Bd. XVIII, S. 400. 964 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VII, S. 110-112. 957 Michael Zeuske/Venezuela Seite 371 13.05.2016 nach Venezuela gekommen seien.965 Die Summen reichten vom Gegenwert 20000 Pesos für den General und 500 Pesos für den einfachen Soldaten. Als Fonds für die Verteilung war Bodenbesitz vorgesehen, der konfisziert worden war und bis zum Zeitpunkt der Gesetzgeltung noch nicht verteilt war oder tierras baldías (so genanntes „herrenloses Land“, meist schlechter oder schlecht gelegener Boden). Im Artikel 14 legte das Gesetz fest: „Se prohibe absolutamente la circulación de los expresados vales ó billetes contra el tesoro público [Man verbietet absolut die Zirkulation der genannten Vales oder Billetts gegen den Staatsschatz]“966, aber der Schaden war schon nicht mehr zu beheben. Auf zwei Arten wurden die einfachen patriotischen Soldaten um die Früchte dieser Dekrete betrogen. Erstens, da sie Geld brauchten, durch den Aufkauf der Vales weit unter Nominalwert durch die höheren Offiziere, wie Páez oder die Monagas selbst. 1825 wies der venezolanische Senator Andrés M. Briceño darauf hin, dass: “colombianos de muchas condiciones distintas tomaron parte en el juego de la especulación, y entre los peores especuladores se encontraban líderes militares como Páez, cuya fortuna privada se atribuía al agiotage escandaloso con los vales de sus propios soldados y oficiales.”967 Am Ende des gleichen Jahres machte die Zeitung Indicador del Orinoco (Cumaná) darauf aufmerksam, dass es zu extrem wenig wirklichen Verteilungen von Bodenbesitz gekommen sei und daß viele Soldaten ihre Vales (Bodenlose - Anrechtsscheine) für cuatro reales (vier Groschen) verkauft hätten.968 Wirtschaftsfachmann José Rafael Revenga schlug 1825 zwar die Gründung eines Banco de Venezuela in Caracas vor (mit einem Kapital von zwei Millionen Pesos) – erste Erwähnung des Wortes „Bank“ in der Wirtschaftsgeschichte des unabhängigen Landes - , aber die Krise der 965 Ebd., S. 110. Wegen des Dekrets vom 24. September 1820, keine neuen höheren ausländischen Offiziere einzustellen, Ebd., S. 212-213. 966 Ebd., S. 111. 967 Zit bei: Bushnell, El regimen de Santander en la Gran Colombia ..., S. 309. 968 Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela …, Bd. I, 1800-1830, Estudio preliminar Carrera Damas, S. 455f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 372 13.05.2016 Unabhängigkeit und die Ablehnung jeglichen Vorschlags, der aus Bogotá durch die Oligarchie von Caracas verhinderten das Vorhaben. 969 Zweitens, indem viele Angehörige der Notabeln, der alten Mantuanaje, die seit 1814/15 offen mit Morillo paktiert hatten und 1820/21 emigriert waren, nach dem patriotischen Sieg zurückkamen, sich mit Bezug auf ihre Rollen 1810/12 als „alte“ Patrioten präsentierten und ihre Verbindungen zu den höchsten republikanischen Politikern ausspielten, damit ihre Besitze nicht konfisziert würden oder, wenn das schon geschehen sein sollte, ihnen zurückgegeben wurden.970 Das war bei Bolívar, der persönlich immer sehr generös war, oftmals nicht schwer. Schlagend hat das Brito Figueroa nachgewiesen, indem er die Unterzeichner einer royalistischen Ergebenheitsadresse der Oberschichten von Caracas aus dem Jahre 1819 (manifiesto trilingüe vom 6. April 1819 gegen den Kongreß von Angostura)971 mit einer Adresse gegen den Decreto de repartición de bienes protestiert hatten (4 Tage nach Carabobo). Es waren die Gleichen! Ca. 140 Personen, die die Cabildos kontrollierten und damit die einzige wirklich funktionierende politische Machtinstitution repräsentierten, die effektiv etwa ein Drittel des nationalen Territoriums - natürlich als Kaleidoscop von Munizipalitäten - kontrollierten. Sie begannen auch den komplizierten Prozeß der historischen Verfälschung, indem sie mit dem Mythos von Caracas als cuna de la independencia (Wiege der Unabhängigkeit) begannen und einige Royalisten, die sich wirklich um eine Lösung der Probleme ging, wie Andres Level de Goda, zu Buhmännern aufbauten. Noch 1828 beklagten sich Heereseinheiten über die Nichterfüllung der Bodenverteilungsgesetze972 und das gesamte 19. Jahrhundert wurde mit den Forderungen nach wirklicher Bodenverteilung Politik gemacht (siehe das Bodenverteilungsgesetz der Monagas, 1848). 969 Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela (1830-1940), Caracas: Fondo Editorial Buria; Fondo Editorial Antonio José de Sucre, 1986, S. 15f. 970 Brito Figueroa, Historia económica ..., Bd. I, S. 219; siehe auch: Troconis Guerrero, Luis, La cuestión agraria en la historia nacional, Caracas 1962, S. 69-72. 971 Brito Figueroa, Historia económica …, Bd. IV, S. 1351-1359. 972 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XII, S. 131-143. Michael Zeuske/Venezuela Seite 373 13.05.2016 Die Zeichen für einen Sozialkrieg von unten mehrten sich. Bereits Ende 1824 hatte es in Petare, einer Ortschaft (damals) in der Nähe von Caracas, einen Angriff einer „Gruppe von Leuten, etwa 200 Mann, unter denen sich Sklaven der umliegenden Haciendas befanden“ auf einen Militärposten gegeben.973 Ein schwarzes royalistischer Guerrillaführer mit Namen Dionisio Cisneros (Páez war Compadre seines Sohnes974) trieb seit Beginn der zwanziger Jahre sein Unwesen in der Nähe von Baruta. Dabei spielte durchaus auch eine Rolle, dass 4000 Mann der royalistischen Truppen, die in Carabobo 1821 oder in Puerto Cabello 1823 besiegt worden waren, ja Menschen aus Venezuela waren, die entlassen worden waren oder durch Amnestien in die republikanischen Streitkräfte gelangt waren. Es bestand die Gefahr einer Verbindungsaufnahme zu spanisch-royalistischen Widerstandgebieten.975 Die neuere Forschung auch von spanischer Seite hat gezeigt, wie viel Hoffnung in Kuba und Puerto Rico, wo viele Emigranten saßen (wie José Domingo Díaz), in diese Verbindungen gesetzt wurden zwischen regulären Truppen (Expeditionen), royalistischen Guerrillas und dem Sozialprotest, der sich als Protest gegen die republikanische Ordnung als „Royalismus von unten“ äußerte, denn bei allen Beschränkungen hatten die königlichen Funktionäre die Unterschichten der Kolonie zumindest theoretisch gegen die Hacendados geschützt. Santander schrieb einen Brandbrief über die Gefahr von sozialen Unruhen in Venezuela an den Senat und beschuldigte die Liberalen, diesen Rebellionen und gar den Feinden von außen mit ihren Agitationen gegen Bogotá Tür und Tor zu öffnen.976 Kandidat Páez konnte allerdings mit Schlitzohrigkeit und Charisma die Rebellionen unter Kontrolle halten.977 O’Leary, der von Bolívar aus Peru nach Venezuela geschickt worden war, schrieb an Santander: „Wenn er [Bolívar] nicht mit Eile kommt, geht Venezuela verloren, entweder es wird wieder spanisch oder 973 Ebd., Bd. XII, S. 525. Palacios Herrera, Oscar, Dionisio Cisneros el último realista, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1989 (Fuentes para la Historia Republicana de Venezuela; 45). 975 Fernández, Delfina, Últimos reductos españoles en América, Madrid: Editorial Mapfre, 1992, S. 292ff. 976 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XII, S. 525-527. 977 Siehe die Art und Weise, wie er das Cisneros gegenüber als „compadre“ machte, indem er sich zum Taufpaten eines Sohn von diesem machte: Fundación John Boulton (ed.), Política y economía en Venezuela ..., S. 61, FN 53. 974 Michael Zeuske/Venezuela Seite 374 13.05.2016 es fällt unter die Pardokratie“.978 Auch Restrepo, neugranadinischer Offizier, Minister und Historiker, schrieb in seiner Zeitgeschichte, der berühmten Historia de Colombia (die Venezuela einschloss), über die Vorgänge 1826 in Venezuela und speziell über das Dekret Bolívars979, mit dem dieser im Dezember 1826 persönlich die Macht im Lande übernahm: „Dieses Dekret ... war Folge ... des Schreckens, von dem Bolívar angesichts eines Bürgerkriegs auf dem venezolanischen Territorium befallen wurde, der eine mörderische Degeneration haben könnte, wenn die Kasten aufeinanderträfen, wovon man schon alarmierende Symptome im Maturín zu sehen begänne.“980 Bolívar war 1826 mit der hehren Idee des kontinentalen Kongresses beschäftigt (als „Kongreß von Panamá“981 in die Geschichte eingegangen): „In Panamá wollte Bolívar die wichtigen Angelegenheit der Neuen Welt erörtert, die übernationalen Gesetze abgefasst wissen, und alle Bemühungen auf die Verwirklichung eines durch die Anwesenheit aller [amerikanischen Staaten – von Nord nach Süd – M.Z.] geschmiedeten Ideals gerichtet.“982 Daran zeigt sich, wie weit sich der Amerikanismus Bolívars von den Realitäten in den neuen Staaten entfernt hatte. Ende 1826 ging dann Bolívar auch nach Venezuela, oder besser: nach Maracaibo. Nicht umsonst machte der Libertador bei seiner Ankunft in Venezuela das Departament Zulia zu seiner ersten Basis, Urdaneta zum Heereschef und Salom zu seinem Stellvertreter.983 In Maracaibo herrschte das stärkste Interesse an Großkolumbien – Maracaibo befand sich im Großstaat in einer Zentrallage. Dann Pérez Vila, Vida de Daniel Florencio O’Leary, Caracas: Soc. Bolivariana de Venezuela 1957, S. 311. Restrepo, Historia de la Revolución de la República de Colombia ..., Bd. V, vor allem die Kapitel X und XI, S. 246-365. 980 Ebd., S. 340; siehe auch: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XI, S. 61. 981 Castillero R., Ernesto J. (ed.), Bolívar en Panamá: génesis y realidad del “Pacto Americano”: las Actas extraviadas del Congreso de Bolívar de 1826, Panamá: Instituto Nacional de Cultura, 1976; an dem Thema haben sich auch venezolanische Präsidenten versucht: Caldera, Rafael, Pedro Gual, el Congreso de Panamá y la integración Latinoamericana, Caracas : Ministerio de Relaciones Exteriores, Dirección de Relaciones Culturales, 1983; Díaz Lacayo, Aldo, El Congreso Antifictiónico (Panamá, 22 de junio – 15 de julio de 1826): visión bolivariana de la América anteriormente española. Prólogo de Montiel Argüello, Alejandro, Managua: Banco Central de Nicaragua, 2001 (Colección Premio nacional de historia). 982 Salcedo-Bastardo, Simón Bolívar. Ein Kontinent und sein Schicksal, Percha: Verlag R.S. Schulz, 1978, S. 227. 983 Ebd.; die Karte dieser Militäroperation Bolívars fehlt bezeichnenderweise in: Espinosa Goitizolo, Reinaldo [et al.], Atlas mínimo histórico biográfico y militar Simón Bolívar, La Habana: Editorial Pueblo y Educación; Instituto Cubano de Geodesía y Carografía, 1988. 978 979 Michael Zeuske/Venezuela Seite 375 13.05.2016 zog er über Coro und Chichiviriche, um von dort per Schiff nach Puerto Cabello zu gelangen. Kommandant in Puerto Cabello war Briceño Méndez, quasi Schwager von Bolívar. Die Lage in Venzuela war weit schlimmer, als er sich vorgestellt hatte; Páez hatte die Uniform ausgezogen und war wirklich an den Apure gegangen, wo er die Llaneros zum Kampf gegen „alle Weißen“ aufrief. Die Militärs spalteten sich (wieder) in kreolische Militärs und Llanero-Führer; die kreolischen Offiziere auch noch einmal entlang der traditionellen regionalen Konfliktlinien: Santiago Mariño hatte sich in sein heimatliches Maturín begeben und kämpfte dort gegen seinen Lieblingsfeind José Francisco Bermúdez (der 1817 Piar ausgeliefert hatte). Das heißt, vor dem Hintergrund einer von Bolívar lange befürchteten guerra de los colores (Rassenkrieg) kämpften Libertadores untereinander – der worst case im Bolívars Zukunftsszenarium für Kolumbien. Konflikte im Anfang austreten war die Devise. Die auf Charisma basierte Taktik Bolívars ging zunächst auf; er stellte sich als Außenstehenden dar, der für die Probleme zwischen Venezuela und Caracas nicht verantwortlich gemacht werden könne. Daran seien die Juristen und Bürokraten in Bogotá schuld. Die Route, die er nahm, um mit Páez zusammenzutreffen - alles Städte bzw. Festungen, die sich Páez am längsten widersetzt hatten und die Kampftruppen, die er mitführte, waren eine erhebliche Drohung; aber Bolívar bot auch Allianz und Amnestie an: „Conmigo ha vencido Ud.; conmigo ha tenido Ud. gloria y fortuna; y conmigo debe esperarlo todo“ (Mit mir haben Sie Ruhm und Fortune gehabt; und mit mir können Sie auf alles hoffen).984 Und in einzigartiger Vertrautheit schrieb er, tief aus dem Fundus charismatischer Herrschaft: “Voy a dar a Ud. un bofetón en la cara yéndome yo mismo a Valencia a abrazar a Ud.”.985 Und er versprach die Verfassung zu ändern: “Yo ofrezco convocar al pueblo para que determine lo que quiera y haga cuanto alcance su poder”.986 Er stellte Páez, den er wohl gerne als eine Art revolutionären Eroberer aus dem Land haben wollte, wieder und wieder 984 Bolívar, OC, Bd. II, S. 504f. Ebd. S. 519. 986 Ebd., S. 518f. 985 Michael Zeuske/Venezuela Seite 376 13.05.2016 eine Expedition nach Kuba und Puerto Rico in Aussicht; verwarf aber später diese Pläne – “weil es so viele Neger auf Kuba” gab.987 Aufgrund seiner besonderen Vollmachten übernahm Bolívar die Regierung in Venezuela und spaltete dieses damit selbst von einheitlich gedachten und von Santander de jure auch immer so behandelten Rechtsbereich „Kolumbien“ (GroßKolumbien) ab. Er hatte aber begriffen, dass er als Angehöriger der alten Oligarchie im Lande nicht lange würde regieren können – Páez hatte sich in der Kandidatenaufstellung für die direkte Machtausübung durchgesetzt. Bolívar traf deshalb für Venezuela (und auch für Ekuador) Sonderregelungen und verlieh den venezolanischen Putschisten in der Amnestieakte vom 1. Januar 1827 mit der Ernennung von Páez (und Flores in Ekuador) zu jefes superiores (Obersten Chefs) eine Quasi-Selbständigkeit.988 Aber nicht nur das, er setzte auch Mariño, der bisher überall, nur nicht in „seiner“ Region, dem Maturín, Staatfunktionär gewesen war, als Intendant und Comandante General (Zivil- und Militärgewalt!) im Maturín ein – durch die Anerkennung verschiedener Chefs in unterschiedlichen Regionen, die sich zum Teil spinnefeind waren, hoffte Bolívar Páez besser kontrollieren zu können.989 Im Grunde eine Anerkennung der Caudillos. Insgesamt, auf großkolumbianischer Ebene, stellte er damit allerdings das bisherige und immer noch von Santander, dem „Paladin der Verfassung (von Cúcuta)990 repräsentierte Verhältnis von zentraler und regionaler Autorität und Machtverteilung gewissermaßen auf den Kopf991 und nutzte das neue System regionaler Chefs, um Druck auf Santander auszuüben. Santander wiederum lehnte einerseits den übergeordneten kontinentalen Föderalismus Bolívars, besonders aber die Verfassung von Bolivien und den Kongress von Panamá ab. Bolívar war auf dem Wege nach Bogotá von Transparenten mit den Aufschriften „Es lebe die Páez, „Cuba“, in: Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 377-405; Bolívar, Cartas de Bolívar, Bd. IV, S. 227 und 335; Key Ayala, Santiago, Por que Bolívar no libertó a Cuba, Caracas: Sociedad Bolivariana de Venezuela, 1950. Der „Befreier“ fürchtete ein „neues Haiti“ auf Kuba, siehe auch: Pérez Guzmán, Francisco, Bolívar y la independencia de Cuba, La Habana: Editorial Letras Cubanas, 1988. 988 König, Auf dem Wege ..., S. 242. 989 Magallanes, Historia Política de Venezuela ..., Bd. I, S. 282. 990 Masur, Simón Bolívar ..., S. 561. 991 Ebd. 987 Michael Zeuske/Venezuela Seite 377 13.05.2016 Verfassung von Cúcuta“ empfangen worden. Andererseits wollte sich Santander, da Páez trotz seiner Rebellion faktisch belohnt worden war, auch nicht als der hinstellen lassen, an dem jetzt die Schuld für die verfahrene Lage hängenblieb. Der Konflikt, auch der persönliche zwischen ihm und Santander konnte nicht ausbleiben992, zumal Santander Bolívar bereits 1826 geschrieben hatte, er möge sich bei seiner Rückkehr nicht um die Regierungsgeschäfte, d.h., um die Vorgänge in Bogotá, kümmern, sondern mit dem Heer nach Venezuela gehen, und dort für Ordnung sorgen.993 Bolívar sollte also de facto als beauftragter General der Regierung in Bogotá den Bürgerkrieg in Venezuela führen. Bolívar aber war kein Lecquerc. Er hatte schon lange seine Meinung kundgetan, daß er die Verfassung von Cúcuta für reformbedürftig hielt und dass die bestehenden Gesetze nicht ausreichten, um der Rebellion von Páez beizukommen.994 Außerdem wollte er „seine“, die kontinental gedachte Verfassung von Bolivien auch in Kolumbien einführen und dann aus den von ihm befreiten Staaten eine Andenkonföderation bilden. Die tieferen und, wenn man so will, politischkulturellen Ursachen der venezolanischen Rebellion waren, neben den schon genannten infrastrukturellen Gründen, sozialer und politischer Art. Bolívar erliess nicht umsonst am 28. Juni 1827 in Caracas das Dekret über die Effizienz der Manumission.995 Dazu kam, dass der von den Liberalen mit dem Freihandel erwartete, ja in Art einer modernen Religion herbeigebete, Wirtschaftsaufstieg nicht sofort eintrat. Wirtschaftskrise und Angst vor einer neuen guerra a muerte der enttäuschten Unterschichten und speziell der einfachen Soldaten des Unabhängigkeitskrieges in Venezuela potenzierten sich gegenseitig. Die Soldaten waren fast alles Pardos aus den Llanos. Die Verringerung der Stellen der Veteranen-Truppen, vor allem der unteren Dienstgrade des Heeres und die Erbitterung der einfachen Soldaten über ihr Leerausgehen in den Repartos de Bushnell, “Santanderismo y Bolivarismo: dos matices en pugna”, in: Desarrollo económico Vol. 8, Nr. 30/31 (1968), S. 243-261; Bushnell, “El comienzo del fin de la unión”, in: Bushnell, Colombia. Una nación a pesar de si misma. De los tiempos precolombinos a nuestros días, Santafé de Bogotá: Planeta Colombiana Editorial S.A., 1996, S. 96-103. 993 Cartas de Santander ..., Bd. II, S. 258f. 994 Masur, Simón Bolívar ..., S. 561. 995 Bolívar, Decretos, Bd. II, S. 345-352. 992 Michael Zeuske/Venezuela Seite 378 13.05.2016 Bienes verschafften Páez sogar eine noch stabilere Basis, denn der Zorn der Soldaten richtete sich nicht gegen ihn, sondern „die Neugranadiner“ (quasi eine konstruierte „Fremden“-Frage) im fernen Bogotá. Die entlassenen Veteranen, von denen einige zwanzig Jahre im und vom Krieg gelebt hatten (und nicht nur auf patriotischer Seite), hatten ihre Waffen behalten, ihre Erfahrungen sowieso, und bildeten Banden von Sozialbanditen. Gegen Bogotá und Santander richtete sich der Zorn der einfachen Menschen, wenn entweder die regulären, d.h., auch regulär bezahlten Veteranentruppen abgebaut, oder wenn neue und schlecht bezahlte Bisoño Kampf-Truppen für den Krieg Bolívars im fernen Süden ausgehoben worden waren. Die Gefahr eines Sozial- und Kastenkrieges, den die Vorgänge von La Cosiata drohten, in einen Bürgerkrieg Venezuelas unter der Führung von Páez gegen Bogotá zu kanalisieren, bewog Bolívar, Páez de facto in seiner Stellung zu bestätigen und eine Neuregelung der Verfassung in einer gran convención (großer Konvent) zu verprechen. Der Gesamtkomplex, die Gefahr einer solchen neuen Guerra a muerte auf der Basis der ungelösten Land- und Sklavenfrage war möglicherweise der eigentliche Hintergrund der aufgeregten Reaktionen in den Monaten von La Cosiata und dem schnellen Umschwung in der politischen Haltung der Oligarchien des Zentrums, vor allem der von Caracas, vom anfänglichen Widerstand gegen die Rekrutierungen und vom Beifall über die Anklage gegenüber Páez zur Unterstützung seiner Person als Oberbefehlshaber. Die Gefahr einer guerra de razas y colores (Krieg der Rassen und Farben) war ganz sicher der Hintergrund für die Haltung Bolívars gegenüber Páez 1827; aber Bolívar verfolgte - wie gesagt - auch das Ziel, Santanders mittlerweilen starke Stellung in Bogotá auszuhebeln und ihn sowie den Kongreß in Bogotá zur Annahme seiner neuen Verfassung zu zwingen. Verfassungsgeschichtlich gesehen ab es im nachkolonialen Kolumbien keine genügend starke Gruppe der Eliten, die einen Verfassungtext als gültiges Grundgesetz durchsetzen konnte. Michael Zeuske/Venezuela Seite 379 13.05.2016 All das machte die Situation in Kolumbien immer instabiler und explosiver; auch wenn Venezuela zunächst befriedet schien. Es wurde nach Ventilen gesucht. Bolívar konnte - mit einem massiven Miltäraufgebot im Rücken - um den Preis des Bruches der Verfassung von Cúcuta und damit des Bruches mit Santander Páez zu Ruhe bringen. Das bedeutete zugleich den Bruch mit den intellektuellen Liberalen, den Constitucionalistas in Bogotá und anderswo. All das stärkte wiederum die Stellung von Páez. Aber auch der „Löwe der Llanos“ wußte, daß er Berater brauchte; er konnte ja nicht einmal lesen und schreiben. Er wußte auch, dass er nach dem Prinzip „teile deine Konkurrenten und herrsche“ Verbündete gegen Mitkonkurrenten im Protagonismo militar suchen musste. Helden hatte Venezuela viele. Innerhalb des Protagonismo militar gab es nämlich weitere individuelle Attraktionszentren. Jeder General mit Machtambitionen das Zentrum einer Machtallianz. Keine Gruppe politischer Akteure war stark genug, allein zu herrschen. Der fuchsschlaue Páez hat diese Schwachstelle der Macht in Venezuela mit ziemlichem Realismus erkannt und von 1826 bis 1846 nutzen können. Der wichtigste Karrieremilitär und Kandidat für hohe Positionen unter den Próceres in Venezuela war zweifelsohne Carlos Soublette, der Adjutant schon von Miranda gewesen, dann zu Bolívar und schließlich in eine Position hinter Páez übergewechselt war. Er hatte Bolívar bis 1821 loyal als Generalsstabschef gedient. Aber Soublette stammte aus einer Mantuano-Familie. Er war kein Caudillo, sondern eher profesioneller Militär. Auch hatte er niemals als kommandierender General eigene Schlachten geschlagen; er war er der Typ des Generalsstabsoffiziers. Das Charisma in der Führung einfacher Menschen konnte er sich nie erwerben. Für die Massen, für das „Pardo-Volk“ Venezuelas war er nicht populistisch genug; „Geiz und Spielschulden sollen sein hervorstechendes Merkmal gewesen sein“. Er vertrat innerhalb des Militarismo durchaus die elitären Vorstellungen der konservativen Zivilisten aus der alten Mantuanoelite. Ähnliches galt für Bartolomé Salom (Puerto Cabello, 24. August 1780 – Puerto Cabello, 30. Michael Zeuske/Venezuela Seite 380 13.05.2016 Oktober 1863)996, der in noch höherem Maße Karrieremilitär, um nicht zu sagen Kommißkopp, war. Noch höheres Prestige, vor allem als Politiker und überregionale Führungsfigur, besaß Santiago Mariño vor allem im Osten, im Pariagebiet und im Maturín. Mariño hatte allerdings den Makel, mehrfach gegen Bolívar opponiert zu haben und als unsicherer Kandidat zu gelten. Als Militär und Caudillo war Mariño zweifelsohne eine eigenständige Figur, allerdings besaß er nicht den Vorteil, wie Soublette, auch die Unterstützung der alten Mantuanooligarchie von Caracas zu genießen.997 Gleiches galt für Rafael Urdaneta (der 1824 bis 1827 Intendant des Departements Zulia und sehr treuer Bolivariano war) und José Francisco Bermúdez (der in Cumaná die Intendanz und die Kommandantur für das Departement Orinoco ausübte) und seit 1817 erbitterter Gegner von Mariño war. Von eher lokalem Einfluss im Oriente, allerdings sehr volkstümlich, waren die Caudillos Monagas. Urdaneta hatte sich 1824 bis 1827 ganz in seine Heimatstadt Maracaibo zurückgezogen und bezog dort zwar klare bolivarianische Positionen, hegte aber durchaus auch ein Interesse an monarchischen Lösungen und pflegte sein eigenes Netz, die so genannten campesinos (Bauern), Hacendados und Notabeln aus Maracaibo, die sich nach dem Yorkschen Freimaurerritus zusammengeschlossen hatten. Gegen diese Kandidaten, vor allem weil er den größten Einfluß unter den der sozialen Gruppe der Pardos und unter den einfachen Veteranen hatte und auch auch vor der Drohung mit einer neuen Guerra a Muerte nicht zurückschreckte, aber auch, weil er sein Lager mit Soublette verbündete, konnte sich Páez jedenfalls als Achse einer Allianz durchsetzen. Das mußte Bolívar, der ja auf beklemmende Weise Utopist, Visionär und Realist war, in seinen Abmachungen mit Páez anerkennen. Somit kamen aus diesem Protagonismo militar auch wenn Páez selbst nicht formal oberster Anführer oder Präsident war, von 1830, eigentlich 996 González Antías, Antonio, Archivo del general Bartolomé Salom, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981. 997 Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 42f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 381 13.05.2016 schon von 1826 an, bis 1858, das im Vordergrund wirkende Führungspersonal im Lande (Präsidenten). Wichtigstes Ventil für die Lösung all der Probleme, im Nachhinein leicht als „liberale Illusion“998 zu denunzieren, sollte 1828 schließlich die so genannte Konvention von Ocaña sein. Bolívar versuchte, die widerstreitenden politischen Interessen auszugleichen und eine Reform der Verfassung von Cúcuta auszuhandeln. Das gelang nicht. Die Convención de Ocaña, der verfassungsgebende Kongreß, der die Verfassung reformieren sollte, trat am 9. April 1828 zusammen. Bolívar versuchte die Abgeordneten aus allen Teilen des Landes zur Annahme der von ihm ausgearbeiteten Verfassung von Bolivien999 zu bewegen. Aber die Fraktion der Constitucionalistas, die vorgaben, die Verfassung von Cúcuta zu verteidigen, aber vor allem die Annahme der Verfassung von Bolivien verhindern wollten, war zu stark. Die beiden Gruppierungen auf der Konvention waren Bolivarianos und Anti-Bolivarianos oder constitucionalistas. Der Führer der Constitucionalistas wurde Francisco de Paula Santander. Santander war selbst Deputierter. Deshalb wurden die Mitglieder der antibolivarianische Partei auch santanderistas genannt, hinter ihm sammelten sich in schnellen Umorientierungen der politischen Kräfte jetzt alle Föderalisten. 1828 standen sich, allerdings mit unterschiedlichen Zielstellungen Santander und Páez sowie die Gruppen hinter ihnen, auf einmal wieder viel näher als jemals vor 1828.1000 Bolívar selbst trat auf dem Kongreß nicht persönlich auf. Die Bolivarianos verließen schließlich die Konvention, da keine Einigung zustande gekommen war; in dieser Zeit entstand, heute würden wir sagen, das lange schriftliche Interview von Louis Peru de Lacroix mit Bolívar, bekannt als Diario de Bucaramanga.1001 Die Parteiung Santanders ist zu Recht 998 Gartz, Joachim, Liberale Illusionen : Unabhängigkeit und republikanischer Staatsbildungsprozess im nördlichen Südamerika unter Simón Bolívar im Spiegel der deutschen Publizistik des Vormärz, Frankfurt am Main [etc.]: P. Lang, 1998. 999 Trigo, Ciro Félix, Las constituciones de Bolivia, Madrid 1958, S. 177-199; Deutsch siehe: König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 97-107. 1000 Magallanes, Historia Política de Venezuela ..., Bd. I, S. 288. 1001 Lacroix, Luis Peru de, Diario de Bucaramanga. Vida pública y privada del Libertador Simón Bolívar, Medellín: Editorial Bedout S.A., 1980. Michael Zeuske/Venezuela Seite 382 13.05.2016 von Indalecio Liévano Aguirre esencialmente oligárquica (im Wesentlichen oligarchisch)1002 genannt worden. Aber das war aber auch, sieht man die soziale Herkunft, ein allgemeines Merkmal der Fraktion der Bolivarianos. Was also waren konkrete Unterschiede der beiden Gruppen politischer Akteure? Im Sinne des Spruchs „das Medium ist die Botschaft“ war es zunächst die Tatsache, dass sie eben unterschiedliche Gruppen von Anhängern und Klienteln großer Persönlichkeiten bildeten; so wie heute noch viele politische Systeme, vor allem in Lateinamerika eben funktionieren. Die Bolivarianos waren, so schreibt Magallanes: los amigos del Libertador (die Freunde des Befreiers) - als Präsident hatte er viele dieser Amigos - , die Mehrheit der venezolanischen Chefs und Offiziere, die Anhänger einer starken, zentralistischen Regierung und eines „großen Vaterlandes“ mit einem großen und ruhmreichen Heer sowie die Ausländer im Dienste der Republik. Und alle waren vor allem Antisanderistas – eben Feinde, oft sehr persönliche Feinde Santanders.1003 Gleiches kann, mit Ausnahme der Anhänger der zentralistischen Regierung und der Ausländer, die wirklich von Bolívar abhingen, auch für die Paecistas gelten, die aber wegen ihrer regionalistischen Machtambitionen in Ocaña mehrheitlich Anhänger der Constitucionalistas waren. In Bezug auf die Paecistas hatte sich offensichtlich auch Bolívar in seinem taktischen Kalkül getäuscht, denn er hoffte die Anhänger von Páez auf seiner Seite. Die Parteiungen oder Personennetze unterschied vor allem ihre regionale Verwurzelung, die oft in der gleichen soziale Position und gleiches Kerninteressen bestehen konnte. Aber die Mittel der Zentrale waren begrenzt. Da sich die regionale Verwurzelung, auch wenn sie auf gleicher sozialer Grundlage beruhte; zwei Kandidaten etwa Angehörige der landbesitzenden kreolischen Oligarchie waren und, legt man den Klassenbegriff an, Angehörige der gleichen sozialen Klasse waren, aber mit einem regionalen, eben nur auf ihre konkrete Stadt oder Liévano Aguirre, Indalecio, “Razones socioeconómicas de la conspiración de septiembre contra el Libertador”, in: Revista de la Universidad de los Andes, año II, No. 2 (1973), S. 42-89. 1003 Magallanes, Historia Política de Venezuela …, Bd. I, S. 286. 1002 Michael Zeuske/Venezuela Seite 383 13.05.2016 Region bezogenen Realität, Stil und Mentalität bezog und die Politik eben von Gruppen von Akteuren aus eben dieser Region betrieben wurde, spielten Regionalismus als Föderalismus eine so wichtige Rolle und wurden Fragen des Föderalismus so erbittert ausgekämpft. Die wichtigste Bedeutung hatte dabei kaum eine eigene geschlossene konstitutionelle Vorstellung (theoretisch und doktinär waren insofern fast alles Liberale), sondern das Netz einer Gruppe regional verwurzelter Akteure, mit einem Hauptakteur (ein Politiker, ein General), die durch Verwandtschaft, Compadrazgo - rituelle, gewählte Verwandschaft -, Klientelwesen, gemeinsamen Interessen miteinander verbunden waren; der erste Ansprechpunkt aber war fast immer die gemeinsame Herkunft; diese Netze von Akteuren gruppierten sich Allianzen von Familienclans, mit traditioneller Heirats-, Verwandtschafts- und Erbschaftspolitik. Sie definierten sich fast immer durch die Feindschaft zu einem anderen Netz von politischen Akteuren, das das gleiche Ziel, die gleiche Ideologie, das gleiche Imaginarium, Sprache und Lebensstil haben konnte. Die letzte Diktatur Bolívars Kolumbien hatte nach dem Scheitern des Verfassungskongresses von Ocaña faktisch keine gültige Verfassung mehr. Bolívar, der seit seiner Rückkehr und seit dem Konflikt Páez-Santander vom Freund zum erbitterten Feind Santanders geworden war, griff zu einem letzten Mittel, dem der „konstitutionellen Diktatur“. Die Gründe für die Entzweiung lagen aber tiefer: es war die unterschiedliche Haltung, von liberalen Grundlagen ausgehend, zum Volk und zur Verfassung von Bolivien.1004 Wäre diese Verfassung zur konstitutionellen Basis des Staates geworden, hätte Bolívar auf Lebenszeit die Präsidentschaft eingenommen. Es hätte 1004 Santander selbst hat in seinen Schriften die Constitución Boliviana als die wahre manzana de discordia (Apfel der Zwietracht) genannt, siehe: Forero, Manuel José (comp.), Santander en sus escritos, Bogotá 1944, S. 83. Auch erzürnte Santander die Kritik Bolívars an dem von ihm aufgenommenen Kredit von 1824 und dessen Verteilung, siehe: Liévano Aguirre, “Razones socioeconómicas de la conspiración de septiembre contra el Libertador”, S. 4289, hier S. 33-34. Michael Zeuske/Venezuela Seite 384 13.05.2016 ihm das Recht zu gestanden, seinen Vize und seinen Nachfolger auszuwählen. Damit wäre die Zentralgewalt mit den größten Pfründen aus dem Zugriff der verschiedenen föderalen Gruppen politischer Akteure entzogen worden. Santander wurde von Bolívar als Botschafter in den USA faktisch ins Exil geschickt, erbat sich aber Aufschub und bereitete das Attentat auf Bolívar vor (25. September 1828). Bolívar konnte nur mit Hilfe seiner Geliebten, Manuela Sáenz, dem von einem Venezolaner, Pedro Carujo, geführten Dolch entkommen.1005 Selbst ein Miguel Peña sagte von Carujo: “ese hombre, cuyo nombre no pronuncio por temor de equivocarme [ dieser Mann, dessen Namen ich nicht ausspreche aus Furcht, mich zu versprechen; M.Z.: weil Carujo leicht wie carajo klingt; damals ein ziemlich starker Fluch].”1006 Bolívar erließ ein Decreto organíco (27. August 1828), als „legale Grundlage“ (das heisst, ein Ermächtigungsdekret) der Diktatur und berief am Weihnachtsabend 1828 einen Congreso Constituyente nach Bogotá ein, der am 2. Januar 1830 beginnen sollte. Bis dahin regierte Bolívar ohne Kongreß (ohne Legislative), beraten durch einen Staatsrat. Die Intendanturen und die Munizipalitäten wurden abgeschafft und das Land in quasi-militärische Präfekturen unterteilt; die Exekutive behielt sich das Recht vor, alle Beamten einund abzusetzen. All das hätten die Liberalen, die Bolívar nun offen als Jakobiner zu bezeichnen begann, ertragen können. Bolívar als Stabilitätspolitiker verwandelte sich in einen Politiker, der konservieren wollte (Ergebnisse seiner Siege, Verfassung von Bolivien) und den Staat als wichtigen Wirtschaftsfaktor sah (Wirtschaftsminister José Rafael Revenga (1786-1852)). Der diktatorische Präsident hob auch die Pressefreiheit auf und verbot die Geheimgesellschaften der Freimaurer sowohl nach schottischem wie nach yorkschem Ritus und ließ sie verfolgen. Der Artikel 25 des decreto orgánico gab zudem der Kirche ihre alte Macht zurück; in dem Artikel hieß es “el Gobierno sostendrá y protegerá la Murray, Pamela, “’Loca’ or ‘Libertadora’?: Manuela Sáenz in the Eyes of History and Historians, 1900-c. 1990”, in: Journal of Latin American Studies, vol. 33:2 (May 2001), S. 291-310. 1006 Zit. nach: Lacroix, Diario de Bucaramanga …, S. 7 (Einleitung von Cornelio Hispano). 1005 Michael Zeuske/Venezuela Seite 385 13.05.2016 religión católica, apostólica y romana como la religión de los colombianos.”1007 Damit brachte er die liberalen Intellektuellen und Theoretiker gegen sich auf. Der späte Bolívar stützte sich auch auf Bajonette und Altäre. 1828 kam es in Peru und Bolivien zu Aufständen gegen „die Kolumbianer“ und Präsident Sucre, bei denen die Eliten die Fäden zogen. 1829 schließlich brach ein Krieg zwischen Peru und Kolumbien aus, den Bolívar und Sucre gewinnen konnten. Als aber Sucre, der Kronprinz, am 4. Juni 1830 auf dem Wege von Peru nach Kolumbien ermordet wurde, gab Bolívar auf; er stirbt am 17. Dezember 1830 (Tuberkulose und Amöbenruhr) in San Pedro Alejandrino in der Nähe von Santa Marta auf dem Weg ins Exil (in Frankreich hatte eben die Julirevolution 1830 gesiegt)1008; von den alten Waffengefährten ist Mariano Montilla an seinem Totenbett. Diese letzte Diktatur Bolívars (the last dictatorship) hielt nicht einmal zwei Jahre, dann brach Großkolumbien vor allem auf Betreiben der regionalen MachtGruppierungen um die Gründerväter Juan José Flores (Ekuador) und José Antonio Páez - beides Unterschichten-Venezolaner - auseinander. Letztere hatten ja faktisch schon die Macht in ihren Großregionen, in Bogotá war die Lage komplizierter. Es erhoben sich aber allenthalben lokal-sezessionistische Bestrebungen unter ambitionierten Generalen, Diadochen mit großen patriotischen Meriten, wie José María Córdoba in Antioquía. Ende 1829, genau am 23. November, trafen sich in Valencia sowie am 24., 25. und 26. November, in der Kirche San Francisco de Caracas, die wichtigsten Notabeln der alten Oligarchie in einer euphemistisch asamblea popular (Volksversammlung) genannten Versammlung trafen und beschlossen, Großkolumbien den Todesstoß versetzen.1009 Sie nutzten dabei die für den neuen Congreso Constituyente (konstituierender Kongreß) angesetzten Wahlen, um einen eigenen Kongreß für das historische Venezuela ins Auge zu fassen. 1007 Las constituciones de Venezuela ..., S. 30f. Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 187 (Dok. 4472). 1009 Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 354ff. 1008 Michael Zeuske/Venezuela Seite 386 13.05.2016 Die Gründe für das Scheitern waren wirtschaftlicher und struktureller; die konkreten Formen, in denen der Zusammenbruch vonstatten ging waren politischer und konstitutioneller Art, auch Mentalitäten und persönliche Animositäten spielten ihr irrisierendes Spiel. Diese Sachzwänge setzten sich über die politischen Interessen von Eliten um, oder wie es einer der Mantuanos ausdrückte: „Las cuestiones económicas están hoy íntimamente ligadas a las cuestiones políticas y morales“.1010 Als der Cabildo von Valencia die Gründe für das Scheitern des Großstaates 1829 darlegte, hoben die Munizipalitäten genau auf die Unterschiede zwischen den Großregionen und die Gesetze ab, die diesen Unterschieden nicht Rechnung trugen: “Venezuela no debe continuar unida a la Nueva Granada y Quito, porque las leyes que convienen a aquellos territorios, no son a próposito para éste, enteramente distinto por costumbres, clima y producciones; y porque en la grande extensión pierden la fuerza y energía, como lo ha comprobado la experiencia de la administración pasada, durante la cual ha sido necesario que el Gobierno delegue frecuentemente sus facultades, y que los Jefes gobiernen por medios extraordinarios y conforme a las circunstancias”.1011 Aber deutlicher als jeder Verweis auf Strukturen war Carlos Soublette, als er José Tadeo Monagas 1829 aufforderte, sich der Separation anzuschließen: er wies einfach darauf hin, dass es sich um eine „Revolution“ der Plantagen- und Sklavereiprovinzen Carabobo und Caracas handelte.1012 Wenn man dem britischen Admiral Cochrane Glauben schenken darf, war das Alltagsleben in den Städten Kolumbiens besonders spannend; er schrieb: „Polizeikommissare, welche auf die Reinigung der Straßen zu sehen haben, gibt es vier: der Regen, das Schwein, der Geier und der Esel“. Und über das Leben der Oberschichten urteilte er recht drastisch: „Der alltägliche Lauf des Familienlebens 1010 Toro, Fermín, Reflexiones sobre la ley del 10 de abril de 1834, Caracas, Imprenta de Valentín Espinal 1845 (Caracas: Ministerio de Educación Nacional, Diressión de Cultura, 1957). 1011 Acta del Cantón de Valencia, 23 de noviembre de 1829, in: Gil Fortoul, José, Historia Constitucional de Venezuela, 3 Bde., Caracas: Ministerio de Educación, 1953-1954, Bd. I, S. 677. 1012 Carlos Soublette aus Caracas, 18. Dezember 1829, in: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 43 (Dok. 4393). Michael Zeuske/Venezuela Seite 387 13.05.2016 dreht sich um Messen und Siesta, Chocolade und Cigarrenrauch, Liebesintriguen und Klatschereien“.1013 Der britische Konsul Ker Porter hatte in ähnlichem Tenor über seinen ersten Eindruck von Caracas geschrieben: „Der erste Eindruck der Stadt ist striking, aber ich muss noch sagen, er enttäuschte mich. Wie [schon] aus der Entfernung klar wurde, was für ein Ruin, Desolation und Abwesenheit von jedwelchem Komfort oder Hoffnungen auf [gute] Gesellschaft.“1014 Der Dominikaner (aus Santo Domingo) Don Pedro Núñez de Cáceres, der aus Santo Domingo wegen der Invasion der Haitianer geflohen war, hat in einer Beschreibung von Venezuela die Sitten der Postindependencia-Zeit hinterlassen. Die Beschreibung, die zweifellos von einem Pessimisten stammt, dürfte aber trotzdem in Vielem für das ganze 19. und 20. Jahrhundert gelten. Über das Trinkwasser schreibt er: “Das Wasser in Caracas ist frisch, leicht und sehr gut; aber es ist zu wenig da, denn es ist schlecht verwaltet”.1015 Das Essen, schreibt Don Pedro, “ist eine der schlechtesten Sachen in Caracas 1016 […] das schädlichste und zu gleicher Zeit widerlichste Nahrungsmittel ist cochino [Schwein1017]: man kann es nur mit dem pescado [Fisch] vergleichen, der aus La Guaira kommt am Tag nachdem er aus dem Meer geholt worden und deshalb schon angegangen ist, wenn man ihn nicht salzt. […] Was am meisten da ist, ist Mais, von dem man die Arepas macht, die der Pöbel gemeinhin Brot nennt, und es ist das unentbehrliche Nahrungsmittel in Venezuela, wie auch die caraotas [schwarze Bohnen, frijoles negros], eine Art schwarzer habas [Bohnen] ohne die man in Caracas nicht leben kann. […] Die frisch gekochten Arepas sind gut, mit Butter oder Käse sind sie ziemlich passabel. Die Caraotas werden gut oder schlecht durch das Gewürz, das man ihnen zusetzt; aber sie dürfen in keinem 1013 Journal of a Residence in Columbia, During the Years 1823 and 1824, by Captain Charles Stuart Cochrane, 2 Bde., London 1825, Bd. II, S. 826. Neue Ausgabe einfügen. 1014 Dupouy (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842 ..., 1966, S. 27; siehe auch: Díaz Sánchez, Ramón, “Extranjeros en Venezuela”, in: Picón-Salas ; Mijares, Augusto; Díaz-Sánchez; Arcila Farias ; Liscano, Juan (eds.), Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio Mendoza, 1962, S. 226-229, hier S. 226. 1015 Núñez de Cáceres, Pedro, “Memoria sobre Venezuela y Caracas por Pedro Núñez de Cáceres” (1823), in: BANH, Nr. 85, Caracas (Enero-Marzo de 1939), S. 133-162, hier S. 145. 1016 Ebd., S. 148. 1017 Das führt Núñez de Cáceres vor allem darauf zurück, dass dem Futter der Schweine immer das Wasser, in dem der Mais gewaschen wird (agua de maiz) beigesetzt wird, siehe Ebd., S. 149. Michael Zeuske/Venezuela Seite 388 13.05.2016 Haus fehlen: die Reichen benutzen sie: die Armen essen sie: die Knastbrüder und Soldaten erhalten sich mit ihnen am Leben: die Sklaven essen kaum jemals ein anderes Nahrungsmittel. Ich bekenne, dass ich mich gut an die Arepas gewöhnt habe, so wie ich Abneigung gegen die Caraotas empfinde, denn in ihnen sehe ich das unverwechselbare Symbol des Unglücks, der Misere und der Sklaverei. […] Das gewöhnlich Essen ist immer das gleiche das ganze Jahr, [Schweine- und Rind-] Fleisch und mehr Fleisch, adobo [Salzlake, Fleischwürze] und Caraotas, Eier und pollos flacos [dürre Hühner], verdorbener Fisch und ayaca [hallacas – M.Z.] mit Tomate.“1018 Páez und der “Gobierno Deliberativo” “El carácter de los venezolanos es difícil de explicar ... El interés y el egoismo los dominan: tienen talento, más que todo imaginación: no cultivan mucho la literatura: su estudio favorito es la política [Der Charakter der Venezolaner ist schwer zu erklären ... Das Interesse und der Egoismus beherrschen sie: sie haben Talent, mehr als alles [aber] Imagination: sie kultivieren die Literatur nicht sehr: ihr favorisiertes Studium ist die Politik]“ 1019 Die Periode der politischen Geschichte der Postindependencia von 1830 bis 1858 in den Küstenzonen, den Städten und den Anden teilt sich in eine PáezEtappe (1830-1847/48) und in eine Monagas-Etappe (1848-1858). Die Llanos in ihren nördlichen Teilen wurden erst im frühen 20. Jahrhundert wirklich in die Geschichte des Nationalstaates einbezogen; Guayana „hinter Angostura/Ciudad Bolívar“ erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach der Großstaatsphase Kolumbiens, die aus der Rückperspektive vor allem der endgültigen Erringung und dem äußeren Schutz der staatlichen Unabhängigkeit gedient hatte, kam es zu einer Etappe der nationalstaatlichen Formierung, die vom Gravitationszentrum CaracasValencia ausging. Tulio Halperín Donghi hat zu Recht darauf hingewiesen, dass 1830 eine Prognose für die Teilgebiete Neu-Granada und Venezuela sehr zu Ungunsten Venezuelas ausgefallen wäre. Unter Páez gelang aber, für die Zeitgenossen eher überraschend, eine relative und konservative Stabilisierung 1018 1019 Ebd., S. 150f. Ebd., S. 133. Michael Zeuske/Venezuela Seite 389 13.05.2016 dieser frühen nationalstaatlichen Form, durch eine ökonomische und soziale Rekonstruktion der großen Latifundien, der sich wirtschaftlich am liberalen Diskurs, sozial und mental aber an den Grundlinien der VorUnabhängigkeitsordnung orientierte – also eher eine Restauration war.1020 Am 13. Januar 1830 berief José Antonio Páez in seiner Eigenschaft als Jefe Civil y Militar de Venezuela - ein Titel, den ihm Bolívar verschafft hatte - einen Congreso Constituyente für April 1830 nach Valencia1021 ein und erklärte am 29. Januar die separación absoluta der antigua Venezuela von Großkolumbien1022; ein zweiter Congreso Constituyente, der noch für Großkolumbien gelten sollte (und somit pro forma auch noch für Venezuela) trat am 20. Januar 1830 in Bogotá zusammen. Beauftragte beider Seiten, von denen die Bogotaner hofften, eine Einigung zwischen den konkurrierenden politischen Eliten erzielen zu können, hatten sich am 4. April 1830 getroffen. Die Abgesandten Colombias unter der Leitung von Sucre strebten die Integrität von Groß-Kolumbien auf Basis der Verfassung von Cúcuta an. Die Abgesandten von Venezuela – Verhandlungsführer Mariño – betrachteten sich als „enviados del gobierno de Venezuela [Gesandte der Regierung von Venezuela]“. Es kam zu keiner Einigung, was Mariño, der zu den Befürwortern der Abspaltung Venezuelas gehörte, angestrebt hatte.1023 Im Páez-Dekret heißt es: “¡Pueblos de Venezuela! Habéis manifestado que queréis separaros del gobierno de Bogotá, y no depender más de la autoridad de S.E. el Libertador general Simón Bolívar [Pueblos von Venezuela! Ihr habt kundgetan, dass ihr euch von der Regierung von Bogotá trennen wollt und nicht mehr von der Autorität Seiner Exzellenz, des Libertadors General Simón Bolívar abhängen wollt].”1024 Durch den Kongreß, der erst im Mai (6. Mai 1830) in der 1020 Halperín Donghi, Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 218. 1021 Actas del Congreso Constituyente de 1830, 2 Bde., Caracas: Ediciones del Congreso de la República, 1979. 1022 “Proclama del Jefe Superior de Venezuela sobre separación absoluta”, Cuartel General de Valencia, 29. Januar 1830, in: Restrepo, José Manuel, Documentos Importantes de Nueva Granada, Venezuela y Colombia, 2 Bde., Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, 1970, Bd. II, S. 487f. 1023 Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 224-225. 1024 Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 175-180 (Dok. 4465). Michael Zeuske/Venezuela Seite 390 13.05.2016 Hauptstadt Valencia wirklich zusammentrat, wurde Páez zum Chef des provisorischen Präsidentenamts der Republik Venezuela gewählt (27. Mai). Am 30. August wurde durch Dekret formell die Verfassung Kolumbiens für Venezuela als nicht gültig erklärt und im September 1830 sanktionierte der Kongreß die neue Verfassung Venezuelas und damit die Trennung von Groß-Kolumbien. Die Konstitution von Valencia galt bis 1857. José Gil Fortoul charakterisiert die durch sie zum Ausdruck gebrachte formale Herrschaftsform als „sistema mixto de centralismo y federación“ [gemischtes System aus Zentralismus und Föderalismus].1025 Der Zensus für Aktivbürger ähnelt dem der früheren Verfassungen (Besitzzensus von 100 Pesos, ab 1840 sollte auch Lesen und Schreiben von den Aktivbürgern gefordert sein, die die eigentlichen Wahlmänner (electores), Zensus 500 Pesos wählten), wie überhaupt vieles von der Verfassung von Cucutá übernommen wurde1026; das Manumissionsalter für Sklaven wurde verlängert - bis zum vollendenten 21. Lebensjahr. Insgesamt war die Verfassung von Valencia teils konservativer, teils populistischer und stärker auf Konstruktion eines „Venezolaners“ (wie es Bolívar schon einmal 1818 versucht hatte) ausgerichtet. Wirklich wichtig aber war etwas anderes: mit der Verfassung von 1830 wurde der kurze revolutionäre Impetus von Angostura beendet und die Gründungsverfassung (von Angostura/Cúcuta) ad acta gelegt. Ein Karussell von Verfassungen begann sich zu drehen (Venezuela kommt bis heute auf über ein Dutzend Verfassungen); seit 1857 erliess (fast) jeder neue Machthaber eine oder mehrere neue Verfassungen. Kern all dieser Verfassungen seit 1830 war der Schutz des Privateigentums der Eliten – das hiess im Falle Venezuelas: das große Landeigentum.1027 Trotz aller Aktivitäten, blieb der Kern aller Verfassungen (bis 1999), ihr innerer Schrein sozusagen, die Konstruktion des Latifundiums. Auf dem Kongreß wurde auch die Einverleibung der historischen Großregion der Llanos insgesamt beraten, d.h., man wollte auch die traditionell zu 1025 Gil Fortoul, José, Historia Constitucional de Venezuela, 3 Bde., Caracas: Ministerio de Educación, 1953-1954, Bd. II, S. 274f. 1026 Mariñas Otero, Las constituciones ..., S. 33. 1027 Lombardi, Venezuela ..., S. 201. Michael Zeuske/Venezuela Seite 391 13.05.2016 Neu-Granada gehörigen Llanos de Casanare (mit Zentrum Pore und Achagua), wo etwa 20000 registrierte Menschen lebten - die Llaneros cimarrones1028 hat niemand gezählt - in das Staatsgebiet des neuen Venezuela zuschlagen und damit die alten kolonialen Grenzen bis weit in das Territorium des heutigen Kolumbiens überschreiten; Mariño wurden von neugranadinischer Seite vorgeworfen, militärische Aktivitäten in dieser Richtung zu planen. Schließlich einigte man sich aber, nach den Regeln des uti possidetis iuris (Motto: jede Elite behält die Kontrolle über Gebiete, die 1810 einer bestimmten Verwaltungseinheit zugehörten) zur territorialen Basis der neuen Republiken zu nehmen und größere Konflikte zu vermeiden (siehe Karte der umstrittenen Llanogebiete zwischen Kolumbien und Venezuela, die zugleich das Einzugsgebiet von Orinoko, Apure und Meta markieren).1029 Damit war das Ende „der von Miranda erdachten Republik, die Bolívar organisiert hatte“1030 besiegelt. Besonders schwierig gestaltete sich das Verhältnis von Maracaibo, Coro und Cumaná (Barcelona) zu diesem neuen, alten Venezuela, das jetzt offiziell und formal wieder unter Kontrolle der Eliten von Caracas und Valencia stand. Die Vertrauten Urdanetas, so zum Beispiel General Lucas Carvajal in Casanare, waren von Feinden Bolívars ermordet worden. In der Auseinandersetzung um die Frage: bei Großkolumbien bleiben oder sich Venezuela anschließen? formierten sich zwei politische Gruppierungen der marabinischen Oberschicht - die tembleques und die campesinos. Die Campesinos, auch yorkistas (nach einem Freimauererritus) genannt, bestanden vor allem aus Männer alter Mantuanoeliten, die vor 1823 zu den oligarchischen Machthabern in der Stadt gehört hatten. Sie schlossen sich einer um 1825 von Urdaneta (ziviler Intendant del Zulia 1824-1827) gegründeten Freimaurervereinigung der Hermanos Regeneradores de Maracaibo an. Die Tembleques bildeten ein klientelistisches Personennetzwerk vor allem unter den Izard, “Los cimarrones”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 36-43. Ojer, Pablo, La década fundamental el la controversía de límites entre Venezuela y Colombia 1881-1891, Caracas: UCAB, 1982 (= Montálban 12, Universidad Católica “Andrés Bello”), S. 7-620; siehe vor allem: Ojer, “Las negociaciones que precedieron al arbitramento (1833-1875)”, in: Ebd., S. 11-74; Karte: Ebd., S. 7; Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. I, S. 721-723. 1030 Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 105. 1028 1029 Michael Zeuske/Venezuela Seite 392 13.05.2016 Emporkömmlingen (arribistas), wie sie aus Sicht der alten Oligarchie hiessen, die sich hinter Mariño sammelten, der Militär-Generalkommandant von Maracaibo gewesen war, also eine neue, vor allem kaufmännische und militär-bürokratische Elite, die in enger Verbindung zu Páez und seinen Hintermännern stand. Das sicherte dieser Tembleque-Gruppierung auch den populistischen Anstrich. Die Tembleques nutzten die Volksstimmung gegen die alten, elitären Oligarchen unter den Campesinos aus1031, die eher einer großkolumbianischen Lösung anhingen. Der wichtigste Exponent der großkolumbianischen Eliten Maracaibos, Rafael Urdaneta (und Rafael María Baralt1032), war zwischen 1830 (Mai) bis 1831 (April) sogar durch eine Militärrevolte in Bogotá zum Diktator, Bolívar-Nachfolger und Präsident Kolumbiens etabliert worden. Und Urdaneta hatte eine Dame aus der sehr exklusiven Bogotaner Oberschicht geheiratet (oder war von ihr geheiratet worden; nach der Regel: „schaut auf die Frauen, dann kennt ihr die Eliteverbindungen“) - Dolores Vargas.1033 Urdaneta blieb nach dem endgültigen Scheitern Groß-Kolumbiens 1832-1834 in Wartestellung im Exil auf Curazao. Schaut man sich die Abgeordneten für den Kongreß von Valencia an, so wird deutlich, dass die zentralen Eliten von Caracas-Valencia und Páez einen relativ hohen Preis für die Anhängerschaft der Tembleques aus Maracaibo und ähnlicher Gruppierungen aus anderen Städten zahlen mußten. Am Beispiel von Maracaibo und des Departements Zulia kann auch gezeigt werden, dass die Entscheidung für Venezuela aber auch durch erheblichen Druck von unten, durch Manipulierung des Problems „Zentrum-Regionen“ zustande kam. Dazu muß man immer einen Seitenblick auf den Congreso Constituyente in Bogotá werfen. Dieser hatte am 29. April 1830 die neue Verfassung für Kolumbien proklamiert, die auch für die venezolanischen Teile Großkolumbiens gelten sollte. 1031 Varela, Nirso, Estructura de poder político e ideal autonomista en Maracaibo en los comienzos de la República (1830-1835), tesis presentada en Maestría en Historia de la Universidad del Zulia, 1995 (unpubliziert), S. 52 1032 Baralt, Rafael María, Resumen de la Historia de Venezuela, 2 Bde., Brujas-Paris: 1939 (Erstpublikation 1841); Mieres, Antonio, Tres autores en la Historia de Baralt, prólogo de Arcila Farías, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1966 1033 Briceño Iragorry, Mario, Vida y papeles de Urdaneta el joven, Caracas: Tipografía Americana, 1946; Vicente A. Pinto, Urdaneta y Zulia, New York: Lutz & Scheinkmann, 1945. Michael Zeuske/Venezuela Seite 393 13.05.2016 Am 5. Mai 1830 hatte der Kongreß von Bogotá den venezolanischen Provinzen angeboten, Modifizierungen an dieser Verfassung entgegen zu nehmen. Durch seinen Zusammentritt am 6. Mai aber hatten die Deputierten des venezolanischen Kongresses in Valencia de facto zum Ausdruck gebracht, dass sie die Verfassung des Kongresses von Bogotá für sich nicht als gültig erachteten. Von den Deputierten für den Kongreß von Valencia, die bereits am ersten Tag des Kongresses anwesend waren (6. Mai 1830), firmierten unter Departamento del Zulia nur vier Abgeordnete, obwohl 9 gewählt waren. Es waren aber eben in Wirklichkeit keine Leute aus Maracaibo, sondern aus Mérida (3) und Ricardo Labastidas aus Trujillo (1). Für beide Städte war Maracaibo das, was Caracas für Maracaibo darstellte – ein alles verschlingendes Zentrum. Sowohl die Abgeordneten aus Mérida wie auch die aus Trujillo drangen darauf - und zwar mit dem Hinweis, daß ihre Provinzen zu den sieben Provinzen gehört hatten, die 1811 die erste Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten – ihnen wieder den Status von Provinzhauptstädten zu gewähren und Trujillo wie Mérida zu selbständigen Provinzen zu erklären. Damit ging es nicht um den Namen „Provinz“ an sich, der hatte auch in der territorialen Organisation der Verfassung von Cúcuta existiert, sondern darum, dass die Einteilung nach Provinzen wieder die zweite Ebene unter dem Zentralstaat bilden sollte, nicht mehr die Departements, in denen Maracaibo Departementhauptstadt gewesen war. Und darum, dass lokale Eliten ihre garantierten Einflussgebiete forderten. Die Provinzpolitiker brauchten also die Unterstützung von Caracas gegen Maracaibo; deshalb auch die Formel „zentralföderalistisch“ in der Verfassung von 1830. Labastidas, ein Abkömmling des Conquistadors und Stadtgründers von Trujillo, Francisco de Labastidas (alte Patrizierfamilie), wurde dann auch, als die Beute von Páez 1831 verteilt werden konnte, Gouverneur der neuen Provinz Trujillo. Ähnliches gilt für Mérida. Die Abgeordneten von Coro (José María Tellería, Manuel Urbina) und Maracaibo (José Eusebio Gallegos, Ramón Troconis, Juan Evangelista González) dagegen stießen erst am 7. Mai 1830 zum Kongreß. Gallegos, der noch 1827 unter Michael Zeuske/Venezuela Seite 394 13.05.2016 Urdaneta Sekretär der Intendantur gewesen war, also politisch zu den Campesinos gehörte und 1829 den bolivarfreundlichen El Patriota del Zulia herausgegeben hatte (mit Rafael María Baralt), konnte offensichtlich durch einen hohen Posten auf die andere Seite gezogen werden. Er wurde 1831 Mitglied des Regierungsrates in Caracas und übte im gleichen Jahr die Präsidentschaft aus, als Páez nicht anwesend und der etatmäßige Vizepräsident, Diego Bautista Urbaneja, krank war. Maracaibo, bis 1830 Hauptstadt des Departements Zulia, behielt zwar den Provinzstatus, aber neben Mérida wurde auch Coro vom Gebiet des alten Departements Zulia abgespalten, ab 1831 auch Trujillo; womit die anderen Provinzen und Páez (hinter ihm der Präsident des Kongresses, Miguel Peña) vor allem die Konkurrenz unter den beiden caracasfeindlichsten Städten und Provinzen (Maracaibo-Coro) manipulierten. Zwischen 1829 und 1832 herrschte de facto politisches Chaos in Maracaibo, ehe die Tembleques ihre Abgeordneten auf die Provinzdeputation (etwa: Länderkammer) geschickt hatten und alle wichtigen lokalen Ämter besetzen konnten; sie regierten die Provinz faktisch gegen die alte Oligarchie von Maracaibo, der ihre wichtigsten Symbolfigur Urdaneta verlorengegangen war. Während dieser fast vier Jahre (1829-1832) kochte die Agitation in Maracaibo: soll die Stadt und das Departement bei Kolumbien bleiben, soll man sich wieder an die Royalisten wenden, soll man einen unabhängigen Staat bilden (Zulia), sogar die Idee eines hanseatischen Modells für Maracaibo kommt auf – Maracaibo sollte zu einem „Hamburg“ der Tierra Firme werden. Zum Schluß setzt sich jedenfalls die venezolanische Faktion der Tembleques durch; Maracaibo wird eine der zehn, dann elf Provinzen, die das neue alte Venezuela bilden. Aber: es kam schon 1834/35 zum Aufstand der Unterlegenen. Danach mußte die Zentralmacht der Provinz Maracaibo und den lokalen Autoritäten in den von Maracaibo kontrollierten Cantones, wie auch den anderen Provinzen, weitestgehende Autonomie zugestehen.1034 1034 Urdaneta Quintero, Arlene, La revolución de las reformas en Maracaibo. Campesinos y Tembleques (18341835), Caracas: Universidad de Santa María 1989; Cardozo Galué; Urdaneta de Cardozo, “La élite de Maracaibo en Michael Zeuske/Venezuela Seite 395 13.05.2016 Die Departements wurden abgeschafft. Der gesamte Titel XXIII (14 Artikel) der Verfassung von Valencia war den Rechten der Provinzen und ihrer inneren Verwaltung gewidmete; allein der Artikel 161 der Verfassung in diesem Titel, der 23 Abschnitte umfasst, zeigt, wie weit Páez und seine Gruppe dafür gehen mußten, dass die Provinzdeputierten der Zentralmacht (also Páez) einen Estado Unitario zugestanden hatten: die Provinzialdeputationen durften den von der Zentralmacht eingesetzten Gouverneuren (Titel XXIV, 10 Artikel) Dreiervorschläge (ternas oder en terna) für die Kantonschefs vorlegen, sie konnten von der Kirchenautorität die Abberufung von Pfarrern „erbitten“, also verlangen; sie waren verantwortlich für die Überwachung der lokalen Manumisions- und Arbeitsgesetzgebung (Kontrolle der Sklaven, Peones, Hausangestellten und Lehrlinge), sie konnten Geldmittel (Steuern und Zölle) für Grundschulen, Wege- und Straßenbau sowie Kanälen (Infrastruktur), sprich für Bauprojekte (Korruption) verwenden.1035 Páez berief als Minister (Secretarios de Despacho), drei Mitglieder der alten Oligarchie, die zugleich Mitglieder der neuen konservativen Elite waren: Dr. Miguel Peña starb schon 1833, Dr. Diego Bautista Urbaneja Sturdy (Barcelona, 16. Dezember 1782 – Caracas, 12. Januar 1856) als Minister für Äußeres und Wirtschaft1036 und den sehr prominenten, aber wenig charismatischen Militär Carlos Soublette.1037 Innerhalb der Regierung und an der Machtspitze existierte unter Páez’ Führung - das Bündnis zweier Próceres militares. Die Männer um Páez, die Paecistas der sich bildenden Staatsbürokratie (son agentes de la nación los magistrados, jueces y demás funcionarios [die Akteure der Nation sind die Magistrate, Richter und weitere Funktionäre]: Titel I der Verfassung1038), waren eine Mischung aus ehemaligen Royalisten, aufgestiegenen Patrioten, die nicht mit Bolívar weitergezogen waren, und Angehörigen der alten Kolonialoligarchien. la construcción de una identidad regional (siglos XVII-XIX), S. 157-182. 1035 Las constituciones de Venezuela ..., S. 31ff; S. 223-256. 1036 Armas Alfonzo, Rafael, El licenciado Diego Bautista Urbaneja Sturdy, Cumaná: Dirección de Cultura, 1994. 1037 Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 369f. 1038 Las constituciones de Venezuela ..., S. 224. Michael Zeuske/Venezuela Seite 396 13.05.2016 Im März 1831 wurde Páez zum konstitutionellen Präsidenten gewählt. Dagegen erhoben sich im Oriente (Barcelona, Maturín, Cumaná, Margarita und Guayana) General José Gregorio Monagas (Aragua de Barcelona, 4. Mai 1795 – Maracaibo, 15. Juli 1858), zusammen mit den Generalen Andrés Rojas und José Tadeo Monagas (Tamarindo de Amana, Maturín, 28. Oktober 1784 – Caracas, 18. November 1868). Sie proklamierten die Gültigkeit der Verfassung von Cúcuta. Páez griff zur Lanze und konnte die alten Waffengefährten Mariño sowie Bermúdez zu einer Allianz gegen die Monagas bewegen. Als aber der Tod Bolívars bekannt wurde und Urdaneta in Bogotá die Diktatur niederlegte, gelang es wiederum Mariño, zu einer Absprache mit den Monagas zu kommen, die darauf hinauslief, einen eigenständigen Estado de Oriente zu bilden. Staatschef sollte Mariño sein und José Tadeo Monagas zweiter Chef. Mariño liess durch seine Anhänger in Caracas ein Riot inszenieren, dass die weißen Eliten der Stadt - Páez befand sich an der Spitze der Armee außerhalb der Stadt - in Angst und Schrecken versetzte, zumal auch noch Gerüchte eines Aufstandes der Farbigen und Schwarzen die Runde machte, in den Worten von Sir Robert Ker Porter, britischer Konsul: „Caracas has been thrown into the greatest alarm, and apprehension, in consequence of the discovery of a plot amongst the people of Colour and blacks to masacre ist white inhabitants, and pillage the city“.1039 Die Unruhestifter hatten das Gefängnis gestürmt und einige Dutzend Gefangene befreit, konnten aber noch in der Nacht des 11. Mai 1831 durch schnell gebildete Milizen zur Ruhe gebracht werden.1040 Durch geschicktes Ausspielen der Oriente-Caudillos vermochte Páez aber, Mariño auszumanövrieren und die Bildung eines Oriente-Staates zu verhindern.1041 Venezuela blieb in seiner kolonialen Form erhalten. Maríño 1039 The National Archives (TNA), Kew Gardens, UK, Foreign Office (FO) 18: General Correspondence before 1906, Republic of New Granada and Succesor States (1821-1834), 87 (im Folgenden FO 18/87): “1831 Consuls James Henderson, Edward W.H. Schenley, Consuls Robert Sutherland, Robert Mackay, Sir Robert Ker Porter”, f. 375r-376r: Schreiben (Nr. 11/1831) von Robert Ker Porter an Viscount Palmerston aus Caracas, 16. Mai 1831, hier f. 375r. 1040 Ebd. 1041 Parra-Pérez, Mariño y las guerras civiles, 3 Bde., Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1958-1960; Vivas, Cecilia, “La Provincia de Cumaná: su importancia en la vida económica de Venezuela (1830-1840)”, in: BANH, T. Michael Zeuske/Venezuela Seite 397 13.05.2016 verschwand kurzzeitig im Exil. Die Monagas-Brüder begründen ihren Ruhm als Páez-Herausforderer und listige Machtpolitiker, die immer gewinnen - Páez musste ihnen mehr lokalen Einfluss und Besitz versprechen, um sie auf seine Seite zu ziehen. Fast ohne einen Schuss abgegeben zu haben, hatte Páez Venezuela zusammengehalten. In diesem Sinne übte Páez seine erste Präsidentschaft bis zum Februar 1835 aus. Im Wahlkampf des Jahres 1834 – ich greife etwas vor – setzte sich ein genuiner Vertreter der konservativen Zivilisten, der Mediziner Dr. José María Vargas, durch - unter anderem gegen Mariño und Soublette.1042 Páez übergab ihm auch die Regierungsgeschäfte, obwohl er kein Anhänger einer direkten Machtausübung durch Zivilisten war. Die Regierungszeit von Vargas sollte bis 1837 dauern. Bald zeigte sich aber, dass die Annahme der konservativen Zivilisten, die Macht nun wieder ganz in den Händen zu haben, eine Illusion darstellte. Die Bolivarianer erhoben sich in der Revolución de las Reformas (Juni 1835-1836) gegen die Regierung Vargas; zugleich kämpften die wichtigsten Militärs die Vorherrschaft im Lande aus (Páez, Monagas, Mariño; Santiago Mariño, Diego Ibarra, Pedro Briceño Méndez, José Laurencio Silva, José María Melo, Luis Perú de Lacroix, Pedro Carujo, José Tadeo Monagas, Andrés Level de Goda y Estanislao Rendón).1043 Die Militärs, und speziell Páez, wurden als Tutoren jeglicher stabilen Regierungsmacht gebraucht; Páez konnte Monagas wiederum von der Rebellion abbringen unter anderem damit, dass er ihre militärischen Grade Monagas-Leute und die Quasi-Autonomie der Eliten des Ostens anerkannte. Wirtschafts- und Aussenminister wurde Santos Michelena (Maracay, 1. November 1797 – Caracas, 12. März 1848).1044 Erste Maßnahmen des PáezRegimes betrafen das Verhältnis zur Kirche und die ökonomische LXXII, núm. 287 (), S. 197-218. 1042 Castillo Blomquist, „La Post-Independencia“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 27-52; Gómez Tovar, Iliana, “La salud pública en el discurso social de José María Vargas. 1826-1836”, in: Tierra Firme 74, Año 19 (Abril-Junio de 2001), S. 247-260. 1043 Urdaneta Quintero, La revolución de las reformas en Maracaibo ..., passim. 1044 Carrillo Batalla, Tomás Enrique, El pensamiento económico de Santos Michelena, 4 Bde., Caracas: Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1994. Michael Zeuske/Venezuela Seite 398 13.05.2016 Wiederherstellung des Landes, die wirtschaftlichen Maßnahmen, orientiert am britischen Liberalismus, fanden ihren seinen besten Ausdruck in der Gründung der Sociedad Económica de Amigos del País (SEAP) 1829.1045 Erster Direktor war José María Vargas und stellvertretender Sekretär José María Rojas, ein kreolischer Kaufmann des alto comercio. In den Diskursen und im Wirken oder Zusammenwirken der SEAP mit dem Staat wird ein liberales Wirtschaftsmodell nach außen und konservierendes Sozialmodell im Innern deutlich. Der Staat sollte darin die Funktion haben, die notwendigen Bedingungen (vor allem durch Gesetzgebung) für die Entfaltung des wirtschaftlichen Dynamismus schaffen, die aber nicht allzu sehr durch Privatinitiative in der Handwerks- oder gar Industrieproduktion geprägt sein sollte (das wünschten sich einige Liberale), sondern von den traditionellen agricultores (Hacienda- und Hatobesitzer), die Sklaven- und Peónarbeit ausbeuteten. Zugleich sollte der Staat die Auswüchse der Konkurrenz zurückschneiden und Schutz für Schwachen und Alten schaffen – das blieb für die Masse der ruralen Bevölkerung ein frommer Wunsch. Besonders eng waren die Beziehungen zwischen Staat und SEAP zwischen 1830 und 1834, in der so genannten Reformperiode. In dieser Periode hoffte die Páez-Regierung vor allem Kredit und Handel wieder herzustellen. In Venezuela existierten, wie in allen spanischen Kolonien eine Kaste der comerciantes-usurarios (Großkaufleute, meist Spanier, die auch Kredite gaben, neben der Kirche als Kreditgeber1046) und die Gruppe der kleineren mercaderes (Detailhändler). Diese Gruppen waren grundsätzlich mit der Macht des spanischen Imperiums verbunden. Die großen spanischen Kaufleute hatten das Land schon während der Bürgerkriege verlassen oder waren 1823 des Landes verwiesen worden. Erst nach und nach musste sich eine Gruppe von Klein- und Mittelkaufleuten (canastilleros – weil sie mit einer Kiepe voller Handelswaren zunächst im Lande umherzogen), meist kanarischer 1045 Farías, Haydée, La sociedad económica de amigos del país, (Historia para todos/9), Caracas 1994; Cartay, Rafael, Historia económica de Venezuela, Valencia: Vadell Hermanos 1988. 1046 Troconis de Veracochea, Ermila, La función financiera de la Iglesia colonial venezolana, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1978; Troconis de Veracochea, Los censos en la Iglesia colonial venezolana, 3 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1982. Michael Zeuske/Venezuela Seite 399 13.05.2016 oder karibischer Abstammung, auf die neuen Machtverhältnisse in Venezuela 1821-1826 umstellen. Ein Exponent der kanarischen Händler war Gerardo Patrullo (Kanaren, 1770 – Caracas, ? 1821), der unter Morillo Geld mit der Truppenversorgung gemacht und die Royalisten unterstützt hatte. Die Patrioten enteigneten ihn 1821. Beim Wiederaufbau eines Handelsnetzes verschmolzen die bisherigen Kasten der kreolischen und kanarischen mercaderes zu einer neuen Gruppe von Einzelkaufleuten. Kreolischen Kaufleute, die nicht nur aus Venezuela, sondern oft auch aus Santo Domingo stammten, gelang es aber nach 1820 nicht oder kaum in den alto comercio, in die Gruppe der internationalen Im- und Exporteure aufzusteigen, sondern sie bildeten Gruppen von Zwischen- und Einzelhändlern. Dazu kamen seit 1817 ausländische Heereslieferanten, karibische Kaufleuten und Waffenschmuggler, die meist alle ihren Ausgangspunkt in Angostura hatten, weil sie dort 1817-1820 (über Saint Thomas, seltener über Curaçao) Bolívars Truppen mit Waffen, Soldaten und Uniformen versorgten.1047 Einer dieser Kriegslieferanten ist vielleicht Georg Heinrich Wappäus gewesen; eine Hamburger Reeder, der das Venezuelageschäft und sehr früh und rasch ausbaute.1048 Erst nach und nach und gefördert von den Reformen unter Páez, bildeten sich seit den 20er Jahren in den größeren See- und Flusshäfen Venezuelas, wie Caracas, Puerto Cabello, Maracaibo, La Guaira, Cumaná und Angostura, Gruppen meist ausländischer altos comerciantes an der Spitze von Imund Exporthäusern heraus. All diese Kaufleute, oft Abenteurer, hatten aber zunächst kaum Kapital. Sie investierten nicht oder selten in Venezuela. Auch die Kapitalakkumulation im internen Handel verlief sehr schleppend; die Einzelhändler (canastilleros) bezogen ihre Waren von Großhändlern und Agenten.1049 95% der Bevölkerung brauchten keinen ausländischen Handel und normalerweise auch keinen eigentlich inneren überregionalen Handel (vom Brito Figueroa, “A propósito del capital comercial en Venezuela postcolonial”, in: Banko, El Capital Comercial en La Guaira y Caracas (1821-1848) …, S. 11-30, hier S. 24f. 1048 Vogt, „Die Firmengründung: Georg Heinrich Wappäus. Die Anfänge des hamburgischen Karibikhandels im 19. Jahrhundert (1805-1836), in: Vogt, Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels …, S. 111-134, hier, S. 123. 1049 Ebd., S. 133. 1047 Michael Zeuske/Venezuela Seite 400 13.05.2016 Tauschhandel oder dem ganz mikroregionalen Handel auf dem Markt einer Ortschaft mal abgesehen) – sie lebten in lokaler Subsistenzwirtschaft. Handel, Freihandel vor allem mit anderen Staaten, brauchte der Staat, wegen der Zolleinnahmen, wegen der Ausrüstung des Heeres und der Staatsorgane sowie wegen des Luxus’ der Oberschichten. Vor allem aber brauchten alle Hacendados, egal welcher politischen Ausrichtung, den Frei- und Exporthandel mit Kaffee, Kakao, Fleisch und Häuten sowie anderen Produkten des Landes. Deshalb hält Lombardi Caracas und – mit Abstrichen – die anderen größeren Küstenstädte für Quasi-Faktoreien des Atlantikhandels.1050 In der Reformperiode unternahm die Regierung viele Schritte, um den äußeren Handel und den Kredit zu verbessern. All diese Maßnahmen verschärften die sozialen und politischen Probleme des inneren Landes. Macht wird diskursiv hergestellt; Herrschaft ist institutionell und strebt danach, sich mit Gewalt zu territorialisieren, sie wird durch Personen, Apparate (Armee, Polizei) und Institutionen repräsentiert. Páez war während der 18 Jahre (eigentlich schon seit 1826) das Zünglein an der Waage, die Achse, um die sich die politische Maschine Venezuelas drehte. Mit seinen Beziehungen, seinem Einfluss auf die einfachen Menschen des Landes und seiner Position im Gefüge der Machtklienteln sowie der lokalen Eliten gelang es ihm, sowohl aus dem Präsidentensessel, wie auch aus dem Sattel des Pferdes, die verschiedensten Krisen (1830/31, 1835, 1837, 1846) zu meistern. Während der Jahre 1835, 1837 und 1846 war Páez nicht einmal Präsident, aber er stellte sich an die Spitze des Heeres (oder von Milizen) und etablierte die gestörte konstitutionelle Ordnung wieder; im Grunde entstand hier das Modell des aus dem Militär hervorgegangenen „populären“ Diktators und starken Mannes im Hintergrund, der als politischer Typus das Lateinamerika des 20. Jahrhunderts prägen sollte (das 19. Jahrhundert auch). Im besten Falle schützte ein solcher Tutor die konstitutionelle Ordnung. Dieser konstitutionelle Caudillismo zur Sicherung von „Ruhe und Ordnung“ nach 1050 Lombardi, “The Commercial-Bureaucratic Outpost, 1830-1935”, S. 157-212. Michael Zeuske/Venezuela Seite 401 13.05.2016 der Metzeleien des Krieges schien das größte Verdienst von Páez – strategisch und historisch begründete diese Politikformation eine fatale Tradition. Páez war gewiß ein sehr dominanter Charakter. Aber er verschaffte den neuen republikanischen Institutionen und Gewalten zumindest in den Städten sowie im Küstengebiet und in den Anden Respekt. In seiner Zeit gab es ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Institutionen und Regionen, ganz abgesehen davon, dass der neue Konstitutionalismus und die Wahlen überhaupt funktionierten und die nationalen Form, von Einheit kann man noch nicht sprechen, im komplizierten Wechselspiel zwischen Zentralstaat und Regionen zunächst einmal pro forma hergestellt und dann durch List, Drohung, geheime Bestechung und kurze Militärkonflikte über fast zwei Jahrzehnte aufrechterhalten werden konnte. Páez erreichte diese Stellung nicht nur weil er den größten Einfluß unter den Soldaten und Offizieren hatte, die ihre Laufbahn während der Unabhängigkeitskämpfe begonnen hatten und weil er mit ihnen persönliche und charismatische Klientelbeziehungen (compadrazgo, Gevatterschaft) unterhielt, sondern auch weil in der Lage war, aus seiner scheinbaren Schwäche, der mangelnden Bildung, seiner niedrigen Herkunft, einen Vorteil zu machen. Páez ging nämlich Allianzen mit Einzelpersonen aus der Gruppe der Militares (wie Carlos Soublette, einem der besten Generalsstabsoffiziere Bolívars) oder kleinen Gruppen der wichtigsten Zivilisten ein und ließ sich von ihnen beraten. Damit erreichte er immer wieder Vorteile gegenüber seinen Mitkonkurrenten unter den Próceres-Militärs (wie Mariño, Montilla oder die Brüder Ibarra, Andrés und Diego), wobei sein prononcierter Antibolivarismus der ersten Jahre des neuen Venezuela die wichtigsten Gegner unter den konkurrierenden Miltärs von der Macht fernhielt. Um die konkurrierenden Militärs zu schwächen, auch aus berechtigter Angst vor Prätorianertum, akzeptierte Páez eine Reihe antimilitärischer Maßnahmen im Umfeld der Verfassung von 1830, die ihm eben diese Konkurrenten vom Leibe hielten. Die wichtigste war vielleicht diejenige, die die Landtruppen Venezuelas Michael Zeuske/Venezuela Seite 402 13.05.2016 auf ganze 2000 Mann begrenzte.1051 Das machte die Staatsgewalt vollständig von Caudillos abhängig. Die Caudillos, vor allem die aus den Llanos, rekrutierten einfach eigene Truppen aus Peones und Llaneros. Der Caudillo, der das am besten konnte, war Páez. Gerade Páez kam so gegenüber dem frühen republikanischen Staatswesen wirklich in die Position eines militärischen Tutors (posición tutelar).1052 Liberale sind antiklerikal. Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und den neuen Staaten des ehemaligen Spanisch-Amerika war schon seit 1810 kompliziert. Die Verfassung von 1830 setzte diese Tradition mit einem laizistischen Grundtenor fort, der im Venezuela des gesamten 19. Jahrhundert immer Anhänger fand, auch wenn die übergroße Masse der Bevölkerung die Religion ihrer Väter auf ihre Weise praktizierte, allerdings oft vermischt mit synkretistischen Religionen und afroamerikanischen Kulten. Die römischkatholische Kirche jedenfalls hatte bereits seit den Kriegen viel von ihrer Macht, Besitz sowie Einfluß verloren. Die Verfassung von Valencia (1830) sprach zwar „En el nombre de dios todopoderoso, autor y supremo legislador del universo“, sagte über Religion aber nichts. Am 18. Februar 1834 wurde die Religionsfreiheit proklamiert. Páez selbst ordnete zweimal das Exil für hohe Kirchenvertreter an, darunter für den Erzbischof Ramón Ignacio Méndez (1830-1832 und 1836-bis zu seinem Tod) und zwei Bischöfe (von Mérida und Guayana), als diese nicht auf die neue Verfassung schwören wollten. Ramón Ignacio Méndez war ein streitbarer Kirchenfürst, der den konservativen Patrioten angehörte und selbst mit der Lanze in der Hand gekämpft hatte. 1828 war er auf Vorschlag von Bolívar Erzbischof von Caracas geworden.1053 Méndez hatte sich im Parlament auch schon mal mit Gegnern geprügelt; von ihm ist anläßlich eines Rededuells mit Antonio Leocadio Guzmán, dem Chefliberalen, um die Staatseinmischung in Kirchendinge der Ausspruch überliefert: „Cuando yo peleaba con la lanza por la independencia, 1051 Las constituciones de Venezuela ..., S. 250ff; Gil Fortoul, Historia Constitucional ..., Bd. II, S. 31ff Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 39. 1053 Gómez Canedo, “Los franciscanos en las luchas libertadoras”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 163-171. 1052 Michael Zeuske/Venezuela Seite 403 13.05.2016 Usted y su padre estaban matando patriotas en Puerto Cabello [Als ich mit der Lanze für die Unabhängigkeit kämpfte, haben Euer Ehren und Euer Vater in Puerto Cabello Patrioten ermordet].“1054 Méndez und Páez kannten sich seit 1816; Méndez war seit 1817 der von Bolívar eingesetzte Verantwortliche in den Missionen von Guayana gewesen. Unter dem Druck Santanders und seiner Anhänger hatte der Kongreß von Groß-Kolumbien 1824 die Ley de Patronato erlassen; Bolívar war einverstanden. Der neue Staat beanspruchte für sich die Patronatsrechte, die die katholischen Könige Spaniens über die Kirche in Amerika ausgeübt hatten (patronato regio). Die Bischöfe und der Erzbischof (Méndez, Arias und Talavera) weigerten sich die Verfassung von 1830 (Valencia) zu beschwören und gingen für Jahre ins Exil. Die Aufhebung der Klöster lief seit 1822. 1834 verfügte der venezolanische Kongreß die Aufhebung des Kirchenzehnten (diezmo) und ließ die Pfarrer aus öffentlichen Fonds bezahlen; da Staat und Kommunen kein Geld hatten, glich das einer Enteignung. +++ Auch das korporative und in gewissem Sinne kommunale Land der Kirchen, Klöster und Missionen wurde versteigert und bildete die Grundlage für den Staat (besser formulieren). Die Missionen verfielen.1055 Auch beanspruchte der Staat die Hoheit über die Bildung und die Bildungseinrichtungen; mit seiner Gesetzgebung versuchte er auch die Besitzungen der Kirche aus der „toten Hand“ herauszuführen und die traditionelle Kreditfunktion (als Machtfaktor) der Kirche zu eliminieren.1056 Das war eine Illusion. Zwar verbreiteten sich zwischen 1818 und 1830 sowie während der Reformzeit vor allem Druckgewerbe, Zeitungswesen und der Edition von Büchern. Aber der laizistisch-liberale Staat konnte die Bildung nicht sichern. Es gab um 1830 – für die Eliten – zwei Universitäten (Caracas; gegründet 1721 und Mérida, gegründet 1810) sowie den Colegio Magallanes, Historia Política de Venezuela …, Bd. II, S. 21. Ayres, Pedro J., “Ríonegro. Descripción fisíca de las misiones del Río Negro”, San Fernando Atabapo, 1. Juni 1842, in: Las Misiones del Piritú ...; Bd. II: Expansión, florecimiento y ruina (1730-1840), S. 313-329. 1056 Rodríguez Iturbe, José, Iglesia y Estado en Venezuela, 1824-1964, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1968; Prien, Hans-Jürgen, “La Iglesia y la independencia. Quiebra de la iglesia patronal latinoamericana en la época de la emanciapción oligarquíca criolla”, in: Prien, Historia del cristianismo en América Latina, Salamanca: Ediciones Sígueme, 1985, S. 357-386; Prien, “El cristianismo como un factor en la lucha entre conservadores y viejos liberales por un nuevo orden estatal”, in: Ebd., S. 398-406; Oliva Salas, Ramón, El patronato, el concordato, el convenio con la Santa Sede: relaciones entre la Iglesia y el Estado en Venezuela, Caracas: Trípode, 1989. 1054 1055 Michael Zeuske/Venezuela Seite 404 13.05.2016 Seminario de Santa Rosa (auch in Caracas, gegründet 1696). Die Bildung der urbanen Bevölkerung, natürlich vor allem der Oberschichten, war in der Kolonialzeit meist durch kirchliche Konvente mit Unterstützung der Cabildos (und des Staates) gesichert worden – mehr recht als schlecht, aber im Allgemeinen besser als etwa in den britischen Kolonien.1057 1830 existierten noch 41 Konvente, 4 kirchliche Seminare und 6 Beaterios (Frauenklöster mit dem Recht zur Ausbildung) für die höhere Bildung (davon drei Frauen- und drei Männerkonvente in Caracas). Auf dem Gebiet der Primarschulbildung existierten um 1830 in ganz Venezuela 96 Schulen; einige durch die Munizipien bezahlt, andere durch Schulgeld (davon zwei öffentliche Schulen mit ganzen 226 Schülern, eine Primarschule am Colegio de Santa Rosa sowie 5 Privatschulen der Primarbildung in Caracas, eine in Chacao, bei einer Bevölkerung des Stadtkantons von 41752 Menschen, darunter 5822 Sklaven und Manumisos).1058 Kostenlos Schulbildung wurde erst 1870 proklamiert, aber nicht durchgesetzt; im gesamten Bildungssystem wurden noch bis 1935 nur 10% der Bevölkerung erfasst. Mit einem Wort, der oligarchische Staat Venezuela konnte die Bildung seiner Bürger nicht sichern; die „Erziehungsdiktatur“ im Sinne des Lesen und Schreiben-Lernens aller Bürger war Utopie, Illusion und interessengeleitete Propaganda.1059 Ebenfalls 1834, mit der Erklärung der Religionsfreiheit, wurde die Einrichtung eines anglikanischen Tempels und Friedhofes auf Betreiben des britischen Konsuls, Sir Robert Ker Porter, erlaubt.1060 Ein weiteres Zeichen des Liberalismus in Religionsund Kirchenfragen war die Tolerierung einer jüdischen Gemeinde in Coro, die immer mehr Zuzug aus dem holländischen Curaçao erhielt.1061 Die religiöse Toleranz schockierte die katholischen Eliten. Aber sie akzeptierten die „Familie, Erziehung, Ausbildung“, in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 5: Das Leben in den Kolonien, hrsg. V. Schmitt, Eberhard und Beck, Thomas (=Dokumente zur europäischen Expansion, 5 Bde., ed. Schmitt, Eberhard, München: Verlag C.H. Beck, 1986-1888 (Bde. I-IV); Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Bd. V)), S. 129-193. 1058 „La Venezuela de 1830 vista por los Amigos del País“, in: Díaz Sánchez, Ramón, “Evolución Social de Venezuela”, in: Picón-Salas ; Mijares, Augusto; Díaz-Sánchez, Ramón ; Arcila Farias ; Liscano, Juan (eds.), Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio Mendoza, 1962, S. 157-342, hier S. 220-224. 1059 Morón, „Venezuela, Alemania y el tratado de 1837“, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), DeutschVenezolanische Beziehungen ..., S. 51-66, hier S. 55. 1060 Dupouy (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842 …, 1966, S. 774f. 1061 Fortique, José Rafael, Los motines anti-judíos de Coro, Maracaibo 1973. 1057 Michael Zeuske/Venezuela Seite 405 13.05.2016 antiklerikale Politik – nicht zuletzt weil ihnen den Zugriff auf Ländereien und Vorrechte der Amtkirche erlaubten. Hier findet sich eine der Wurzeln, dass Venezolaner tiefgläubig sind und katholisch, aber durchaus gegen die Amtskirche. Der tiefe Schock der katholischen Familien aber zeigt sich vielleicht am besten im Ausruf eines der Nachkommen des großen Familien, hier der Ibarra, die schon Humboldt getroffen hat, als er die Stadt seiner Jugend um 1940 besuchte: „Im Haus meines Großvaters gab es dreißig oder mehr Zimmer ... Caracas hatte (und hat noch) Dutzende von großen Häusern, die im achtzehnten und im siebzehnten Jahrhundert gebaut worden waren; einige waren zwei oder dreimal größer als das meiner Großväter ... Das Haus meiner Großväter wurde vor Jahren verlassen, wegen einer riesigen Hypothek. Danach beherbergte es eine zeitlang eine Gruppe ambulanter syrischer Verkäufer, die jeden Morgen mit großen Körben auf dem Rücken auszogen ... und Tand in ganz Caracas verkauften. Wegen irgendeinem verborgenen Grund wurden diese (christlichen – M.Z.) Syrer „Türken“ [turcos] genannt. Später verwandelte sich das Haus in eine protestantische Mission (präsidiert durch Señor und Señora Pond aus Neuengland ...). Eine protestantische Mission im Stadtpalais [mansion] der Familien Rivas (Ribas) und Ybarra (Ibarra)! Oh Manen der göttlichen Gnade, meine gnädige und tiefgläubige katholische Großmutter!“1062 Die Hauptakkumulationsquellen des neuen Staates und Wirtschaftssystems waren Kirchenvermögen und billige Sklavenarbeit sowie die Arbeit der farbigen ruralen Peones, der Männer und Frauen der Unterschichten sowie der Lehrlinge und des Hauspersonals. Handwerk und Dienstleistung, wo oft auch Sklaven beschäftigt waren, wurde kaum gefördert; etwas Industrie entstand erst 1842 – Schwalben waren, wie in vielen Gegenden Lateinamerikas die zunächst recht primitiven agroindutriellen Anlagen zur Zucker- und Rumproduktion (trapiches und ingenios) sowie salazones (Fleischsalzereien in Unare), auch hier und da eine Ibarra, T.R., “Mi Caracas”, in: BANH Nr. 199, Caracas (Julio-Septiembre 1967), S. 442-449, hier S. 446f. (Abdruck des Kapitels VII aus dem Buch: Ybarra, T.R., Young Man of Caracas, New York: Garden City Publisihing C., Inc., 1942). 1062 Michael Zeuske/Venezuela Seite 406 13.05.2016 Papiermanufaktur und Druckerei oder Lebensmittelfabrik; Baumwollstoffe wurden in Hausindustrie gewebt und gefärbt.1063 Obwohl die Liberalen es wünschten, wurde Industrie kaum gefördert, Handwerk schon gar nicht. Alles vom einheimischen Handwerk und in den Manufakturen Hergestellte (Tabak, Raspadura, Schaps, Eisen-, Leder-, Holz- und Tonwaren) wurde als lokale Produktion vor allem von Unterschichten gekauft. Wer Status nachweisen wollte, kaufte ausländische Waren. Von all dem profitierten vor allem Kaufleute, oft ausländische sowie über Zölle und Abgaben der Staat, die Grundbesitzer und die Staatsbürokratie sowie freie Berufe. Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde vor allem die Exportlandwirtschaft des Kaffees und des Kakaos gefördert, der Handel und der Export der Llanoprodukte (Häute, Trockenfleisch/Tasajo, Käse und Vieh); die SEAP machte sich unter Autosuffizienzvorstellungen sehr stark für den Anbau von Indigo, Weizen und für die Mehlproduktion aus Weizen (im 19. Jahrhundert in den meisten tropischen Gebieten ein Luxus) - aber noch heute ist in Venezuela das „Brot“-Mehl für Arepas aus Mais hergestellt. Die spanische Mehrwertsteuer, die alcabala wurde abgeschafft, der diezmo (staatlich verwaltete Kirchensteuer) und der estanco del tabaco1064 aufgehoben. Alle Exportzölle für Kaffee und Baumwolle wurden abgeschafft; die von lebenden Vieh und Häuten deutlich gesenkt. Es handelte sich um das liberale Modell der Steuersenkungen für Exportproduzenten und Exporteure. Mit der Nachfrage nach Kaffee in Europa und Deutschland stiegen Produktion und Export recht schnell in dieser eigentlich recht konservativen Sozialordnung, die den Sklaven immer noch keine Freiheit und den Unterschichten keine Titel für Land zugestand, sie aber im Grunde noch in dem gleichen inoffiziellen Kastenstatus wie zu Kolonialzeiten zu halten suchte, was in Bezug auf die Lohnkosten billige Landarbeitskräfte bedeuteten. Besonders deutlich wurde die Rekonstruktion patriarchalischer Verhältnisse in den ruralen Cartay, “Los albores de la industria en Venezuela, 1830-1899”, S. 779-788; Herrera, “¿Revolución industrial en Venezuela?”, S. 37-55. 1064 Arcila Farías, Eduardo, Historia de un monopolio. El Estanco del Tabaco en Venezuela (1779-1833), Caracas: Ediciones de la Facultad de Humanidades y Educacion, Instituto de Estudios Hispanoamericanos, Universidad Central de Venezuela, 1977. 1063 Michael Zeuske/Venezuela Seite 407 13.05.2016 Arbeitsbeziehungen – sie waren für die bäuerliche Bevölkerung im Grunde schlimmer als zur Kolonialzeit, weil jetzt der Druck der Krisen auf allen lastete und Kaufleute die Konditionen bestimmten. Die Provinz-Deputationen erliessen Regeln für Hausangestellte sowie Feldarbeit und Viehhaltung (peonaje agricola y de crianza). Trotz oder gerade wegen der Freiheitsrhetorik der Verfassung gaben diese lokalen Arbeitsverfassungen den Herren (señores y dueños) sehr weite Vollmachten, unter anderem ihnen selbst oder den Mayordomos der Haciendas das Recht, „geflohene [Peones] zu verfolgen, um sie der juristischen Autorität zu übergeben“. Das Gesamtkonzept der Arbeitsverfassungen war darauf ausgerichtet, die Peones einer Region an eine Hacienda zu fesseln – eine quasi Leibeigenschaft, die der Sklaverei sehr nahe kam. Solange der Peón oder Arbeitnehmer beim Herrn verschuldet war, musste er bei ihm bleiben und hatte kein Abzugsrecht. Sklaven sowieso nicht. Die Herren gaben ihren Sklaven und Peones ein kleines Stück Land auf der Hacienda (conuco), wo die Bauern Bohnen (caraotas) und Mais anbauten. Für alles weitere, etwa den Einkauf von Hühnern oder Schweinen oder Werkzeug, mussten die Peones Schulden machen.1065 Die cuentas (Schulden) lasteten wie ewige Ketten auf den Peones und ihren Familien. Die extrem niedrigen Löhne der Peones und Manumisos zwangen sie, etwa bei Tod, Heirat oder Krankheit, immer neue Schulden beim Herrn aufzunehmen; auch für sie gab es keine billigen Kredite. Diese Schulden vererbten sich von Generation zu Generation, in unendlicher Kette. Seit 1830-1834 kam es zu Allianzen zwischen Kaufleuten und Hacendados oder Hato-Besitzern. Der Kaufmann schoss dem Hacendado Kredite vor, in Form von (wenig) Geld und recht vielen Waren. Diese Waren und Lebensmittel, oft solche, die die Kaufleute woanders nicht mehr verkaufen konnten, wurden in den Läden der Haciendas (tiendas de raya) überteuert verkauft. Sicherheiten bildeten Sklaven und Land. Die Hacendados wiederum gaben ihren Arbeitern nur einen sehr kleinen Teil des Lohnes (der oft in Rückzahlungen verwandt werden musste) aus oder behielt gleich allen Lohn ein Brito Figueroa, “Los esclavos de un latifundio venezolano en el siglo XIX”, in: Brito Figueroa, El problema tierra y esclavos ..., . 251-296. 1065 Michael Zeuske/Venezuela Seite 408 13.05.2016 und gab nur fichas (eine Art Warengutschein für eine bestimmte Tienda) aus. Die Bezahlung in Fichas war in Venezuela so weit verbreitet und verankert, dass noch 1937 Löhne auf dem Lande in Fichas gezahlt wurden. 1066 Kein Wunder, dass vor allem junge Männer aus Peón-Familien sich lieber für Caudillo-Milizen rekrutieren liessen, als ein solch elendes Leben zu führen. Zunächst aber waren auch die Unterschichten kriegsmüde und mit dem Thema „Sozialrebellion“ und „Kastenkrieg“ wurde vor allem diskursive Politik in Erinnerung an die Schrecken der Guerra a muerte getrieben. Die Stabilitätpolitik von Páez konnte so wenigstens in den Küstengebieten und Tälern das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen. Sichtbares Zeichen war die Aufgabe des Sozialbanditen Dionisio Cisneros 1831, der über acht Jahre lang in unmittelbares Nähe zur Hauptstadt, in dem Haciendagebiet der Valles del Tuy, mit Unterstützung royalistischer Campesinos als eine Art Robin Hood gewirkt hatte. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet gab es Erfolge. Zu den eindeutig freihändlerischen Maßnahmen zählte die Tatsache, dass für europäische Manufakturprodukte, wie Quinquailleriewaren, Werkzeuge, Kurzwaren, Möbel, Stoffe (wie Leinen und Brokat), Sättel, Schuhe, Hüte, Bier, Wein, Agrartechik, Seife, Kerzen, Musikinstrumente, aber auch Mauer- und Dachziegel sowie Fliessen oder Segel- und Sackleinen zunächst relativ niedrige Importzölle angesetzt waren; Abgaben wurden auch auf die Lagerung (almacenaje) von Waren und Produkten gelegt. Die Waren, die auch aus Mitteleuropa und deutschen Ländern stammten, wurden zunächst vor allem von Engländern und europäischen Kaufleuten über Saint Thomas eingeführt. Die niedrigen Zölle begünstigten vor allem große Hacendados und Kaufleute, in Caracas und anderen Hafenstädten, da die meisten spanischen Kaufleute das Land verlassen hatten (1823), entstanden schnell Ex- und Import-Häuser ausländischer Kaufleute. Zugleich verletzten aber die niedrigen Zölle, die damit eben keine „Schutzzölle“ waren, Interessen der 1066 Grases, Pedro; Pérez Vila (comps.), Testimonios sobre la formación para el trabajo, 1539-1970, Caracas: Instituto Nacional de Cooperación Educativa, 1972; Samudio A., Edda O., Sumario histórico sobre el trabajo colonial, San Cristobál: Universidad Católica del Táchira, 1984; Ulloa, Camilo, Los oficios en Venezuela siglo XIX y XX, Caracas: INCE, 1992. Michael Zeuske/Venezuela Seite 409 13.05.2016 kleinen Manufakturproduzenten und des einheimischen Handwerkes (auch etwa die Lebensmittel-, Seifen- und Kerzenherstellung), weil ausländische Waren, die eh als „besser“ galten, auch noch billiger als einheimische Waren waren. Der urbane Mittelstand und das Handwerk, der es schon in der Kolonialzeit schwer gehabt hatte, wurden vor allem von Pardos gebildet. Sie unterlagen der Verarmung und der weitergeführten Kastenordnung, die es auch in der neuen Ordnung schwer machten, eine politische und wirtschaftspolitische Vertretung ihrer Interessen zu finden. Durch partielle protektionistische Maßnahmen, wurde versucht, die Landwirtschaft (deren Herren die großen Hacendados waren) zu begünstigen. So war die Einfuhr von Zucker, Rum und Tabak verboten; Rum und Tabak allerdings mit Ausnahmen: da Flaschen noch ein teures Gut waren, durfte Rum in Flaschen eingeführt werden; auch Zigarren aus dem berühmten Havanna-Tabak, was wiederum die venezolanische Produktion des berühmten kolonialen Markenproduktes Barinas-Canasta (Knaster) beeinträchtigte; ganz verboten war die Einfuhr von Kakao und Kaffee; Mehl, Holz, Schweinefett und Butter. Das waren aller Produkte, die meist aus den USA (oder über Jamaika bzw. die niederländischen ABC-Inseln, Mehl auch aus Mexiko) eingeführt wurden, zahlten ziemlich hohe Zölle (Konflikte mit USA). Die Wiederherstellung der großen Landwirtschaft und der Extraktionsmaschine erforderte viel Kapital. Geld- und Kreditmangel, vor allem profane Geldknappheit, war eines der größten ökonomischen Probleme der 30er und 40er Jahre.1067 Der wichtigste interne Kapitalgeber, die Kirche, war ausgefallen. Ausländische Kapitalisten wollten kein Geld mehr als Staatanleihen geben, nach den großen Anleihen für Großkolumbien und der Krise von 1825-26, war guter Rat teuer. Auch fehlte schlicht gemünztes Geld. Banken gab es noch nicht oder nur sehr wenige (erste Bankgründung 1839). 1067 Walter, „Der Geld- und Kreditmangel“, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 86-87. Michael Zeuske/Venezuela Seite 410 13.05.2016 Geld kann ein Staat verleihen oder Privatleute; der Staat in Venezuela war Bereicherungsquelle für hohe Beamte und Politiker und musste ausländische Schulden bezahlen. Es kamen also nur Privatleute in Frage. Offiziell galten auf dem Zins- und Kapitalsektor noch die spanischen Gesetze, die die Zinsen bei maximal 6% jährlich festschrieben und die Schuldner vor Haftung mit ihrem Besitz schützten.1068 Wenn es Kredite gab, was sehr schwer war, da die Kreditgeber kaum ihre Schulden eintreiben lassen konnten, betrugen die schwarzen Zinsen 60-120% jährlich. Das zeigt deutlich, wie dringend Kapital für die Modernisierungsvorstellungen der Eliten gebraucht wurde. Um ihren liberalen Überzeugungen über freies Marktspiels Raum zu geben, die zurückgehaltenen Kapitalien der Kaufleute freizusetzen und Investoren ins Land zu ziehen, gab es vor allem in der Gruppe um den zeitweiligen Wirtschaftsminister, Santos Michelena1069 (Diego Bautista Urbaneja, José María de Rojas - Chef des bedeutendsten kreolischen Handelshauses in La Guaira1070 - , Pedro Pablo Díaz, Julián García) Auffassungen, die Verträge über Zinshöhen den Vertragschließenden zu überlassen, also nach dem liberalen Urprinzip „weniger Staat und weniger Gesetze“ zu verfahren. Wegen des Problems der fehlenden Kapitalien und der hohen Zinsen kam es zur Ley del 10 de Abril de 1834 (auch ley de libertad de los contratos; am 24. April 1848 durch José Tadeo Monagas aufgehoben) genannt. Die wichtigsten Artikel (Auszüge) dieses Gesetzes lauteten: „Verträge können frei geschlossen darüber werden, damit, um die Zahlung jeglicher Schuldsumme liquid zu machen, der Besitz des Schuldners für die Summe versteigert werden kann, die für sie an dem Tag und zu der Stunde geboten werden, die zur Versteigerung festgelegt sind. Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S. 33-89, hier S. 70. 1069 Morón, „Ein guter Minister“, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 77-78. 1070 Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 158. 1068 Michael Zeuske/Venezuela Seite 411 13.05.2016 2. In allen anderen Verträgen, wie auch in Bezug auf den Zins, die in ihnen ausgemacht werden, wird man, wie [hoch] er auch sei, den Willen der Vertragspartner ausführen. 5. Der oder die Gläubiger können Bieter in der Versteigerung sein“.1071 +++ Sicherheit für die Verträge waren Land und Sklaven. Zur Kontrolle dieses Gesetzes und zur Regelung wirtschaftlicher und kommerzieller Streitfragen und Konflikte wurde 1836 Tribunales Mercantiles (Handelsgerichtshöfe) eingerichtet und 1841 die Rechtsformel „de espera y quita“ (alte spanische Gesetzesformel zum Schutz von Schuldner; im Grunde ein Moratorium in der Form von „Aufschub und Aufhebung“ der Schulden unter bestimmten Bedingungen) per Gesetz aufgehoben, nach dem die Schuldner von den Gläubigern, auch nach dem Gesetz von 1834, ein generelles Moratorium hatten verlangen können. In wenigen Jahren, in den dreißiger Jahren wurde so eine ganze Wirtschaftsmentalität im Finanz- und Handelssektor auf atlantischen Freihandels-Liberalismus umgeformt.1072 Der radikale Wechsel im Innern beruhte vor allem auf dem Wechsel im Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern; von einem System, das deutlich und entschlossen die Schuldner geschützt hatte, zu einem System, daß ganz klar die Gläubiger bevorteilte und unterstützte. Mit der Zerstörung des Zinsverbotes kam der Kapitalismus in Gestalt vor allem ausländischer Handelshäuser – in einem ehemaligen Kolonialgebiet mit kolonialfeudalen Strukturen vor allem in Bezug auf Land und Sklaven konnte er kein Eigengewächs sein. Bis zum Ende der dreißiger Jahre (1838) gab wohl politische Feinde (Rebellion der Monagas, Revolución de las Reformas, Guerrillas, Llaneros vom Apure), aber bis auf die bolivarianischen Offiziere (wie die Ibarras; Andrés wurde erst 1845 rehabilitiert) kaum organisierten Gegner dieses neuen Systems im wirtschaftliche Sinne und der Aufschwung war allenthalben spürbar. Sogar die Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S. 33-89, hier S. 72. 1072 Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, passim. 1071 Michael Zeuske/Venezuela Seite 412 13.05.2016 politischen Gegner lobten Páez, dass er und seine Marionetten sich nicht in die Wirtschaft einmischten. In einer Petition der Hacendados der Valles del Tuy, unter den Unterzeichneten befindet sich auch Tomás Lander, heißt es: „Nosotros definiríamos por buen gobierno el que protege mucho, y persigue poco o nada“. In den Schriften von keinem der späteren erbitterten politischen Feinde von Páez sind zwischen 1834 und 1837 Klagen über die neue Wirtschafts-Mentalität zu finden. Wirtschaft und Extraktionsmaschine befanden sich zumindest bis 1838 in einem ziemlichen Aufschwung; die Zinsen sanken rasch ab, von 60% (oder gar 120%) auf 24, 18 oder gar 12%, zuweilen sogar auf 9%1073, was auch in den Konsularberichten nachzulesen ist. 1839 wurde der Banco Colonial Británico (British Colonial Bank), Zweigbank der Colonial Bank in London, in Caracas gegründet, Direktor war Leandro Miranda Andrews (1803-1886), der älteste von Sohn Francisco de Miranda.1074 Die Bank gab Papiergeld zum Nominalwert von 5, 10, 25 und 100 Peso heraus und Kredite zu 12% jährlich aus (Schließung 1849); dazu kam bald eine zweite Bank 1839/1841-1850, die Nationalbank mit 20:80% Beteiligung der Regierung und des Privatsektors, auch hier besonders stark britische Staatsbürger vertreten, wie William Ackers, ein reicher Schotte, Adolph Wolff, nach Robert Ker Porter ein „Israelit aus Leipzig“, der britischer Staatsbürger geworden war.1075 Beide Banken mischten sich massiv in die Politik ein; die Nationalbank etwa gab unter anderem Páez einen Kredit von 110 000 Pesos.1076 Die Bank musste – ich greife etwas vor – 1849 geschlossen werden; einen zweiten Versuch britisch-europäischer Investitionen im Finanzsektor gab es mit dem Banco de Londres y Venezuela, Ltd. (1865-1867). 1837 entstand als erstes größeres Technologieprojekt die Schifffahrtslinie Línea D Roja, gegründet durch den Briten John Boulton und die Nordamerikaner John und Henry C. Dallett, die regelmäßig zwischen Philadelphia und New York 1073 Ebd., S. 72f. Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela ..., passim. 1075 Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S. 33-89, hier S. 73. Zu Wolff siehe auch Walter, „Die Banken“, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1850-1870) ..., S. 88-90, hier S. 89, FN 40. Ohne nähere Informationen über Herkunft; die besten Informationen gibt: Banko, El capital comercial ..., S. 634-638. 1076 Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela …, S. 25. 1074 Michael Zeuske/Venezuela Seite 413 13.05.2016 sowie den venezolanischen Häfen La Guaira, Puerto Cabello und Maracaibo verkehrte und Zwischenstation in Saint Thomas und Curaçao machte; seit 1846 benutzte die Linie auch Dampfschiffe.1077 Eines der größten Probleme Venezuelas als Exportland - die Nichtexistenz eines nationalen Schiffbaus und einer nationalen Handelsmarine - konnte damit nicht gelöst werden. Die Rolle des maritimen Transports übernahmen fast immer ausländische Kapitäne und Kaufleute, die dann, wie die Wappäus oder Blohm, auch eine wichtige Rolle im Schiffbau ihrer Heimatstädte spielten.1078 Aber nach Venezuela gekommen waren sie alle wegen des Kaffees und wegen der Kolonialprodukte. Unter Páez’ erster Präsidentschaft bildeten sich drei oppositionelle Gruppen, die zum Teil Politikfelder belegten, die früher Páez mit seinen wechselnden zentralistischen Monarchisten-Föderalisten-Separatisten-Koalitionen abgedeckt hatte: Erstens die demócratas (Lander, Rivas Galindo, Rufino González, Pelgrón, Manuel Quintero und andere intelectuales), gesammelt um die Zeitung El Hércules; zweitens die Bolivarianos, Freunde und Verwandte des toten Befreiers: Fernando Bolívar, Pedro Briceño Méndez, Justo Briceño, Perú de la Croix, Andrés und Diego Ibarra, Dr. Reverend; die Bolivarianer strebten bis 1835 die Wiederherstellung Großkolumbiens an. Drittens die lokalen Militares - General Mariño1079, hinter dem Pedro Carujo de Fäden zog, und der wiederum Beziehungen zu José Tadeo Monagas hatte, der allerdings wegen seines bewaffneten Widerstandes gegen die Verfassung von Valencia anfangs der dreißiger Jahre nicht gern gesehen war und deshalb Regionalpolitik in seinem Feudum Aragua de Barcelona betrieb. Die Militares, Antipaecisten und AntiCaracas-Leute sammelten sich um die Zeitung El Republicano (Redakteur: Pedro Carujo).1080 Die Bolivarianos, die ja ebenfalls Militärs waren, vereinigten sich bald mit den Militares, d.h., mit der Gruppierung, der pikanterweise auch Pedro Carujo 1077 Seiler, Otto J., Südamerika Fahrt. Deutsche Linienschiffahrt nach den Ländern Lateinamerikas, der Karibik und der Westküste Nordamerikas im Wandel der Zeiten, Herford, 1992. 1078 Matos Romero, El problema de la navegación venezolana y la economía nacional, Maracaibo: Tipografía El País, 1938. 1079 Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957. 1080 Díaz Sánchez, Guzmán …, Bd. I, S. 156f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 414 13.05.2016 angehört, bekannt als asesino de Bolívar (Mörder Bolívars), denn er hatte beim Attentat im September 1828 Bolívar mit dem Dolch nur knapp verfehlt1081; von Carujo sagte selbst ein Miguel Peña: „ese hombre, cuyo nombre no pronuncio por temor de equivocarme [dieser Mann, dessen Namen ich nicht ausspreche aus Angst, mich zu versprechen (wegen des Klangs von Carujo=Carajo – M.Z.)]“.1082 Die Gruppierung aus lokalen Militares und Bolivarianos revoltierte in der so genannten Revolución de las Reformas gegen das neue Venezuela und schrieb zum Teil die Wiederherstellung Großkolumbiens auf ihr Panier. Andrés Ibarra setzte zusammen mit zwölf weiteren Bolivarianos am 8. Juli 1825 Jose María Vargas als Präsident ab. Der Grund allerdings waren Konflikte der militärische Anführer untereinander, die den Vorrang in der informellen Kandidatur, wer „oberster Chef“ sein sollte, auskämpften; ganz im Hintergrund brodelten noch immer die Eifersüchteleien und Konflikte der Mantuano-Elite aus dem Caracas der Kolonialzeit.1083 Die Gegner von Páez betonten ihren Bolivarianismus, der sie nichts kostete, aber populär war, weil sie und die hinter ihnen stehenden lokalen Oligarchien sich duch den „demokratischen“ Wahlsieg des konservativen Dr. José María Vargas zurückgesetzt fühlten. Mit dem Mantuano und ehemaligen Rektor der Universidad de Caracas wollte die durch das Páez-Regime wieder erstarkte Mantuano-Oligarchie von Caracas wieder direkt die politische Macht durch einen Zivilisten aus ihren Reihen ausüben lassen. Die Restauration der MantuanoOrdnung kam nicht zustande. Militärische Konflikten in vielen Regionen des Landes brachen aus – Motto: „Bolívar hätte es nicht gewollt“. Sowohl in Maracaibo, wie auch im Osten und in Caracas/Valencia selbst kamen separatistische Bewegungen auf, die sich unter der Forderung „Großkolumbien wiederherstellen“, tarnten. An der Revolución nahmen viele überlebenden Generale und Bolivarianos teil: Diego und Andrés Ibarra, Justo Briceño, Pedro Uslar Pietri, Juan, Historia Política de Venezuela …, S. 121ff. Carujo entging 1828 der Todesstrafe nur, weil er seine Mitverschwörer, u.a. Santander, verriet. 1082 Peru de Lacroix, Diario ..., S. 7 (Einleitung von Cornelio Hispano). 1083 Parra-Pérez, Mariño y las Guerras Civiles, Bd. I: La Revolución de Reformas, Madrid 1958, in: Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957. 1081 Michael Zeuske/Venezuela Seite 415 13.05.2016 Briceño Méndez, Santiago Mariño, die Monagas, der Pardo-General José Laurencio Silva, Ehemann von Bolívars Nichte Felicia Bolívar. Vargas ernannte Páez noch schnell zum Jefe del Ejército Constitucional (Chef eines „konstitutionellen Heeres“ – das Páez unter Llaneros und Peones erst noch zusammenbringen musste). Dann wurde Vargas zusammen mit seinem Vizepräsidenten Dr. Andrés Narvarte abgesetzt und in die Emigration nach Saint Thomas gezwungen. Páez nutzte seine Einflüsse unter Llaneros und Militärs, aber auch durch sein Geschick sowie seine Beziehungen zu den rebellierenden Generalen und brachte die Rebellion zu einem friedlichen Abschluß. Die Macht wurde - von Páez! - dem legitimen Präsidenten zurückgegeben. Páez profilierte sich als Hüter der Verfassung. Vargas aber verzichtete 1836 auf sein Amt. Als „Vizepräsident, der mit der Präsidentschaft beauftragt ist“ beschloß der Militär Carlos Soublette, der Kandidat von Páez 1834 gewesen war, die Präsidentschaftsperiode bis 1839. Wir erkennen das Allianz- und Wahlmodell von Oligarchie und Páez eigentlich ein informelles Kandidatenaufstellungssystem der Oligarchien. Im Januar dieses Jahres übergab Soublette das Präsidentenamt dem 1838 für die Periode 1839-1843 gewählten Páez. Im Januar 1843 wechselten sich beide Kandidaten wieder ab: Soublette übernahm die Präsidentschaft für die Jahre bis Anfang 1847.1084 Für die nächste Präsidentschaft hatte Páez zunächst Rafael Urdaneta vorgesehen. Der war aber 1845 während einer Reise nach Paris gestorben. Páez wollte keine dritte Amtszeit antreten. Deshalb unterstützte er die Kandidatur von General José Tadeo Monagas. Dieser übernahm die Macht faktisch als „Geschöpf von Páez“ im Rahmen des informellen Machtsystems. Dann begann Monagas aber, den Staatsdienst von Paecisten zu befreien und jagte schließlich nach einem inszenierten Riot (Straßenkrawalle) im Januar 1848 auch den Kongreß auseinander. 1084 Arellano Moreno, Antonio, Breve historia de Venezuela 1492-1958, Caracas: 1974, S. 235-245, 255-286. Michael Zeuske/Venezuela Seite 416 13.05.2016 Der oligarchische Páez-Staat wurde, schaut man sich die territorialen Stützpunkte der Revolutionäre an, vor allem von den territorialen Flanken, von Maracaibo (Campesinos) und von Cumaná (Mariño) her angriffen. Nach der Niederschlagung und Befriedung der Reformrevolutionäre und nach verschiedenen Krisen, die auf der Basis der allgemein instabilen Situation (Sozialbanditismus und Bauernrebellionen) immer gefährlich wurden, konzentrierten sich die Anti-Paéz-Gruppierungen auf neue Caudillos, die Brüder Monagas, die ebenfalls noch vom Mythos des militärischen Protagonismus zehren konnten. Aus der ersten der Gruppen, den liberalen Demócratas formierten sich unter Abspaltung verschiedener Gruppen zwischen 1838 und 1840 zunächst vor allem die Liberalen um Antonio Leocadio Guzmán und Tomás Lander. Aus den Constitucionalistas oder Paecistas, die sich in gewissem Sinne als Wirtschaftsliberale und vor allem als Freihändler verstanden, ging die Parteiung der Godos oder Oligarcas hervor, vor allem wegen der Feindschaft zu Bolívar und dem Versuch, die alte Ordnung zu konservieren sowie Verbindungen nach Europa zu halten. Die Oligarcas waren seit 1830 offiziell an der Macht; sie formierten sich seit der zweiten Hälfte der 1830er Jahre zu Konservativen (conservadores); die frühe Parteilandschaft Venezuelas entstand. Die unbestrittene Symbolfigur im der System der Oligarcas oder Conservadores war Páez, die Figur im Hintergrund nach dem Tode von Miguel Peña (1833), Dr. Angel Quintero; Páez’ „böser Engel“ nach liberaler Diktion. Das Motto der Konservativen lautete: Constitución, Paz y Orden; die Parteiung hatte keine organisierte Struktur, sondern stützte sich auf den Staatsapparat (hohe Funktionäre sozusagen Parteichefs, die Gouverneure halten das System in der Breite und dann bei Wahlen Kampf um Posten der Alkalden und Präfekten); sozial auf die aufgestiegene Kaufmannschaft (canastilleros) sowie ein Teil der alten Mantuano-Oligarchie (Francisco Rodríguez del Toro); bis Anfang 1848 faktisch Regierungspartei – alles schärfste Bolívargegner. Michael Zeuske/Venezuela Seite 417 13.05.2016 Zu Propagandisten einer inneren Marktwirtschaft und des Fortschritts in Bildung und Mechanik wurden die Liberalen, indem sie Ideen der Aufklärung und der Revolution vom freien Individuum auf die Situation nach 1830 anwandten. Die Liberalen, die sich erst einmal in Abgrenzung zur Erhaltung des Status Quo im Innern mit Hilfe eines Wirtschaftsliberalismus von außen seitens der Regierung als solche definieren mußten, stammten vorrangig aus zivilen Kreisen, die die Kämpfe nicht selbst mitgemacht hatten sowie oft aus freimaurerischen Geheimorganisationen und waren militant antiklerikal. Ihre Traditionslinie leiten sie von der 1810 oder Anfang 1811 gegründeten ersten Sociedad Patriótica her. Doktrinär waren sie über die Gruppierung des Engländers und Bentham-Schülers Francis Hall und seine Zeitung El Anglo-Colombiano sowie Tomás Lander und der Zeitung El Argos von Antonio Leocadio Guzmán1085 der fixen Idee der inneren landwirtschaftlichen und handwerklichen Entwicklung verhaftet und recht pragmatisch. Sie betrachteten allerdings Bauern, Volksreligiosität, traditionelle Landwirtschaft (Subsistenz), Neger und Eingeborene, also die übergroße Masse aller Venezolanerinnen und Venezolaner, als Auswüchse von „Barbarei“ (barbarie), die damit wiederum eine Reservearmee für die Konservativen abgaben, die die alten gewachsenen Strukturen - vor allem die der Kirche und politischen Herrschaft der alten Mantuano-Oligarchien, der Godos, die sie begünstigten - erhalten wollten. In der Sklavenfrage allerdings trafen sich Konservative, Kirche und Liberale (jedenfalls die meisten). Genau wegen dieser Haltung zur Sklavenfrage und zum Kern der Produktionsbeziehungen, denen auf dem Lande, konnte sich in Venezuela ein innerer Kapitalismus, etwa im Handwerk, nur sehr rudimentär entwickeln. Kapitalismus drang in Venezuela vor allem über europäische Kaufleute ein, die zunächst auch relativ wenig Eigenkapital hatten, aber aufgrund der billigen Arbeit der Sklaven und Peones bei einigem Geschick schnell Gewinne machten. Es kam zu einer Ausweitung des Latifundismus, kaum zu einer Modernisierung.Nur manchmal investierten sie 1085 Bushnell, The Santander Regime ..., S. 290f. Michael Zeuske/Venezuela Seite 418 13.05.2016 Kapital in Form von Krediten für die technische Modernisierung der Haciendas, ansonsten führte der Handelskapitalismus zu einer Ausweitung und Intensivierung der alten Abhängigkeiten in Form von Sklaverei und Peonaje. Allgemein waren die Investitionsbedingungen für diese Art von Konservierung der kolonialen Strukturen durch die Páez-Reformen und das Gesetz von 1834 sehr verbessert worden. Auch der Haciendas der Liberalen empfingen Kredite, mit denen sie die (geringen) Fixkosten für Sklaven sowie abhängige Bauern, Werkzeug, Erfindungen, Verbrauchsgütern und Technologie aus den europäischen monarchischen Ländern finanzierten. Die ruralen Produktionsbeziehungen, bei denen auch die Liberalen weiterhin Sklaverei präferierten, griff dieser Kapitalismus nicht an, ganz im Gegenteil, er konservierte sie. Früher hatten spanische Kaufleute, der Staat (über Situados) oder die Kirche den Hacendados Kredite gegeben. Der imperiale Staat und die spanischen Kaufleute waren nun weg; die Kirche durch die Kriege verarmt oder durch den Staat enteignet. Die Ländereien waren zu Vorzugspreisen an Oligarchie und hohe Staatsbeamte vergeben worden. Also konnten nur ausländische Kaufleute Kredite geben. Die Masse der Gewinne, die ausländische Kaufleute und Unternehmer in Venezuela machten, wurden allerdings nicht im Lande investiert – sonst hätte Venezuela zwischen 1830 und 1847 nicht einen Bargeldabfluss von etwa 100 Millionen Pesos zu verzeichnen gehabt. 1086 Massierte ausländische Investitionen, die im Lande getätigt wurden, konzentrierten sich zeitlich auf zwei Perioden (1824 bis 1836 und 1870 bis 1890) und generell auf drei Sektoren: Bergbau, öffentliche Versorgung (Wasserversorgung, Hafenanlagen) und Transport (Flussschifffahrt und, später, Eisenbahnen).1087 Bei beiden Versuchen der Einbindung in die atlantische Globalisierung gewannen traditionelle Großgrundbesitzereliten und Militärs, die der Regierung nahe standen, vor allem aber auch mit ihnen 1086 Walter, Venezuela und Deutschland (1820-1870) ..., S. 86. Carl, George E., First among equals: Great Britain and Venezuela. 1810-1910, Syracuse: Syracuse University Microfilms International, 1980; Daly Gimón, Carlos Eduardo, Capital extranjero en economías independientes, Caracas: Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1988; Harwich Vallenilla, Las inversiones extranjeras en Venezuela: siglo XIX, Caracas: Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1992. 1087 Michael Zeuske/Venezuela Seite 419 13.05.2016 verbundene ausländische Kaufleute, und das Land stürzte danach in Bürgerkriege und Diktaturen.1088 In der Konjunkturdelle 1838 kam genau wegen dieses formellen, äußeren Kapitalismus, die andere, zivile, Parteiung der libe