Von Bolívar zu Chávez

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Michael Zeuske/Venezuela
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13.05.2016
publicado: Zeuske, Michael, Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich:
Rotpunktverlag, 2008 (620 S., mit zahlreichen Karten; ISBN 3-85869-313-8) [From Bolívar
to Chávez. The History of Venezuela/ De Bolívar á Chávez. La historia de Venezuela].
Für Elfriede Zeuske, 1925-2006
Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas
Michael Zeuske
EINLEITUNG
3
MENSCHENJAGD AN DER PARIAKÜSTE, KAKAO UND RINDER – DIE GESCHICHTE EINER
KOLONIALEN PERIPHERIE (1500-1750)
21
DIE INDIO-VÖLKER VENEZUELAS
21
KLEIN-VENEDIG
46
LOS BELZARES: SCHWABEN, SCHWEIZER UND EIN PAAR SACHSEN KOMMEN
58
TERRITORIEN, PROVINZEN UND HÄFEN
68
STÄDTE UND RÄUME
89
RINDER, PFERDE UND LLANOS
109
BURIA, COCOROTE, AROA UND ARAYA: FRÜHER BERGBAU UND SALZ
114
REPARTIMIENTO, ENCOMIENDA, SKLAVEREI UND ZWANGSARBEIT IN VENEZUELA
118
KREOLISIERUNG, ATLANTIK UND CIMARRONAJE
140
KAKAO, ZUCKER UND TABAK
146
DIE KRONE MAG SCHMUGGEL NICHT LEIDEN: BOURBONISCHE REFORMEN (1750-1800) UND
IMPERIALE NATION
158
REFORMEN IN AMERIKA UND VENEZUELA
158
KASTENORDNUNG, INFORMELLE HERRSCHAFT, GRENZKRIEGE UND REVOLUTION
191
ALEXANDER VON HUMBOLDT IM KOLONIALEN VENEZUELA, 1799-1800
226
MYTHOS INDEPENDENCIA: FRANCISCO DE MIRANDA, SIMÓN BOLÍVAR UND DER KAMPF FÜR
EINE NATION MIT DEM VORNAMEN VENEZUELA (1800-1859)
226
DER ZUSAMMENBRUCH DES IMPERIUMS UND DIE AUTONOMIE VENEZUELAS
226
LLANEROS UND UNABHÄNGIGKEIT
280
DER KONGREß VON ANGOSTURA, DIE ANDENÜBERQUERUNG UND DIE GRÜNDUNG GROßKOLUMBIENS
293
ELITEN, SKLAVEREI UND LAND: DAS DEPARTEMENT VENEZUELA IN GROß-KOLUMBIEN
309
DIE BEGRÜNDUNG DES INFORMELLEN MACHTSYSTEMS DER REPUBLIK
333
DIE ZERSTÖRUNG DES BOLIVARIANISCHEN PROJEKTS UND DIE ENDGÜLTIGE GRÜNDUNG
VENEZUELAS
342
DER FALL PÁEZ
360
DIE LETZTE DIKTATUR BOLÍVARS
383
PÁEZ UND DER “GOBIERNO DELIBERATIVO”
388
EIN EXKURS: VENEZUELA, DIE ATLANTISCHE WELT UND EUROPA
434
DAS TURBULENTE JAHRZEHNT DER MONAGAS (1848-1858)
459
LLANEROS, LIBERALE UND FEDERALES
481
CAUDILLOS, CAMPESINOS UND DIE GUERRA FEDERAL (1859-1870)
494
DEM NEUEN VENEZUELA BRICHT DAS ZENTRUM WEG
494
EZEQUIEL ZAMORA UND DAS ARGUMENT DER SOZIALREVOLUTION
503
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DER AUFGEKLÄRTE AUTOKRAT GUZMÁN BLANCO, DIE LETZTEN CAUDILLOS UND DIE
ENTSTEHUNG DES MODERNEN VENEZUELA (1870-1908)
522
VENEZUELA WIRD ZUR FAST-KOLONIE DER DRITTEN GLOBALISIERUNG
537
DIE „CARACAISIERUNG“ VENEZUELAS
547
„WEIßE“ IMMIGRATION, INFRASTRUKTUR- UND EISENBAHNPOLITIK
559
FASZINATION BÜRGERKRIEG, SEZESSIONEN, DIKTATUR UND „ORDNUNG“ AM ENDE DES 19.
JAHRHUNDERTS
579
CIPRIANO CASTRO, DIE BLOCKADE VENEZUELAS 1902 UND DIE FESTIGUNG DER ANDINOS 585
EIN LIBERALER CAUDILLO, DER DIE CAUDILLOS BESIEGT – DIE LANGE HERRSCHAFT DES
JUAN VICENTE GÓMEZ (1908-1935)
593
FÜNF VENEZUELAS (UM 1900)
593
CASTRO GEHT, GÓMEZ KOMMT
604
PETROLEUM STATT KAFFEE, RINDER UND MAIS
626
ERDÖLSTAAT, PUTSCHE, TECHNOKRATEN UND DER VERSUCH, DEMOKRATIE ZU KAUFEN
(1936-1989)
646
DIE ANDINEN MILITÄRS UND DIE MODERNISIERUNG (1936-1945)
646
ZIVILISTEN UND MILITÄRS UND DAS PROBLEM DER LEGITIMITÄT (1945-1948)
673
DIE QUASIDIKTATUR DES MARCOS PEREZ JIMENEZ (1948-1958)
681
DER PUNTOFIJO-PAKT (OKTOBER 1958)
700
RÓMULO BETANCOURT, DAS MYTHOS VOM „VATER DER VENEZOLANISCHEN DEMOKRATIE“
UND DIE AD (1959-1969).
706
GUANÁBANA-POLITIK UND ‘4.30 ÄRA’ (1969-1989)
718
ZUSAMMENBRUCH, VOLKSREBELLION UND PUTSCHE : DER ABGANG DER ALTEN ELITEN
UND DER KAMPF UM DIE NEUE HEGEMONIE (1989-1998)
733
CAP II: KRISE, MASSAKER UND ABSETZUNG IM SCHATTEN DER WELTGESCHICHTE (1989-1994)
733
DER NEUNTE PUTSCH
743
STABILISIERUNGSVERSUCHE UND NIEDERLAGE DER ALTEN ELITEN (1994-1998)
746
HUGO CHÁVEZ FRÍAS
749
DIE BOLIVARIANISCHE REPUBLIK (1999-2008)
787
DIE ANFÄNGE DES CHAVISMO AN DER MACHT (1999-2002)
805
KONTERREVOLUTION MIT PUTSCH, ABER OHNE REVOLUTION (2002-2004)
823
DIE GEGENWART DER GESCHICHTE (2005-2007)
857
3D – DIE PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IM DEZEMBER 2006 UND DIE NEUE HEGEMONIE
881
BRÜCKENBAUEN, SKILIFTE ALS MASSENVERKEHRSMITTEL UND SCHOTTISCHER WHISKY
FÜR ALLE - KONSOLIDIERUNG DES CHAVISMUS (SEIT 2007)
887
ANHANG
898
QUELLEN
898
LITERATUR
899
ANHANG (NICHT PUBLIZIERT IN AUSGABE 2008; GESAMMELT 2007-2013)
904
DOKUMENTE
904
WIDERSPRUCH/021: CHÁVISMO UND PARTIZIPATORISCHEN DEMOKRATIE IN VENEZUELA 906
ENDE
915
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Einleitung
„Es war eine liebliche, Sternhelle Nacht, in der wir unsere Reise antraten. Der Mond war noch nicht
aufgegangen, aber der Nebel des Schützen goß eine milde Lichtmasse in die dunkelblauen Lüfte.
Unaussprechlich ist die Anmuth einer Tropennacht“1
Venezuela ist in aller Munde.2 Und in vielen Bildern. In
deutschsprachigen Medien überwiegen Erklärungen aus dem Fundus der
Populismus-Theorien. 40 Jahre lang gehörte die Erdöl- und PetrodollarDemokratie Venezuela, 1955 bis 1980 das reichste Land Lateinamerikas, zu den
„stabilen Demokratien“ des Subkontinents (von denen es zwischen 1964 und
1980 nicht sehr viele gab). Die Eliten Venezuelas entwickelten sogar ein
kontinentweites politisch-theoretisches Modell der Verteidigung und Promotion
der repräsentativen Demokratie (Betancourt-Doktrin). Venezuela ist aber auch
ein Beispiel dafür, wie neue Eliten und traditionelle Oligarchien vor dem
Hintergrund ungelöster kolonialer Problemeà la longue repräsentative
„Demokratie“ gestalten, Modernisierung und „Nation“ predigen, aber sich im
Grunde kontinuierlich aus sozialer Verantwortung und allgemeineren Aufgaben
(Armut, Bildung, Gesundheit, Sicherheit) verabschieden und in Realität
Klientelismus einer Generationskohorte („Generation von 1928“) zum
Machterhalt pflegen. Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse eines
1
Alexander von Humboldt am 18. November 1799 bei der Abreise von Cumaná, siehe: Humboldt, Alexander von,
„Von Cumaná nach Caracas“ (18.-21.11. 1799), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den
amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur
Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 164-172, hier S. 168 (Originalorthographie).
2
Die besten Publikationen in Deutsch sind: Burchardt, Hans-Jürgen, „Die bolivarianische Revolution in Venezuela:
Alternative zum Neoliberalismus?“, in: Burchardt, Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart:
Schmetterling Verlag GmbH, 2004, S. 193-221; Sevilla, Rafael; Boeckh, Andreas (eds.), Venezuela. Die
Bolivarische Republik, Tübingen: Horlemann Verlag, 2005; Diehl, Oliver; Muno, Wolfgang (eds.), Venezuela
unter Chávez – Aufbruch oder Niedergang?, Frankfurt am Main: Vervuert Verlag, 2005 (unterschätzt Mainz nicht);
Zelik, Raul; Bitter, Sabine; Weber, Helmut, Made in Venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“, Berlin:
Assoziation A, ²2005; Azzelini, Dario, Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts?, Köln: Neuer ISP
Verlag, Juni 2006; in Bezug auf die französische Historiographie will ich hier nur auf zwei synthetische Arbeiten
verweisen: Humbert, Jules, Los orígenes venezolanos (Ensayo sobre la colonización española en Venezuela.
Traducción Casas, Feliciana; corrección y revisión Francia, Claudine, Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1976 (Biblioteca de la Agademia Nacional de la Historia; 127) (Erstausgabe: Bordeaux: Feret & fils, 1905) sowie:
Langue, Frédérique, Histoire du Venezuela. De la conquête à nos jours, Paris: L’Harmattan, 1999 (Collection
Horizons Amériques Latines); international gibt es eine wahre Flut der Venezuela-Literatur, siehe vor allem:
Coronil, Fernando, The Magic State. Nature, Money, and Modernity in Venezuela, Chicago and London: The
University of Chicago Press, 1997 sowie: Ellner, Steve; Hellinger, Daniel (eds.), Venezuelan Politics in the Chávez
Era. Class, Polarization & Conflict, Boulder; London: Lynne Rienner Publishers, 2004; Wilpert, Gregory,
Changing Venezuela by Taking Power. The History and Politics of the Chávez Government, London; New York:
Verso, 2007.
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bestimmten Typs können auch „brechen“ und abbrechen, wenn nicht immer
wieder im Rahmen des Sozialen justiert wird. Venezuela ist ein Exempel dafür,
dass fortgesetzte Modernisierung unter Globalisierungsbedingungen nicht mit
viel oder sogar sehr viel Geld zu schaffen ist; und dass das ganze Konzept der
„westlichen Modernisierung“ in ehemaligen Kolonialgebieten fraglich war und
ist; ebenso wie seine Erweiterung in der einseitigen Kapital- und
Handelsglobalisierung. 1983 kam der Staatsbankrott; 1989 eine spontane
Volkserhebung gegen Teuerung sowie Sozialabbau und 1992 Rebellionen von
Truppen-Offizieren gegen die alten politischen Klassen unter einem comandante
rebelde namens Hugo Chávez Frías. Chávez wurde nach der Niederlage der
Rebellion - schon während seiner Gefängnishaft - zum Medienstar. Er scheute
sich nicht, im Trash-Fernsehen der Telenovelas, Ratesendungen und
Schönheitskonkurrenzen aufzutreten. Über das populäre Medium schien er der
Parteienverdrossenheit des Volkes aus dem Munde zu sprechen. Seit 1999 ist
dieser als „Linkspopulist“ definierte Hugo Chávez Frías (geb. 1954) Präsident
des wegen der hohen Erdölpreise immer noch sehr reichen Landes. Er hat bisher
große Streiks, mehrere Putsche und ein großes Amtenthebungsreferendum sowie
neun Wahlen auf nationaler Ebene (erfolgreich) überstanden und dem Land
einen neuen Namen, einen Stern mehr auf der Nationalflagge, eine neue
Verfassung, neues politisches Personal und eine ganze Latte modernster Sozialund Armutsprogramme verschafft. Und eine martialische Rhetorik – auch
international. Im Grunde wurde unter Chávez die Souveränität der Nation erst
einmal wieder hergestellt – vor allem in die Tiefe (Mobilisierung der
marginalisierten Bevölkerung), nach außen und im Nachvollzug grundlegender
Vorstellungen Bolívars (zum Beispiel über lateinamerikanische Integration); im
Kern durch die Verweigerung des Kompromisses zwischen Chávez und den
alten Eliten sowie Übernahme der Extraktionsmaschine (heute Öl). Solange
irgendwie eine Realität anerkannt wird, muss jedes neue Programm aber mit den
„alten“ Menschen und den vorher geschaffenen bürokratischen Strukturen
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(sowie den sozio-strukturellen Strukturen) umgehen, in dem Sinne, dass die
Mehrheit der Venezolaner im Wahlalter ihre Sozialisierung im „alten System“
erfahren hat und die Apparate nicht eben sehr effizient arbeiten und nach
Jahrzehnten der Korruption wohl auch noch ziemlich korrupt sind. Die
„Freiheit“ der Medien schafft zudem andauernd Gespenster.
Seit Ende 2004 hat sich die Lage etwas beruhigt. Aber das Land bleibt tief
polarisiert, etwa 60% der Bevölkerung sind bedingungslose „Chavistas“ und ca.
40% sind ebenso bedingungslos „Anti-Chavistas“, ohne dass es wirklich eine
Opposition (und schon gar keinen Oppositionsführer oder ein Programm) gäbe.
Opposition bedeutet in Venezuela heute: gegen Chávez sein. Das ist ein
bisschen wenig. Es gibt viel Unmut und zwischen den beiden Gruppen
existieren keine gemeinsame Erinnerung, kaum eine gemeinsame Geschichte
und fast keine gemeinsame Sprache. Gemeinsame Territorien gibt es schon gar
nicht, da auch die Städte, vor allem Caracas nach der politischen Geographie
von Chavistas und Antichavistas segmentiert sind.Die Unentschiedenheit der
Situation und die fast vollständige Freiheit aller Medien und der Meinungen
führen dazu, dass überall Gespenster beschworen werden. Auf Seiten der
Chavistas ist außer Sozialprogrammen, Rhetorik und der Wiederherstellung der
Kontrolle des Staates über einige Staatsfirmen noch nicht viel passiert – aber
Venezuela hat schon den Versuch einer Konterrevolution vor der Revolution
erlebt.Nach knapp einem Dutzend Wahlen, einem Putsch, einem
Absetzungsreferendum und einem Generalstreik in sieben Jahren, die Chávez
alle gewonnen beziehungsweise überstanden hat, dürfte sich die neue Macht an
der Spitze des Staates etabliert haben. Innerhalb der beiden Lager, vielleicht
eher sogar noch im Lager der Chavistas, finden sehr kleinflächige Prozesse
sozialer Organisation statt, die sich bisher allen Parteien verweigern, zum Teil
auch dem Patriarchalismus der Regierung (und des Regierungschefs). Das ist
das Ambiente großer historischer Wandlungsprozesse; für Antiglobalisierer (das
sind Menschen, die gegen eine nahezu ausschließliche Globalisierung von
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Kapital, Technologien und Dienstleistungen, manchmal aber für eine
Globalisierung der Menschen sind) und ein Teil der traditionellen Linken ist
Venezuela die Option für die Zukunft. Der historische Raum Venezuela und die
Nation mit dem Vornamen Venezuela haben allerdings mit exotischen
Sehnsuchtsprojekten europäischer Linker wenig zu tun.3 Folgerichtig zeichnen
sich alle jetzt schnell geschriebenen Arbeiten neben vielen Positiva vor allem
durch ein Manko aus, das man an einem Detail fest machen kann – keines der
Bücher und Pamphlete greift auf eine Karte Venezuelas zurück – die Utopie hat
also, wie immer, keinen richtigen Ort. Im Venezuela des Hugo Chávez sind es
vor allem Arme, Marginalisierte, Bewohner von Barrios, arme Campesinos,
Soldaten, junge Menschen ohne Arbeit und im Allgemeinen Unterschichten
ohne Kenntnisse internationaler Szenerien, die den proceso („Prozeß“ als
Synonym für die von Chávez gepredigte Veränderung des Gesellschaft)
unterstützen. Im Lande sind durch neue Geschäfte mit den Sozialprogrammen
neue mittelständische Gruppen und Managertypen entstanden, die die Zukunft in
einem rhetorisch linken, aber marktwirtschaftlichen, Venezuela sehen. Nicht
einmal internationale Banken, IWF und im Grunde auch die USA (trotz
gelegentlichen Säbelrasselns von Bush Jr.) können wirklich etwas gegen die
„Fünfte Republik“ Venezuelas (seit 2000 eine „Bolivarianische Republik“, im
Gegensatz zur „Vierten Republik“ bis 2000) haben, denn Chávez hält alle
Verpflichtungen peinlich genau ein. Das größte innere Problem besteht wohl,
wegen der Polarisierung, im Staatszerfall, dem normalen Chaos und
Konsumismus sowie sich ausbreitender Kriminalität. Diese Probleme könnten
wirklich dazu führen, dass ein bis jetzt vor allem rhetorisch radikaler Präsident
wirklich die Macht mit allen Mitteln einer populistischen Diktatur übernehmen
muss.
Meschkat, Klaus, “Wie halten wir es mit Hugo Chávez?“, in: Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, ed.
Gabbert, Karin et al., Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005, S. 62-73 (=Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und
Berichte 29).
3
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Große Wandlungsprozesse verlangen nach historischen Erklärungen.
Beginnen muss eine solche Erklärung mit der Feststellung, dass Venezuela
schon immer Peripherie war und immer unterschätzt worden ist. Bis 1870
bestand „Venezuela“ im Wesentlichen aus sieben bis acht atlantischen
Dependancen, genannt Städte, an den Küsten riesiger kontinentaler
Hinterländer. Die lokalen Eliten dieser Städte kämpften mit Eliten des
atlantischen Raumes um die Vorherrschaft über die Möglichkeit, die
Naturressourcen der Küstentäler, Savannen, Urwälder und Flussregionen
auszubeuten. 1498 bei der „Entdeckung“ durch Kolumbus, wurde die „Tierra
Firme“ (Festland im Gegensatz zu den Insel, die die Spanier bis dahin besetzten)
zunächst mit dem „irdischen Paradies“ verwechselt, weil der Genuese den
großen Fluss an der Paria-Küste (Orinoco) für einen der Flüsse Edens hielt.
Dann fanden sich Perlenbänke in der Nähe der Isla Margarita (heute sozusagen
das „Mallorca“ Venezuelas) und die Küste in der Nähe des heutigen Maracaibo
wurde wegen der Pfahlbauten der Indios4 „kleine Venezia“ (veneciuela)
genannt. Die Indios, die man auf den karibischen Inseln als Sklaven zum
Goldgraben oder als Perlentaucher brauchte, wurden zu Tausenden aus ihren
Dörfern von Küsten, Flussufern und Inseln des heutigen Venezuelas
verschleppt. Damit bildeten sich Grundstrukturen, die Venezuela in der
Kolonialzeit (1498-1821), im 19. Jahrhundert und im Grunde bis zur Diktatur
von Juan Vicente Gómez Chacón (1908-1935) prägten. Die
Unabhängigkeitskriege 1811-1826 und der kontinentale Protagonismus der
liberalen Unabhängigkeitskämpfer um Simón Bolívar konnte diese Strukturen
nicht aufbrechen. Venezuelas Eliten wandten sich gegen Bolívar; das Land
versank, von kurzen Aufschwungphasen abgesehen, zwischen 1830 und 1936 in
Caudillokriegen, Rebellionen und Diktaturen – so als wolle es Hegels Diktum
„Indio“ (Inder) geht auf den Glauben Kolumbus’ zurück, in Indien gelandet zu sein: Indio und Indianer ist also ein
generischer kolonialer Begriff, der heute als Schimpfwort für bäuerliche Bevölkerungen empfunden wird. Politisch
korrekter (aber genauso konstruiert) wird heute eher indígena (Eingeborener) benutzt. Ich benutze aus
Sprachökonomie, weil es im Deutschen noch üblich ist und weil kein anderer genereller und generischer Begriff zur
Verfügung steht, Indio, Indianer und Indígena.
4
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von den Sternbildern der Anarchie in Lateinamerika in besonders knalligen
Farben verbildlichen. Seit 1921 wurde Venezuela zu einem der weltweit
wichtigsten Erdölexporteure; seit 1959 wurde es im Grunde als „Modell“ gegen
Kuba ausgebaut, trotz oder gerade weil sich beide Länder sehr ähneln und die
Bevölkerungen ihre Länder für karibische Schwestern halten.
Venezuela besteht aus einem relativ schmalen tropischen Küstenstreifen
im Norden, hinter dem Andenkordilleren die Täler zwischen Caracas und
Valencia sowie die Orinokoebenen wie eine Festung gegen die Karibik
abgrenzen. Das Land verfügt über einen der größten Süsswasserseen der Welt
und wird durch mehr als 1000 Flüsse entwässert, darunter dem Apure, dem
Caroní und dem Orinoko. Der Orinoko wiederum bildet die Grenze zu den
Guayanas, einer Wasser-Urwald-Welt, ein eigenständiges Territorium, das die
Orinoquía mit der Amazonía verbindet [ Übersichtskarte5].
An den Küstenstreifen und in den Küstentälern entstand seit dem 16.
Jahrhundert eine Kolonialgesellschaft aus 6-8 größeren Städten, die im Grunde
unverbunden an den Ufern des karibischen Meeres aufgereiht waren. Die in
Nord-Südrichtung schwer passierbaren Anden sicherten mit drei bis vier Städten
in Ost-Westtälern die Verbindung in das Vizekönigreich Neu Granada (Nuevo
Reino de Granada, heute etwa Kolumbien), dessen koloniales Zentrum Bogotá
rund 1000 km von Caracas entfernt liegt. Der Einfluss der Vizekönige in den
Provinzen des heutigen Venezuela war dementsprechend sehr gering. 1777
wurde eine Generalkapitanie zum Schutz gegen Engländer und karibische
Piratenüberfälle in Caracas gegründet. Sie sollte zum historischen
Schwerkraftzentrum der Entwicklung des Landes werden, obwohl die
nebeneinander an den karibischen Küsten entstandenen Provinzen Maracaibo,
Coro und Cumaná sowie das Hinterland der Llanos und Guayana immer ein
beträchtliches Eigenleben führten. Caracas stand dabei immer in Konkurrenz
gegen das Handelszentrum Maracaibo im Westen und Cumaná im Osten. Die
5
Rubio Recio, José Manuel, El Orinoco y los llanos, Madrid: Ediciones Anaya, 1988 (Biblioteca Iberoamericana),
S. 14-15.
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Eliten des Landes kämpften zwischen 1850 und 1870 unter den Fahnenworten
„Zentralismus versus Förderalismus“ in blutigen Caudillokriegen quasi um die
Kontrolle des Zentrums Caracas (oder die Separation eines der großen Zentren,
wie Maracaibo), das zum bürokratischen Schnittpunkt zwischen interner
Monopolproduktion (Kakao, Häute, Vieh, Fleisch, Kaffee oder – später Erdöl)
geworden war. Zwischen 1880 und 1902 drohte Venezuela zu einem „Kongo
Deutschlands“ zu werden. Eine diktatorische Einigung des Landes kam durch
die Repression der Elitenkonflikte unter Cipriano Castro und Juan Vicente
Gómez zustande – das Land versank für knapp vierzig Jahre in Friedhofsruhe.
Hinter den Küsten und den Anden liegt die Flusswelt des Orinoco,
inmitten einer der paradigmatischen Grassebenen Amerikas (wie Prärien und
Pampas), den Llanos – von Alexander von Humboldt in seinem Essai historique
über die Äquinoktialgegenden der Neuen Welt verewigt (unter anderem auch in
dem paradigmatischen Artikel „Über Steppen und Wüsten“, der beweist, dass
Humboldt eigentlich schon wie im Computerzeitalter mit Haupttext, Links und
Hyperlinks gearbeitet hat; 16 Seiten Haupttext und 112 Seiten Anmerkungen).6
Seit Humboldt waren Venezuela, Deutschland, die Schweiz und Österreich in
der Globalisierungsdebatte verbunden. In den Llanos sammelten sich seit der
Conquista gigantische Herden von wilden Rindern, Maultieren und Pferden. Aus
geflüchteten Indio-Völkern, geflohenen Sklaven und iberischen Abenteurern
oder Verbrechern entstand hier eine koloniale Frontier-Gesellschaft der
mestizisierten Llaneros (Bewohner der Llanos), die immer in starken
Spannungen zum kolonialen Norden stand (Chávez stammt aus den Llanos und
ist Mestize). Südlich hinter dem Orinoco beginnt das Urwald- und Bergland
Guayanas, voller Indígenavölker, Bodenschätze, Savannen und gigantischer
Berge (Tepuis) sowie großer Ströme und kleiner Flüsse. Ein Randgebiet der
Amazonía, in dem nicht nur die Yanomamis leben. Da weder Spanien noch
6
Humboldt, Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des
Autors, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus
Enzensberger), S. 13-168.
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Portugal dieses Territorium zwischen Amazonas- und Orinocomündungen je
kontrollieren konnten, hielt sich mit englischer, portugiesisch-brasilianischer
und niederländischer Hilfe (und Waffen) bis in das 18. Jahrhundert im Osten ein
Reich der Kariben-Indianer (Caribana). Die Kariben gingen Allianzen mit
anderen Kolonialmächten ein, woraus sich bis um 1700 die fünf Guayanas
Venezuelas, Englands, Hollands, Frankreichs und Brasiliens bildeten7 – und aus
der Cimarrón-Grenze später die heute noch umstrittene Reklamationszone
Venezuelas. Bis weit in das 18. Jahrhundert „exportierte“ der Osten Venezuelas
Sklaven für Surinam und die Antillen. Im westlichsten Guayana, einem
zwischen England (Guiana) und Venezuela umstrittenen Gebiet, wurde im 19.
Jahrhundert im Essequibogebiet Gold gefunden, bestätigt von den Forschungen
Robert Herrmann Schomburgks (Freyburg 1804-1865).8 Es kam zu einer neuen
Runde von Territorialstreitigkeiten, die im Grunde bis heute anhalten.
Die Konflikte, die aus diesen Strukturen und Interessenlagen ergaben,
prägten die Kolonialzeit, wobei wichtig ist, dass die Eliten der peripheren
Provinzen Venezuelas auf Grundlage indianischer Erfahrungen eine eigene
Monopolexportwirtschaft, die des Kakaos, schufen, die vom Schmuggel in die
Karibik und nach Mexiko lebte und von der Krone erst durch regelrechte
Wirtschaftskriege und königliche Monopolgesellschaften zwischen 1730 und
1750 unter Kontrolle gebracht werden konnte. Seit dem existierte unter den
Eliten Venezuelas ein sehr starkes antizentralistisches Bewusstsein. Aber
seitdem existiert auch die Hispanic extractive engine (grob: die hispanische
Extraktionsmaschine, John V. Lombardi) in Venezuela, die auf billiger
7
Williamson, James A. English colonies in Guiana and on the Amazon (1604-1668), Oxford: Clarendon Press,
1923; Goslinga, Cornelis Ch., The Dutch in the Caribbean and on the Wild Coast (1580-1680), Gainesville:
University of Florida Press, 1971; Goslinga, The Dutch in the Caribbean and in the Guianas, 1680-1791, Assen:
Van Gorcum, 1985; Goslinga, The Dutch in the Caribbean and in Surinam, 1791/5-1942, Assen: Van Gorcum,
1990; zusammengefasst für das Amazonasgebiet in: Chambouleyron, Rafael, “Plantações, sesmarias e vilas. Uma
reflexão sobre a ocupação da Amazônia seiscentista”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 6 - 2006, mis en
ligne le 14 mai 2006 (18. Oktober 2006), unter: http://nuevomundo.revues.org/document2260.html.
8
Robert Hermann Schomburgk’s Reisen in Guiana und am Orinoko während der Jahre 1835-1839. Nach seinen
Berichten und Mittheilungen an die geographische Gesellschaft in London herausgegeben von O.A. Schomburgk.
Mit einem Vorwort von Alexander von Humboldt und dessen Abhandlung über einige wichtige astronomische
Positionen Guiana’s, Leipzig: Verlag von G. Wigand, 1841; Williams, Eric, „The Historical Background of British
Guiana’s Problems“, in: The Journal of Negro History Vol. 30:4 (October 1945), S. 357-381.
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Produktion im Innern und Export eines Monopolproduktes sowie Export- und
Importabgaben (Renten) beruht, aus der sich die Eliten (vor allem die
Staatseliten und Kaufleuteeliten) bedienen und - wenn die Geschäfte gut laufen unter politischen Druck etwas an die breitere Gesellschaft abgeben. Aus der
kolonialen Logik der Extraktionsmaschine entwickelte sich - das ebenso
koloniale - Bewusstsein, dass „die Natur“ in Venezuela Reichtum produziere,
der Wohlstand für alle ohne große Anstrengungen schaffen könne, wenn nur der
„richtige“ Anführer die „richtige“ Verteilung bewerkstelligte. Bewusstsein John
V. Lombardi, einer profundesten Kenner Venezuelas und der venezolanischen
Geschichte, hält diese Extraktionsmaschine (Kakao, Kaffee, Häute,
Trockenfleisch, später auch Medizinalpflanzen, Gold und Öl) für den
wichtigsten lang wirkenden und strukturellen Zwang (constraint) unter all den
Zwängen, die Wechsel und Fortschritt in Venezuela begrenzen.9
Die Küsteneliten suchten neue Gewinnmöglichkeiten und fanden sie im
Export (meist als Schmuggel) von Tabak, Vieh, Talg, Häuten und Fleisch.
Allerdings brachte sie die wirtschaftliche Expansion nach Süden in schwere
Konflikte mit den freien Llaneros, die auch die riesigen Viehherden als „frei“
betrachteten und ihre Subsistenz mit ihnen verbanden, während die Eliten sie
durch Markierung (marca, hierra) und Rodeos in Privateigentum umzuwandeln
versuchte. Küsteneliten und Llaneros führten im Grunde einen mehr als 100jährigen Krieg (1760-1900), der sich einpasst in eine gigantische „Chronik der
angekündigten Gewalt“. Einer der Höhepunkte dieses Konflikts, zugleich ein
antikolonialer Krieg der Eliten gegen das spanische Offiziere und loyale
Kreolen, war der Unabhängigkeitskrieg gegen das spanische Imperium (18111821). Im Laufe dieses Krieges gelang es dem Angehörigen der kreolischen
Kolonialelite, Simón Bolívar (1783-1830) durch Charisma und Geschick, einen
Teil der Llaneros unter José Antonio Páez auf die Seite der „Patrioten“ zu
ziehen, die es sich zum Programm gemacht hatten, in Venezuela einen
Lombardi, John V., „Prologue: Venezuela’s Permanent Dilemma“, in: Ellner; Hellinger (eds.), Venezuelan
Politics …, S. 1-6.
9
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eigenständigen Staat nach den Maßgaben der Moderne zu gründen. Ein anderer
Angehöriger der Elite von Caracas, Francisco de Miranda (1750-1816),
versuchte sein Glück als Offizier in Spanien und Europa. Er floh von dort wegen
Anklagen der Inquisition und reiste von 1783 bis 1789 durch den gesamten
damaligen „Westen“ (USA, England, Frankreich, Holland, Heiliges Römisches
Reich, Schweiz, Italien, Griechenland, Konstantinopel bis in das Russland
Katharinas II.). Seine Tagebücher stellen im Grunde einen recht utopischen
Staats-Schnittmusterbogen der aufziehenden Moderne aus der Sicht dieser
kolonialen Elite dar. Mehr oder weniger parallel dazu konstruierte Alexander
von Humboldt eine neue Weltsicht: vor allem am Beispiel Venezuelas, aber
auch Mexikos und Kubas entwickelte er nach seiner Amerika-Reise (17991804) eine neues Bild Amerikas für Europa.10 Ab 1810 versuchte Francisco de
Miranda, der „erste Kreole von Weltbedeutung“, zugleich eine Art früher
Berufsrevolutionär, seine Erfahrungen als Offizier der französischen
Revolutionsarmeen in Venezuela umzusetzen. Miranda fand aber nicht die
Armeen, die ihm vorschwebten, sondern musste sich mit Elite-Kolonialmilizen,
aufständischen Sklaven und wilden Llanero-Reitern herumschlagen. Sein
Konzept einer „französischen Revolution“ in Venezuela scheiterte grandios.11
Erst die amerikanischen Utopien eines Simón Bolívar brachten urbane Kreolen,
freie Farbige, Indiobauern und ehemalige Sklaven auf die Seite der Patrioten;
einige von ihnen waren sogar bereit, sich als „Kolumbianer“ zu fühlen. Von
1821 bis 1830 gehörten die Provinzen Venezuelas zu einem aus den Utopien
Bolívars und seiner engsten Vertrauten geborenen Großstaat an – Kolumbien
Paradigmatisch steht dafür Humboldts Relation historique; genau übersetzt ein „historischer Bericht“ über
Venezuela, siehe: Humboldt; Bonpland, Aimé Goujaud, Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du
Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804 par A. de Humboldt et A. Bonpland, réd. par A.
de Humboldt, 3 Bde., Paris: (Bd. I) Schoell, 1814 -1817; Paris: (Bd. II) Maze 1819 -1822; Paris: (Bd. III) Smith et
Gide fils 1825 (in Wirklichkeit 1831); die beste deutsche Ausgabe ist: Humboldt, Reise in die ÄquinoktialGegenden des Neuen Kontinents, ed. Ottmar Ette, 2 Bde., Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 1991 (2.
Auflage 1999). Noch viel spannender als die publizierten Schriften sind die Reisetagebücher Humboldts. Das
Tagebuch über den Aufenthalt in Venezuela ist: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den
amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur
Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12).
11
Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas. Eine Biographie, Hamburg/Münster: LIT Verlag
1995; Zeuske, Francisco de Miranda y la modernidad en América, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Secretaría de
Cooperación Iberoaméricana, 2004 (Viejos documentos, Nuevas lecturas; Velhos Documentos, Novas Leituras).
10
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(Colombia), das unter Historikern, um es vom heutigen Kolumbien (das damals
el Nuevo Reino de Granada hieß) zu unterscheiden, „Groß“-Kolumbien (la gran
Colombia) genannt wird. Aus diesen Ereignisse und ihrer Mythologisierung
speisst sich bis heute Glaube venezolanischen Eliten an den Exzeptionalismus
ihrer eigenen Kultur und an der Möglichkeit, einen Staat nach europäischem
Vorbild in Amerika zu schaffen. Erst 1830 gelang es den Resten der
konservativen Elite von Caracas (und einigen Mitkämpfern Bolívars), ihr altes
Einflussgebiet, jetzt als „Republik Venezuela“ vom „Groß“-Kolumbien Bolívars
abzuspalten. Dieser Verrat der Oligarchien am Befreier (Libertador) Bolívar ist
heute noch Teil des Bolívarmythos, wenn Chávez seine Übergriffe auf die alten
politischen Klassen mit dem Kampf gegen die „Oligarcas“ legitimiert. Die
politischen Führer der zukünftigen „Vierten Republik“ mussten sich dazu des
Anführes der Llanero-Truppen, José Antonio Páez, bedienen, der von 1830 bis
1848 Präsident und starker Mann einer oligarchischen Republik war, einem
Staat, der vorwiegend aus autonomen Inseln der Herrschaft von Caudillos und
Hacendados (Großgrundbesitzer) bestand. Die hispanische Extraktionsmaschine
(jetzt mit Kaffee und Vieh im Zentrum) wurde wieder hergestellt, zunächst unter
Bewahrung der Sklaverei und unter Abweisung jedes Versuchs einer
Agrarreform. Eine nationale Armee entstand nicht, aber fast jeder große
Landbesitzer konnte eine eigene Miliz bewaffnen und wurde damit zum Akteur
der Politik. Von 1858 bis 1870 brach diese Ansammlung von inselartigen
Städten mit Hinterländern, die Provinzen hiessen, mit einer eurokreolischen
Staatsutopie im Zentrum unter eben der Last dieser Utopie, aber auch unter
handfesten Landkonflikten, Auslandsverschuldung, Monowirtschaften, sozialen
Problemen der mehrheitlich ruralen Bevölkerung, Elitenkonflikten
(Föderalisten-Zentralisten oder „Blaue gegen Gelbe“, von Friedrich Gerstäcker
literarisch verarbeitet12) um die Kontrolle des Zentrums Caracas in mehreren
kleinen Kriegen und einem großen Konflikt (guerra larga =Föderationskrieg
12
Gerstäcker, Friedrich, Die Blauen und die Gelben. Venezolanisches Charakterbild aus der letzten Revolution von
1868, Jena: Hermann Costenoble, 1870.
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1859-1863) fast zusammen. Erst einem föderalen Politiker, Antonio Guzmán
Blanco, gelang durch die Besetzung des Zentrums, bei gleichzeitiger
Beibehaltung des föderalen Diskurses und einer über Schulden (vor allem bei
Deutschland) finanzierten Modernisierung vor allem durch Eisenbahnbau, der
Beginn einer neuen Etappe. Um die Jahrhundertwende allerdings erschütterten
wieder Bürgerkriege und Konflikte um ausländische Interventionen (u.a. das
Deutsche Reich zusammen mit Großbritannien und Italien, 1902) das Land –
nicht zuletzt hervorgerufen durch die massive Auslandsverschuldung (oft bei
deutschen Firmen) aufgrund des Eisenbahnbaus.
So wurde eine bäuerliche Diktatur, die einer der vielen Caudillos 1908
etablierte (und damit die alten Strukturen wieder stabilisierte), zunächst von fast
allen als Ende der blutigen Bürgerkriege gefeiert. Laureano Vallenilla Lanz sen.
(Barcelona, 11. Oktober 1870 – Paris, 16. November 1936), einer der großen
Soziologen und Historiker Lateinamerikas, entwickelte sogar die Theorien eines
„demokratischen Caesarentums“ (cesarimo democrático) und des „notwendigen
Gendarmen“ wegen der Schwäche der demokratischen Institutitonen in
Venezuela.13 Unter Juan Vicente Gómez, weniger Charismatiker und mehr
Militär, aber auch Militär, wie heute Chávez (für den die Jahre 1908-1935 zu
den erfolgreicheren Jahren Venezuelas zählen), wurde Venezuela der wichtigste
Erdölexporteur der Welt, zahlte all seine Schulden zurück und erhielt eine
moderne Infrastruktur – allerdings nur in der Küstenzone und in den
Andengebieten. Die Extraktionsmaschine warf in guten Zeiten soviel Rente ab,
dass die Gesellschaft dauerhaft auf einen Modernisierungspfad einzuschwenken
schien. Die Frage war bis 1958 nur (und ab 1998 wieder) – sollen Militärs den
Staat beherrschen oder konnte Venezuela aus den Geldern der
Extraktionsmaschine auch eine moderne politische Kultur sowie Institutionen
(und die dazu gehörigen Bildungseinrichtungen) entwickeln und finanzieren.
Gigantische Großprojekte wurden konzipiert und zum Teil gebaut: größtes
13
Valenilla Lanz, Laureano. Cesarismo democrático y otros textos; prólogo, notas, cronología y bibliografía de
Nikita Harwich Vallenilla, Caracas, Venezuela : Biblioteca Ayachucho, 1991.
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Wasserkaftwerk (Gurí), längste frei tragende Brücke (Brücke über den
Maracaibosee), höchste Seilbahn (Mérida), höchstes und modernstes Hotel
(Hotel Humboldt auf dem Monte Ávila), größte bewohnte Hochhäuser
(Residencia Hilton an der Plaza Venezuela), größte Aluhütte, etc. Diese
Megalomanie war aber nicht nur Ausdruck des „Venezuela-única“-Denkens,
sondern auch ein Resultat der weit verbreiteten Korruption. Wenn schon keine
flächendeckenden wirklichen Sozialprogramme, etwa im Wohnungsbau,
umgesetzt wurden weil die Mittel versickerten, musste wenigstens ein mit Pomp
eingeweihtes Prestigeobjekt als Beweis dafür her, dass die Mittel für „das
Modernste“ ausgegeben worden seien. Eine Mittelklasse entstand, Tochter der
Erdölrente, in der unter anderem die gesellschaftliche Utopie gepflegt wurde,
Venezuela könne sich mit Erdölgeld, Schönheitskonkurrenzen und Juzpe
faktisch in die Moderne der „ersten Welt“ einkaufen. Die Llanos, Guayana und
Süden des Landes blieben nun zu einer Art innerer Kolonie. Dort schlummerten
ungeahnte Rohstoffe und Ressourcen. Venezuela wurde wieder zu einem
Einwanderungsland („achte kanarische Insel“, Korsika, Azoren, Madeira,
Portugal, Italien). Zwischen 1960 und 1970 stampfte Venezuela ein mächtiges,
hochorganisiertes und weitreichendes System von Massenparteien und
demokratischen Wahlen aus dem Boden, dessen schneller Erfolg die starke
Repression, die bei seiner Etablierung aufgewandet wurde, zumindest für äußere
Beobachter weit gehend verdeckte. Das System wies kaum Parallelen in ganz
Lateinamerika auf.14 Die sozialen Utopien konzentrierten sich in den Städten –
auch wenn uns heute die Architektur eines Carlos R. Villanueva, etwa an der
Plaza Venezuela, als Albtraum in Beton erscheinen mag. In der
Extraktionsmaschine war (und ist) Korruption sozusagen eine zusätzlicher
Motor. Zusammen mit neuen Entdeckungseuphorien und wirtschaftlicher
Expansion zerstörten Modernisierungsutopien und korrupte Eliten endgültig die
selbsttragende Landwirtschaft sowie nach und nach auch die sozialen
14
3.
Levine, Daniel H., Conflict and Political Change in Venezuela, New Jersey: Princeton University Press, 1973, S.
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Errungenschaften des Landes. Die Eliten machten seit 1978 Politik nach dem
Motto „Augen zu und durch“, denn eine Reihe neuer Bodenschätze (Aluminium,
Stahl, weitere Erdölfelder) zeigten, dass unter der Oberfläche des Landes noch
gigantische Reichtümer für die Ausweitung der Extraktionsmaschine
schlummerten – der Bolívar, die Landeswährung, schien stabil. Er wurde aber
wegen des Ressourcenreichtums (und der Spekulationen darüber) im Ausland
immer überbewertet. Venezuela gelang es aber außer im Erdöl- und
Ressourcenextraktionsbereich nicht, eine eigene industrielle Basis aufzubauen.
Die Strukturen der alten Extraktionsmaschine waren zu stark. Mit dem
Versprechen der Beteiligung an den Gewinnen der ausländischen Erölfirmen
(vor allem Shell und Rockefeller) kam eine Art sozialdemokratischer Bewegung
unter Rómulo Gallegos (Caracas, 02. August 1884 – 07. April 1969) und
Rómulo Betancourt (Guatire, 22. Februar 1908 – 28. September 1981, New
York) 1945 gegen die Generalsnachfolger von Juan Vicente Gómez zur Macht –
durch einen Militärputsch linker Offiziere. Einem dieser Offiziere, Marcos Pérez
Jiménez, gelang es in alter Caudillomanier, 1952 die ganze Macht an sich zu
reißen und eine neuerliche Modernisierungsdiktatur zu etablieren. Als er im
Februar 1958 gestürzt worden war, schlossen die wichtigsten Parteien (vor allem
die eher sozialdemokratische AD – Acción Democrática – und die
christdemokratische COPEI sowie eine kleinere Partei URD – Unión
Republicana-Democrática) den sogenannten Pakt von Puntofijo. Die
unterzeichnenden Parteien verpflichteten sich, den demokratischen Wahlprozess
(und vor allem seine Ergebnisse) zu respektieren, Kommunisten sowie linke Sozis
auszuschliessen und keine „hegemonische“ Position einzunehmen (das bedeutet
vor allem: nicht die eigenen Mitglieder und Anhänger zu – eventuell bewaffneten
– Protesten gegen die Ergebnisse einer Wahl aufzurufen). Nach und nach
entwickelte sich aus dem unpublizierten Pakt ein informelles Regierungssystem
der „nationalen Einheit“ – es wurden auch andere soziale und institutionelle
Akteure, wie die Unternehmer (Fedecámaras, gegründet 1944), die Arbeiter
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(Confederación de los Trabajadores Venezolanos, CTV, 1935), die Streitkräfte
und die Kirche einbezogen. Eine wirkliche Opposition allerdings gab es nie. Das
war die Grundlage für die „Demokratie“ in Venezuela, die sich vor allem auf Basis
der Rohstoffe und der 1975 verstaatlichten Erdölwirtschaft, sprich den modernen
und zwischen 1970 und 1980 modernisierten Formen der Extraktionsmaschine,
ständigen Geldsegens erfreute. Anfangs der fünfziger Jahre, als Hugo Chávez
geboren wurde, hatte Venezuela etwa 5 Millionen Einwohner; 1964 lag die Zahl
der Einwohner bei 7 Millionen und 8 Milliarden Dollar Einnahmen aus
Erdölexporten – die Modernisierung der Betonburgen und Wolkenkratzer, Autos
und Autobahnen, Bettenburgen und Maximärkte verwandelte die großen Städte –
und machte sie immer mehr zum Ziel der inneren (Bauern) und äußeren Migration
(vor allem aus Kolumbien, Brasilien, atlantische Inseln und aus der Karibik). Die
Bevölkerung des Landes verdrei- bis vervierfachte sich von 1960 bis 2000 (heute
etwa 28 Millionen, davon ca. 10% inoffizielle Immigranten vor allem aus
Kolumbien). Zwischen 1959 und 1983 versuchte sich Venezuela mit
Erdölgeldern Modernität und Demokratie quasi zu kaufen. Trotz oder gerade
wegen des Reichtums wuchsen die Barrios (Elendsviertel) in den Großstädten, die
in einzelne schwerbewachte urbanizaciones der Wohlhabenderen und riesige
Barrios der Armen zerfielen (so entstand und wächst bis heute der Albtraum der
gated communities). Die venezolanischen Eliten kauften mit dem starken Bolívar
im Ausland, nicht nur Luxusgüter und Immobilien, sondern auch Bildung und
Gesundheit (sowie im Innern Vertreter für den Armeedienst ihrer Söhne), so dass
die gespaltete Gesellschaft der „zwei Venezuelas“ niemals abgeschafft wurde (das
Bildungssystem für die Unterschichten war katastrophal), sondern sich unter der
Decke von „Demokratie“ und „Wirtschaftsboom“ eigentlich erst richtig
ausbreitete und ein „drittes und viertes Venezuela“ – das der afrovenezolanischen
Landbevölkerung und der Mestizenbauern so weit verdeckte, dass nur noch
wenige Anthropologen und Ethnographen es überhaupt zur Kenntnis nahmen.
Rassismus galt als abgeschafft; in Wirklichkeit florierte die Exklusion umso
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besser.15 Ähnliches gilt für das „fünfte“ Venezuela der Indígenavölker und –
stämme. Daneben existiert ein mythisches Venezuela der Llanos und der Llaneros,
die ähnlich wie Gauchos oder Cowboys in den Plains Nordamerikas Basis der
Nationallegende des Rebellen wurde – das kann jeder nachvollziehen, wenn er
sich fragt, warum Präsident Chávez bei vielen Auftritten singt.
In Abwandlung eines großen Wortes könnte man – wenn man von der
modischen Kulturalisierung ethnischer Unterschiede einmal absieht – sagen: das
„unterentwickelte“ Land Lateinamerikas zeigt dem entwickelten Land Europas die
Zukunft in der Globalisierung.
Zwischen 1958 und 1988 wechselten sich die beiden großen Parteien
COPEI und AD an der Macht ab. Dieses System und die hohen Staatseinnahmen
brachten eine nach außen relativ stabiles, aber im Innern tief zerfressenes System
der institutionalisierten Korruption, des Personalismus und des Wahlpopulismus
hervor, in dem man versuchte, alles mit Geld zu regeln - auch Produktionsfragen
und politische Probleme. Ein neuer Akt des alte Dramas der venezolanischen
Geschichte begann: die Eliten waren kosmopolitisch und fühlten sich den Eliten
des Nordens zugehörig und zum Teil weit überlegen; außerhalb der großen Städte
im Innern ihres Landes aber herrschten Chaos, Ignoranz, Regionalismus, Gewalt
und bitterste Armut – keinerlei Grundkonsens (ein völlig überdrehter
positivistischer Nationalismus und eine ebenso überdrehter Bolívarkult sollten
diesen Konsens ersetzen). Dabei blieben nachhaltige Entwicklungen ausgespart,
weder wurde ein einheitliches nationales Bildungswesen geschaffen, noch eine
starke mittelständische oder gar industrielle Basis, die das Geld im Lande halten
konnte – im Gegenteil, die Staats-und Wirtschaftseliten nahmen gigantische
Schulden auf zukünftige Gewinne des Erdölexports auf und reichten einen Teil der
Gelder als Kredite an Dritte weiter - um international als Kreditgeber zu glänzen.
Für die Bevölkerung wurde im Umfeld des Bildungswesen auf sehr niedrigem
15
Pollak-Eltz, Angelina, La familia negra en Venezuela, Caracas: Monte Ávila, 1976; Chacón, Alfredo,
Poblaciones y culturas negras en Venezuela, Caracas: Instituto Autónomo Biblioteca Nacional de Venezuela, 1983;
Montañez, Ligia, El racismo oculto en una sociedad no racista, Caracas: Fondo Editorial Tropykos, 1993.
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Niveau eine Art Ersatzreligion geschaffen – der Bolívarkult (der sich fast
unauflöslich mit einer Art venezolanischer Santería verwoben hat – dem María
Lionza-Kult: eine arme Indianerin mit magischen Käften ist die Himmelskönigin
María, zu ihrem „Hof“ gehören eine ganze Reihe von „Heiligen“, u.a. ein stark
mestizisierter General Bolívar, all dies findet sich in auf Altären in vielen
Privathäusern; institutionalisierte Kirche ist eine Angelegenheit des weißen
Oberschichten, seit 1980 verbreitet sich der María-Lionza-Kult allerdings auch
unter den Oberschichten16).
Dazu kamen zwei Besonderheiten der politischen Kultur Venezuelas – die
Armee wird seit den Tagen des Unabhängigkeitskrieges von Unterschichten vor
allem von farbigen Llaneros und Afromestizen gestellt. In den fünfziger Jahren
sowie 1962-1969 wurde zusätzlich eine Reihe von linken Guerillaführern (die
nach kubanischen Vorbild und mit kubanischer Unterstützung die karibische
Schwesternation zur Revolution führen wollten) in das Offizierskorps
aufgenommen. In der Führung der Streitkräfte hielt sich immer eine linke, zum
Teil populistische, zum Teil orthodox marxistische Gruppierung von erheblichem
Einfluss (vor allem im Heer). Die Utopien dieser Gruppe verbinden sich mit einem
eschatologischen Glauben unter einfachen Venezolanern, dass das Land so reich
sei, dass alle Menschen ohne viel Arbeit in Wohlstand leben könnten und dass
dieser Wohlstand für alle seit dem Verrat der venezolanischen Oligarchien an
Simón Bolívar immer nur von den Oberschichten oder den Aufsteigern aus den
Reihen der Caudillos verhindert worden sei.
Alle traditionellen Parteien und alle Politiker in Venezuela galten spätestens
1985 als vollständig korrupt. In der repräsentativen Demokratie repräsentierten die
die Spitzenpolitiker schließlich niemanden mehr – außer sich selbst. Das erlaubte
es Chávez, nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis 1994 in einem
16
Pollak-Eltz, María Lionza: mito y culto venezolano, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1985; PollakEltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, in: Anales del Caribe:
Centro de Estudios del Caribe 19-20, La Habana (1999-2000), S. 187-191; Antolínez, Gilberto, Los ciclos de los
dioses, San Felipe: Ediciones La Oruga Luminosa, 1995; Bracho, Edmundo, María Lionza en Venezuela, Caracas:
Fundación Bigott, 2004.
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Antiparteienwahlkampf 1998 haushoch zu gewinnen. Dabei wurde er von den
Medien, die normalerweise in vielen Kanälen Casting-Shows für
Schönheitskonkurrenzen zeigen oder Ratesendungen für Unterschichten in seinem
postlateinischen Charisma unterstützt. Es heißt, dass Chávez der erste hohe
Politiker in Venezuela ist, dem, wenn es in den Spiegel schaut, der „normale“
Venezolaner einer transrassialen Mischung aus Indio, Schwarzem und Spanier
entgegenschaut.
Obwohl vorliegendes Buch den Namen einer Nation im Titel hat, werde ich
natürlich nicht den Fehler machen, eine Nationalgeschichte zu schreiben.
Sicherlich müssen sich auch Historiker an den politischen Vorgaben heutiger
Staaten – Grenzen und Staatsbürgerschaft, Gesetze etc., politische Kultur zum
Beispiel – orientieren (und ihre Entstehung und Wirkung aufzeigen), aber sie
müssen sich nicht auf nationale Mythen einlassen oder die Scheuklappen des
Konzepts der Nation für die wahre Geschichte halten. Insofern ist diese nicht
nationale Geschichte Venezuelas auch eine karibische Geschichte (deren
Einzugsgebiet von der Mosquitoküste über Panamá und die kolumbianische Costa
atlántica bis zu den Guayanas und zur Amazonasmündung im heutigen Brasilien
reicht, die Antillen und Bahamas eingeschlossen), eine oder mehrere atlantische
Geschichten (atlantischer Sklavenhandel und europäischer Handel, Seekriege,
kalter Krieg), eine andine Geschichte (bis in die Hochanden Kolumbiens), eine
Geschichte von Flusswelten und Urwäldern (die Orinoquía bis hin zur
Amazonaswelt) und insgesamt eine Summe südamerikanischer Geschichten eher
als peripher geltender Territorien, die nicht in der Tradition so genannter „Hoch“Kulturen (Azteken, Inkas, Mayas). Die Schicksale der Menschen, die die Seiten
dieses Buches bevölkern, sind Teil der Globalgeschichte und der Geschichte
Lateinamerikas im Rahmen der Weltgeschichte. Eventuell erleben wir ja gerade
einen neuen globalhistorischen Protagonismus dieses Landes. Das wäre eine doch
ziemlich feine Ironie – nach so vielen Jahren des Versuchs der venezolanischen
Eliten, sich in Weltgeschichte und Modernität einzukaufen, kommt ein
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Oberstleutnant der Fallschirmjäger und gibt den einfachen Menschen seines
Landes in ihrer eigenen Sprache Stimme und Stolz – auch auf die tiefere
Geschichte Venezuelas im Rahmen einer neuen Globalgeschichte als Summe
vieler Geschichten. Das wäre schon ein Resultat wirklichen weltgeschichtlichen
Ranges, denn gerade die Unterschichten der Barrios, der Regionen und des flachen
Landes haben die Eliten Venezuelas eigentlich nur ganz selten auf ihren
Rechnungen gehabt.
Menschenjagd an der Pariaküste, Kakao und Rinder – die Geschichte einer
kolonialen Peripherie (1500-1750)
Die Indio-Völker Venezuelas
“La literatura americanista producida por los jesuítas en el siglo XVIII es sencillamente monumental [Die durch
Jesuiten produzierte amerikanistische Literatur im 18. Jahrhundert ist schlicht monumental]“17
Im Gebiet des heutigen Venezuela, zwischen der langen Atlantikfassade
des heutigen Südamerika und dem Fuss der Anden und ihren Hinterländern,
lebten seit Jahrtausenden Menschen. Sie gaben den Landschaften, Küsten,
Flüssen, Wäldern und Bergen, die heute meist als Kolonialterritorien
beschrieben werden, eigene Namen, die oftmals noch in den kolonialen
Landschafts- und Siedlungs- und Gewässernamen enthalten sind. Sie versahen
sie auch mit ihren Symbolen.18 Missionare, vor allem Jesuiten, Kapuziner,
Anthropologen, Historiker und Ethnologen versuchen mit Bezeichnungen wie
Caribana, Guayana, Orinoquía und Amazonía sowie Omagua die
ursprünglichen Bedeutungen der Landschaften für die Indígenas in Begriffe zu
Rey, S.J., José del, “Notas biográficas”, in: Cassani, S.J., P. Joseph, Historia de la Provincia de la Compañía de
Jesús del Nuevo Reyno de Granada en la América. Estudio preliminar y anotaciones al texto por Rey, S.J.,
Academia Nacional de la Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 85), S. IX-XCIX, hier
S. XI. Zu dieser jesuitischen Literatur gehörten auch die wichtigsten Arbeiten über den Orinoko und die Indiovölker
Venezuelas (Gilij, Gumilla), wie auch über die Kontinentalität Amerikas – vielen Siedlern und Conquistadoren viel
es schwer, diese monumentale Kontinentalität Amerikas zu begreifen.
18
Thiemer-Sachse, Ursula; Wolf, Monika, “Die Petroglyphen von Guri, Venezuela”, in: EthnographischArchäologische Zeitschrift (EAZ) 37 (1996), S. 217-236; Thiemer-Sachse, „Petroglifos en rocas de la Cordillera de
la Costa así como en los raudales de los ríos de la selva virgen venezolana. – La interpretación por Alejandro de
Humboldt y observaciones actuales“, in: Humboldt im Netz (HiN): International review for Humboldtian Studies /
Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien / Revista Internacional de Estudios Humboldtianos 6 (IV), S. 2-12.
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giessen, die sich an die alten Worte anlehnen.19 Ob sich auch die Bezeichnung
für die Sprachgruppen, die die meisten heute auch als Kulturgruppen verstehen,
an indianische Begriffe angelehnen, ist umstritten. Jedenfalls werden die
meisten venezolanischen Indígena-Völker den Sprachgruppen der Arahuaca
(aruacos, aruak oder arawak), Caribes (Kariben), Chibcha und Tupí-Guaraní
zugeordnet [4 Karten aus Atlas 1979, Sprachgruppen].
Brian Ferguson, der Yanomami-Forscher, hat darauf hingewiesen, dass im
Tal des Orinoco schon um 2100 v.u.Z. die ersten kleinen Siedlungen mit
Maniocanbau entstanden. Um 800 v.u. Z. kamen Dörfer mit Maisbauern hinzu.
Das Bevölkerungswachstum stabilisierte sich. An einem Nabenarm des Apure
lassen sich seit 550 Anzeichen für Militär- und Herrschaftsstrukturen von
Kaziken nachweisen. Am Nebenarm des Apure begegneten sich Bewohner der
Llanos und Bewohner der Berge. Die Vermischung der Kulturen dauerte etwa
500 Jahre. Als die Spanier um 1530 erschienen, konnten die Kaziken der
befestigten Dörfer bis zu tausend Mann starke Heere aufbieten.20
Unterscheidet man eher Kulturen auf Grund der Nahrungsmittelerzeugung
und Ressourcennutzung, fanden sich zur Kontaktzeit mit Conquistadoren und
Missionaren folgende große Kulturen: Die relativ junge Kultur der Guajiros und
Cocinas (westliche Sammlerinnen und Wildbeuter), Fischer des Maracaibosees
(vor allem Onotos und Bobures), westliche Kariben am Andenfuss, TimotoCuicas der Anden, westlichen Aruak, Ayamanes und Jirajaras, Küstenkariben
(gesamtes zentrales nördliches und östliches Küstengebiet Venezuelas,
einschließlich Araya- und Pariahalbinseln bis zum Pariagolf sowie Orinoko- und
Guayanaregion21; die Hauptvölker und -regionen waren im área cultural „desde
la península de Paria hasta las cercanías del Lago de Valencia“ .22 Diese
„Kariben-Kulturzone“ teilte sich in drei Subzonen auf: die der Caracas,
Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 163.
Ferguson, Brian, „Prähistorische Kriege“, in: Souza, Philip de (ed.), Die Kriege des Altertums. Von Ägypten bis
zum Inkareich, Leipzig: Koehler & Amelang, 2008, S. 15-27, hier S. 23.
21
Biord, Horacio, “El caso de los antiguos kari’ñas”, in: Biord, Horacio, Los aborígenes de la región centro-norte
de Venezuela (1550-1600): una ponderación etnográfica de la obra de José Oviedo y Baños, Caracas: Universidad
Católica Andrés Bello, 2001, S. 136-137; Biord, “Los caribes de la costa”, in: Ebd., S. 138-142.
22
Nach: Acosta Saignes, Los caribes de la costa venezolana, México: Acta Antropológica, 1946, S. 21.
19
20
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zwischen Chuspa und Borburata (Acosta Saignes, 1946, S. 21); die der
Palenques oder Guarinos, im Osten und Süden der Tomuzas und in der Region
des Río Unare (Acosta Saignes, 1946, S. 31) sowie die nordöstliche Küste, vom
Río Unare bis Paria, wo verschiedene Gruppen, unter ihnen Cumanagotos und
Chaimas, lebten (Acosta Saignes, 1946, S. 39); die Sammlerinnen-, Jäger- und
Fischervölker der Llanos centrales sowie Llanos del Maturín, Otomacas
zwischen zentralen Llanos und Orinokoknie sowie die gigantischen
Mischkulturen der Guayanas [Karten].23
Als fremde Menschen vor den Küsten auftauchten, mögen die Indios über
deren Tun zunächst gelächelt oder sich gewundert haben. Sie verhielten sich den
Neulingen keineswegs einheitlich oder nur - wie Koloniallegenden gerne
kolportieren und auch heutige Wissenschaft - archaisch-religiös. Im Gegenteil,
da fast alle Indiovölker an Handel und Austausch sowie Sklavenhandel24
gewöhnt waren, nahmen die ziemlich schnell Verbindungen zu den iberischen
Schiffen und Seeleuten auf. 25 Diejemigen Kaziken oder Anführer, die sich
zuerst mit den fremden Menschen auf den Schiffen verbündeten, hatten zunächst
durchaus Vorteile gegenüber ihren traditionellen Feinden.
Auf dem Gebiet, das heute Venezuela formt, mögen etwa eine halbe
Million Menschen gelebt haben. 26 Es ist auch keineswegs sicher, dass die
Menschen der Gegenden „mit eigenem Namen“, die die Spanier dann NeuAndalusien oder Klein-Venedig nannten, die neuen Fremden für „Götter“
hielten.
Die ersten europäischen Kapitäne und Abenteurer fanden im heutigen
Venezuela eine überwiegend von Aruak und den so genannten Kariben geprägte
Jiménez G., Morella A., “La población prehispánica de Venezuela”, in: Jiménez G., La esclavitud indígena en
Venezuela (siglo XVI), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1986 (Fuentes para la Historia Colonial de
Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, Vol. 185), S. 19-68; Karten: “Áreas de producción
prehispánicas” (Ebd., S. 21) und “Áreas culturales prehispánicas” (Ebd., S. 59).
24
Ebd., S. 67f.
25
Ebd., S. 19-68, hier S. 63f.
26
Caballero, Manuel, „El despoblamiento“, in: Caballero, De la „Pequeña Venecia” a la “Gran Venezuela”. Una
historia de cinco siglos, Caracas, Monte Ávila Editores, 2005, S. 7-9, hier S. 7 (nach Pedro Cunill Grau).
23
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Kultur kleiner Stammesgruppen, Kazikenherrschaften und Völker vor.27 Das
Zentrum der Karibenkultur lag in den Tälern der Caracas-, Aragua- und
Valenciaregion bis hin in die heutigen Staaten Sucre sowie Monágas im Westen
– eine Gegend, die auch heute noch das Zentrum des Landes bildet. Da sie alle
anderen menschlichen Geschöpfe für ihre Feinde hielten, kam es seitens der
Schiffe meist zu Razzien, bei denen die Besatzungen versuchten, Gefangene zu
machen und diese als Sklaven zu verkaufen oder als Matrosen auszubeuten. Die
Karibenkrieger überschütteten die Schiffe mit Pfeilen ihrer gefürcheten
Langbögen, so dass die Spanier ihnen oft den Namen indios flecheros gaben.
Nach ersten Siedlungs- und Missionierungsversuchen der Dominikaner in diesen
Razzien- und Kriegsgebieten unter Las Casas bei Cumaná fegte ein großer
Aufstand der Kariben zunächst die wenigen Europäer aus diesen Zentralgebieten
fort, so dass dort fast nur noch wenige Sklavenjäger operierten und später vor
allem im Osten Feinde der Spanier eindringen konnten (Engländer und
Niederländer). Erst in einer Art Sekundärconquista ab etwa 1560 konnten Söhne
von Spaniern und Indias zusammen mit Missionaren überhaupt Erfolge in der
Eroberung der Zentraltäler und des Westens aufweisen.
Die kriegerischen Kariben hatten eine ältere Gartenbauer-Kultur, die so
genannten aruacos (Aruak) zum Teil verdrängt, zum Teil überlagert. Im
Westen, in den Anden, existierte die Chibcha-Bauernkultur der Timotocuicas. In
den trockenern Gebieten der Kordillerentäler und -hochflächen beruhten diese
Kulturen auf sechs Arten Mais (blanco, negro, rojo, colorado, amarillo und „de
arroz“), dazu Kartoffeln, Quinoa (aus dem Samen wurde ein
Erfrischungsgetränk gegoren), cubios, ibias, chuguas, yuca, arracacha, batatas,
sie aßen auch Hirschfleisch, curí, aves und Fisch, alles mit Salz aus dem Handel
mit Küstenvölkern gewürzt.28 Im regenreichen Osten, in Guayana und im
Orinokogebiet hatte sich die Saison-Überschwemmungskultur der süssen und
Amodio, Emanuele, “Los caníbales mutantes. Etapas de la transformación étnica de los Caribes durante la época
colonial”, in : Boletín Americanista 49, Año IL, Barcelona (1999), S. 9-29.
28
Simón, P., Segunda Parte, 7. Notiz, Kap. XX.
27
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bitteren Yuca (mandioca) entwickelt; aus dem unter tropischen Bedingungen
sehr haltbaren Mehl (mañoco) der sehr ergiebigen Yuca-Pflanzen stellten die
Indios casabe (kassava) her, ein Art großer und auch unter tropisch-feuchten
Bedingungen sehr haltbarer Cracker.29 Aus den Früchten einer Urwaldliane
entwickelten die Indígenas der Amazonía/Orinoquía durch Züchtung eines der
wichtigsten Nahrungsmittel der Welt – die Bohne.
Über die frühesten Spuren menschlicher Siedlungen der so genannten
Paleo-Indios in Südamerika liegen archäologische Spuren seit ca. 13000 vor
unserer Zeitrechnung vor. Die Menschen ernährten sich vor allem von Sammeln
und von der Jagd auf Großwild. Zwischen 10000 und 5000 v.u.Z. änderten sich
die Klimaverhältnisse, viel Eis schmolz ab, der Wasserspiegel der Meere stieg
und es formierten sich etwa die heutigen Küstenkonturen. Die Etappe der MesoIndios begann. Die Indiovölker spezialisierten sich: eine große Gruppe lebten
quasi auf Kanus und überquerte mit Leichtigkeit Meere und Flüsse. Die Indios
befuhren die Küsten der Inseln, des Maracaibosees und des Festlandes sowie die
Urwaldströme; ihre Pfahlbausiedlungen, sozusagen zwischen Wasser und
Küsten, entsprachen genau dieser Siedlungsweise (ähnlich der Lebensweise der
frühmittelalterlichen Sachsen an den Nordseeküsten). Andere Gruppen
spezialisierten sich auf nomadisches Leben in dichten wasserdurchflossenen
Wäldern (omaguas30). Wieder andere gewöhnten sich an das Leben in
Bergregionen (wie die Tairona in der Sierra Nevada des heutigen
Nordostkolumbien). In Venezuela mischten sich verschiedene
Migrationsströme. Die großen Migrations- und Siedlungswellen der
„Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la
Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela, edición y estudio preliminar preparados por Rey, José del, S.J.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 79), S. 21-23.
30
Es handelt sich ursprünglich um den Aruak-Namen (Omagua oder Umaua = “die Kröten“) für eine Karib-Kultur,
die sich selbst wohl Karijona nannten und in der heutigen kolumbianischen Provinz Amazonas, weit im Süden und
fern vom heutigen Venezuela lebten (und die die Leute des Philipp von Hutten 1544 besiegt hatten). Mit dieser
Kultur steht möglicherweise der historische Kern des Amazonen-Mythos in Verbindung. Das scheint mir ein guter
generischer Name für die Wald-Fluss-Kulturen im Umfeld der heutigen Amazonia und Guayanas, siehe: Denzer,
Jörg, „Eine neue archäologische Entdeckung: Die Chiribiquete-Kultur“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger
Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556. Historische Rekonstruktion, Historiographie und Lokale
Erinnerungskultur in Kolumbien und Venezuela, München: C.H. Beck, 2005 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für
Unternehmensgeschichte; Bd. 15), S. 178-180.
29
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verschiedenen Völker, Sprachgruppen, Clans, Häuptlingstümer, Kulturen und
Überlagerungen hatten schon in vorkolumbinischer Zeit zu einem wahren
Flickenteppich von Jäger-, Fischer- und Sammlerinnenkulturen in Venezuela
geführt, ähnlich wie es für die Indianerkulturen Nordamerikas gilt, zumal große
Migrationsbewegungen vorwiegend vom Meer aus die Küsten des Venezuela
erreichten. Andere Migrationen kamen über Flüsse vorwiegend aus den Tiefen
der Urwälder Südamerikas.31 Einige wenige trieben regelmässig Landwirtschaft,
einige kannten saisonalen Gartenbau, andere nur unregelmässige Felder in
Sichtweite ihrer Jagdpfade.32 Grundsätzlich werden zwei große Neo-IndioKulturen, die wohl ältere der Aruak (oder Taínos) und die jüngere der Kariben,
unterschieden, in europäischer Perzeption schon seit Kolumbus (und viele
kleinere Kulturen und so genannte Stämme). Eigentlich handelt es sich um
Sprachgruppen, die sich so, wie es der Begriff suggeriert, nie als eine Kultur
oder „Wir-Gruppe“ begriffen haben, sondern in eine Vielzahl von Gruppen,
Clans, Dörfern und Völkern (naciones) zerfielen.
Die Aruakisch sprechenden Gruppen wanderten 1000-500 v.u.Z. aus dem
Innern der Orinoquia und Amazonia den Orinoco entlang (eventuell auch den
Amazonas), bis sie sein Delta erreichten. Die Aruak waren Erfinder des frühen
südamerikanischen Gartenbaus und Züchter von Getreidegras (Mais, Teosinte),
Giftlianen (Bohnen), Wolfsmilchsgewächsen (Yuca/Manioc)33 und
Nachtschattengewächsen (Tomate, Paprika, Kartoffel), Süßkartoffel/Batate,
Erdnuss sowie alle Sorten der Paprika (ají), wie Chili-Pfeffer34; ihr
Hauptnahrungsmittel waren Mais oder Yuca/Manioc. Möglicherweise gab es
Dyckerhoff, Ursula unter Mitarbeit von Barbara Göbel, “Geschichte der Indianer bis zur Conquista”, in:
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, 3 Bde., ed. Bernecker, Walther L.; Buve, Raymond Th.; Fisher, John R.;
Pietschmann, Horst, Tobler, Hans Werner, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994-1996, Bd. I: Mittel-, Südamerika und die
Karibik bis 1760, ed. Pietschmann unter Mitarbeit von Carmagnani, Marcello, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 101203 (im Folgenden: Handbuch der Geschichte Lateinamerika, Bd.).
32
Jiménez G., “La población prehispánica de Venezuela”, S. 19-68; Reyes Cardero, Juan Manuel, “Modos de vida
y tradición alimentaria en grupos apropiadores ceramistas del Caribe”, in: El Caribe Arqueológico 8, Santiago de
Cuba (2004), S. 39-49.
33
Delgado, Lelia, “Manioc, Basis der traditionellen Wirtschaft”, in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften
aus Venezuela. Die Sammlung Cisneros, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH,
1999, S. 75-77.
34
Storl, Wolf-Dieter; Pfyl, Paul Silas, Bekannte und vergessene Gemüse. Geschichte, Rezepte, Heilkunde,
München; Zürich: Piper, 2006.
31
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auch schon Rituale mit Drogen.35 Über die See breiteten sich die Aruak
zwischen dem ersten Jahrhundert bis ca. 1200 von Venezuela über Trinidad bis
zu den Karibischen Inseln aus, gefolgt von den Kariben, die um 1500 Puerto
Rico und einige Regionen der Dominikanischen Republik erreicht hatten.36
Wo und wann genau die großen Domestikationsleistungen der Erfindung
der spezifischen Wald-, Garten- und Agrikulturen (vor allem auf Mais – aus
Mesoamerika, Verbreitung über die Karibikküsten sowie Yuca/Manioc,
Süßkartoffel/Batate, Kartoffeln aus den Anden, Erdnuss und Chili-Pfeffer aus
dem Amazonasgebieten), des Webens und Töpferns gemacht wurden, ist nicht
genau zu bestimmen. Jedenfalls begann mit dem Saisongartenbau (conucos) und
der nach und nach immer sesshafteren Lebensweise einiger Stämme und Völker
(wie der Aruak) die Phase der Neo-Indios (1000 v.u.Z. bis 1500). Die Kariben
kamen eventuell entlang der Karibikküsten aus Westen oder ebenfalls aus den
Tiefen der Amazonía. Weil sie später kamen, waren sie aggressiver und hatten
eine Kosmologie magischer Anthropophagie37 entwickelt, durchaus auch, um
Schrecken zu verbreiten.
Aruak oder Taíno und Kariben waren Wildbeuter des Waldes und
Gartenbauern der Flussufer. Sie betrieben Brandrodungs- und Hügelbeet-Anbau
vor allem der Yuca (Maniok, Kassava). Sie kultivierten auch andere
Knollenfrüchte (bei Kolumbus Mames oder Niames, Ñame [Boniato]), Mais,
Bohnen, Erdnuss, Boniato, Tabak, verschiedene Pfefferarten (Ajíes) und ernteten
wilde Baumwolle sowie verschienene Früchte (Anón, Mamey, Guayaba,
Ananas, Papaya). In den Anden existierte ein ausgeklügelter Terrassenfeldbau
mit Stauseen. Aus Früchten wie Ananas wie auch aus dem Saft der Yuca wurden
auch schon alkoholische Getränke gewonnen. Gonzalo Fernández de Oviedo,
Kaye, Quetta, „Uso de drogas alucinógenas en rituales del Nuevo Mundo: revisión de evidencias de la
etnohistoria, la antropología y la arqueología”, in: El Caribe Arqueológico 8, Santiago de Cuba (2004), S. 74-85.
36
Sanoja Obediente, Mario; Vargas Arenas, Iraida, Gente de la Canoa. Economía política de la antigua sociedad
apropiadora del noreste de Venezuela, Caracas: Fondo Editorial Tropykos/Comisión Estudios de Postgrado UCV,
1995.
37
Fray Pedro Simón beschreibt eine Anthropophagie-Szene bei einem Kariben-Überfall auf Puerto Rico, siehe:
Simón, fray Pedro, Noticias Historiales de Venezuela, 2 Bde., Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1963
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 66 und 67) (erste Auflage 1627), Bd. I, S. 133-135 sowie, noch
allgemeiner, Bd. II, S. 106-107.
35
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der wichtigste spanische Chronist der Antillenkolonisation, ordnete die
Nahrungspflanzen Amerikas in jeweils einem gesonderten Kapitel seines
Werkes: Mais, Yuca, Aje (Malanga), Batatas (Süßkartoffel), Maní (Erdnuss),
Ají (Paprika), Calabaza (Kürbis), Lirén, Yayama (Ananas), die Oviedo sehr lobt
und der er ein großes Kapitel widmet (die Aruak von Borinquén-Puerto Rico
sollen in vorkolumbinischen Zeiten sogar Ananas exportiert haben). Der Text
listet viele Arten von Bohnen auf, das amerikanische Nahrungsmittel par
excellence. Oviedo nennt sie Fésoles.38 Er listet auch die Medizinalpflanzen und
Fruchtbäume auf, es sind sehr viele. Oviedo bestätigt indirekt den Eindruck des
Kolumbus: wenige Tiere, überquellende Flora. Die Indios kannten eine Menge
dieser Pflanzen; so galten die Piaroas des oberen Oriniko als Fachleute der
Curaregiftherstellung aus einer Pflanze namens curare oder mavacura
(Strychnos guianensis), das auch andere Völker der amerikanischen Flusswelten
als über das Blut wirkendes Pfeilgift benutzten. Humboldt schreibt über Curare:
„Je weiter südlich und östlich, desto stärker der Curare“. 39 Als planzliche
Medikamente waren die cuspa (Cusparia trifoliata) bekannt, auch unter dem
Namen quina (China) aus Neu-Andalusien (ein Malaria- und Fiebermittel); in
Gebirgsregionen auch der Quinabaum (Cinchona officialis). Der rote pflanzliche
Farbstoff onoto (Bixa orellana) fand, mit Fett gemischt, als Hautschutzmittel
und als Kosmetik Verwendung. Als Süßungsmittel wurde das weiße
Fruchtfleisch des wilden Kakaos (Theobroma mariae) benutzt; Tabak und
andere halluzigene Stoffe wurden in religiösen Zeremonien und zur Heilung
benutzt, ebenso wie eine Reihe von Heil-, Abführ- und Purgiermitteln, die den
Europäern wegen ihrer medizischen Haupttheorie, der Säftelehre Galens, oft als
sehr wertvoll galten (wie etwa Röhrenkassie) und deshalb gesuchte
Handelsgüter darstellten.
38
Fernández de Oviedo [y Valdés], Gonzalo, Historia General y natural de las Indias, 5 Bde., edición y estudio
preliminar de Pérez de la Tudela Bueso, Juan, Madrid 1959 (Biblioteca de Autores españoles desde la formación
del lenguaje hasta nuestros días), Bd. I: Lib. VII, Caps. I-XIX, S. 225–244.
39
Humboldt, “Curare”, in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 335-338.
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Die materiellen Grundlagen der Aruak- und Karibengesellschaften waren
sehr effiziente und dynamische Gartenkulturen und Wildbeuterei. Jagd auf
Meeresgroßsäuger, Schildkröten, Sammeln von Mollusken, Muscheln,
Krustentieren und Wurzeln, trugen zur Subsistenz bei. Die Indios kannten
verschiedene Arten von Fischfang, beispielsweise mit Betäubungsgiften. Die
Hauptdiät bestand der Küstensammler und -Jäger bestand aus Meeresprodukten
und pflanzlichen Nahrungsmitteln. Die Indios hatten Hunde, die berühmten
stummen Hunde. Kolumbus beschrieb sie als „nicht sehr groß und sehr hässlich,
mit Fisch aufgezogen, nicht bellend […] ich erfuhr, dass die Indios sie essen,
und sogar unsere Christen haben sie probiert, und sie sagen, dass sie besser als
ein Zicklein schmecken“.40 Humboldt fand die stummen Hunde noch um 1800
im Hinterland Venezuelas.
Die gesamte Kultur der Kariben und Aruak ruhte auf den Eckpfeilern
ihrer zwei wohl genialsten Schöpfungen – dem durch Brandfeldrodung
gewonnenen Conuco und dem System der Montones de tierra auf diesen
Kleinfeldern oder Gärten (labranzas)41, eine Art an Rändern erhöhter, runder
Beete (das unter anderem mit menschlichen Exkrementen und Abfällen gedüngt
wurde). Oviedo sagt zum Conuco: „Diese Tagewerke oder Felder, die so mit
Yuca besät oder bepflanzt sind, nennen die Indios Conuco, was bebaute oder
kultivierte Erbschaft [ev. Familienbesitz] bedeuten soll […] dabei muss man den
Conuco von Unkraut befreien […] bis die Pflanze das Unkraut beherrscht“.42
Bodenbau war intensiver Gartenbau auf unterschiedlichen Ebenen dieser relativ
kleinen Landstücke. Auf diesen Conucos und Montones wuchsen unterirdisch
ertragreiche Wurzeln wie Yuca, Boniato, Erdnüsse (Maní) oder Malanga. Ihre
Blätter spendeten den jungen oberirdischen Pflänzchen Schatten [siehe „The
40
Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und
Urteilen aus den Reisetagebüchern. Zusgest. und erl. durch Margot Faak. Mit einer einl. Studie von Manfred
Kossok. Berlin: Akademie-Verlag 1982 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 5), S. 299 (im
Folgenden: Humboldt, Vorabend).
41
“Capítulo XII: De las labrazas de los indios“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de
Jesús en Venezuela ..., S. 23-24.
42
Fernández de Oviedo, Historia General …, Bd. I: Lib. VII, Cap. II, S. 230f.
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manioc-sweet potato complex“43]. In der Caribana war Yuca die Basis der
Ernährung; die Missionare erklärten den Indios, dass der heilige Thomas die
Yuca nach Amerika gebracht habe (und knüpften damit an indianische
Kulturbringerlegenden an: „es tradición y sentir muy común que la plantó en
estas Indias el apóstol Santo Tomé“).44 Mais und Bohnen, sehr produktive
Pflanzen, bildeten das nächste Niveau. Dazu kamen auf einer dritten Ebene
sowie Fruchtbäume wie Guayaba, Mamey und Avocado in größeren Höhen;
später (nach Einführung aus Afrika) eventuell auch Platanus-Pflanzen. Noch
Humboldt hat sich über die Effizienz dieser Subsistenzlandwirtschaft
gewundert: „Wirklich fällt einem Europäer bei seiner Ankunft in der heißen
Zone nichts so stark auf wie der geringe Umfang des angebauten Landes um
eine Hütte herum, welche eine zahlreiche Familie von Eingeborenen ernährt“. 45
Zum Montón de tierra (Erdhügel) schreibt Oviedo: „Sie machen Montones de
tierra, rund […] jeder acht oder neun Fuß im Umfang und die Ränder des einen
berühren, mit nur wenig Zwischenraum, den anderen Erdhügel; und der Gipfel
ist nicht spitz, sondern fast flach und das Höchste von ihm ist am Rand oder
etwas mehr [nach innen]“.46 Mit dieser ausgeklügelten Brandrodung in
Flussnähe konnten die Taínos den Hauptteil ihrer Zeit anderen Tätigkeiten oder
Lebensbereichen zuwenden: Es war möglicherweise (was sehr von den
Bevölkerungszahlen und anderen demographischen Faktoren abhängt) eine
Zivilisation der Muße – was von den Spaniern als unchristliche Faulheit
bewertet wurde. Aber es gibt noch eine weitere Folge dieser Dynamik der
kleinen Flächen. Da weder Kariben noch Aruak Großflächenanbau betrieben,
hatten sie auch keine Massen von ruralen Sklaven nötig. Dazu kam, dass sie
Geburtenkontrolle betrieben. „Sklaven“ und Kriegsgefangene (Naborías, Itotos,
Macos, Poitos) in dieser Gesellschaft müssen eher - wenn sie nicht in rituellen
43
Watts, David, The West Indies: Patterns of Development, Culture and Environmental Change since 1492,
Cambridge: Cambridge University Press, 1987, S. 56 [Fig. 2.6].
44
„Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la
Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 21-23, hier S. 21.
45
Humboldt, Mexiko-Werk. Politische Ideen zu Mexico. Mexicanische Landeskunde, ed. Hanno Beck in
Verbindung mit Grün, Wolf-Dieter u.a. (Studienausgabe in sieben Bden., Bd. IV), Darmstadt 1991, S. 354.
46
Fernández de Oviedo, Historia General …, Bd. I: Lib. VIII, S. 244–262.
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Anthropophagieritualen geopfert wurden - als eine vom jeweiligen Kaziken oder
Priester abhängige Klientel betrachtet werden, die nur relativ wenig oder nur
zeitweilig Arbeit leisten musste.47
Indios lebten zur Zeit der Ankunft der Spanier in Siedlungen mit
manchmal 2000 –bis 3000 Menschen. Sie waren wohlgenährt und gesund und
erreichten ein relativ hohes Alter, auch aufgrund herborragender Kenntnisse von
Medizinalpflanzen. Las Casas hebt immer wieder den Überfluß an Nahrung in
den Dörfern hervor. An epidemischen Krankheiten existierte wahrscheinlich nur
eine endemische (und sehr milde) Form der Syphilis. Das Grundnahrungsmittel
in den feuchten Gegenden der Caribana war eine Art Fladen aus dem Mehl der
Yuca, Casabe; „ihr Brot, dass sie caçabi nennen“, schreibt Kolumbus.48 Aus
Yucasaft und Yukastücken, die Schimmel ausbildeten, wurden auch bestimmte
Arten von Würzsoßen präpariert.49 In trockeneren und höheren Gegenden waren
Mais und die in Amerika unentbehrlichen Bohnen, aber auch Kartoffeln in
Terrassenfeldbau, die wichtigsten Subsistenzkulturen. Mais ist im größten Teil
Venezuelas noch heute absolut unentbehrlich (arepas).
Die Menschen Amerika „ohne den Namen Amerika“ hatten eine Methode
entwickelt, dem Saft der bitteren Yuca das Gift zu entziehen. Die Wurzeln
beider Yuca-Formen wurden auf einer Holz-Steinreibe (Guayo) bearbeitet; die
Masse in einem langen Netz (Cibucán) durch ihr Eigengewicht gepresst, bis der
giftige Saft abgeflossen war; das Gift konnte auch durch Kochen beseitigt
werden. Das Mehl wurde zu Fladen geformt und auf großen heißen Tonplatten
(Burén oder Budare-Scheiben, spezielle tönerne Bratplatten) ausgebacken.50
Die geflochtene Hängematte der Indios, Hamaca, stellte für die
spanischen Seeleute eine technologische Neuerung ersten Ranges dar. Selbst
Gilij, Felipe Salvador, “De los esclavos llamados poitos (Capítulo XXXII)”, in: Gilij, Ensayo de Historia
Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela,
Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 71-73), Bd. II, S. 287-290; Jiménez G.,
“La población prehispánica de Venezuela”, S. 19-68, hier S. 67f.
48
Colón, Textos y documentos …, S. 179 (26. Dezember 1492).
49
„Capitulo XI: De los materiales y modo conque hacen su comida“, in: Documentos jesuiticos relativos a la
Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 21-23, hier S. 22.
50
Ebd.
47
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Humboldt spricht in seinem Tagebuch um 1800 nur von Hamake. Aruak und
Kariben kannten die Stein-, Muschel- und Tonverarbeitung, zudem Weberei und
Flechtkunst. Aus diesen Materialien stellten sie Gegenstände des täglichen
Gebrauchs, aus den Universalwerkstoffen Ton und Holz auch Götterbildnisse
her. Die Gemeinschaften siedelten in einem oder mehreren Dörfern, meist in
runden Hütten nach Abstammungslinien. Die Behausung der Kaziken und
anderer Anführer wurde Canasí genannt. Die Taínos hatten aber auch
rechteckige Hütten, Bohios, die noch heute in der Karibik üblich sind, und
„Häusern, die riesigen Zelten“ ähnelten (Caneyes).51
Aruak und Kariben waren exzellente Kenner des Meeres und der
angrenzenden Omaguas, der süßwasserüberschwemmten Waldflächen (wie der
Guayanas zwischen Orinoco und Amazonas), die sozusagen das Meer in die
großen Landmassen hinein verlängerten. Sie stellten hochseegängige Einbäume
her, canoas, curiaras oder piraguas (Pirogen). Mit ihnen großen Kanus
bewegten sie sich von Insel zu Insel, von Cayo zu Cayo oder von Fluss zu Fluss.
Es sind sogar Vermutungen angestellt worden, Aruak-Seefahrer hätten lange vor
Kolumbus Europa erreicht.52 Die Niederländer gründeten auf den Kanurouten
später ein respektables amerikanisches Handelssystem, das zum Teil noch mit
Kanus, Piraguas, Bongos, Curiaras, Lanchas (Langbooten) und Goletas
(Schoonern) funktionierte.53 Dieses Handelssystem wird in den meisten
Handelsgeschichten „europäisch“ genannt; auf den spanischen Inseln wurde es
als „Schmuggel“ denunziert.54 Als sich Spaniern an den Küsten um Caracas
festgesetzt hatten, verbreitete sich unter nicht unterworfenen Völkern der
Guayana und der Insel Trinidad auch eine Art Geld (quiripas) aus Perlmutt in
“Capitulo XV: Qué son caneyes y lo que hacen los giraras en ellos“, in: Ebd., S. 28-30.
Sertima, Ivan van, They came before Columbus: The African Presence in Ancient America, New York: Random
House, 1976, S. 253–256.
53
Humboldt gibt interessante Beschreibungen dieser flachen Schiffe mit Segel (lanchas), siehe: Humboldt, Reise
durch Venezuela …, S. 167f.; zu den Niederländern siehe: Crespo Solana, Ana, “Guerra en el Caribe y conflictos
hispano-holandeses”, in: Crespo Solana, América desde otra frontera. La Guayana Holandesa (Surinam): 16801795, Madrid: CSIC, 2006 (Colección América: 3), S. 125-142.
54
Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit. A History of the Caribs in Colonial Venezuela and Guayana 1498–
1820, Dordrecht/Providence: Foris Publications, 1988; Aizpurua, Ramón, Curazao y la costa de Caracas.
Introducción al estudio de la Provincia de Venezuela en tiempos de la Compañía Guipuzcoana, 1730–1780,
Caracas: Academia Nacional de Historia, 1993.
51
52
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Form von Reales de Plata (Silbergeld) oder Moneda de Vellón (Kupfergeld), das
als Statussymbol, Schmuck und Tauschäquivalent benutzt wurde.55 Aus den
durchbohrten, runden Perlmuttplättchen wurden eine Art Kette gemacht (sarta),
deren Maß es war, um den Leib einer erwachsenen Person herumzureichen; eine
Art Schmuckgürtel. In Puerto de Casanare galt eine Sarta zwei Reales de Plata,
in Ciudad Guayana vier Reales und auf der Insel Trinidad acht Reales de Plata
(= ein Silberpeso, peso de a ocho). Auf Märkten tauschten indianische Händler
gegen Sartas de quiripas eiserne Äxte, Macheten, Messer, Lanzenspitzen (puyas
oder púas), Harpunen und andere europäische Waren, wie Töpfe, ein.56
Kariben glichen Wikingern des Südens – zunächst natürlich ohne
Eisenwaffen. Die Eisenwaffen, vor allem Macheten, tauschten oder raubten sie
von europäischen Kaufleuten und Kreolen. Ihre Kriegermannschaften suchten
mit ihren Kanus andere Inseln in Form von Razzien heim und sollen Frauen
geraubt haben. Letzteres dient zur Erklärung, warum die Kariben keine andere
materielle Kultur als die Taínos hatten, denn die Taínofrauen waren für die
Töpferei zuständig und betrieben ihre Künste auch in karibischer
Gefangenschaft weiter. Im Frauenraub würde auch der Mythos von Matinino,
der Fraueninsel, den Kolumbus immer wieder kolportierte, eine gewisse
Erklärung finden. Viel wichtiger aber sind Quellen, die auf einen – wie auch
immer benannten – Naboríastatus auch unter den Kariben hindeuten (poitos),
der der Stärkung der eigenen Gruppe diente (und nicht so sehr dem von den
Kariben gezielt als Kriegs-Milonga gestreuten Männerfresser-Mythos).57 KaribSprecher sind noch heute die Ye’kuana (Leute des Einbaumes).58 Alle
„Capitulo XXVI: ¿Qué cosa son las quiripas?“, in: Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía
de Jesús en Venezuela ..., S. 46-47.
56
Ebd.
57
Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit …; Whitehead, “El Dorado, Cannibalism and the Amazonas. European
Myth and Amerindian Praxis in the Conquist of South America”, in: Pansters, W.; Weerdenburg, J. (eds.), Beeld
and Verheelding van Amerika, Vol. I, Utrecht: Rijksuniversiteit Utrecht, 1993, S. 53-70.
Whitehead (ed.), The Discoverie of Large, Rich and Bewtiful Empyre of Guiana by Sir Walter Ralegh, Norman:
Oklahoma University Press, 1997 (American Exploration & Travel Series, Vol. 71); Whitehead, „Native Society
and the European Occupation of the Caribbean Islands and Coastal Tierra Firme, 1492-1650“, in: General History
of the Caribbean, 6 Bde., Bd. II: New Societies: The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C.
Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing, 1999, S. 180-200.
58
Delgado, Lelia, “Ye’kuana. Die Leute des Einbaumes”, in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften aus
55
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vorspanischen Gesellschaften Amerikas führten Kriege. „Sklaven“ und
Kriegsgefangene (naborías) in diesen Gesellschaften - sofern sie nicht
Opferritualen anheimfielen - müssen aber eher als eine vom jeweiligen Kaziken
oder Priester abhängige Klientel betrachtet werden.
Im Grunde wird deutlich, dass die scharfe typologische Entgegensetzung
zweier völlig unterschiedlicher Kulturen – Taíno und Kariben – zur
Beschreibung dieser frühen karibischen Zivilisation gar nicht notwendig ist: es
gab wahrscheinlich sieben Sprachgemeinschaften im Antillengebiet (Klassisches
Taíno, Ciboney Taíno, Guanahatabey, Macoris, Ciguayo, Eyeri [oder
Kaliphuna] und Karina-Karibisch)59 sowie verschiedene kleinere politische
Einheiten unter der Führung von Kaziken, die in Allianzen oder Konflikten,
meist wohl eher in letzteren, zueinander standen. Konflikte und Handel sicherten
die Verbindungen zwischen den einzelnen Kulturen, aber auch eine Reihe von
Feindschaften (vor allem Salz-, Kakao-, Onoto- und Sklavenhandel).60 Die
Grundlage bildete aber immer kultureller Austausch sowie Transfer von
Erfahrungen, Ideen, Worten und Technologien. Der Austausch existierte vor der
europäisch-afrikanischen Invasion61 und setzte auch sofort nach Ankunft
zwischen Europäern und Taínos ein. Zum Austausch gehörten auch Menschen,
Waffen, Werkzeuge, Worte sowie Begriffe und Erfahrungen, auch über unfreie
Arbeit.
Wie sich die Bewohner Venezuelas 1498 selbst, vor der Ankunft der
Schiffe des Kolumbus auf seiner dritten Reise, in ihrer Gesamtheit nannten,
wissen wir nicht. Eines ist trotzdem klar: Die Tausende von Jahren indianischer
Geschichte haben die rund 300 Jahre Kolonialgeschichte (1530-1830), auch die
Venezuela. Die Sammlung Cisneros, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, 1999,
S. 74-85.
59
Granberry, Julian; Vescelius, Gary S., Languages of the Pre-Columbian Antilles, Tuscaloosa: University of
Alabama Press, 2004, passim; für die Verteilung in der Karibik siehe: Watts, The West Indies …, S. 42 [Fig. 2.1].
60
Gilij, Ensayo de Historia Americana ..., passim; Thiemer-Sachse, “Primer encuentro y actitud de Alexander von
Humboldt con los indígenas de Venezuela”, S. 88-100; Deive, Carlos E., “Etnías, desarraigo y transculturación”, in:
Anales del Caribe. Centro de Estudios del Caribe 19-20 (1999-2000), S. 221-238.
61
Allaire, Louis, “Archaeology of the Caribbean Region”, in: Cambridge History of the Native Peoples of the
Americas, Vol. III South America”, Part I und II, ed. by Salomon, Frank; Schwartz, Stuart B., Cambridge:
Cambridge University Press, 1999, I, S. 668-733, hier S. 670.
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Geschichte des Atlantik und die heutige Globalgeschichte, viel stärker geprägt,
als das die gängigen Geschichten Venezuelas bis heute vermitteln.
Siedlungsplätze, alltägliche Lebensformen, lokaler Glauben, Essen,
Pflanzenkenntnisse Geschichten und Lieder sind tief in der indianischen
Geschichte verwurzelt – bis heute.
Im 20. Jahrhundert hat sich der ethnische Begriff taíno für die AruakKultur der Insel-Indígenas eingebürgert. Die Amerikanerin Irene Aloha Wright,
die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine Synthese zur Frühgeschichte
Kubas geschrieben hat, war der Meinung, taíno sei ein Begrüßungsruf der
Aruak-Indios von Kuba gewesen. Es habe „Frieden“ oder „Wir sind Freunde“
bedeutet. Aruaco, Aruak (ursprünglich: Arawaks) meint die Sprachgruppe. Das
Wort ist im Grunde eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts (Daniel G. Brinton),
auch wenn Sprachstudien, Reisende und Verweise auf „die universelle Sprache“
der Indios (Las Casas, López de Velazco) gelegentlich die Bezeichnung Aruac
oder Aruaca verwandten.62 Der portoricanische Archäologe Ricardo Alegría
verweist darauf, dass aruaksprechende Völker der Guayanas, die sich selbst
Lukkumi („Menschen“) genannt hätten, von ihren Nachbarn Aruac in der
Bedeutung Casabemehlesser genannt worden seien. Das würde auf ihre
wichtigste Kulturleistung verweisen, auf die Züchtung der Yuca. Ein heutiger
Anthropologe, Dave D. Davis, hat deutlich gemacht, dass der Völkername
„Taíno“ niemals von irgendeinem Volk oder einem der Aruak-Chiefdoms zur
Selbstbezeichnung benutzt worden ist; Ähnliches gilt für „Aruak“ oder
„Kariben“.63 Taíno, Aruak oder Caribe ist heute eine Benennung von
Archäologen für einen bestimmten Typ von Kultur. Doch der Begriff taíno
„Corografía de la Gobernación de Venezuela y (de la) Nueva Andalucía, (años de) 1571-1574, por Juan López de
Velazco“, in: Relaciones Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno,
Antonio, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia;
70), S. 97-109; “Noticia de los Indios Aruacas”, in: Ebd., S. 106-107; siehe auch: Gilij, “Extractos de varias lenguas
americanas, in: Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para
la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 7173), Bd. III, S. 185-224.
63
Davis, Dave D.; Goodwin, R. Christopher, “Island Carib Origins: Evidence and Non-Evidence”, in: American
Antiquity 55 (January 1990), S. 37-48; Hulme, Peter, Colonial Encounters: Europe and the Native Caribbean, 14921797, London: Methuen, 1986.
62
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existiert schon viel länger, allerdings nicht in Bezug auf das gesamte Volk.
Kolumbus vermerkte bereits unter dem Datum 23. Dezember 1492 in seinem
Bordbuch, als er sich über die Bedeutung des Wortes Kazike unter der Aruak
der großen Antillen klar zu werden versuchte: „Sie haben noch ein anderes Wort
für einen großen Herrn, und zwar Nitayno“64. In den Taíno-Gemeinschaften
hatte sich ein erbliches Kazikentum von Vorstehern einzelner Dörfer und
Territorialherrschern aus dieser Oberschicht der Nitainos herausgebildet. Die
Kaziken, deren erblicher Status eine Besonderheit in Amerika darstellt,
herrschten über die große Gruppe der gewöhnlichen Mitglieder der Gesellschaft.
Am unteren Ende der Gesellschaft stand eine Art Tributpflichtige oder
Abhängige des jeweiligen Kaziken (deren Status die Spanier als spezielle
„Sklaven“ definierten), Naborías. Sie rekrutierten sich aus Gefangenen oder
Ausgestoßenen anderen Völker oder Clans. Möglicherweise war ihr Status, wie
in anderen Gesellschaften, durch das Fehlen jeglicher
Verwandtschaftsbeziehungen geprägt, so dass sie dem Kaziken als „Vater“ oder
in anderen Formen ritueller Verwandtschaft untergeordnet waren. Einige
Forscher meinen, die Taíno-Gemeinschaften seien politisch anders gegliedert
gewesen: Für sie gibt es erbliche Anführer, Chiefs, und zwei Gruppen freier
Taínos: Nitaínos und Naborías; erstere wurden von den spanischen Chronisten
mit dem Adel gleichgesetzt, die letzte Gruppe mit den gewöhnlichen Menschen.
Sklaven gab es nach dieser Auffassung nicht. Der spanische Historiker Esteban
Mira Caballos definiert präkolombinische Naborías als „Indios, die einem
Kaziken verbunden waren, dem sie Tribut leisteten“.65 Sie seien in einer legalen
Situation gewesen, die der Sklaverei sehr ähnelte; unter Kolonialverhältnissen
sei der Naboría-Status zu einer juristischen Variante der mittelmeerischeuropäischen Sklaverei geworden. Der Unterschied zwischen Sklaverei und
Naboría bestand darin, dass Naborías legal nicht verkauft werden durften, weil
64
Kolumbus, Christoph, Schiffstagebuch. Aus dem Spanischen von Roland Erb, Leipzig: Reclam Verlag, 2001, S.
109.
65
Mira Caballos, Esteban, “Indios naborías y encomieda”, in: Ders., Las Antillas Mayores 1492–1550 (Ensayos y
documentos), Madrid: Iberoamericana; Frankfurt am Main: Vervuert, 2000, S. 27–30.
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der indianische Ursprung dieses Sklavereitypus eben kein sachliches
Eigentumsverhältnis war, sondern ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis.
Über die Gefangenen derjenigen, die schließlich als »Kariben« ikonisiert
worden sind, und über ihre Sklavinnen, wissen wir in dieser Frühzeit noch
weniger. Spätere Quellen berichten davon, dass alle Karibenvölker, vor allem
unter dem Einfluss der Engländer, Franzosen, Niederländer und Portugiesen in
Suriname, Sklaven, Poítos, hielten sowie Sklaverei und Sklavenhandel
betrieben.66 Aber für 1492 findet sich bei Petrus Martyr nur die Bemerkung:
„Alte Frauen aber halten sie als Sklavinnen und nutzen ihre Dienste aus“.
Während sie Jungen und Männer fett fütterten, um sie zu fressen [Androphagie],
gebrauchten sie junge Frauen«wie Hennen, Mutterschafe, Rinder und andere
Nutztiere zur Zucht«.67
Die karibischen Indios kannten also einen Gefangenen- und
Outsiderstatus für Fremde, möglicherweise eine Art Sklaverei. Es war aber
keine Massensklaverei. Die karibische Sklaverei war verbunden mit grausamen,
religiös begründeten Opferritualen. Für die großen Antillen allerdings schließt
Las Casas Menschenfresserei aus (was nicht stimmt)68; für Venezuela ist klar
nachgewiesen, dass rituelle Anthropophagie existierte.69 Die Spanier schlossen
mit ihrem Konzept der Sklaverei an die traditionelle Form der karibischen
Kriegsgefangenen- und Tributabhängigkeit an. Die Opferrituale der »Anderen«
nutzten sie, um die neue Sklaverei zu legitimieren (zudem gab es auch unter den
Spaniern Menschenfresserei70). Die Aruak oder Taínos, vor allem die
Inselbewohner und Küstenbewohner der Karibik waren die ersten Menschen
Gilij, “De los esclavos llamados poitos (Capítulo XXXII)”, S. 287-290.
Anghiera, Petrus Martyr von, Acht Dekaden über die Neue Welt, übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen
versehen Klingelhöfer, Hans, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972/1973 (Reihe: Texte zur
Forschung), Bd. I, S. 29.
68
Las Casas, “Viaje de pacificación y poblamiento de Cuba por Diego Velázquez; y descripción de la isla y sus
gentes”, in: Ders., Obras Completas …, Bd. V: Historia de las Indias, S. 1841–1894, hier S. 1855.
69
Sanoja Obediente; Vargas Arenas, Gente de la canoa …, S. 318f.
70
Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem
Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor
allem S. 346: „… zur Zeit der Velzer und im Dorado-suchen (Expedit[ion] des Hernán Pérez de Quesada, Pedro de
Ursúa, Juan de Galina, D[on] García de Gerpa) die Span[ier] aus Hunger oft die Indianischen Lastträger aßen. Das
gewöhnlich; ja in einer von Coro ausgehenden Expedition [die] Spanier, als alle Ind[ianer] schon gegessen waren,
unter sich losten“.
66
67
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Amerikas, die in Massen nach europäischen Konzepten versklavt wurden.
Zuerst und nahezu vollständig die Taínos und andere Völker von den Bahamas,
von Jamaika und La Hispaniola, die Küstenethnien des heutigen Mittelamerika
und Venezuela, Puerto Rico und Kuba.
Die indo-spanische, in gewissem Sinne lateinische Epoche der Geschichte
der ersten Bewohner Amerikas begann um 1500 und dauert bis heute an. In
Venezuela wird es keine postlateinische Phase politisch erneuerter, quasi
„wieder erfundener“ Indiokulturen geben, wie etwa in Bolivien oder in Peru,
aber vielleicht eine mestizische postlateinische Kultur (etwa an dem ersten Satz
eines Interviews mit Hugo Chávez abzulesen: „¡Viva el mestizaje, abajo los
puros!).71
Am Ende der neo-indianischen Phase, mit dem Beginn der europäischen
Conquista um 1500, gehörten die meisten Indios auf dem Territorium des
heutigen Venezuela den Kulturen der Kariben72 und – allerdings weit zerstreuter
– der Aruak an. Die einzelnen Völker und Gruppen selbst hatten ethnische
Eigennamen, die meist die eigene Gruppe als „Leute“ oder „Menschen“
bezeichneten. Karibenstämme lebten im 16. Jahrhundert an den venezolanischen
Küsten zwischen Paria und Borburata, um den Maracaibosee herum sowie an
den Ufern des Orinoko und seiner Zuflüsse, wie auch auf den Inseln der kleinen
Antillen im Norden der großen Insel Trinidad (heute Trinidad and Tobago)73.
Die Krieger der Kariben, der Otomaken und der Guahibos (die sich nach 1600 in
die Llanos zwischen Kolumbien und Venezuela zurückzogen) waren wegen
ihrer Aggressivität gefürchtet, aber auch wegen des rituellen Kannibalismus und
weil sie schon vor der Ankunft der Spanier Sklavenhandel und Sklaverei
betrieben; sie überfielen mit ihren Kriegskanus vor allem sesshafte AruakVölker und trieben diese von den Ufern weg in das Innere der Insel und Wälder.
71
Dietrich, Heinz, Hugo Chávez: Un nuevo proyecto latinoamericano, La Habana: Editorial de Ciencias Sociales,
2001, S. 5.
72
Whitehead, Neil L., Lords of Tiger Spirit. A History of the Caribs in Colonial Venezuela and Guayana 14981820, Dordrecht/Providence: Foris Publications, 1988.
73
Watts, The West Indies …, S. 42.
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Kariben waren, wie alle Gruppen auch, ethnozentrisch; sie hielten nur sich selbst
für „Menschen“.74 Nur nach Sprachen (nicht einmal nach Stämmen,
Hauptlingstümern und Clans) getrennt, bildeten sie die Gruppen der akawaio,
mapoyo, yabarana, yekupana, eñepa (panare), pemón, kariña und yukpa. All
diesen Gruppen umfassen heute nur noch wenige Tausend Menschen75; die
größten Gruppen der Kariben sind die Kariña, Híwis (Guajibos) und die Pemón
[siehe die Karte in Morón, Guillermo, Breve Historia de Venezuela, México:
Fondo de Cultura Económica, 1994, zwischen S. 16 und 17: „Mapa etnográfico
de Venezuela y regiones adyacentes“].76 Die historischen Kariben Venezuela
und Guayanas, noch von Humboldt um 1800 ausführlich beschrieben77, waren
mutige und tüchtige Menschen. Alle anderen, nicht zu ihren
Abstammungsgemeinschaften gehörigen Menschen, bezeichneten sie mit dem
Begriff itoto. Itotos waren zu bekämpfende Feinde, die nach dem Sieg getötet
oder geopfert wurden (in ausgeklügelten rituellen Opferzeremonien die
bedeutendsten Feinde); männliche Kinder wurden meist auch getötet und Frauen
sowie Mädchen wurden in die Gruppe integriert. Die jungen Männer der
Kariben waren furchtbare Krieger mit Kanu, Langbogen und Keule. Keulen sind
reine Tötungswaffen, was Rückschlüsse auf die Härte der Konflikte zulässt.
Völker, die den Karibenkriegern leichte Beute boten, wurden mit dem Namen
macos benannt, sozusagen schwache und dumme Itotos. Nach und nach setze
sich bei den Kariben auch der Begriff des poito (Kriegsgefangener; Sklave)
durch, vor allem seit sie Spaniern, Niederländern oder Engländern
Kriegsgefangene gegen Eisen- und Feuerwaffen verkaufen konnten – oder seit
sie fremde Männer wegen der vielen Kriege mit Vernichtungscharakter in der
Kolonialzeit (die Kariben hatten traditionellerweise nur wenige Männer
74
Siehe den Beitrag über Kultur und Ideologie in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New Societies:
The Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong:
UNESCO Publishing, 1999, S. 246ff.
75
Heinen, H. Dietrich; Pérez, Antonio, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung
Venezuelas”, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276.
76
Siehe die innere Umschlagkarte in: Orinoko – Parima. Indianische Gesellschaften aus Venezuela. Die Sammlung
Cisneros, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, 1999.
77
Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 340-348.
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geopfert) über Heirat in Gruppe aufnehmen mussten. Deshalb bezeichnet das
Wort Poito sowohl Sklave wie auch Schwiegersohn.78
Die Aruak lebten im Osten Venezuelas am Golf von Paria und auf den
großen Antillen, ihr Zentrum dort war Bohio, von den Spaniern auf La Española
umgetauft; vom Süden des Orinokodeltas erstreckten sich ihre Siedlungsgebiete
bis zum Amazonas. Im Westen gehörten die Guajiros (Wajúu) zur Gruppe der
Aruak. Sie lebten in den Küstenwüsten der Halbinsel Goajira (Guajira).79 Im
Westen des Maracaibosees, am Río Catatumbo und in der Sierra de Perijá,
siedelten die Motilones (Barí), eine Chibchagruppe von Indios. Ein Teil von
ihnen, der sich nicht den Missionaren unterwarf, wurde auch „wilde Motilones“
genannt. Sie siedelten in den Sümpfen und Bergen zwischen Maracaibosee und
Kolumbien, in der Sierra de Perijá, nördlich von ihnen die westlichen Kariben
sowie die ebenfalls sehr kriegerischen Guajiro/Wayúu und Cocinas[Karte80].
Humboldt notiert noch 1800, dass es ohne die Zustimmung der Kaziken für
Europäer nicht möglich sei, durch die Gebiete der Guajiros oder Motilones zu
reisen: „Wilde. [Die] Spanier sind noch nicht einmal Herren der Küste. Man
kann nur unter [dem] Schutz der Kaziken und wenn der regierende Herr gerade
[ein] Freund der Spanier ist, von Maracaibo nach Cartagena reisen. Dort
zwischen Río La Hacha und dem Cabo Chichibacoa leben nomadisch die
Indian[ischen] Nazionen Guajiros und Motilones, von denen die Engländer
Perlen, Vieh [Hornvieh] und Pferde einhandeln. [Die] Engländer geben ihnen
Flinten, um sie den Spaniern furchtbar zu erhalten. Der Kazike der Guajiros
[ein] Freund und Beförderer der Astronomie. Er erlaubte Fidalgo, in seinem
Lande die Küste aufzunehmen!“.81
Acosta Saignes, Miguel, „Macos e Itotos“, in: Acosta Saignes, Estudios de etnología antigua de Venezuela, La
Habana: Casa de las Américas, 1983, S. 89-114.
79
Ojer, Pablo, “Situación de facto de la Guajira como territorio inconquistable hasta 1810”, in : Ojer, El Golfo de
Venezuela. Una síntesis histórica, Caracas: Instituto de Derecho Público de la U.C.V., 1983, S. 89-115; zu den
klimatischen Bedingungen siehe: Watts, The West Indies …, S. 23 [“West Indian Climates”, Fig. 1.8].
80
„Áreas culturales prehispánicas“, in: República de Venezuela, Atlas de Venezuela 1979, Caracas: Ministerio del
Ambiente y de los Recursos Naturales Renovables; Dirección de Cartografía Nacional, ²1979, S. 318.
81
Humboldt, Alexander von, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von
Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), in:
Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot
78
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Die von den Spanier und den Welserleuten als „friedlich“ bezeichneten
aruakischen Kaquetíos (caquetíos) lebten zwischen Coro und dem Ostufer des
Maracaibosees; sie unterstützten die ersten Siedler und waren eines der ersten
Völker, das ausstarb. Die Herren des Maracaibosees waren die Onotos; sie
lebten auf dem See und in ihren Kanus und Piraguas.
In den venezolanischen Anden gab es 20 oder mehr Gruppen, deren
Bezeichnung mit dem Toponym mucu begann: mucuchíes, mucurubaes,
mucaquetaes, mucusquis …, etc. Eventuell handelt es sich alles um
Außerbezeichnungen, die ausdrücken sollen, dass all die friedlichen
Bergbewohner Macos waren.
Andere Gruppen, vor allem am Orinoko, waren die Sálivas, Maipures,
Guamos, Otomacos, Guahíbos, Yaruros und Guaraúnos sowie Achaguas,
Atabacas, Guaybas, Jiraras, Mapoyes und Tunebos; einige ihrer Sprachen und
Kulturen wurden im 18. Jahrhundert durch Mönche, vor allem durch die
Jesuiten Francisco Salvador Gilij und José Gumilla, aufgezeichnet.82 Ganz im
Süden, im Parimegebiet lebten (und leben) die Yanomamis (guahibos), bis in
das 20. Jahrhundert nur selten von Missionaren besucht.83 Die MissionareChronisten waren allerdings nicht über die Stromschnellen (raudales) des
oberen Orinoko hinausgekommen; auch wenn Caulín schon eine Skizze des
Casiquiare für José Solano y Bote (Zurita; Spanien, 6. März 1726 – Madrid,
1806) angefertigt hatte, der mit der Comisión de Límites entre los dominios
Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 311-389, hier
S. 348.
82
Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio, 3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia
Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 71-73);
Humboldt zitiert Gumilla (Humboldt, Vorabend ..., S. 185) und Gilij hatte Verbindungen zu Humboldt und zu
deutschen Philologen, siehe: Giraldo Jaramillo, Gabriel, „Notas Bio-Bibliográficas sobre el P.F.S. Gilij y su
‚Saggio di Storia Americana’“, in: Boletín de Historia y Antigüedades XXXVIII, Bogotá (1951), S. 696-708; siehe
auch: Rey, José del, S.J., “Estudio preliminar”, in : Pelleprat, P. Pierre, S.J., Relato de las Misiones de los Padres de
la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional. Estudio preliminar por Rey, José del, S. J.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 77), S. XIXLVII, hier S. XXI.
83
Ferguson, Brian, Yanomami warfare. A political history, Santa Fe: School of American Research Press, 1995.
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españoles y portugueses (1753). Humboldt bezeichnete die Gegend hinter den
Stromschnelles von Atures als im “freien Südamerika” liegend.84
Grundsätzlich muss zwischen den Wayúu-Nomaden der Trockengebiete
(wie besonders im Norden der Halbinsel Goajira und der Halbinsel de
Paraguaná rund um den Eingang zum Maracaibosee), sesshaften Bauern vor
allem in Gebirgen und Hochländern, Jäger-Wildbeutern und saisonalen
Gartenbauern, wie Yanomami, Warao-Sammlern/Fischern des Orinokodeltas
(Karte zum Delta85) und Jotis sowie mestizisierten Viehjägern und Reitern auf
Basis zerstörter und neu gebildeter Stämme (llaneros) unterschieden werden.
Im Grunde könnte die Geschichte Venezuelas auch als der drei- bis
vierhundertjährige Prozeß der Zerstörung kommunaler indianischer
Siedlungsformen sowie Familienstrukturen und ihre gewaltsame Integration als
Individuen niederen Status’ in die sich selbst als „zivilisiert“ darstellende
Kolonialgesellschaft geschrieben werden. Eine gewisse objektive Grundlage
hatte die „Zivilisation“ der Spanier in der Tatsache, dass die Siedlungsweise
eben städtisch und nicht rural oder dörflich wie die der Indiovölker war. Dabei
wurde ein einem komplizierten Prozeß versucht, das „indianische“ Erbe als
unzivilisiert und barbarisch herunterzuspielen oder diskursiv völlig zu
verschweigen. Kreolen, die vor allem auf das gute Land (oder andere
Ressourcen) unter Kontrolle von Indios aus waren, bestritten lange, dass es
überhaupt Indios in Venezuela gäbe. Missionare und Missionen spielten bei
diesen Prozessen eine extrem sehr wichtige Rolle – indem sie kommunale
Strukturen und Erinnerungen erhielten und bewahrten, auch wenn ihr
Christianisierungsauftrag die Perspektiven verdrehte und ihr zeitgenössischer
politischer Auftrag in der Kolonialzeit eher in der Vorbereitung der Conquista
lag, wie eine Quelle von 1761 zum Ausdruck bringt: „La mayor parte de las
84
Alexander von Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, Havanna, den 21. Februar 1801, in: Humboldt, Briefe aus
Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung; 16), S. 122-131, hier S. 126.
85
Heinen, H. Dieter, “Der kanobo-Kult bei den Warao des Orinoco Deltas und seine ethnohistorische Bedeutung”,
in: Dürr, Eveline; Seitz, Stefan (eds.), Religionsethnologische Beiträge zur Amerikanistik, Münster [etc.]: LIT
Verlag, 1997 (Ethnologische Studien; Bd. 31), S. 121-145, hier S. 123 (Karte 1: Das Orinoco Delta).
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Provincias del Virreinato [de la Nueva Granada; Cumaná, Margarita, Trinidad,
Guayana und Maracaibo gehörten bis 1777 formell zu Bogotá – M.Z.] sufre
graves incomodidades, que causan los indios bárbaros que habitan en los montes
inmediatos y tierras incultas, insultando los vecinos y poblaciones; impediendo
el comercio; y privando a los vasallos de su cultivo y frutos. Y para su reducción
y educación cristiana ... tiene Su Majestad destinados Misioneros Apostólicos ...
auxiliándoles con escoltas de soldados donde son necesarios [Der größte Teil
der Provinzen des Vizekönigreiches erleidet große Unbequemlichkeiten, die die
barbarischen Indios verursachen, die in den nahen Wäldern und auf den
unbebauten Feldern leben, die die Vecinos und Siedlungen beleidigen, indem sie
den Handel behindern und sie behindern die Vasallen am Landbau und am
Ernten. Und für ihre Unterwerfung und christliche Erziehung ... hat Seine
Majestät apostolische Missionare bestimmt ... denen er, wenn es notwendig ist,
mit Soldatenwachen hilft“.86 So kamen Missionare verschiedener Orden und
Vereinigungen ins Land. Sie gründeten Missionen entweder in der Nähe der
Küsten und in den Anden, aber auch in den Llanos, im Osten und am Meta,
Apure und Orinoko sowie in Guayana (Dominikaner, Franziskaner, Augustiner87
sowie Säkularkleriker von Puerto Rico) – paradigmatisch sind vor allem die
Franzikaner, Dominikaner und Jesuiten sowie später Kapuziner geworden.88
Moreno Escandon, Antonio, “Notas relativas al Plano geográfico del Virreinato de Santa Fe, que formón el
doctor don Francisco Antonio Moereno Esacandon” (1761), in: Documentos para la historia económica en la época
colonial. Viajes e informes, selección y estudio preliminar de Arellano Moreno, Caracas: Academia Nacional de la
Historia, 1970 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 93), S. 323-361, hier S. 332.
87
La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas. Cuerpo de Documentos para su historia (1513-1837),
selección, estudio preliminar, introducciones especiales, edición y notas por Lino Gómez Canedo, 3 Bde., Caracas:
Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 1974 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 121123); Campo del Pozo, P. Fernando, Historia Documentada de los Augustinos en Venezuela durante la época
colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 91).
88
Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., passim; Cassani, S.J., P.
Joseph, Historia de la Provincia de la Compañía de Jesús del Nuevo Reyno de Granada en la América. Estudio
preliminar y anotaciones al texto por Rey, S.J., Academia Nacional de la Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia
Nacional de la Historia; 85); Rey Fajardo, S.J. Documentos jesuiticos relativos a la Historia de la Compañía de
Jesús en Venezuela, 3Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1974 (Biblioteca de la Academia Nacional
de la Historia; 117-119); Carrocera, P. Buenaventura de, Misión de los Capuchinos en Cumaná. Documentos, 3
Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 88-90);
Carrocera, Misión de los capuchinos en los llanos de Caracas. Documentos, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de
la Historia, 1972 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 111 und 112).
86
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Grundsätzlich gilt für Venezuela, wie für viele andere Peripherien des
entstehenden spanischen Reiches in Amerika in denen die Conquista erst nach
1560 wirklich einsetzte, dass die Ideologie, Spiritualität und Religiosität der
Conquista auf nachtridentischen Grundlagen beruhte.89 Nachdem die
Bettelmönche der Franziskaner und die Dominikaner gescheitert waren, prägten
vor allem der neue Orden der Jesuiten und die reformierten Bettelorden der
Kapuziner die Religiosität und Spiritualität von Conquista und Mission in dem
Gebiet der Tierra Firme.
Bei Widerstand der Indio-Völker organisierten Mönche und Soldaten
Entradas. Die Franziskaner expandierten nach den anfänglichen Misserfolgen
vor allem im Oriente.90 Die Missionen von Neu-Granada aus entlang der Flüsse
Casanare, Meta und Orinoko bildeten die zweitgrößte Unternehmung des
Jesuitenordens in Amerika; die Kapuziner in ihren andalusischen, katalanischen
sowie aragonesischen Abteilungen als Unterorden der minderen Brüder
erschlossen die westlichen Llanos de Caracas (heute vor allem Cojedes) sowie
Gebiete im Westen des Maracaibosees und am Río Caroní.91 Es gab erste
„vortridentinische“ Versuche der Missionierung 1514 bis 1521, dann folgten
erste nachtridentinische Wellen zwischen 1575 und 1630, die meist
scheiterten.92
Zwischen 1700 und 1770 setzte eine neue Etappe der Expansion der
Mission ein, die jetzt vor allem auch die Llanos bis zum Orinoko erfasst.
Pietschmann, Horst, “’Kulturtransfer’ im kolonialen Mexiko. Das Beispiel von Malerei und Bildlichkeit im
Dienste indigener Konstruktionen neuer Identitäten“, in: North, Michael (ed.), Kultureller Austausch. Bilanz und
Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln Weimar Wien: Böhlau, 2009, S. 369-390.
90
Gómez Canedo, “Los conventos del Oriente (siglos XVI-XVII)”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de
Caracas ..., Bd. I, S. 87-96.
91
Siehe die Chronologie der Jesuiten-Missionen in Venezuela und in den Llanos: Rey, “Estudio preliminar”, in :
Pelleprat, Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional
..., S. XI-XLVII, besonders S. XI-XIV; sowie: Carrocera, “Etapas y pueblos fundados”, in: Carrocera, Misión de los
capuchinos en los llanos de Caracas ..., S. XXIX-XXXIII; Loy, Jane M., “Rebellion in the Colombian Llanos: The
Arauca Affair of 1917”, The Americas Vol. XXXIV,4 (April 1974), S. 502-531; zum Hintergrund siehe:
Hausberger, Bernd, “Die Mission der Jesuiten im kolonialen Lateinamerika” in: Hausberger (ed.), Im Zeichen des
Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtrasfer seit dem Mittelalter, Wien: Mandelbaum Verlag, 2004 (Expansion,
Interaktion, Akkulturatio. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt; 7), S. 79-102.
92
Las Misiones del Piritú. Documentos para su historia, selección y estudio preliminar por Lino Gómez Canedo,
O.F.M., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia;
Bde. 83 und 84).
89
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Ankunft der Kapuziner und interner Migration von Kanariern nach Amerika
[Karte in Dokumente, Bd. III, S. 444].93 Um 1800 war die Mission in vielen
Gebieten Spanisch-Amerikas verbunden mit der Grenzsicherung des spanischen
Imperiums. In Venezuela war die Expansion in die Llanos im vollen Gange. Die
Unabhängigkeit ändert in gewisser Weise die Frontstellungen, vor allem als José
Tomás Boves, Tomás Morales oder Anführer von Pardo-Milizen, wie Manuel
Piar, und Mantuano-Kreolen wie Bolívar, in die Llanos kamen und den LlaneroWiderstand für ihre Zwecke instrumentalisierten. Konflikte zwischen Republik
sowie dem Heiligen Stuhl in Rom führten zum Abbruch der Missionierung
zwischen 1810 und 1830. Die antirömische Position der
postindependentistischen Regierungen bring es mit sich, dass erst um 1890 neue
Missionversuche einsetzen.94
Bis in das 19. Jahrhunderts galten selbst einige der venezolanischen Städte
in Küstennähe, die inmitten großer Massierungen indianischer Bevölkerung
gegründet worden waren, als pueblos de indios, wie La Victoria, San Mateo,
Cagua, Turmero und Maracay95, aber auch Trujillo und Maracaibo. Beim
Übergang zur Unabhängigkeit existierten noch große Reste indianischer Völker
in der Nähe der Städte.96 Erst die Konsolidierung eurokreolischer Staatlichkeit
im 19. Jahrhundert, in der die Indios in keiner der Verfassungen berücksichtigt
wurden97, vernichtete vor allem durch die liberale Landgesetzgebung
93
Caulín, Antonio, Historia de la Nueva Andalucía. Estudio preliminar y edición crítica de Pablo Ojer, S.J., 2 Bde.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de Academia Nacional de la Historia, Bde., 81 und
82); Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, ed. Schmitt, Eberhard, 5 Bde., München: Verlag C.H.
Beck, 1986-1888 (Bde. I-IV); ed. Schmitt; Beck, Thomas, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Bd. V) (im Folgenden:
Dokumente, Bd.), Bd. III: Der Aufbau der Kolonialreiche, ed. Meyn, Matthias [et.al], 1987, S. 444: “Karte 12:
Mission und Kirchenorganisation inSüdamerika im 18. Jahrhundert“;Hernández González, Manuel, Los canarios en
la Venezuela colonial (1670-1810), La Laguna: Centro de la Cultura Popular Canaria, 1999.
94
Siehe den Artikel: “Lingüística”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4
Bde., Caracas: Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 962-971; Gómez Canedo, “Destrucción y extinción”, in: La
Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 171-176.
95
Cisneros, Joseph Luis de, Descripción exacta de la Provincia de Venezuela, Caracas : Academia Nacional de la
Historia, 1981 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 149), S. 130 (Original 1764).
96
Sanoja, Mario, “La Sociedad indígena venezolana entre los siglos XVII y XVIII”, in: Párraga Villamarín, Eloy et
al. (eds.), Venezuela en los años del general Rafael Urdaneta (1788-1845), Maracaibo, Venezuela : Universidad
Rafael Urdaneta, Comité Ejecutivo de la Junta Organizadora del Bicentenario del Natalicio del General Rafael
Urdaneta, 1988, S. 89-111.
97
Biord, Horacio, “La consagración de la irrealidad. Silencio constitucional en materia indígena en Venezuela
(1830-1900)”, in: BANH, Nr. 350, Caracas (abril-junio de 2005), S. 85-110.
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(Umwandlung von kommunalem indianischem Land in tierras baldías und
Privatbesitz) ( zitieren Samudio aus Cardozo-Band 2007)98 sowie staatliche
Erziehungsprogramme viele lokale Kulturen und drängte andere ab, auch weil
Waraos und andere Völker Angst hatten, etwa von kreolischen
Kautschuksammlern versklavt zu werden.99 Die lokalen Kulturen Venezuelas,
das, was man für gewöhnlich als traditionelle Feste, Gastronomie, Musik,
Handwerk, Architektur und allgemein als traditionelle Volkskunst bezeichnet,
sind zutiefst von den lokalen Traditionen der Indio-Kulturen geprägt worden
sowie von Afrovenezolanern [Karte].100
Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen neue Missionare ins Land.
Venezuela erkannte unter Schwierigkeiten sein indianisches Erbe (u.a. die etwa
drei Dutzend indianischer Sprachen) offiziell erst 1946 mit der Gründung des
Instituto Indigenista Interamericano und dem Anschluss Venezuelas an das
Abkommen von Pátzcuaro an.101 Bis heute sind die Indígena-Völker Venezuelas
Gegenstand der Missionstätigkeit vieler Kirchen und Religionsgemeinschaften,
wie der Katholischen Kirche, aber auch von Lutheranern, Adventisten,
Baptisten, Pfingstler sowie Mormonen.
Klein-Venedig
Venezuela hat eine Geschichte vor Miranda, Bolívar und Chávez.
Venezuela hat auch Geschichten der Indiovölker und eine Kolonialgeschichte
„vor der Nation“. Es ist die Geschichte einer entvölkerten Peripherie, deren
Provinzen, wie sich schon vor dem 20. Jahrhundert (als deutlich wurde, dass
Venezuela faktisch auf Öl schwimmt) herausstellte, unermessliche
Heinen; Coppens, Walter, „Indian Affairs“, in: Martz, John D.; Myers, David, Venezuela: the democratic
experience (revised edition), New York, Praeger, 1986, S. 364-383; Llambí, Luis, “Latin American Peasantries and
Regimes of Accumulation”, in: European Review of Latin American and Caribbean Studies 51 (1991), S. 27-50.
99
Siehe die „Erinnerungen an die Sklaverei” älterer Waraos bei: Heinen, Oko Warao: Marshland People of the
Orinoco Delta, Münster: LIT Verlag, 1988, S. 40f.
100
López Ortega, Antonio (ed.), Atlas de Tradiciones Venezolanas, Bogotá: C.A. Editora El Nacional; Fundación
Bigott, 2005; Karte: “Fiestas y Danzas Folklóricas”, in: República de Venezuela, Atlas de Venezuela 1979, S. 319.
101
Heinen, H. Dietrich; Pérez, Antonio, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung
Venezuelas”, in: Sevilla; Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276, hier S. 269.
98
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Naturreichtümer bargen. Eine der wichtigsten Quellengattungen für
Landschaften, Ressourcen, Orte, Menschen und Strukturen der Kolonialzeit sind
die relaciones geográficas. Das waren umfangreiche Antworten auf Fragebögen,
die vom Consejo de Indias den regionalen und lokalen Autoritäten
(corregidores, alcaldes mayores, párrocos, curas de aldeas usw.) zugeschickt
worden waren. Für Venezuela sind für das 16. Jahrhundert 11 Relaciones (1530,
1533, 1548, 1563, 1572, 1573, 1577, 1581, 1584 und 1592) bekannt, für das 17.
Jahrhundert 4 (1604, 1621, 1635 und 1648), für das 18. Jahrhundert 10 (1730?,
1741, 1751, 1754, 1755, 1765, 1768, 1777, 1784 und 1791) und drei für das 19.
Jahrhundert (eine 1807 und zwei 1812).102
Die Landschaften Venezuelas zeigen die Geschichte der Atlantikfassade
Südamerikas und ihrer Hinterländer, einer gigantischen Region mit
Andenbergen, riesigen Flüssen, insgesamt mehr als 1000, und Seen (Orinoko,
Amazonas, Maracaibo- und Valenciasee), unendlichen Savannen (Llanos am
Orinoco, am Apure und Meta, Llanos und Gran Sabana in Guayana103) und
bergigen Urwald-Wassergebieten (Guayanas, Omaguas), die sich bis ins heutige
Kolumbien und Brasilien sowie nach Guiana und Suriname hinziehen.104
In die riesigen Hinterländer einzudringen gelang den Spaniern und ihren
Nachkommen, den Mestizen und criollos (Kreolen), in der Kolonialzeit nur ganz
sporadisch. Insofern blieben die Kolonialstädte an der Küste eigentlich
Agenturen einer atlantisch-kapitalistischen Meereskultur. Zwar finden sich
indianische und Caboclo-Sklavenjäger schon im 17. Jahrhundert in der
Orinoquía und Amazonía, aber erst im 19. und 20. Jahrhundert drangen
Menschen der atlantischen Kultur massiv und direkt in die weiten Gebiete der
Orinoquía und Amazonía vor. Vorher waren dort nur Indios, Missionare und
Sklavenjäger sowie Schmuggler zu finden [Karte105].
Chacón Rodríguez, David R., “Prólogo”, in: María, Nectario, Hno., Historia de la conquista y fundación de
Caracas. Semblanza biográfica y prólogo de Chacón Rodríguez, Caracas: Fundación para la cultura urbana, 2004,
S. IX-XXIV, hier S. Xf.
103
Schubert, Carlos, La Gran Sabana: panorámica de una región, Caracas: Lagoven, 1989.
104
Relaciones Geográficas de Venezuela ..., passim.
105
Nördliche Atlantikfassade Südamerikas, siehe Karte in KolonialbilderKarten.
102
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Trotz der Naturschönheiten des Landes ist das Schicksal Venezuelas, auch
bevor zum ersten Mal das Wort „kleines Venedig“ aus dem Munde von
Amerigo Vespucci ertönte, keine schöne Geschichte. Es ist auch keine
Karibikgeschichte à la Ferieninseln mit weißem Strand am türkisen Meer,
Pampero-Rum und Trommelrythmen, obwohl es all dies in Venezuela zur
Genüge gibt. Die Geschichte Venezuelas ist grausam, blutvoll, zerrissen, aber
auch kreativ, spannend und interessant – und es ist eine fast paradigmatische
Geschichte gescheiterter Utopien (im Schnelldurchgang 1500-2000: Mehrere
Dorados, Perlenparadiese und grünes Gold des Kakaos, Freiheit „Amerikas“ und
kontinentaler Bolivarismus, „lateinische“ Republik, „notwendige Diktatur“,
Guerrilla-Revolution, „westliche“ Modernisierung und „stabile Demokratie“).
Erstaunlich ist aber auch, dass sich Venezuela durch Rückgriff auf lokale
Wurzeln und globale Ideen sowie Theorien immer wieder selbst erfunden hat –
im Grunde wie ein Titan der griechischen Mythologie: immer wenn das Land
den Boden berührte und am Tiefpunkt angekommen (oder verschwunden) war
oder schien, erstand es quasi neu.
Bis 1777 war „Venezuela“ eine Provinz neben den Provinzen Cumaná,
Margarita, Trinidad, Guayana und Maracaibo mit einem gewissen Sonderstatus,
da die anderen Provinzen außer Nueva Andalucia/Cumaná zwischen 1739 und
1777 formell zu Bogotá gehörten. Auf die Geschichte „vor Bolívar“ in dieser
Abfolge von Venezuelas zu verweisen106, ist deshalb wichtig, weil die Kraft und
viele Wurzeln der venezolanischen Historie, Memoria und Identität in die
tieferen Schichten der Kolonialgeschichte oder sogar in die Geschichte der
präkolonialen Zeiten (15000 v.u.Z. – 1500) hinabreichen – vor allem betrifft das
die Bereiche des lokalen Geschichtsbewusstseins, der in der offiziellen
Geschichte und in den Medien wenig repäsentierten Unterschichten der farbigen
Venezolaner und der Venezolaner indianischer Abstammung.107 Das Problem
Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la
historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, in: Revista de Indias (RI), Vol. LXI, Núm. 222 (MayoAgosto, 2001), S. 247-265.
107
Koselleck, Reinhard, “Über die Verfügbarkeit von Geschichte”, in: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur
106
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für den heutigen Geschichtsdiskurs ist, dass die vorkolonialen und kolonialen
Epochen eine Geschichte „ohne Nation“ darstellen. Die historische Erinnerung
und vieles im Verhalten sowie im Diskurs sind durch das Trauma der Eroberung
und die nachfolgenden Territorialkonflikte der kreolischen Nachkommen der
Conquistadoren und städtischen Eliten geprägt – bis heute. Kolonialismus ist nie
nur Wirtschaft, Ausbeutung, Unterdrückung oder Strukturbildung und moderne
Verwaltung (aber auch).
Die Eroberung Venezuelas verharrte bis um 1560 im Zustand einer
punktuellen Küstensiedlung, die kaum noch Beachtung fand. Die Gründung von
El Tocuyo war der Neuorientierung geschuldet, die darauf beruhte, dass die
Siedler sich nach Neu-Granada orientierten und nicht mehr auf die Karibik.108
Erst nach 1560 setzte ein neues Interesse ein, aus dem Zentrum El Tocuyo
wieder zur Küste durchzustoßen. Von den Küstenpunkten brachen die Eroberer
dann in neuen Conquistazügen (entradas) auf und gelangten tief ins Innere des
nordöstlichen Südamerika, einer Gegend, in der erst seit 1952 die Quellen des
Orinoco kartographiert worden sind. 109
Conquista und Entradas in Venezuela bedeuteten zunächst vor allem
Eines: Razzien, Raubbau und Plünderungen. Gold wurde an den Küsten nur
wenig gefunden. Aber es gab riesige Austernbänke. Nur dort, wo es auch Perlen
gab, kam es zu frühen Siedlungsversuchen, so seit 1510 auf den Inseln
Margarita und Cubagua.110
Kolumbus glaubte um 1498, auf seiner dritten Reise111, dem irdischen
Paradies nahe zu sein – weil er die Süsswasserfluten des Orinoco im Golf von
Paria für einen der großen Flüsse des Paradieses hielt. Der Admiral glaubte bis
Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, 1989, S. 260-277.
108
Denzer, „Venezuela im Sog Neu Granadas: Desertion und Abwanderung“, in: Denzer, Die Konquista der
Augsburger Welser-Gesellschaft …, S. 164-165.
109
Vila, Pablo, “Etapas históricas de los descubrimientos del Orinoco“, in : Vila, Visiones geohistóricas de
Venezuela, Caracas : Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1991, S. 51-80; Cunill Grau, “Leopoldo III y
el ‘Alto Orinoco en dos tiempos’”, in: BANH, Tomo LXXXVIII, Nr. 352 (Oct.-Dic. 2005), S. 227-230.
110
Otte, Enrique, Las perlas del Caribe: Nueva Cádiz de Cubagua, Caracas: Fundación John Boulton, 1977.
111
Zur Debatte um eine mögliche Ankunft von Kolumbus an den Küsten Venezuelas schon Ende 1494, Anfang
1495 (wegen der Perlen geheimgehalten), siehe: Varela Marcos, Jesús; León Guerrero, María Montserrat, El
Itinerario de Cristóbal Colón (1451-1506), Vallodolid: Diputación de Valladolid [etc.], 2003, S. 197.
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an sein Lebensende, Asien erreicht zu haben. Aber in einer Art Eingebung
sprach er angesichts der Paria-Küste von „neuen Himmeln und neuem Land, so
wie es in der Offenbarung des Johannes heißt“.112
Auf einen anderen Entdecker, Alonso de Ojeda (oder Hojeda; Cuenca c.
1466 – Santo Domingo c. 1516) 1499-1500, bei dem sich Amerigo Vespucci
(1451-1512) aus Florenz befand (der lange als Schiffsausrüster und
Sklavenhändler in Sevilla wirkte113), geht die Bezeichnung „Venezuela“ (kleines
Venedig) zurück. Angesichts der Pfahlbauten der Indios an den Küsten des
Maracaibosees fühlten sich Ojeda, Juan de la Cosa und Amerigo Vespucci
entfernt an Venedig erinnert.114 Jedenfalls findet sich der Name Venezuela zum
ersten Mal auf der berühmten Karte von Juan de la Cosa (1500). Ojeda hatte
Erfahrungen bei der Eroberung von Granada (in Spanien), er war seit der
zweiten Fahrt von Kolumbus (1493) in der Karibik. Während der Überfahrt nach
Venezuela landete Ojeda 1499 auch an der afrikanischen Küste. Es kann also
durchaus sein, dass sich unter seinen Leuten schon zeitig schwarze Sklaven,
Seeleute oder Lançados befanden. Männer des Schlages von Ojeda wurden in
Amerika bald baquianos genannt, „alte Hasen“; sie waren Sklavenjäger und
kannten das Territorium. Ojeda repräsentiert sehr gut den Übergang zwischen
Kapitän, Entdecker, Sklavenjäger-Kaufmann und frühen Siedlern, denen die
Indígenas den generischen Namen catire (Blonder) gaben. Ojeda hatte bei der
Eroberung von La Española und Santo Domingo sehr aktiv mitgewirkt. Er
Milhou, Alain, „Die neue Welt als geistiges und moralisches Problem (1492-1609)“, in: Handbuch der
Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S. 274-296, hier S. 275.
113
Arcila Farias, Eduardo, Economía colonial de Venezuela, México: Fondo de Cultura Económica, 1946
(Colección Tierra Firme; 24), S. 41; Ezquerra Abadia, Ramón, “Los primeros contactos entre Colón y Vespucio”,
in: Revista de Indias (RI) Vol. XXXVI, Nos. 143-144 (1976), S. 19-47; Varela, Consuelo, Colón y los florentinos,
Madrid: Alianza Editorial, 1988, S. 44-68; Varela, “Una compañía comercial”, in: Varela, Cristóbal Colón. Retrato
de un hombre, Madrid: Alianza Editorial, 1992, S. 126-129; Mira Caballos, Esteban, „El proyecto esclavista de
Cristóbal Colón“, in: Mira Caballos, Indios y mestizos americanos en la España del siglo XVI, prólogo de
Domínguez Ortiz, Antonio, Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert-Iberoamericana, 2000, S. 46-48; Mira Caballos,
Nicolás de Ovando y los orígenes del sistema colonial español,1502-1509, Santo Domingo, República Dominicana
: Patronato de la Ciudad Colonial de Santo Domingo, Centro de Altos Estudios Humanisticos y del Idioma Español,
2000.
114
Caballero, Manuel, De la ‚pequeña Venecia’ a la ‚Gran Venezuela’, Caracas: Monte Ávila/UCV, 1997; Parra
Grazzina, Ileana, „De pueblo de agua a ciudad-puerto, siglos XVI-XVII”, in: Memorias. Revista Digital de Historia
y Arqueología desde el Caribe 4,4 Barranquilla (2006), S. 1-16 (www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias)
(22. Januar 2006).
112
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beschaffte sich eine vertragliche Erlaubnis und das königliche Privileg
(capitulación=Kapitulation, asiento=Kronvertrag115), nach Venezuela zurück zu
kehren. 1501 wurde er zum Gouverneur von Coquibacoa ernannt. Das
indianische Wort „Coquibacoa“ kann als der erste offizielle Name Venezuelas
gelten. Wichtig an den Fahrten und Eroberungen Ojedas sowie an den
nachfolgenden Fahrten und Taten der so genannten „andalusischen Entdecker“
an der im Gegensatz zu den Inseln der Antillen Tierra firme (festes Land)
genannten Küsten des heutigen Venezuelas war die Tatsache, dass die KapitäneBaquianos sofort massive Sklavenrazzien betrieben. Die Sklavenjäger legten
keine Dauersiedlungen an, wie Kolumbus seit seiner zweiten Fahrt, sondern
begannen, zeitweilige Siedlungs- und Sklavensammlungssorte (rancherías)
anzulegen.116 Nur Peralonso Niño und der Schiffszwiebackhändler Cristobál
Guerra sollen eher friedlichen Handel mit Perlen, Kakao und Salz betrieben
haben. Auch Kolumbus hatte wohl schon 1498 in der Nähe der Insel Cubagua
Perlen eingetauscht. Auf der Insel Margarita war Kolumbus auf einen
friedlichen Stamm getroffen, den die Spanier nach einem der vielen
Sprachmissverständnisse guayqueríes (oder guaiqueríes; wohl Teil der
guaraúnos, die später im Orinokodelta siedelten) nannten, der den Salzhandel
der Region monopolisierte und sich schnell hispanisierte – zur Zeit Humboldt
um 1800 galt die Bezeichnung Guayqueríes für Spanisch sprechende Indios und
ihre Nachkommen.117
Rodrigo de Bastidas (1501/02) gelangte bis zum Golf von Darién
zwischen dem heutigen Kolumbien und Panama. Er brachte Gold und Perlen mit
Denzer, Jörg, „Die ‚Asientos’ – Kronverträge zur Eroberung Amerikas“, in: Denzer, Die Konquista der
Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556. Historische Rekonstruktion, Historiographie und
Lokale Erinnerungskultur in Kolumbien und Venezuela, München: C.H. Beck, 2005 (Schriftenreihe zur Zeitschrift
für Unternehmensgeschichte; Bd. 15), S. 40-42.
116
Ramos [Pérez], Demetrio, “Alonso de Ojeda, en el gran proyecto de 1501 y en el transito del sistema de
descubrimiento al de población”, in: Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca
de la Academia Nacional de la Historia, 126), S. 29-112.
117
Thiemer-Sachse, “Primer encuentro y actitud de Alexander von Humboldt con los indígenas de Venezuela”, in:
Rodríguez, José Angel (comp.), Alemanes en las regiones equinocciales. Libro Homenaje al bicentenario de la
llegada de Alexander von Humboldt a Venezuela 1799-1999, Caracas: Alfadil Ediciones; UCV; AvH-Stiftung,
1999, S. 88-100; Acosta Saignes, Miguel, Estudios de etnología antigua de Venezuela, Caracas: Universidad
Central de Venezuela, 1954, S. 221-242.
115
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(aus der Gegend, in der er später Santa Marta gründete) sowie Informationen
über das Gold der Andenbewohner. Juan de la Cosa wiederum, genialer
Navigator und Kartograph der frühen Fahrten, erlangte auf seiner letzten Fahrt,
die er zusammen mit Diego de Nicuesa und Martín Enciso unternahm, viele
neue Informationen. Unter anderem die über einen guten Landeplatz in der
Gegend des heutigen Cartagena. Die wichtigste Nachricht aber war sein toter
Körper – von Giftpfeilen durchbohrt. Wo die anderen etwa siebzig getöteten
Spanier begraben sind, wissen wir nicht. Schon 1499 war Ojeda bei
Chichiviriche auf ein pueblo flechero getroffen; spätestens seit der Fahrt von
Bastidas und de la Cosa wussten die Spanier, dass es an der Tierrafirme starken
Widerstand einer kaleidoskopartigen Vielfalt von Indiovölkern gab. Und dass
einige von ihnen Giftpfeile benutzten. Den Giftpfeilen der indios flecheros
hatten die Spanier kaum etwas entgegen zu setzen.118 [Karte in: Handbuch119]
Die Spanier schlossen „Freundschaft“ mit Stämmen, die sich nicht gegen
sie wehrten oder mit denen sie auf den langen Märschen verhandeln konnten.
Alle anderen Stämme und Völker – und das war die Mehrheit, vor allem die so
genannten Kariben - wurden zu erbitterten Feinden. So leisteten beispielsweise
die karibischen Caracas- und Tequesindígenas in der Gegend des heutigen
Caracas unter dem Kaziquen Guaicaipuro (Guacaipuro) zwischen 1560 und
1570 so harten Widerstand, dass sich das Vordringen der Conquistadoren
zwischen El Tocuyo und dem Ort unter dem Monte Ávila lange verzögerte.120
Die Folge war, dass Venezuela, ebenso wie die Inseln in der Karibik (vor allem
die Lucayas/Bahamas und die kleinen Antillen) und vor den Küsten
Mittelamerikas und Südamerikas sowie Yucatáns zum Sklavenjagdgebiet wurde
Zeuske, Max, „Die andalusischen Fahrten und die vierte Reise des Kolumbus“, in: Zeuske, Die Conquista,
Leipzig: Edition Leipzig, 1992, S. 38f.; Bitterli, Urs, „Die Erkundung der Küsten“, in: Bitterli, Urs, Die Entdeckung
Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe), S. 93-96.
119
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, 3 Bde., ed. Bernecker, Walther L.; Buve, Raymond Th.; Fisher, John
R.; Pietschmann, Horst, Tobler, Hans Werner, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994-1996, Bd. I: Mittel-, Südamerika und die
Karibik bis 1760, ed. Pietschmann unter Mitarbeit von Carmagnani, Marcello, Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 246
(im Folgenden: Handbuch der Geschichte Lateinamerika, Bd.).
120
Nectario María, Hno., El cacique Guacaipuro, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1975; María,
Historia de la conquista y fundación de Caracas. Semblanza biográfica y prólogo de Chacón Rodríguez, Caracas:
Fundación para la cultura urbana, 2004.
118
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für die armadores, mercaderes und baquianos (Schiffsbesitzer, Kaufleute und
Sklavenjäger) von Santo Domingo auf der Insel La Española (heute DomRep
und Haiti). Seit 1508 kamen als Schwerpunkte spanischer Conquista und
Kolonisierung noch Puerto Rico hinzu und, mit starken Abstrichen, Jamaika (ein
Feudum der Familie Kolumbus) sowie schließlich Kuba.121 Auf all diese Inseln
wurden massiv Indiosklaven aus dem Gebiet des heutigen Venezuela
verschleppt. In einer der ersten Geschichten Venezuelas, in den Noticias
Historiales des Franziskaners fray Pedro Simón (1627) heisst es: „De aqui ...
salió la fama de la esclavitud de los indios [de Venezuela], la tomaron muchos
por granjería, haciéndola así de los indios pacíficos como de los que resistían y
defendían sus tierras ... Con esta codicia cada día salían navíos armados de la
isla Española, y llegaban a toda la Tierrafirme que hay desdes Maracapana y
Paria hasta el cabo de la Vela, andando todos a más coger de toda suerte de
indios que podían haber a las manos, pacíficos y guerreros, y los llevaban a
vender por esclavos a las partes donde hallaban de sus ventas mayores
granjerías“.122 An anderer Stelle hebt Pedro Simón hervor: “Fueron increíbles
los daños que en estos tiempos y los de antes, después de que se descubrieron
estas tierras, se siguieron ... de haberse dado licencia para que se tuviesen por
esclavos los indios. La cual tormenta y trabajos corrió más fuerte que en otras
partes de la Indias, en la de esta Tierrafirme...”.123 Die Razzientrupps der
Sklavenjäger zerstörten alles, was sie nicht mitschleppen konnten. Die
Grundregel lautet: auf einen versklavten Indio kamen zwei getötete Indios. Viele
der Sklaven starben beim Transport über See. Das scheint der wirtschaftlichen
Logik des Sklavenhandels zu widersprechen. Allerdings nahmen die Spanier bis
etwa 1515 an, es gäbe unzählige feindliche Indios. Je mehr sie davon außerhalb
ihres direkten Herrschaftsbereiches auf La Española töteten, desto besser wäre
das für ihre Sicherheit. Und gottgefällig natürlich, denn der Karibenmythos vom
121
Zeuske, Michael, Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich: Rotpunktverlag, 2004.
Simón, Noticias Historiales de Venezuela …, Bd. I, S. 93.
123
Ebd., Bd. II. S. 9.
122
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blasphemischen Menschenfresser, von Kolumbus aufgebracht, hatte sich schon
längst verbreitet. Dieser Mythos wurde zur Legitimationsikone europäischer
Conquista in der Karibik.124 So wurden die venezolanischen Küste zum
„natürlichen Hinterland“ der spanischen großen Antillen, vor allem Santo
Domingos auf La Española, zum Zwecke des Sklavenfangs für Landwirtschaft
und Goldwäscherei.125 Europäer und Afrikaner schleppten bei ihren Razzien
Alte-Welt-Krankheiten ein; es kam zu Pandemien der Grippe, Schweinepest,
Pocken, Pest, Typhus, Masern, Mumps und Diphtherie. Inwieweit Malaria und
Gelbfieber schon in ganz Amerika verbreitet waren, ist umstritten. Im Gegensatz
zu Europäern und Afrikanern waren die Indios nicht immun gegen die meisten
dieser Krankheiten. Auf der Flucht vor den Sklavenjägern verbreiteten sie die
Krankheiten, die sich in dicht besiedelten Gebieten zu schnell auflodernden
Pandemien auswuchsen.126 Trotz oder gerade wegen dichter Vor-ConquistaBesiedlung wurde Venezuela so zeitig auch in demographischer Hinsicht zur
Peripherie. Neue Siedlungen der Sklavenjäger und Perlenfischer (rancherías)
entstanden nur auf Margarita und auf der wasserlosen Insel Cubagua (15101521).127 Die erste städtische Siedlung auf Cubagua wurde Nueva Cádiz
genannt. Die Guayqueríes von Margarita (und vom Río Cumaná) freundeten
sich als guatiaos (Indios, die ungeschriebene Verträge mit den Spaniern durch
Namens- und Frauentausch abschlossen) mit den Spaniern an, andere KaribenVölker leisteten starken Widerstand. Wegen des Raubbaus begannen sich die
Perlenbänke schon 1528 zu erschöpfen.128
Franziskaner und Dominikaner versuchten frühe Missionsprojekte einer
(relativ) friedlichen Kolonisierung Venezuelas bei Hof durchzusetzen
Zeuske, „Conquista und Sklaverei“, in: Zeuske, Schwarze Karibik …, S. 43-68; Zeuske, Sklaven und Sklaverei
in den Welten des Atlantiks, 1400-1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliografien,
Münster/Hamburg/London: LIT Verlag, 2006 (Sklaverei und Postemanzipation, ed. Michael Zeuske, Bd. 1)
125
Friede, Juan, Los Welser en la conquista de Venezuela, Caracas, 1961, S. 91; Denzer, Jörg, “Die Welser in
Venezuela – Das Scheitern ihrer wirtschaftlichen Ziele”, in: Häberlein, Mark; Burkhardt, Johannes (eds.), Die
Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Berlin: Akademie Verlag,
2002 (Colloquia Augustana, Bd. 16), S. 285-319.
126
Pieper, Renate, “Die demographische Entwicklung”, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S.
313-328, hier S. 318ff.
127
Otte, Las perlas del Caribe ..., passim.
128
Zeuske, „Cubagua und die Perlenküste“, in: Zeuske, Die Conquista …, S. 122124
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(gobernación espiritual).129 Seit 1514 kamen Franziskaner-Mönche in die
Gegend zwischen Río Cumaná, Piritú und Chichiriviche – um die Fehler der
Conquista auf den großen Inseln der Karibik nicht zu wiederholen. Sie brachten
unter anderem Heiligenbilder und die kastellanische Grammatik von Nebrija ins
Land.130 Wegen Sklavenrazzien der Perlenhändler wurden einige der ersten
Missionare zu getötet.131 Eine Kapitulation Karls V. vom 19. Mai 1520 übertrug
den Dominikanern dann 300 Leguas zwischen Paria und Santa Marta, rund 50%
der Küstenlinie des heutigen Venezuela. Auch dieses Unternehmen der
„friedlichen Conquista“ scheiterte, weil Kariben-Indios bei einer Ansiedlung
namens Nueva Toledo (später Cumaná) Missionare aus Rache für eine
Sklavereirazzia töteten. Die Spanier von La Española und Cubagua waren auch
nicht bereit, auf ihre Sklavenzüge an den Küsten des späteren Venezuela und auf
den so genannten islas inútiles („unnütze Inseln“, weil kein Gold gefunden
wurde) vor diesen Küsten zu verzichten. Nueva Toledo wurde zerstört und erst
seit 1523 schleppend wieder bevölkert (zumal die Gegenschläge der Indios in
vielen Gebieten bis in das 17. oder sogar 18. und 19. Jahrhundert anhielten).132
Bis 1525 waren die Spanier auf den Antillen und in Mittelamerika
fasziniert von der Eroberung Mexikos (und danach von der Perus). Seit 1525,
mit den Berichten über Gold in den Anden und Gerüchten über das „Land Birú“
(Peru)133, kam es zu einem neuen Interesse an den westlichen Teilen des
heutigen Venezuela, vor allem am Gebiet zwischen Maracaibosee, Halbinsel
Goajira und dem Golf von Urabá. Dort tummelten sich zunächst noch die
„Alten“ unter Ojeda, bald ersetzt durch einen gewissen Francisco Pizarro und
einen gewissen Vasco Núñez de Balboa. Im Juli 1513 hatte die Krone unter
Ojer, “Intensificación de los contactos antillanos. La ‘Gobernación espiritual”, in : Ojer, El Golfo de Venezuela
…, S. 55-58.
130
“Real cédula mandando a proveer a los catorce franciscanos que iban a las Indias (Madrid, 8 de noviembre
1516) y lista de las provisiones compradas para ellos, con el pago de las mismas (Diciembre 22, 1516)”, in: Gómez
Canedo, “Los conventos del Oriente (siglos XVI-XVII)”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ...,
Bd. I, S. 349-354.
131
“Los martires de Paria (1534)”, in: Ebd., S. 383-390.
132
Ramos [Pérez], Demetrio, „El P. Córdoba y de Las Casas en el plan de conquista pacífica de Tierra Firme“, in:
Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca de la Academia Nacional de la
Historia, 126), S. 113-165.
133
Zeuske, „‘Birú’ und Tierra Firme“, in: Zeuske, Die Conquista …, S. 100129
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Pedrarías Dávila direkt aus Spanien eine von spanischen Adligen geführte
Expedition in der Stärke von 1500 Mann nach Gold-Kastilien geschickt, um
Conquistadoren wie Balboa und Pizarro zu Raison zu bringen. Auf dem
Landweg von Panamá und Darién (diese Gebiete bezeichnete der Name „GoldKastilien“) nach Süden war aber kein Durchkommen nach dem Land „Birú“.
Die Indios des Chocó, wo auch Gold abgebaut wurde, leisteten erbittert und
erfolgreich Widerstand.134 Die Spanier fürchteten sie wegen ihrer Giftpfeile. Die
Conquistadoren etablierten sich in Panamá. Sie suchten den Seeweg nach Peru.
Als weitere Basis für den Vormarsch nach Peru wurde 1524/25 Santa Marta im
Nordosten des heutigen Kolumbien, auf der Halbinsel Goajira, durch Rodrigo de
Bastidas gegründet.135 In Santa Marta herrschten bald Chaos, Hunger und
Konflikt unter den Conquistadoren, auch wegen des erbitterten Widerstands der
Indios. An Juan de Ampiés dem Jüngeren, einer der ersten Vecinos von Santo
Domingo auf La Española, wurde 1526 eine weitere Kapitulation über die Inseln
der Giganten (Aruba, Bonaire, Curaçao) vergeben. Antonio Herrera y
Tordesillas überliefert eine Aussage über Juan de Ampiés, die uns über die
Mechanismen und Legitimationen des karibischen Slaving aufklärt: “Juan de
Ampués, Factor Real en la isla de Española, hizo relación al Rey que habiendo
el año mil quinientos y trece, teniendo los Reyes Católicos información que, por
no haber forma para adoctrinar los indios de las islas inútiles, convenía que los
llevasen a la Española, y que fueron declaradas por islas inútiles las de Curaba,
Curaco y Buynare...”.136 Der Legende nach soll Ampiés sie Stadt Santa Ana de
Coro gegründet haben im Siedlungsgebiet der friedlichen Paraguaná-Indios,
134
Williams, Carolina A., Between Resistance and Adaptation. Indigenous Peoples and Colonisation of the Chocó,
1510-1753, Liverpool: Liverpool University Press, 2004.
135
Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada, por Fray Pedro de Aguado, con prólogo, notas y
comentarios por Becker, Jerónimo, 2 Bde., Madrid: Establecimiento tipográfico de Jaime Ratés, 1916-1917;
Aguado, Fray Pedro de, Recopilación Historial de Venezuela; estudio preliminar de Guillermo Morón, 2 Bde.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 62 und
63); siehe auch: Fals-Borda, Orlando, “Fray Pedro de Aguado, the Forgotten Chronicler of Colombia and
Venezuela”, in: The Americas 11:4 (April 1955): S. 539-573.
136
Herrera [y Tordesillas], Antonio, Historia general de los hechos de los castellanos en las islas y tierra firme del
mar océano [1601-1615], 17 Bde., Madrid : Academia Real de la Historia, 1934-1957, Bd. VII (1947), Dec. III, lib.
IX, cap. II, S. 361-365, hier S. 362f.
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Kaquetíos unter der Führung des spanienfreundlichen Häuptlings Manaure.137 In
Wirklichkeit fand er Handelspartner im Sklavengeschäft in der Indiosiedlung
Todarequiba. Die Siedlung wurde als „Coro“ Ausgangspunkt der Goldsuche
nach dem „Dorado“ in den Provinzen Venezuela und Santa Marta, aber auch
darüber hinaus bis zum Amazonasbecken.
Grundlegend war zunächst für alle Unternehmungen dieser frühen Zeit,
dass die Spanier „Freundschaft“ mit Indio-Völkern schließen konnten. Die
Spanier (und unter den Welsern auch die Deutschen) nutzten diese
„Freundschaften“, wie auch die Feindschaft zwischen Aruak und Kariben aus,
um ungeschriebene Verträge mit den Kaziken zu schließen, ihre Vornamen mit
den Eliten der Indios zu tauschen sowie Nachkommen mit den Töchter von
Kaziken zu zeugen und damit Kontrolle über die Clans der Indios zu
gewinnen.138 Wirklicher Gründer der Stadt Coro wurde der Ulmer Ambrosius
Alfinger.
Der spanische Chronist López de Velasco schrieb: „Die Stadt Coro, die
man gewöhnlich Venezuela nennt …“.139 Coro wurde die erste Hauptstadt und
die erste einigermaßen stabile Siedlung Venezuelas. Der Hafen der Stadt Coro,
etwa 12 Kilometer entfernt, hieß La Vela de Coro (seit 1555 kartographisch
nachgewiesen). Lange konnte sich Ampiés, der vor allem im Auftrag der
Kaufleute140 und Siedler von Santo Domingo als Sklavenhändler handelte, der
Neugründung nicht erfreuen: die Deutschen rückten an. Der Kaiser selbst griff
wieder ein.
Zur etwas bemühten Debatte um „Ampiés oder Alfinger“, siehe: Denzer, „Santa Ana de Coro“, in: Ebd., S. 290294; siehe auch: Ramos, La fundación de Venezuela (Ampiés y Coro: una singularidad histórica), Valladolid: Ed.
Demetrio Ramos, 1978; ob Ampiés wirklich Gründer war, ist nicht ganz klar, siehe: Denzer, Konquista der
Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika …, S. 70.
138
Szászdi León-Borja, István, „Guatiao, los primeros Tratados de Indias“, in: Actas y Estudios del IX Congreso
del Instituto Internacional de Historia del Derecho Indiano, Madrid 1991, Bd. I, S. 405-438; Szászdi León-Borja,
„Las élites de los cristianos nuevos: Alianza y vasallaje en la expansión atlántica (1485-1520)“, in: JbLA 36 (1999),
S. 7-31; Denzer, „’Freundschaft’: Das Verhältnis zwischen Konquistadoren und Eingeborenen auf den Entradas“,
in: Denzer, Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika …, S. 82-84.
139
„Corografía de la Gobernación de Venezuela y (de la) Nueva Andalucía, (años de) 1571-1574, por Juan López
de Velazco“, in: Relaciones Geográficas de Venezuela ..., S. 97-109, hier S. 99.
140
Zu den Verbindungen zwischen Santo Domingo und Sevilla, siehe: Otte, “Los mercaderes transatlánticos bajo
Carlos V”, in: AEA Vol. XLVII (1990), S. 95-121.
137
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Los Belzares: Schwaben, Schweizer und ein paar Sachsen kommen
„Ya con hambre, ya con alimentos / todos con Federman iban contentos [Mit Hunger oder mit Essen / mit
Federmann zogen alle selbstvergessen]“141
Um 1528 war das Gebiet des heutigen Venezuela, ähnlich wie das heutige
Nicaragua und Costa Rica zwischen 1527 und 1650, ein Grenz- und
Sklavenfanggebiet, eine „wilde Küste“ – entweder zur Belieferung von La
Española und Kuba oder zur Belieferung der Perlenfangzentren um Cubagua,
Margarita oder Cumaná mit Sklaven. Daran änderte sich auch nach 1528 nichts.
Las Casa beschreibt eine solche Sklavenfangrazzia entlang des Río Yuyaparí
(ev. der Río Yaruarí, der über den Río Cuyuní ins Innere Ostvenezuelas führt)
für 1529: „Por la provincia de Paria sube un río que se llama Yuyaparí, más de
doscientas leguas la tierra arriba; por él subió untriste tirano michas leguas al
año de mil e quinientos e veinte y nueva con cuatrocuientos o más hombres, e
hizo matanzas grandísimas, quemando vivos y metiendo a espada infinitos
innocentes que estaban en sus tierras y casas sin hacer mal a nadie, descuidados,
e dejó abrasada e asombrada y ahuyentada muy gran cantidad de tierra” [In der
Provinz Paria steigt ein Fluss auf, der sich Yuyaparí nennt, mehr als zweihundert
Leguas aufwärts; auf ihm fuhr ein trauriger Tyrann [Sklavenjäger – M.Z.] herauf
im Jahr 1529 mit vierhundert oder mehr Männern und machte größte
Abschlachtungen, er verbrannte Lebendige und metzelte durch das Schwert
Unzählige, die in ihrer Heimat und in ihren Häusern waren und keinem ein Leid
taten, ungeschützt, und er liess einen großen Landstrich zerstört und verbrannt
zurück, aus dem die Leute geflohen waren].142
Die Augsburger Welser bekamen in einer Reihe von Verträgen 1528143
die Gobernación („Herrschaft“ im Sinne von Regiment) über „Provinz
141
Joan de Castellanos, zit. nach: Campo del Pozo, P. Fernando, Historia Documentada de los Augustinos en
Venezuela durante la época colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1968 (Biblioteca de la Academia
Nacional de la Historia; 91), S. 9.
142
Las Casas, “Del río Yuyaparí”, in: Las Casas, Bartolomé, Obra indigenista, Alcina Franch, José (ed.), Madrid:
Alianza Editorial, 1985 (El libro del bolsillo), S. 42 (aus: “Brevíssima relación de la destruyción de las Indias”, in:
Ebd., S. 61-151).
143
Cédulas reales relativas a Venezuela, compilación y estudio preliminar por Otte, Caracas: Fundación John
Boulton : La Fundación Eugenio Mendoza, 1963; „Der Vertrag zwischen der Krone einerseits und Heinrich
Ehinger sowie Hieronymus Sailer andererseits. 27. März 1528“, in: Simmer, Götz, Gold und Sklaven: Die Provinz
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Venezuela und Cabo de la Vela“ vom Kaiser zugesprochen.144 Die Welser
schienen in ihren Kolonialengagement in diesem Teil des heutigen Venezuela145
(sowie auf den Kanaren, Kuba und Santo Domingo) ein eher - heutig
gesprochen - Gewinn- und Modernisierungsinteresse nach dem damaligen Stand
der Globalisierung zu haben: Kaufleute und Finanziers investieren in hoch
spekulative Edelmetallsuche und Jagd nach Spezereien – ausgelöst durch die
Nachrichten über die Eroberung Mexikos des Hernán Cortés und in Konkurrenz
zum portugiesischen Gewürzmonopol. Den Verträgen mit der Krone146 nach
wollten und sollten die Welser auch Städte und Schifffahrtslinien gründen,
Siedler und europäische Bergwerkspezialisten sowie Sklaven aus Afrika nach
Amerika bringen. 147 Die Welser führten weder Encomiendas ein noch machten
sie Landverteilungen (mercedes, composiciones).
Beim Welser-Unternehmen in Venezuela wurde besonders deutlich, dass
in der Conquista Amerikas sich seit der Ablösung von Kolumbus durch einen
von der Krone gesandten Vertreter um 1500 zwei entgegen gesetzte
Kräftegruppierungen gegenüber standen, die allerdings durch eine Vielzahl von
Querverbindungen und Interessen in Gemengelage nicht immer einfach zu
unterscheiden sind. Lokale Kräfte von Conquistadoren, Schiffsausrüstern
(armadores), Kaufleuten und Siedlern sowie compañas von Conquistadoren, die
aus dem común (eine Gruppe von Soldaten) und ihren Anführern, den capitanes
Venezuela während der Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag, 2000, S. 757770.
144
Archivo General de Indias, Sevilla, Audiencia de Caracas, Registros de Oficio y Partes. Reales Ordenes,
Resoluciones, etc., para las autoridades y particulares de la provincia de Venezuela (1533-1604), Legajo 1,
Documento 4 : Bestätigung, dass die Welser durante la vida de los dichos Bartolomé und Antonio Belzar [während
des Lebens der besagten Bartolomäus und Anton Welser] das Recht haben Gouverneure zu ernennen, abzusetzen
und zu versetzen ; das Recht bezieht sich auf die „provincia de Venezuela y Cabo de la Vela“ (Karl V., Madrid, 5.
Oktober 1535, an Bartolomé und Antonio Belzar).
145
Entspricht etwa der westlichen Hälfte des heutigen Venezuela und dem nordöstlichen Teil des heutigen
Kolumbien, ohne Begrenzung in Richtung Inneres des Kontinents.
146
Großhaupt, Walter, „Der Venezuela-Vertrag der Welser“, in: Scripta Mercaturae 24, Heft 1/2 (1990), S. 1-35.
147
Simmer, Gold und Sklaven …, passim; Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, in: Otte, Von Bankiers und
Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion
Spaniens, Vollmer, Günter; Pietschmann (eds.), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004 (Studien zur modernen
Geschichte, Bd. 58), S. 117-159; Otte, „Jakob und Hans Cromberger und Lazarus Nürnberger. Die Begründer des
deutschen Amerikahandels“, in: Ebd., S. 161-197; Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod.
Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und Finanzinteressen bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in :
Ebd., S. 199-233.
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oder adelantados148 bestanden sowie stärker zentralistisch orientierte Kräfte, die
direkter mit der Krone in Spanien verbunden waren. Die Konflikte, Intrigen und
Kämpfe, die daraus resultieren, zeigten sich auch in der Geschichte des frühen
Venezuelas. Kompliziert war das Konfliktgeflecht oft auch deswegen, weil in
den neu endeckten Gebieten Stellvertreterkämpfe ausgefochten wurden. Die
Entdeckung, Conquista und Besiedlung de las Indias149 war ein Privileg der
Kastilier gewesen und so sollte es laut Testament von Königin Isabella (gest.
1504) bleiben, auch als nach 1502 von einem Mundus Novus150, von einer
Neuen Welt, gesprochen wurde. Ferdinand der Katholische machte es sich nun
zur Aufgabe, einerseits die Konflikte zwischen Aragonesen und Katalanen
sowie Basken (deren König er war) sowie Kastiliern durch Betonung des
Spaniertums abzubauen und andererseits die Unterschiede zwischen Spaniern
und „Fremden“ zu betonen. „Fremde“, extrajeros, waren damals vor allem
„Flamen“ (Niederländer, im englischen Wort Dutch = Deutsche) – der Sohn der
Tochter des Königs Ferdinand, Juana, mit Philipp von Habsburg, Karl (1500 in
Gent geboren), später Karl V. kam aus Flandern - und alemanes (worin der
Begriff Alemannen=Deutsche leicht zu erkennen ist; für die die Engländer erst
im 16. Jahrhundert ein neue, sozusagen „humanistisches“ Wort, Germans,
erfinden mussten). Und Franzosen sowieso, aber auch Schweizer, die ja
durchaus auch, zumindest in der Nordschweiz, unter Alemannen gefasst werden
148
Góngora, Mario, Los grupos de conquistadores en Tierra Firme (1509-1530). Fisonomía histórico-social de un
tipo de conquista, Santiago de Chile: Universidad de Chile, Centro de Historia Colonial, 1962.
149
Las Indias, die Indien, wurde Amerika in dieser frühen Zeit in Spanien genannt; der Name „America“ wurde erst
1507 von dem lothringischen Kosmographen Martin Waldseemüller in Auswertung der Reisen des Amerigo
Vespucci mit Ojeda nach Venezuela und nach Brasilien (nach dem Vornamen Amerigo) „Land des Amerigo“
(Americe) und, wegen des Wohlklanges, America genannt. Genauer gesagt war dieser Name auf der berühmten
Weltkarte (in der Cosmographiae Introductio, 1507) dem nördlichen Südamerika (also auch Venezuela)
vorbehalten, während Nordamerika noch wie eine große Insel erscheint (siehe: „Der Ursprung des Namens
„Amerika“: Auszug aus der „Cosmographiae introductio“ des Martin Ringmann und Martin Waldseemüller
(1507)“, in: Dokumente, Bd. II: Die großen Entdeckungen, ed. Schmitt, Eberhard, München: Verlag C.H. Beck,
1984, S. 13-17). In Spanien wurde bis in das 18. Jahrhundert die Bezeichnung las Indias de Castilla (die Indien
Kastiliens) oder los reinos ultramarinos (die überseeischen Königreiche) – nach formaler Rechtslage waren sie
keine Kolonien – benutzt. Erst seit 1750 setzte sich Amerika als Bezeichnung breitflächig durch, siehe: Milhou,
„Die neue Welt als geistiges und moralisches Problem (1492-1609)“, in: Handbuch, Bd. I, S. 274-296.
150
“Amerigo Vespucci berichtet Lorenzo di Pier Francesco de’ Medici über die Bewohner der Neuen Welt (1502)”,
in: Dokumente, Bd. 2, S. 174-181; zum gedruckten Text des Mundus Novus (erstmals 1503/04 in Paris), siehe: Die
Neue Welt: Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, ed. und mit einer
Einleitung versehen von Rodríguez Monegal, mit zeitgenössischen Illustrationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1982, S. 81-88.
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können. Genuesen, Florentiner und Neapolitaner hatten es dagegen leichter, weil
italische Kaufleute schon seit langem in den großen Küstenstädten der
iberischen Halbinsel wirkten.
Die unbeliebten „Fremden“ galt es, von Amerika fern zu halten, denn sie
drängten mit dem Ehemann von Juana „der Wahnsinnigen“, Philipp I., „dem
Schönen“ in die iberische Politik und Wirtschaft. Juana war die Tochter von
Isabella und Ferdinand. Die Fremden drängten auch in das sagenumwobene
Indien, die „Neue Welt“. Ferdinand ließ eine Expertengruppe bilden, die am
Hof, angeführt von Schatzmeister Miguel de Pasamonte, und in der Karibik um
Diego Colón, den Sohn des Entdeckers, im Namen und Auftrag des Königs
operieren sollte. Dabei kam es innerhalb dieser Gruppe vor allem „on the spot“,
also in der Karibik, immer wieder zu starken Friktionen. Diego Colón war eben
Vizekönig. Und er übte vor Ort in La Española die Macht aus. Das führte dazu,
dass Ferdinand von Aragón, angesichts der – aus seiner Sicht –
Selbstherrlichkeiten von Diego Colón (dazu kam ein für Colón positives
Gerichtsurteil 1511) die Anstrengungen in und um die ausländerfeindliche
Gruppe der Fernandinos verstärkte. Eines der ersten Ergebnisse dieser
Anstrengungen war 1511 die Ernennung von Juan de Ampiés zum königlichen
Faktor auf der Insel Española, den anderen Inseln Indiens und der Tierra Firme.
Als König Ferdinand 1516 starb, trat eine Regentschaft unter Kardinalprimas
Cisneros ihr Amt in Spanien an (bis 1517, als der spätere Karl V. als Carlos I die
Macht im Namen seiner Mutter Juana antrat). Cisneros schickte eine
Kommission von Hieronymiten-Mönchen nach Amerika.151 Diese machten
Ampiés zum Faktor für alle Indios, die nicht auf La Española residierten. Das
bedeutete, je nach Interpretation, Ampiés konnte als „Schützer der Indios“
agieren oder er wurde zum Bestimmer darüber, ob sie als „Kariben“ angesehen
wurden und versklavt werden durften. Ampiés tendierte zu Letzterem.
Besonders insistierte Ampiés darauf, dass man ihm zwei Gebiete zu direkten
Otte, „Los Jeronimos y el tráfico humano en el Caribe : una rectificación”, in: Anuario de Estudios Americanos
(AEA) Vol. XXXII (1975), S. 187-204.
151
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Kontrolle überließe (woher offensichtlich damals die Masse der Indiosklaven
nach La Española, Kuba und Puerto Rico kam): die von Anderen als ziemlich
gering bewerteten islas inútiles („unnütze Inseln“ - vor allem Bahamas, kleine
Antillen und die der venezolanischen Westküste vorgelagerten ABC-Inseln
Aruba, Bonaire und Curaçao) sowie die trockene tierra caquetía an der Tierra
Firme, der Küstenstreifen von Coro bis zum Maracaibosee (den man in dieser
Zeit, seit 1530 samt Barquisimeto-Tal, noch für einen Zugang zum „Südmeer“
(Südsee, Pazifik) hielt. Die Landung Ampiés in Coro 1527 war ein Ergebnis
seiner Indio-Aktivitäten – das Ziel hieß einerseits immer noch verschärfter
Sklavenhandel sowie mehr Perlen. Strategisch sollten der Ort an den Küsten der
Tierra Caquetía Ausgangspunkt für die Suche nach „Birú“ (Peru) oder ein
anderes „Goldreich“ oder die Inseln der Spezereien im Südmeer sein.152 Diesen
Plänen kamen die Geldnöte des Kaisers und Königs Karl in die Quere.153 Karl
stammte aus Flandern. Er war der Sohn von Juana „der Wahnsinnigen“ (Tochter
Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragón) und Philipps I., „des
Schönen“ (Sohn Kaiser Maximilians von Habsburg); geboren in Gent im Jahr
1500.
Im Grunde zeigte sich damit schon am Beginn der Entwicklung
monarchischer Nationen in Europa, dass an ihrer Wiege Kapital (im Sinne von
angehäuftem und auf Investition drängenden Kaufleute-Gewinnen) und
Globalisierungstendenzen standen.
Die Erschließung der Provinz Venezuela [Karte 154] öffnete den Welsern
potenziell eine Reihe wirtschaftlicher Optionen, einschließlich des Abbaus von
Bodenschätzen, der Ausbeutung von Perlenvorkommen, der Produktion von
152
Gil, Juan, Mitos y utopías del descubrimiento (Colón y su tiempo), 3 Bde., Madrid: Alianza Editorial, 1992 (vor
allem Bd. III); Edelmayer, Friedrich, “Hispanoamerika im 16. Jahrhundert”, in: Edelmayer; Grandner, Margarete;
Hausberger, Bernd (eds.), Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien: 2001, S. 61-82;
Lima, Blanca de, „Presencia y actuación de los Welser en la provincia de Coro“, in: Rodríguez (comp.), Alemanes
en las regiones equinocciales ..., S. 14-34.
153
Tracy, James D., „Der Preis der Ehre: Die Finanzierung der Feldzüge Kaiser Karls V.“, in: Kohler, Alfred;
Haider, Barbara; Ottner, Christine (eds.), Karl V. 1500-1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und
Übersee, Wien: Verlag der Österreich. Akademie der Wissenschaften, 2002 (Zentraleuropa-Studien Bd.6), S. 153164.
154
Arellano Moreno, Antonio, Origenes de la economía venezolana, Caracas: Universidad Central de Venezuela;
Ediciones de la Biblioteca, 1973, S. 78.
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Agrargütern, der Teilnahme am Sklavenhandel und der Utopie einer via corta zu
den Molukken (der „Inseln der Spezereien“ im Südmeer).155 Die Firma bezog
Anfangs alle Optionen ernsthaft in ihre Kalkulationen ein. Zudem hatten die
Welser große Erfahrungen im Handel mit Gewürzen, damals Spezereien
(especerías) genannt, worunter man alle möglichen Gewürze und Gerüche, wie
Pfeffer, aber Muskat oder Muskatblüte, auch Zucker, verstand. Die Faktoren
(führende Angestellte) des Welser-Unternehmens in Venezuela, vor allem die
erste Generation ihrer Gouverneure, alcaldes mayores (Oberrichter) und
wirtschaftlich Verantwortlichen, stammten aus dem oberschwäbischschweizerischen Raum (Konstanz, Ulm, Memmingen, St. Gallen, Bern und
Lindau) – fast alle mit Erfahrungen in Spanien- und Mittelmeerhandel.156 In
Amerika hatten die Welserangestellten beträchtliche Entscheidungsfreiräume,
mussten aber für die Ausrüstung von Expeditionen auf eigenes Risiko Kredite
beim Stammhaus in Europa aufnehmen. Deshalb hatten sie an nachhaltigen
Projekten wenig Interesse. Zudem bekamen sie nur Zeitverträge und verhielten
sich von Anfang an illoyal. Ob die Welserchefs in Augsburg, ähnlich wie Anton
Fugger (1493-1560) gleichen Orts, parapsychologische Fähigkeiten hatten und
ihre Angestellten in Venezuela in einer Kristallkugel zu beobachten suchten, ist
nicht bekannt.157
Bereits Anfang der dreißiger Jahre wurde das Montanprojekt der Welser –
vor allem durch die Faktoren Nikolaus Federmann (aus Ulm) und Ambrosius
Alfinger (wahrscheinlich aus Ulm) – torpediert. Die Faktoren waren mehr an
Plünderungen indianischer Schätze, Grabraub und an Sklavenjagd interessiert,
als an langfristigen Prospektionen, kostspieligen Montananlagen und Bergbau.
Ramos, „Diego Caballero y su capitulación para el Maracaibo – como via hacia la Especería – y la posible
atracción de los Welser”, in: Ramos, Estudios de Historia venezolana, Caracas: Italgráfica, 1976 (Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia; Bd. 126), S. 167-178.
156
Eitel, Peter, Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft, Ravensburg: Ulmer Volksbank, Filiale Ravensburg,
1984; Widmann, Werner, Die Bodenseehanse: aus der Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft,
München: Bayerische Vereinsbank, Zentralbereich ÖAV, 1988; Denzer, „Die Welser-Faktoren in Übersee. Ihre
Herkunft und die Auswirkungen ihrer Stellung in der Gesellschaft auf das Übersee-Unternehmen“, in: Denzer, Die
Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S., 59-68.
157
Roper, Lydal, „Bedrohte Männlichkeit. Kapitalismus und Magie in der frühen Neuzeit“, in: Roper, Ödipus und
der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt: Fischer, 1995, S. 127-133.
155
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Ob das auch für die Mannschaften zutrifft, ist unbekannt, aber wahrscheinlich.
Die Bergleute, die die Welser etwa aus dem Erzgebirge, aus Tirol oder aus dem
Harz nach Amerika geschickt hatten, wurden unter diesen Umständen in die
Mannschaften der Conquista-Züge eingereiht.158 Übrig blieben Plünderungen
und heldenhafte Märsche der Conquistazüge, entradas (Razzien) genannt, die
auf Suche nach Mythen, Gold und Sklaven in Indianergebiete führte und dort
oftmals - um bei ihrer geringen Anzahl maximalen Schrecken gegen
kriegerische Indios zu verbreiten - alle Männer als Träger verschleppten, den
Rest umbrachten und alles in Schutt und Asche legten. Wenn die Indios nicht
„Freundschaft“ mit den Conquistadoren schlossen und ihnen friedlich
Nahrungsmittel, Träger und Frauen stellten. Das war übliche Praxis aller
Conquistadoren, auch wenn Las Casas einige der deutschen Entrada-Anführer,
speziell Ambrosius Alfinger, als besonders grausam darstellte und als
Lutheraner verteufelte.159 Ganz abgesehen davon holten sich die oberdeutschen
und Schweizer Konquistadoren bei vielen Kämpfen mit Indios blutige Köpfe
und konnten oftmals nur überleben, weil sie sich Kulturvermittlern bedienten,
die bei den Indios gelebt und deren Sitten angenommen hatten.160 Aber nicht nur
Las Casas war gegen die Deutschen, als wichtiger erwies sich die Rebellion der
spanischen Siedler von Coro und ihrer Aruak-Frauen gegen die Reste der
Welser-Verwaltung nach dem Bekanntwerden des Todes von Ambrosius
Alfinger. Die Krone erfüllte die meisten Forderungen der Rebellen.
Schon nach zwölf Jahren war die frühe Globalisierungs-Utopie dahin.
Schicksalhaft gestaltete sich die Entscheidung der Augsburger Herren 1540161,
die meisten der Anfangs-Optionen endgültig fallen zu lassen und sich auf die
Suche nach Gold und die Eroberung von Indianer-„Gold“-Reichen zu
Denzer, „Die Sabotierung des Montanprojektes“, in: Denzer, Die Konquista der Augsburger WelserGesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 79-81.
159
Casas, Bartolomé de las, Brevísima Relación de la Destruición de las Indias, Madrid, 1999, S. 147; der
Rücktransport des Goldes der Alfinger-Entrada (1531-1533) ist eines der bestdokumentierten Beispiele für
Kannibalismus unter den Conquistadoren, siehe: Friede, Juan, „La extraordinaria experiencia de Francisco Martín
(1531-1533), con nota preliminar de Juan Friede“, in: Boletín Histórico 7 (Enero de 1965), S. 33-46.
160
Ebd.
161
Nachdem sie von der Entscheidung erfahren hatten, Cundinamarca und Venezuela zu trennen, siehe unten.
158
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konzentrieren. Viele dieser Reiche waren schlicht erfunden und existierten nur
als Mythos (griechisch: Erzählung). Da aber zugleich einige eroberte Reiche
(wie die der Azteken und Inkas) wirklich viel Gold und Schätze eingebracht
hatten, wirkten die Mythen. Von 1541 bis 1546 zogen 100 KonquistaVeteranen, alle beritten, unter den deutschen Ritter Philipp von Hutten durch die
feuchten Urwälder Südvenezuelas und der Amazonía, die bis heute nicht
vollständig erforscht sind.162 Die letzte Entrada Huttens brachte die Firma
zusätzlich in finanzielle Schwierigkeiten. Als Philipp von Hutten weit im Süden
bei den „Amazonen“ war und dort mehrere Niederlagen einstecken musste,
glaubten die Siedler von Coro einerseits, er und seine Leute seien tot,
andererseits brach in Coro Chaos aus, weil auch einer der letzten oberdeutschen
Faktoren, Heinrich Rembold, 1544 gestorben war. Andererseits deutlich wurde,
dass die Welser in Augsburg, die damals als die „reichste Stadt der Welt“163 galt,
nicht mehr gewillt waren, frische Gelder in das Venezuelaunternehmen zu
stecken. Krone und Indienrat in Spanien mussten reagieren, zumal auch immer
mehr Klagen der Spanier in Venezuela über die Deutschen kamen. Als
Stellvertreter eines Stellvertreters zur Untersuchung der Vorgänge in Coro
wurde ein Notar (was damals vor allem bedeutete: des Lesens und Schreibens
Kundiger Rechtsgelehrter) namens Juan de Carvajal als Richter nach Coro
geschickt. Carvajal hatte vorher lange in Maracaibo und Coro gewirkt (etwa
vergleichbar mit der frühen Karriere von Hernán Cortés auf La Española und
Kuba) und war entschlossen, seine Chance zu nutzen. Er bekam GouverneursVollmachten nur für Coro. Als Carvajal im Januar 1545 in der Stadt ankam,
erfasste er die explosive Stimmung. Die letzte von den Welsern finanzierte
Expedition unter Hutten schien verschwunden; der Welser-Faktor Heinrich
Rembold war tot; es herrschte Chaos und Rechtlosigkeit. Die Sklavenjäger, die
Denzer, „Die Entrada Philipps von Hutten zum ‚El Dorado bei den Amazonen’ 1541-1546“, in: Ebd., S. 168180.
163
Roeck, Bernd, Geschichte Augsburgs, München: Verlag C.H. Beck, 2005, S. 91-105; Häberlein, Mark;
Burkhardt, Johannes (eds.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen
Handelshauses, Berlin: Akademie Verlag, 2002 (Colloquia Augustana, Bd. 16).
162
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Rembold von der Insel Cubagua engagiert hatte, drängten darauf, eine neue
Siedlung im Innern zu gründen, um weiter ihren Geschäften nachzugehen.
Zugleich waren Sklavenjagd und Indiosklaverei mit den Nuevas Leyes (1542/43)
offiziell von der Krone kriminalisiert worden. Carvajal ließ den zurückgekehrten
Hutten und Bartholomäus Welser d. J. und weitere Männer in einem Hinterhalt
bei El Tocuyo ermorden (Mai 1546).164 Er hatte auch ein Dokument gefälscht, in
dem er sich selbst die Erlaubnis zur Gründung einer Siedlung im Hinterland gab.
Mit dieser Gründung, El Tocuyo, setze er sich an die Spitze der Mehrheit in
Coro – der „arbeitslosen“ Sklavenjäger aus Cubagua. El Tocuyo, die Siedlung
der Sklavenjäger, Welserleute und des stellvertretenden Stellvertreters eines
königlichen Funktionärs, eines Notars, der Dokumente fälschte, wurde zum
Ausgangspunkt der neuen Kolonisierung Venezuelas.
Allerdings ließ die Strafe des Indienrates nicht lange auf sich warten:
bereits Ende August 1547 traf Juan Pérez de Tolosa als neuer Gouverneur und
Oberrichter in El Tocuyo ein. Carvajal wurde verurteilt, gehängt und gevierteilt.
Wichtig war, dass die Welser in Augsburg wegen der politischen
Entscheidung der Krone, den Nuevo Reino de Granada (Cundinamarca) und
Bogotá nicht ihrem Kolonisationsgebiet zuzuschlagen, ihr Interesse an
Venezuela völlig verloren.165 1556 wurde den Welsern die Provinz Venezuela
offiziell aberkannt – nach langen Gerichtsverfahren.166 Die oberdeutschen
Globalisierer konnten im frühen Amerika nichts oder kaum etwas ausrichten.
Nach der Conquista Bogotás und Cundinamarcas war im Groben klar,
dass alle wichtigen Reiche Amerikas bekannt waren. Die kolonisierten Teile
Amerika wurde unter Philipp II. hispanisiert - es wurde wirklich zu einem
Spanischen Amerika (unter dem Namen Las Indias). Es handelte sich allerdings
164
Schmitt, Eberhard; Hutten, Friedrich Karl von, Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des WelserKonquistadors und Generalkapitäns von Venezuela, Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen : Verlag
Frankenschwelle, 1996; Schmitt; Simmer (eds.), Tod am Tocuyo. Die Suche nach den Hintergründen der
Ermordung Philipps von Hutten 1541-1550, Berlin: Berlin Verlag Spitz, 1999; Simmer, Gold und Sklaven …, S.
530-566.
165
Denzer, „1541-1546: Interregnum und territorialer Zerfall der Provinz“, in: Denzer, Die Konquista der
Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 181-183 sowie „Schlussbetrachtung“, Ebd., S.
319-327, hier S. 320.
166
Simmer, Gold und Sklaven …, S. 789f.
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in Wirklichkeit nur um etwa 10% der auf den offiziellen Karten ausgewiesenen
Territorien (auch verschiedene regionale Gemeinschaften Spaniens, wie die
Katalanen, hatten bis in das späte 18. Jahrhundert Schwierigkeiten, sich am
Amerikahandel zu beteiligen; die Basken dagegen waren fast von Anfang an
dabei; da im Baskenland fast alle die hidalguía universal – eine Art niederer
Adel hatten, stellten sie besten Diener der Krone in Amerika), das gilt auch und
gerade für den Vorfahren Simón Bolívars (1783-1830), Simón de Bolívar, dem
„Alten“ (1532-1612), der nach langem Dienst in Santo Domingo 1589 in das
1567 neugegründete Caracas kam, dort siedelte und Mitglied der königlichen
Verwaltung (procurador general, regidor perpetuo von Caracas) wurde – nicht
zuletzt wegen seiner baskischen Hidalguía. Die Welser-Episode dagegen ist im
sozialen Sinne167 nicht prägend für die Geschichte Venezuelas geworden – aber
sie hat deutliche Spuren hinterlassen, unter anderem in der deutschen
Historiographie des 20. und 21. Jahrhunderts (mit mindestens einem halben
Dutzend wichtiger Bücher168). Wenn man klassische Genealogie mag, hat die
Episode auch Spuren in der Familiengeschichte Bolívars hinterlassen. Seine
Mutter, María de la Concepción Palacios y Blanco, stammte mütterlicherseits
von einem Familieclan mit dem Namen Xedler (Gedler oder Schedler) ab –
zweifellos ein oberdeutscher Name.169 Das will allerdings nicht allzu viel sagen,
denn unter den Ahninnen des Libertadors, der zweiten Frau seines Ur-UrGroßvaters Juan de Bolívar am Beginn des 18. Jahrhunderts, findet sich auch
eine María Petronila de Ponte, deren Mutter wiederum illegitimes Kind einer
Frau war, die im Taufregister nur unter den Vornamen María Josefa eingetragen
ist – für gewöhnlich Ausweis über die Herkunft aus einer Verbindung zwischen
Herr und Sklavin.170
Denzer, „Die Zeugnisse: Genetisches Erbe der deutschen Konquistadoren?“, in: Ebd., S. 308 sowie: Denzer,
„Die Diskussion um die „deutschen Gene“, in: Ebd., S. 309-311.
168
Schmitt, Simmer, Häberlein; Burghardt, Denzer, die eine Tradition fortsetzen, die es seit Häbler, Konrad, Die
Überseeischen Unternehmungen des Welser und ihrer Gesellschafter, Leipzig: 1903.
169
Fuentes Carvallo, Rafael L., La estirpe manchega y la sangre alemana del Libertador, Caracas: s.l., 1976.
170
Masur, Gerhard, “Youth”, in: Masur, Simon Bolivar, Albuquerque: The University of New Mexico Press, 1848,
S. 28-45, hier S. 29.
167
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Territorien, Provinzen und Häfen
Die engere Kolonialzeit Amerikas begann auf La Española 1493, auf
Kuba 1511, in Mittelamerika um 1513, in Mexiko 1521 und in Peru sowie
Kolumbien um 1540 - in Venezuela begann die Kolonialzeit erst um 1570. Die
Geschichte dieser Frühzeit Venezuelas vor 1570, unter Einschluss der
Welserepisode und der Aguirre-Rebellion, findet sich im Werk der
Franziskaners Fray Pedro de Aguado (1538-1589?). Er schrieb um 1575 eine
zweiteilige Recopilación histórica, die aus den beiden Teilen Historia de Santa
Marta y Nuevo Reino de Granada sowie Historia de Venezuela bestand, also
Teile des heutigen Kolumbiens und des heutigen Venezuelas erfasste.171 Obwohl
das Manuskript als Handschrift zirkulierte und 1581/82 auch eine
Druckerlaubnis König Philipps II. erging, ist das Werk erst im 20. Jahrhundert
gedruckt worden.
Stellt man sich, wie der räumlich denkende Humboldt die Küstengebirge
der südamerikanischen Tierra firme, zu der auch die Küsten Venezuelas
gehören, als eine Art Mauer vor, dann zeigt sich, „daß nur die Uferkette … von
Darién, S[anta] Marta Marta an die Küste von Paria als Mauer fortsetzt
(vollkommene natürl[iche] Durchbrüche in dieser sind acht, nemlich Río de la
Magdalena [Cartagena], Río de la Hacha [Santa Marta], Laguna de Maracaibo
[Maracaibo], Quebrada de Aguas Calientes de Puerto Cabello [Puerto Cabello],
Quebrada de Catia [Caracas], Río Tuy, R[ío] Unare und Río Neverí [Barcelona
kontrolliert im Grunde beide Flüsse, obwohl nur der Neverí durch die Stadt
fliesst]“.172
171
Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada, por Fray Pedro de Aguado, con prólogo, notas y
comentarios por Becker, Jerónimo, 2 Bde., Madrid: Establecimiento tipográfico de Jaime Ratés, 1916-1917;
Aguado, Fray Pedro de, Recopilación Historial de Venezuela; estudio preliminar de Guillermo Morón, 2 Bde.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 62 und
63)
172
Humboldt, Alexander von, Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von
Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), in:
S. 311-389hier S. 339
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Die einzelnen Entradas, Conquistas und Siedlungsvorstöße, die im
Grunde fast alle von den von Humboldt genannten Durchbrüchen an den
karibischen Küste der Tierra firme ausgingen, zogen sich bis zum Ende der
Kolonialzeit und dauerten zum Teil im 20. Jahrhundert noch an. Teilnehmer der
Entradatrupps waren nach 1550 vor allem Kreolen, in Amerika geborene
Menschen (zwischen 1520 und 1570 oft in Allianz mit in Afrika geborenen
Menschen), meist Männer, die sich españoles (Spanier) oder cristianos
(Christen) nannten. Zu den Entrada-Milizen gehörten seit den dreißiger Jahren
des 16. Jahrhunderts auch Kleriker (meist Missionare).173 Diese verlängerte
kreolische Conquista hat die Mentalität der Bewohner Venezuelas tief geprägt.
Nach den sehr punktuellen Versuchen, Cubagua, Coro und Santa Marta
sowie ihr Hinterland, wie auch einige Gebiete der Llanos, sozusagen auf einen
Schlag in globale Wirtschaftskreisläufe der damaligen atlantischen Welt
einzubeziehen, blieb das heutige Venezuela in vierfacher Hinsicht Peripherie.
Im Osten, im Grunde schon östlich von Cumaná174, in den Gebieten
zwischen Paria und den Orinikomüdungsarmen, dem País de Curiana, aber erst
recht weit über die Orinokomündung hinaus, wo irgendwo das portugiesische
Gebiet anfing, verlor sich das Land in Urwäldern, Mangrovendickichten und
einem Gewirr von Flüssen und Flussarmen, unterbrochen von einigen wenigen
Kakao- und Tabakpflanzungen. Schon 1519/1522 fegte ein großer
Karibenaufstand die Conquistadores weg. 175 Humboldt hat dazu in seinen
Tagebüchern, nach der Lektüre von Feijóos „Teatro crítico universal“ (1773)
und Caulins, „Geschichte Neu-Andalusiens“176 in der Bibliothek des Klosters
Carrocera, “Reducción, población y evangelización”, in: Carrocera, Misión de los capuchinos en los llanos de
Caracas ..., S. XXVI-XXIX; Cardoza Sáez, Ebert, “Milicias y encomiendas en los Andes venezolanos durante el
período colonial“, in : Tierra Firme 74, Año 19 (Abril-Junio de 2001), S. 213-223, hier S. 219f.
174
Nestares Pleguezuelo, María José, El comercio exterior del oriente Venezolano en el siglo XVIII, Almería :
Universidad de Almería, 1996; Nestares Pleguezuelo, Fiscalidad y marginalidad en el Oriente Venezolano en el
siglo XVIII, Almería : Universidad de Almería, 1999.
175
Es erhoben sich die Indios von Cumaná, Cariaco, Chichivirichi, Maracapana, Tacarias, Neverí und Unari sowie
der Sklaven von Cubagua, siehe: Venezuela en los Cronistas Generales de Indias, 2 Bde., Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1962 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 58 und 59), Bd. I, 62-65.
176
Caulín, Antonio, Historia de la Nueva Andalucía. Estudio preliminar y edición crítica de Pablo Ojer, S.J., 2 Bde.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966 (Biblioteca de Academia Nacional de la Historia, Bde., 81 und
[82), S. 192-199.
173
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Caripe, zwischen dem 17. und dem 22. September 1799, unter der Überschrift
„Historische Notizen, welche in das Gemälde von Amerika verwebt werden
sollten“, geschrieben: „An den Küsten von Cumaná, Caraccas und Venezuela
steht jetzt der Name der deutschen Nazion in fürchterlichem Angedenken.
Alfinger und Bartolomaeus Sailer sind die schändlichen Menschen, welche
jenen Namen durch ihre Unthaten gebrandmarkt. Die Augsburger Kaufleute
Welser, welche Karl V. große Summen vorgeschossen … Dort [am Río Tigre im
Osten Venezuelas] sonst Span[ischer] Sklavenhandel. Spanier raubten Kinder
und Weiber. Daher nehmen Indianer den Jes[uiten]-Missionar gern auf, wenn er
sagt, er sein kein Spanier. […] Auf diese Nachricht [von der Entdeckung NeuAndalusiens – M.Z.] erhielten Erlaubniß von K[arl V.] die Entdekkung
fortzusezen, aber nicht am entdekten Lande [das von Kolumbus auf seiner 3.
Fahrt entdeckte Land] auszusteigen – Pedro Alonso Niño und die Seviller Luis
und Christóval de la Guerra. Des Verbots ungeachtet lernten sie zuerst N[eu]Andal[usien] genauer kennen, luden Brésil [Farbholz – M.Z.] an der Küste von
Paria, Perlen in Cubagua, und handelten Gold von dem Inianer Cumanagotto
(Barcel[ona]) ein. Sie segelten bis Maracaivo, und da sie dort Widertstand
fanden, kamen sie zurük und endekten nun zuerst die Saline an der P[unta]
Araja. K[aiser] Karl V. erklärte nun alle Indianer, welche Widerstand leisteten,
für Sklaven. Nun lief alles auf Sklavenhandel, bes[onders] von Hispaniola aus,
und man zwang die Sklaven in Cubagua, wo die Spanier Neu-Cadiz gründeten,
Perlen zu suchen … [noch ca. 12 Zeilen]“.177
Im Osten herrschten bis um 1650 die Völker der Kariben in Allianzen mit
verschiedenen Europäern und ihren Nachkommen. 178 Die Kariben begannen
seit 1620 (und eher), mit Kapitänen aus den Niederlanden, England und
Frankreich oder Portugal Geschäfte zu machen.
177
Humboldt, Vorabend ..., S. 292-293 (Dokument 212).
Castillo Hidalgo, Ricardo Ignacio, Asentamiento español y articulación interétnica en Cumaná (1560-1620),
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 2005 (BANH; 259).
178
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In Süden erstreckten sich nicht weit hinter dem Fuß der Kordilleren die
lebensfeindlichen und zu diesem Zeitpunkt im Grunde unbesiedelten
Grassavannen der Llanos. Im Grunde ein Niemandsland. Es gibt nur wenige
einigermaßen bequeme Durchgänge zwischen Küste und Llanos, so zum
Beispiel das von Nikolaus Federmann179 als „das ebenste und schönste Land,
das in India gefunden werden mag“180 gepriesene „Tal von Barquisimeto“, was
zwar so nicht stimmt, da das „Zwischenland“ von Barquisimeto nicht eben und
auch nicht wirklich ein Tal ist.181 Aber es ist ein schönes Bild. Viele
Indianervölker und einzelne Indios sowie Sklaven oder desertierte Soldaten und
Mörder flohen in den unwirtlichen und heißen Süden der Llanos, in der ein
halber Jahr extreme Trockenheit sowie Hitze und ein halbes Jahr
Überschwemmung, feuchte Schwüle und Insekten sowie Krankheiten (Malaria
und amerikanische Schlafkrankheit) herrschten.182 Rund 17% aller
landwirtschaftlich heute noch genutzten Pflanzen stammen aus Amerika; nach
Amerika gelangte im Austausch europäisches Großvieh. Die biologische
Revolution, die die Conquista ausgelöste, machte die Llanos zu einem „wilden“
Süden der Rinder und Pferde – und stellten das Llano-Venezuela in eine Reihe
mit den großen Prärien, Savannen und Pampas Amerikas. Und hinter dem
großen Fluss, der „Flusswelt“, wie Humboldt gesagt hat, des Orinoko, lagen die
Wildnisse der venezolanischen Guayana. Die Geschichte der Entdeckung des
Orinoko allein könnte Gegenstand eines Buches sein.183
Avellaneda, José Ignacio, „The Men of Nikolaus Federmann. Conquerors of the New Kingdom of Granada”, in:
The Americas (TAm), Vol. 53 (1986/87), S. 385-394.
180
Federmann, Nikolaus, Indianische Historia. Mit einem Vorwort von Juan Friede, Illustrationen von Peter
Hahlbrock, München: K. Renner, 1965, S. 39.
181
Sievers, Wilhelm, „Das Zwischenland von Barquisimeto“, in: Sievers, Zweite Reise nach Venezuela in den
Jahren 1892/93 auf Kosten der Geographischen Gesellschaft zu Hamburg, Hamburg: L. Friedrichsen & C., 1896
(Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, Band XII), S. 94-105.
182
Die beste Beschreibung stammt immer noch von Alexander Humboldt, siehe: Humboldt, Alexander von, „Über
die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt, Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs
Farbtafeln nach Skizzen des Autors, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von
Hans Magnus Enzensberger), S. 15-168.
183
Gumilla, S.I., P. José, El Orinoco Ilustrado y Defendido, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 68); Vila, “Etapas históricas de los descubrimientos del
Orinoco“, S. 51-80; Lucena Giraldo, Manuel, Laboratorio tropical: la expedición de límites al Orinoco, 1750-1767,
Caracas: Monte Ávila, 1992.
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An den trockenen Küsten im Norden, wo gigantische Atlantikdünungen
an den Fuß von Kordillerenbergen schlugen oder riesige Mangrovenwälder und
Sümpfe Anlandungen verhinderten, herrschten Sklavenjäger, widerständige
Kariben in Kriegskanus, Schmuggler und bald auch Piraten und fremde
Korsaren. Spanien hatte während der engeren Conquista (Kernzonen 15001580), aber auch danach, weder großes Interesse noch die Schiffe, diese lange
karibische Seegrenze und Peripherie zu bewachen. Wie an den Küsten des
heutigen Brasiliens erwachte das politische Interesse der Krone erst wirklich, als
seit etwa 1600 jährlich hunderte niederländischer Schiffe auf Salz- und
Schmuggelfahrten in venezolanische Gewässer eindrangen. Spanien sah sich
gezwungen, eine Schutzflotte, die Armada de Barlovento (1640-1748, etwa 10
Schiffe für die ganze Karibische See zwischen Cumaná und Veracruz), zu
gründen. Im imperialen Handelsnetz Spaniens, dem System der flotas y galeones
(seit 1543) blieb Venezuela allerdings links liegen; die Haupthäfen waren
Cartagena, Puerto Bello, Veracruz und Havanna – keiner davon auf dem
Territorium des heutigen Venezuela [siehe Karte in: Watts184].
Mit dem Wettlauf um die Eroberung des Goldreiches „Cundinamarca“185,
bald Nuevo Reino de Granada genannt, im heutigen Kolumbien, und der
Gründung von Bogotá (1539) war neben Peru und Mexiko ein neues Zentrum
des Kolonialimperiums entstanden. 1540 wurden Nueva Granada mit seiner
landwirtschaftlichen Zentralregion Cundinamarca, einer Reihe von Gold- und
Smaragdminen sowie neuen Perlengebieten am Cabo de la Vela sowie weiten
Teilen der heute venezolanischen Anden und die Welser-Provinz „Venezuela“
getrennt und 1549 der neuen Audiencia von Santa Fe die „Gründungs“Provinzen Cartagena und Santa Marta unterstellt; Venezuela dagegen blieb zu
weiten Teilen unter der Kontrolle der Audiencia von Santo Domingo auf La
Española – in gewisser Weise ferngesteuert.186
Watts, The West Indies …, S. 124, Fig. 3.8.
Denzer, „Auf der Suche nach dem ‚Goldland’ Cundinamarca: 1532-1539“, in: Denzer, Die Konquista der
Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …, S. 97-137.
186
Archivo General de Indias, Spanien (AGI), Santo Domingo (1518-1852); Audiencia de Santo Domingo; die
184
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Mit dem Abflauen des Perlenbooms in Cubagua und der Trennung
zwischen Cundinamarca und Venezuela war klar, dass auch der Westen
Venezuelas als Peripherie galt. Allerdings war das Territorium hier am
wenigsten Peripherie, weil der Maracaibosee und die entstehenden Stadt
Maracaibo strategische Zugänge zwischen Meer und Anden waren; seit etwa
1560 wurden, vom Zentrum der Anden im heutigen Kolumbien ausgehend, auch
mehr und mehr Städte in den venezolanischen Anden gegründet, wie Santiago
de los Caballeros de Mérida (1558), La Grita, San Cristóbal und schließlich im
Auftrag des Cabildos von Mérida, am Südufer der Maracaibosees die Stadt San
Antonio de Gibraltar (1592), die bald so etwas wie den Karibikhafen für die
Andenstadt Mérida darstellte. Das Anden-Venezuela entstand. Es war aber ein
ganz spezielles Andengebiet, denn es hatte einen (fast) direkten Zugang zur
Karibik und zum Atlantik – nur über die Stadt Gibraltar (wo zunächst die
wichtigsten ferias de haciendas y mercaderes –Verkaufsmessen stattgefunden
hatten) im Südosten des Maracaibosees und den geschützten Seehafen
Maracaibo, das seit 1678 Hauptstadt der Provinz Mérida-Maracaibo war.187 Die
Gegend um Gibraltar galt auch als „costa negra de Maracaibo“. Maracaibo
selbst und der Streit, warum es in seiner Frühzeit nicht bekannt war, hängen
damit zusammen, dass es im Grunde ein Ort der Sklavenhandels war; die
Baquianos waren nicht daran interessiert, dass dieser Ort offziell bekannt
würde.188
Die „Kolonie“ Venezuela, damals in ihrem östlichen Teilen auch NeuAndalusien genannt (weiter im Süden existierte - auf dem Papier einer
Kapitulation - bis um 1590 noch eine Provinz namens Nueva Extremadura),
bestand bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Realität der Menschen, die dort
Audiencia in Santo Domingo war am 10. Oktober 1511 auf Real Provición aus Burgos gegründet worden und sollte
zunächst ganz Amerika („todas las villas e lugares de todas las dichas yslas e Indias e Tierra Firme“) verwalten und
juristisch überwachen.
187
Cardozo Galué, Germán; Vázquez de Ferrer, Belín; Urdaneta Quintero, Arlene, „La región en el proceso
histórico venezolano. Propuesta de periodización para la región de Maracaibo”, in: Caravelle, Nr. 70 (1998), S.
117-134; Vázquez de Ferrer, El puerto de Maracaibo: elemento estructurante del espacio social marabino (siglo
XVIII), Maracaibo: Universidad del Zulia, 1986.
188
Aguado, Recopilación Historial de Venezuela ..., Bd. I, S. 59.
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als Kolonisten (colonos) ihr Glück suchten, nur aus ein paar Küstenpunkten und
Andensiedlungen. Zu den geographischen Makrostrukturierung des Territoriums
an den trockenen Küsten mit schwerer Dünung und Küstenkordilleren, Llanos
und Flusstälern, Bergen und Urwäldern in Nord-Südrichtung kam also noch die
Ost-Westuntergliederung in wenige Siedlungen, die zwar mit Santo Domingo,
Mexiko oder Spanien verbunden waren (und über portugiesischsprachige
Atlantikschmuggler, im 16. Jahrhundert mit recht positiver Konnotierung
corsarios – Korsaren genannt) oder mit anderen Wirtschaftsregionen, wie etwa
Westafrika,189 aber kaum untereinander. Die Städte wurden zu Schnittpunkten
zwischen Atlantik, Küsten und Karibik – und waren somit trotz spanischer
Monopolansprüche eher Teil einer atlantischen Wirtschaft. Allerdings war die
Kommunikation zwischen Meer und Hinterland erschwert. An der
venezolanischen Küste gab es im Grunde keine natürlichen Häfen, wie etwa die
schönen Buchten von Havanna oder Cartagena de Indias im heutigen
Kolumbien. Am günstigsten war der Verkehr an Küsten, Seeufern und
Flussmündungen mit Booten und kleinen Schiffen, wie Kanus, Curiaras,
Lanchas (Transportkähnen), Bongos und Flussbrigantinen (Flusskähnen mit
Segeln) aufrecht zu erhalten.190 Das beherrschten am besten die Indios. Nicht als
gute Tiefwasserhäfen, aber einigermassen sichere Anlegeplätze für
Hochseesegler - ich greife etwas vor – mit Molen und Reeden (embarcaderos)
existierten nur im Umfeld von Cumaná (puerto Santo, puerto Aguirre, puerto
Guarnache), Coro (la Vela de Coro), Margarita (Pampatar), Caracas-La Guaira
(zunächst auch Nuestra Señora de Caraballeda, Borburata und Catia la Mar),
Gibraltar-Maracaibo (allerdings mit der Schwierigkeit, große Schiffe wegen der
Sandbarre des Maracaibosees auf Flussboote umladen zu müssen) sowie Nueva
Paradigmatisch wird dieses atlantische “Korsarentum” in den frühen Fahrten englischer sea dogs, wie John
Hawkins und Francis Drake deutlich, obwohl es massenhaft zunächst vor allem von „Portugiesen“, bald auch
„Portugiesen“ aus dem heutigen Brasilien betrieben wurde; literarisch reflektiert in den Einleitungskapiteln des
„Robinson Crusoe“, siehe: Pérotin-Dumon, Anne, “French, English and Dutch in the Lesser Antilles: from
Privateering to Planting”, in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New societies: The Caribbean in the
long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong: UNESCO Publishing,
1999, S. 114-158.
190
Lucena Salmoral, Manuel, “Los barcos”, in: Lucena Salmoral, Lucena Salmoral, Caracas: Vísperas de la
independencia americana, Caracas: Alhambra, 1986, S. 189-196.
189
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Barcelona westlich von Cumaná, wo Flusstäler die Berge durchbrechen und
Vieh aus der Unare-Senke und von den Llanos orientales bis zur Küste getrieben
werden konnte (Puerto San Cristóbal de los Cumanagotos, Puerto Piritú am Río
Unare). Häfen für Hochseeschiffe und für den erlaubten Handel im spanischen
Imperium waren nur La Guaira und Puerto Cabello. Puerto Cabello war weit
besser als die Reede von Las Guaira und wurde zum wichtigsten191 Hafen mit
Festungsschutz - trotz seiner Lage an einer sumpfigen Küste mit der Fama eines
Fiebergebietes - zum Schutz des Golfo triste, Borburata und der ChichirivicheKüstenebene mit den Flüssen Tocuyo und Yaracuy. Puerto Cabello hatte
daneben den Nachteil, recht weit vom Zentrum Caracas entfernt zu sein. Flüsse
bildeten wiederum Zugänge zu den Plantagengebieten von Aragua, Valencia,
Tuy sowie den Erzminen Aroa, Nirgua und Buría darstellten (wo bereits 1560
eine Schiffversorgungs- Schmuggel- und Reparaturstelle - carena - existierte
und seit 1578 eine Ansiedlung bestand; endgültig 1733/1734).192 Der dritte sehr
wichtige Hafen war Santo Tomé de la Guayana (1593-95) hinter dem OrinocoDelta im Gebiet der Guayano-Indios.193 Der Flusshafen Santo Tomé stellte die
Verbindung zwischen Strom, Flusswelten des Orinoco, Apure und Meta sowie
der Amazonía und dem Atlantik her.194 Über den País de Curiana, den Golf von
Paria, Trinidad und die Kette der kleinen Antillen war eine relativ leichte
Lucena Salmoral, Manuel, “Los puertos mayores”, in: Lucena Salmoral, Lucena Salmoral, Caracas: Vísperas de
la independencia americana, Caracas: Alhambra, 1986, S. 180-183.
192
Armas Chitty, J. A., Historia de Puerto Cabello, Caracas: Ediciones del Banco de Caribe C.A., 1974; siehe auch
die Beschreibung der Häfen im spanischen Amerika und ihrer Gefährdung durch „franceses, yngleses y
portugueses” um 1560: Ruiz de Ochoa, Juan, “Avisos y rremedios de la mar del norte y la del sur”, in: Ebd., S. 153156 (Documento No. 1); Olavarriaga, Pedro José, “Razones que obligan de fortalecer Puerto Cabello”, in:
Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720
y 1721. Estudio Preliminar Briceño Perozo, Mario, Caracas: Academia Nacional de Historia, 1965 (Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia; 76), S. 328-332; González, Asdrúbal, Diez voces y un paisaje: visión viajera de
Puerto Cabello, Mérida: Euroamérica Impresores, 1973; Perignon de Roncayolo, Leontine, Venezuela, 1776-1892:
recuerdos, Caracas: Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1991.
193
Whitehead, Neil L., „Native Peoples Confront Colonial Regimes in Northeastern South America (c. 1500-1900),
in: Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Vol. III South America”, Part I und II, Cambridge:
Cambridge University Press, 1999, Part II, S. 382-442 (S. 386: Map 20.1: Native Peoples Confront Colonial
Regimes, 1500-1900); Sanoja; Vargas Arenas, “La produccióm del espacio social en Santo Tomé de Guayana”, in:
Sanoja; Vargas Iraida, Las edades de Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas
catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 73-81.
194
León, José L., Los Puertos de Venezuela, Caracas: Publicaciones de la D.G.S.T.A., 1973; Vázquez de Ferrer,
Belín, El Puerto de Maracaibo: elemento estructurante del espacio social marabino, Maracaibo: Universidad del
Zulia, 1986; Cardozo Galúe, Germán, Maracaibo y su región histórica: el circuito agroexportador 1830-1860,
Maracaibo: Universidad del Zulia, 1991.
191
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Verbindung mit Kanus in das karibische Meer möglich.195 Im Grunde aber war
Venezuela eine Landkolonie mit Schwierigkeiten, Schnittpunkte zur atlantischen
Welt zu unterhalten.
Obwohl die Städte die wichtigsten Siedlungspunkte und Lebenszentren
der Kolonie waren, gründete sich das Imperium Spanien machtpolitisch und
rechtlich auf Flächen-Territorien (Gebiete, die einem Recht, einem Gouverneur
und einer Verwaltung sowie der Kontrolle durch einen Gerichtshof - audiencia unterworfen waren). Diese Flächenterritorien nannten sich Provinzen
(provincia) und ihre politische Organisationform war die gobernación
(Vorläufer der Territorialorganisation finden sich in der provincia de
Coquibacoa (Kapitulation mit Alonso de Ojeda vom 8. Juni 1501)), vom Cabo
de Chichiriviche bis zum Cabo de la Vela, mit der gesamten Goajira, dem Golf
von Venezuela, dem Maracaibosee sowie den Inseln Curazao, Aruba und
Bonaire. Diese Provinz existierte vornehmlich auf Papier. Der Siedlungsversuch
scheiterte und danach gab es diese Provinz nicht mehr. Die ersten wirklichen
Provinzen des heutigen Venezuela waren die Gobernación de Margarita (seit
1525; bis 1776 stand sie unter Jurisdiktion von Santo Domingo auf La Española)
und die Gobernación de Venezuela (1528), die sich aus Gebieten verschiedener
früherer Kapitulationen hervorgegangen war und zunächst oft mit Coro
gleichgesetzt wurde.196 Später wurde Venezuela oft mit Caracas (als Stadt 1567
gegründet) gleichgesetzt.197 Die Stadt Santiago de León de Caracas [Karte:
„Pimentel Map“198] wurde seit Gouverneur Juan de Pimentel 1576 Sitz des
Gouverneurs, seit 1637 auch Bischofssitz. Bis 1717 unterstand auch die Provinz
Venezuela oder Caracas der Jurisdiktion und Verwaltung durch die Audiencia
von Santo Domingo auf La Española; zwischen 1717 und 1742 wurde sie
Allaire, Louis, “Archaeology of the Caribbean Region”, in: Cambridge History of the Native Peoples of the
Americas, Vol. III South America”, Part I und II, ed. by Salomon, Frank; Schwartz, Stuart B., Cambridge:
Cambridge University Press, 1999, I, S. 668-733, hier S. 670.
196
Llavador Mira, José, La Gobernación de Venezuela en el siglo XVII, Caracas: Academia Nacional de la
Historia, 1969 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 102)
197
Ferry, Robert J., “Commerce and Conflict: The First Caracas Elite, 1567-1620”, in: Ferry, The colonial elite of
early Caracas : formation & crisis, 1567-1767, Berkeley ; London: University of California Press, 1989, S. 13-44.
198
„Map 1: Pimentel Map“, in: Ferry, The colonial elite of early Caracas …, S. 16.
195
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mehrfach zwischen Santo Domingo und dem neugegründeten Vizekönigreich
Nueva Granada (Audiencia von Bogotá) hin- und hergeschoben. Erst 1776/1777
wurde eine Verwaltungseinheit (intendencia) und Generalkapitanie eigenen
Rechts für sechs Provinzen geschaffen, die nun unter dem Namen
Generalkapitanie Venezuela zusammengefasst wurden. Ein Generalkapitän war
verantwortlich für militärische Verteidigung – die erste umfassendere
Organisationsstruktur Venezuelas war Teil der Militärorganisation des
Imperiums.199
Trotz dieses langwierigen Durcheinanders hat sich der Name Venezuela neben dem Wohlklang des Wortes - wohl für das gesamte Gebiet des heutigen
Landes auch im Bereich des Zivilen durchgesetzt, weil 1723 José de Oviedo y
Baños eine einflussreiche Historia de la conquista y población de la provincia
de Venezuela publizierte (Geschichte der Eroberung und Besiedlung der Provinz
von Venezuela) und damit schon zeitig einem Art Nationalmythos um und mit
dem Namen Venezuela schuf. Der damals sehr deutliche, heute verborgene Teil
des Begründungsmythos von Venezuela sind die Kriege gegen die
Karibenvölker (1550-1650) des nördlichen Zentrums dessen, was seitdem mehr
und mehr „Venezuela“ genannt wird.200 Und weil fast alle Dokumente des 18.
Jahrhunderts diesen Namen nutzten, als die Krone versuchte, aus den
verschiedenen Provinzen ein relativ einheitliches Territorium unter der
Oberhoheit der de-facto Hauptstadt Caracas zu schaffen.201
Die dritte der karibischen Gründungsprovinzen war die Gobernación der
Nueva Andalucía y Cumaná (1533/1536), im Grunde bestehend aus den drei
Küstensiedlungen Cumaná, Cumanagotos und Barcelona mit ihren jeweiligen
Suárez, Santiago-Gerardo, „Prólogo“, in: Las Instituciones Militares Venezolanos del Período Hispánico en los
Archivos (Indice sistemático documental), explicación, prólogo, selección y notas por Suárez, Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1969 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 92), S. XIX-LXXXIV.
200
Biord, Horacio, Los aborígenes de la región centro-norte de Venezuela (1550-1600): una ponderación
etnográfica de la obra de José Oviedo y Baños, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2001; zu den Völkern
siehe die Karte S. 141.
201
Oviedo y Baños, José, Historia de la conquista y población de la provincia de Venezuela, Madrid : Imprenta de
D. Gregorio Hermosilla, M.DCC.XXIII (1723); Oviedo veröffentlichte nur einen “ersten Teil”, der die Ereignisse
seit der Ojeda-Fahrt bis 1600 behandelte; die Geschichte Oviedos wurde als eines der ersten Bücher nach der
Unabhängigkeit, sozusagen als Nationalgeschichte, 1825 wieder veröffentlicht.
199
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Einflussgebieten. Dieses Territorium hiess zunächst provincia de Guayana y
Caura und wurde erst mit der Kapitulation für Diego Hernández de Serpa Nueva
Andalucía (1568) genannt.202 Hauptort war Cumaná. Zu seiner Jurisdiktion
gehörten seit dem Ende der engeren Conquistazeit am Ende des 16. Jahrhunderts
Nueva Barcelona und Guayana (bis Ende des 18. Jahrhunderts; erst 1762 wurde
eine eigenständige militärische Verwaltung Guayanas eingerichtet). Cumaná
lebte bis in das frühe 17. Jahrhundert von Sklavenrazzien gegen die
Karibenvölker des Hinterlandes und Sklavenschmuggel in die Karibik oder zur
wilden Küste an die Holländer, Franzosen und Engländer. Am eindringlichsten
hat die Girolamo Benzoni 1541 die Razzien beschreiben, die an die frühen
Razzien der Portugiesen an der Senegalküste Westafrikas erinnern: „Zwei Tage
danach segelten wir von Cumaná los und folgten der Küste nach Levante
[Osten] durch den Golf von Paria und wir fuhren dorthin, wo einige friedliche
Kaziken lebten. Oft berührten wir Land an jenen Plätzen und für ein wenig Wein
aus Spanien, ein Hemd, ein Messer und andere unsrige Sachen von wenig Wert,
die der Gouverneur ihnen [den Kaziken] schickte, sandten sie einige ihrer
Vasallen und Untergebenen um uns jene Länder und Orte, wo wir gewisse
Indios einfangen konnten, die ihre eingefleischten Feinde waren.“203 Die
„befreundeten“ Indios führten die Sklavenjäger und transportierten zugleich
Nahrungsmittel für sie; die Razzientruppen zogen einige Dutzend Meilen
landeinwärts: „und auf diese Art fingen wir zweihundertvierzig Sklaven;
Männer und Weiber, große und kleine“.204 Die Sklavenfangtrupps nutzten auch
indianische Piraguas, in denen fünfzig Männer Platz hatten. Wenn sie an den
Pariaküsten fischende Indios sahen: „sprangen wir raus wie es die Wölfe mit den
“Capitulaçión con el capitán do Diego Hernández de Serpa sobre el descubrimiento de la Nueva Andaluzía”,
Aranjuez, 15. Mai 1568, in: Cedularios de la Monarquía Española de Margarita, Nueva Andalucia y Caracas (15531604), 2 Bde., comp. y estudio preliminar por Otte, Enrique, Caracas: Edición de la Fundación John Boulton;
Fundación Eugenio Mendoza y Fundación Shell, 1967, Bd. I: Cedulario de Margarita (1553-1604); Bd. II:
Cedularios de Nueva Andalucía y Caracas (1568-1604), II, S. 1-9 (Dok. 311).
203
Benzoni, M. Girolamo, La Historia del Nuevo Mundo. Traducción y Notas de Vannini de Gerulewicz, Marisa.
Estudio Preliminar de Crozat, León, Caracas : Academia Nacional de la Historia (Biblioteca de la Academia
Nacional de la Historia ; 86), S. 22.
204
Ebd.
202
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Hammeln machen und machten sie zu Sklaven; auf diese Weise fingen wir mehr
fünfzig ein, in der Mehrzahl Weiber mit kleinen Kindern“. 205
Die Indiosklaven wurden in lebhaften Schmuggelgeschäften auf die
Antillen verschleppt; die Indios wehrten sich in regelrechten Kriegen, vor allem
die Kariben verbündeten sich bald auch mit den Feinden Spanien (Niederländer,
Engländer, Franzosen) und verwüsteten selbst oft spanische Siedlungen.1717
schrieb ein Franziskanerpater aus Píritu: „estuvieron los flamencos para venir
sobre nosotros con veinte ecopetas y muchos caribes“.206
Die Tradition dieser Sklavenjagdkonflikte, Razzien und Entradas
hinterliess eine historische Spur bitteren Hasses zwischen spanischer und
indianischer Kultur in der Region.207 Heinrich von Üchteritz208, ein sächsischer
Söldner im Heer von Charles Stuart, wurde als Kriegsgefangener nach Barbados
auf eine Plantage verkauft, auf der „hundert Christen, hundert Neger und
hundert Indianer als Sklaven arbeiteten“; die Indios waren meist Aruak oder
Kariben aus den Guayanas oder aus der Gegend von Cumaná. Sie erlebten auf
Barbados alle zusammen die Erfindung der gang-work (cuadrilla) aus dem
Geiste des Puritanismus.209
Die Territorialkonflikte bei der Herausbildung Venezuelas werden auch
an der Geschichte der Stadt Barcelona und ihres Hinterlandes, das heisst das
Einflussgebiet eines Hafens, in dem vor allem Kakao, Tasajo und Vieh aus den
Llanos orientales (llanos de Maturín) sowie dem Tiefland der Unare-Flusses
exportiert wurden, deutlich. Zum Hinterland Barcelonas gehörten die
Siedlungen Villa de Aragua und El Pao; Gründungen der Franziskanermönche
“De cómo los españoles hacían esclavos a los indios”, in : Ebd., S, 23-24.
Carta del Padre Lector Moro, S. Mateo, 21 de abril de 1717, in: Las Misiones del Píritu. Documentos para su
historia, selección y estudio preliminar por Lino Gómez Canedo, O.F.M., 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de
Historia, 1967 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Bde. 83 und 84); d. I, S. 284f.
207
Lombardi, John V., Venezuela. The Search for Order, the Dream of Progress, New York/Oxford: Oxford
University Press 1982, S. 62f.; Tiapa, Francisco, “Resistencia indígena e identidades fronterizas en la colonización
del Oriente de Venezuela, siglos XVI-XVIII”, in: Antropológica de la Fundación La Salle 109, Caracas (2008), S.
69-112.
208
Ludwig, Jörg, “Sklaven, Hexen und Gelehrte. Eine unfreiwillige Reise nach Barbados im 17. Jahrhundert und
ihre literarische Ausgestaltung”, in: Ametas-Jahrbuch 1 (1999), S. 73 - 76.
209
Linebaugh, Peter; Rediker, Marcus, La hidra de la revolución. Marineros, esclavos y campesinos en la historia
oculta del Atlántico. Prólogo de Josep Fontana. Traducción castellana Mercedes García Garmilla, Barcelona:
Crítica, 2005, S. 149.
205
206
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der Missionen des Píritu.210 Nach dem die Missionssiedlungen der Franziskaner
und der Dominikaner in Chichiviriche (1514-1521) gescheitert war, gehörte der
Siedlungsplatz, bis 1556 zum Einflussgebiet der Welser (die dort allerdings
kaum etwas ausrichteten). Der Oriente des heutigen Venezuela, Trinidad und
Cubagua finden sich nach dem Scheitern der Mönche und dem Niedergang der
Perlenfischerei in Kapitulationen von 1530 für Antonio Sedeño (Trinidad) sowie
Diego de Ordáz (vom Cabo de la Vega bis zum Río Marañón/Amazonas – die
gesamte Guayanaküste); Ordáz starb zeitig und eine neue Kapitulation erging an
Jerónimo de Ortal (1533), die auch keine besseren Erfolge zeitigten; nur zwei
Franziskaner wurden Märtyrer der Karibenmission.211 In den Guayana- und
Paria-Gebieten lebten die Völker der Cumanagotos, Chocopatas, Palenques und
Píritus; Kariben, die mit niederländischer Unterstützung über einhundertfünfzig
Jahre lang, bis Mitte des 17. Jahrhunderts und im Osten sowie am Orinoko,
starken Widerstand gegen das spanische Vordringen leisteten - oft mit Hilfe von
englischen, italienischen und niederländischen Korsaren und Schmugglern - und
sich nach langem Widerstand gegen spanisch-kreolische Entradas nach Osten
und Süden zurückzogen. Noch im 18. Jahrhundert gewährten niederländische
Kaufleute und Abenteurer Karibensklavenjägern Vorschüsse, vor allem in Form
europäischer Waren und Alkohol, damit sie Macos und Itotos (Indiosklaven) in
der Orinoquía bis hin zum Apure und Meta jagten sowie Schmuggel auf Häute
und Tabak betrieben.212
Aber die strategischen Bewegungen der spanischen Conquista umfassten
noch größere Räume. 1544 paktierte Francisco de Orellana mit der Krone die
conquista pacífica der Nueva Andalucia; nicht etwa von der karibik aus oder
von einer Küstenstadt an der Tierra firme, auch nicht von Bogotá aus – sondern
von Peru aus. Diese Kapitulation war bereits geprägt durch die Leyes Nuevas
210
Las Misiones del Píritu ..., Bd. I, S. XXXV..
Gómez Canedo, “Nuevos intentos de evangelización en el Oriente Venezolano”, in: La Provincia franciscana de
Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 27-35, hier S. 29.
212
Rodríguez Mirabal, Adelina C., “Contrabando”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en
los llanos de Apure: 1750-1800, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987 (Biblioteca de la Academia
Nacional de la Historia; 193), S. 313-320, hier S. 314f.; .; Tiapa, “Resistencia indígena e identidades fronterizas en
la colonización del Oriente de Venezuela, siglos XVI-XVIII”, S. 69-112.
211
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von 1542-44; Orellana musste Franziskaner mitnehmen. Das Territorium Nueva
Andalucia umfasste in der Kapitulation von Orellana Gebiete zu beiden Seiten
des Amazonas. Die Orellana-Expedition durchfuhr zwar die Amazonaswälder,
hatte aber keine territorialen Auswirkungen; erst 1559 wurde eine ähnliche
Kapitulation an Diego de Vargas vergeben und schließlich 1568 an Diego
Fernández de Serpa, in dessen Kapitulation Nueva Andalucia schon den Oriente
des heutigen Venezuela sowie Teile der Guayanas umfasste.213
Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelang es, die IndígenaVölker an den Küsten des oriente und der Guayanas sowie an bestimmten
strategischen Plätzen des Hinterlandes mit Hilfe von Missionen (vor allem
Franziskaner, Jesuiten und Kapuziner) zum Christentum zu bekehren und zu
„befrieden“ (pacificar).214 Aber noch die Familien-Legende der Monagas
berichtet, dass José Gregorio Monagas als Kind für drei oder vier Jahre von
Kariben-Indígenas entführt worden war und die Familie seitdem beste
Verbindungen zu den Indios hatte; um 1850 sollen noch um die 10000 Kariben
in den Llanos von Barcelona gelebt haben.215 In diesen Räumen der
Transkulturation schmuggelten alle; am Schmuggel beteiligten sich auch
Missionare.216 Die Conquista der Unare-Senke (Piritú) zwischen Cumaná im
Osten und Caracas im Westen warf Konflikte mit den Provinzgouverneuren von
Nueva Andalucía und Venezuela auf. Noch 1640 klagte der Bischof von Puerto
Rico (dem die Ostgebiete Venezuelas zugeordnet waren): „más de cien años que
gozan los encomenderos las encomiendas (que muchas dellas son muy gruesas)
y estaban infieles y sin bautizar los más de los indios“.217 Siedlungen wurden an
Gómez Canedo, “Nuevos intentos de evangelización en el Oriente Venezolano”, in: La Provincia franciscana de
Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 27-35, hier S. 32-35.
214
Conversión de Piritú de P. Matías Ruiz Blanco, O.F.M. y Tratado Histórico del P. Ramón Bueno, O.F.M.,
estudio preliminar y notas del P. Fidel de Lejarza, O.F.M., Caracas: Academia Nacional de Historia, 1965
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 78); Las Misiones del Píritu ..., passim.
215
Castillo Blomquist, Rafael, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, in: Castillo Blomquist, José
Tadeo Monagas. Auge y Consolidación de un Caudillo, Caracas: Monte Ávila Editores, 1987 (Colección Tiempo
de Venezuela), S. 17-23, hier S. 19.
216
Rodríguez Mirabal, “Contrabando”, in: Rodríguez Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos
de Apure: 1750-1800 ..., S. 313-320, hier S. 315f.
217
Fr. Juan [Alonso de Solis], obispo de Puerto Rico, Cumaná, 28. November 1640, “Carta a Su Magestad”, in:
Las Misiones del Piritú ..., Bd. II, S. 9-15, hier S. 10.
213
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einer strategischen Stelle zwischen den beiden größeren Städten, näher bei
Cumaná gegründet, an der die Llanos fast bis zur Küste reichen und außerdem
Vieh sowie Kakao auf dem Río Unare aus den Llanos bis in die Karibik
gebracht werden konnte (zur Lieferung vor allem als Tasajo nach Kuba).218
Wegen des Widerstands der Indios und der Konflikte der Eliten von Cumaná
und Caracas wurde erst Jahr 1638 endgültig und offiziell die Stadt (Nueva)
Barcelona gegründet. 1655 zählte das Nest 100 Vecinos. Von Humboldt stammt
eine exzellente Beschreibung (Nueva) Barcelonas am Ende der Kolonialzeit
(16000 Einwohner, lebhafter Handel mit Tasajo nach Havanna, Häute- und
Viehschmuggel).219 Die Eliten der karibischen Hafenstadt hatten ein derart
starkes Interesse, in der Übergangsregion zwischen Llanos und Karibik eine
eigene Provinz zu gründen und selbst über die Ressourcen dieses reichen
Gebietes, das sich in der bürokratischen Sprache „Provinz“ nannte, zu verfügen,
dass die erste Amtshandlung des Cabildos zu Beginn des
Unabhängigkeitsprozesses am 27. April 1810 darin bestand, die
„Unabhängigkeit“ Barcelonas und seiner Provinz von Cumaná (von Caracas
sowieso) zu erklären – das kann als schönes Symbol für den lokalistischen Geist
der städtischen Oligarchien gelten; die der anderen Städte dachten ähnlich220;
Humboldt machte dazu den Kommentar: „Die Mantuanos von Cumaná hassen
die von Barcellona wie die Welfen und Gibellinen“.221
Cumaná war im Gegensatz zur nördlichen Provinz Caracas immer gut und
reichlich beregnet; die mittlere Küste zwischen Caracas und Coro bis hin nach
Maracaibo und zum Cabo de la Vega war immer sehr trocken: „In der ganzen
Siehe die Karten auf S, 22 und 25, in: Lombardi, Venezuela. The Search for Order …, S. 22 und 25; Castillo
Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S.
17-23, hier S. 18.
219
Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem
Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7.5. – 26.8.1800), in: Humboldt, Reise durch
Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern. Hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie
Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 311-389, hier S. 355ff.
220
Mudarra, Miguel Ángel, Integración y evolución político-territorial de Venezuela, Caracas: Publicaciones
Mudbell, 1974.
221
Humboldt, Vorabend …, S. 130f. (Dokument 65), in Cumaná, 27. August – 16. November 1800.
218
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nörd[lichen] Provinz Venezuela ungeheurer Wassermangel“222, schreibt
Humboldt 1800.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam es auch zu Anfängen der
Territorialkolonisation im Innern des heutigen Venezuela. Von Bogotá aus. Die
Franziskaner waren nach dem Scheitern bei Cumaná 1514-1521 auf Cubagua
geblieben. 1570 landete eine Gruppe von Franziskanern, zusammen mit einer
Conquistatruppe unter Juan Ponce de León, auf der Insel Trinidad. Fast zur
gleichen Zeit begaben sich Franziskaner, zusammen mit einem hueste unter
Gonzalo Jiménez de Quesada von Bogotá aus auf den Weg nach Guayana, um
den Dorado zu suchen; die Franziskaner gründeten sogar eine custoridia del
Dorado sowie Konvente in Trinidad und im frühen Santo Tomé de Guayana.223
All das hatte keine Dauer. Erst 1641 gingen Jesuiten nach Guayana, in die ersten
Siedlungen-Festungen, die Santo Tomé damals darstellte (heute: Los Castillos).
Wegen des Widerstandes der Kariben und der Niederländer von Demerara
wurde auch dieser Versuch 1681 beendet. Erst 1694 waren katalanische
Kapuziner mit der Gründung von Nuestra Señora de los Ángeles erfolgreich.224
Die Gobernación de El Dorado y de los Llanos war bereits 1568
entstanden, erst einmal auf dem Papier einer Kapitulation. Aus dem Plan
entwickelte sich bis Ende des 16. Jahrhunderts die Provinz Guayana mit
Zentrum in Santo Tomé de Guayana (1593-95), wahrscheinlich damals noch an
dem Ort gelegen, der heute Los Castillos heisst. Zur Provinz gehörte zunächst
auch die Insel Trinidad (die zwischen Bogotá und Caracas hin- und her
geschoben wurde). Die Durchdringung entlang der Flüsse gewann Dynamik im
späten 16. und vor allem im 17. Jahrhundert mit Schmugglern, Sklavenfängern
und Missionaren, vor allem mit Franziskanern, Jesuiten und Kapuzinern, die die
„Kontinentalisierung“ Venezuelas geistig vorbereiteten und auch noch
Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 186.
Gómez Canedo, La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 111;
224
Sanoja; Vargas Arenas, “Las misiones capuchinas catalanas”, in: Sanoja; Vargas, Las edades de Guayana.
Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila
Editores Latinoamericana, 2005, S. 235-307.
222
223
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Landesbeschreibungen hinterliessen.225 Den Jesuiten wird gar die
wissenschaftliche Freilegung des Orinoco sowie der kontinentalen Dimension
Venezuelas sowie die Schaffung einer maquina económica der Fluss-Llanowelt
zugeschrieben.226 Der frühe Siedlungsprozeß in den Llanos fand einen
Höhepunkte in der Gründung von San Fernando de Apure in den 1770er Jahren
– eine Siedlung, die die strategischen Verbindungen zwischen Guayana und den
Anden, zwischen Caracas und den Flüssen Meta, Apure sowie Ober- und
Unterlauf des Orinoko sicherte.227
1729 wurde Guayana kurzzeitig der Provinzverwaltung von Nueva
Andalucia in Cumaná zugeschlagen; 1762 teilte die Krone das Gebiet in zwei
militärische Grenzterritorien (comandancias) und unterstellte es Bogotá (die
nördliche Comandancia auch noch Caracas). Die Grenzsicherung gegenüber
dem karibisch-niederländischen Essequibo und Demerara übernahmen die
Kapuziner zwischen den Flüssen Caroní und Cuyuni (siehe Karte „Mapa de las
misisones del Caroní“ 1593-1799228). Lebensgrundlage bildete zwischen 1600
und 1720 die intensivierte Jagd auf eine Subsistenzressource der Indios des Bajo
Orinoco – die tortuga arrau (Pogdonemys expansa), nicht nur als Fleisch,
sondern vor allem als Öl und Fett (aceite oder manteca de tortuga).229 Noch
deutlicher als im Falle der anderen Provinzen handelte es sich bei Guayana noch
bis in das frühe 20. Jahrhundert um ein riesiges, nur ganz punktuell von
Spaniern und ihren Nachkommen besiedeltes Gebiet voller Indiovölker,
Schmuggler, geflohener Sklaven, desertierter Soldaten, Goldsucher, Abenteurer,
“Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional”, in :
Pelleprat, Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional
..., S. 47-98;
226
Gilij, Ensayo de Historia Americana ..., passim; Rey, “Estudio preliminar”, in: Ebd., S. XI-XLVII, hier S. XXI.
227
“Descripción del río Apure, su dirección, los que le entran bocas por donde desagua. Misiones”, in:
Documentos para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 223-227; Laya, Carlos
Modesto, Del Apure histórico, Caracas: Biblioteca de Autores y Temas Apureños, 1971; Tosta, Virgilio, La Villa
de San Fernando de Apure, Caracas: Italgráfica, 1972.
228
Kopie unter Kolonialbilder Karten: Sanojo; Vargas, Las edades Guayana. Arqueología de una quimera. Santo
Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S.
229.
229
Sanoja; Vargas, “El impacto ambiental: La depredación de la tortuga arrau”, in: Ebd., S. 42-44.
225
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karibischer Sklavenjäger und Missionare.230 Im Grunde eine eigenständiges
Territorium mit einer spezifischen Kultur, unter Kontrolle von Missionaren.
Humboldt war begeistert von den Landschaften des „wunderbaren, von so vielen
neuen Affen und undurchdringlichen Wäldern erfülltem Lande zwischen
Orinoco und Amazon“.231
Die Kapitulation für den Plan einer weiteren großen, inneren Gobernación
namens Gobernación de Omagua y Omeguas oder Nueva Extremadura war
1568 an Pedro Maraver de Silva vergeben worden, der im Gebiet zwischen
Orinocoquellen und Amazonas das El Dorado de los Omeguas (nach Hutten)
suchen sollte. Hätte sich Gold gefunden und diese Provinz Nueva Extremadura
wäre wirklich besiedelt worden, umfasste sie heute den Südteil der Orinoquía
und die Amazonía, das heisst, den Südwesten Kolumbiens, den Süden
Venezuelas und den Norden des heutigen Brasiliens. Aber weder Spanien noch
die lokalen Conquistadoren hatten die Kraft oder das Interesse für eine
Besiedlung „ohne Gold“. Das Interesse an Medizinalpflanzen war zwar relativ
stark, aber wiederum nicht so stark, um Siedler von Gebieten, in denen Gold
vermutet wurde, nach Venezuela zu lenken. Bei Esmeralda suchte Humboldt um
1800 die Orinokoquellen und den sagenhaften Übergang zwischen den beiden
Stomgebieten des Orinoko und des Amazonas (Indios und Missionare kannten
den Río Casiquiare längst; sie wussten auch, dass er „in beide Richtungen“
floss232). Humboldt schloss sich im Grunde den franziskanischen und
jesuitischen Versuchen und den Versuchen anderer Missionare an, um ein
kontinentales Venezuela zu begründen, dessen Infrastruktur, Skelett und Kultur
die Flusswelt des Orinoko sein sollte, in dem Guayana einen wichtigen und
“Notas para la mas pronta comprensión del Mapa General de la Gobernación de Cumaná que dirige a S.M. en su
Rl. y Supremo Consejo de Indias su Gobernador el Coronel D. Jose Diguja Villagómez“ (1761), in : Documentos
para la historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 229-322.
231
Alexander von Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, Havanna, den 21. Februar 1801, in: Humboldt, Alexander
von, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung; 16), S. 122-131, hier S. 125.
232
Rey, José del, S.J., „Estudio preliminar“, in: “Relato de las Misiones de los Padres de la Compañía de Jesús en
Tierra Firme de la América Meridional”, in : Pelleprat, P. Pierre, S.J., Relato de las Misiones de los Padres de la
Compañía de Jesús en Tierra Firme de la América Meridional. Estudio preliminar por Rey, José del, S. J., Caracas:
Academia Nacional de la Historia, 1965 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 77), S. XI-LXI.
230
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prominenten Platz einnahm.233 Bei Esmeralda begegnete Humboldt auch den
Vorvätern der Yanomamis (die wurden damals Guaharibos oder Guajibos
genannt; Guajibo ist zugleich ein Wort für Kriegsanführer).234
Damit war zwischen 1560 und 1786 die Bildung von fünf großen
politischen Territorien, genannt Provinzen, die später einmal in etwa das
Territorium des heutigen Staates Venezuela bilden sollten, abgeschlossen. Das
eher lose verbundene Sammelsurium imperialer Territorien erstreckte sich
zwischen dem Maracaibosee im Westen, dem Orinocodelte im Westen und den
Guayanas hinter dem Südufer des Orinoco. Neben diese vier ziemlich
unvermittelt nebeneinander liegenden Provinzen schob sich in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts aus der Richtung Bogotá und Tunja im heutigen
Kolumbien von Südwesten nach Nordosten ein weiterer Kolonisations- und
Siedlungsprozess entlang der Anden (Zentrum Mérida im südlicheren Westen
des heutigen Venezuela). Die Andensiedlungen bildeten zunächst eine
Gobernación namens Espíritu Santo; 1607 entstand der corregimiento Mérida,
mit Regierungsgewalt über die Territorien Táchira, La Grita, San Cristóbal und
Barinas; 1676 wurde all diese Orte und Territorien zur Provinz Maracaibo de
Mérida zusammengefasst, zu der auch die Llanos de Barinas gehörten. Diese
Provinz gehörte zunächst zum Nuevo Reino de Granada (heutiges Kolumbien),
erst 1776/77, im Jahr der Beginns der antikolonialen Revolution der dreizehn
englischen Kolonien im Norden, wurden sie der Gobernación von Venezuela
angegliedert. Zusammengefasst werden kann der Bildungsprozeß der Provinzen
folgendermassen: Provinz Venezuela (1528), Trinidad (1530; 1797 an
England)235, Provinz Nueva Andalucía oder Cumaná (1568), Guayana (1568),
Maracaibo zusammen mit Mérida, La Grita, San Cristóbal und Barinas, zunächst
Ebd., S. XXI; Rodríguez, „Alexander von Humboldt: urbanismo y desolación. Percepción de los espacios
urbanos y de los espacios subocupados de la Venezuela profunda“, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas
(JbLA) 41 (2004), S. 199-221.
234
Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem
Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7.5. – 26.8.1800), in: Humboldt, Reise durch
Venezuela ..., S. 311-389, hier vor allem S. 318ff (u.a. mit Sklavenfang, Menschenfresserei und Humboldts eigener
Plünderung indianischer Grabstätten).
235
Sparrey, Francis, “Descripción de la Isla de Trinidad, el rico país de Guayana y el poderoso río Orinoco”, in
BANH, t. LXXII, Nr. 286, Caracas (Mayo-Junio 1989), S. 125-146.
233
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Provinz Mérida de Maracaibo und später Provincia de Maracaibo (1777)
genannt, und Barinas (1786), geschaffen aus dem bis dahin zur Provinz
Venezuela gehörenden Gebiet des Apure und dem bis dahin zu Maracaibo
gehörenden Barinas.236
Wichtig für das Geschichtsbewußtsein Venezuelas ist, dass die so
genannten andinos, die Bewohner der Anden (die sich mehr als „weiß“,
spanisch und mestizisch definierten), sich stets, mindestens aber bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts, nicht als „karibische“ Venezolaner (denen mehr die Rolle
von „Negern“ und „Mulatten“ zugeschrieben wurde) und auch nicht – schon gar
nicht – als Cimarrón-Llaneros, als Bewohner der Orinoco-Savannen (die galt
völlig als „Wilde“), verstanden haben. Die Bewohner Méridas und der Anden
fühlten sich immer sehr stark mit Neu-Granada verbunden. Das wurde noch
verstärkt, als seit 1786 das Llano-Territorium der 1577 gegründeten Stadt
Barinas237 von der Provinz Maracaibo (zu der zu dieser Zeit auch Mérida und La
Grita gehörten) abgetrennt und zur Provinz Barinas erklärt wurde. Barinas ist
seit der frühen Kolonialzeit vor allem durch den auf Mesetas von Curay und
Moromoy, an den Flüssen Santo Domingo und Calderas, angebauten tabaco de
Barinas („Barinas-Knaster“) sowie durch eine extreme Vielfalt von
Subsistenzkulturen (Mais, caraotas negras – schwarze Bohnen – Reis, Bananen,
cambur (eine Bananenart), ajonjolí, Baumwolle und Yuca sowie Rinder- und
Schweinehaltung) bekannt geworden.
Die Kompliziertheit und Langwierigkeit der Kolonisierungs-, Siedlungsund Bürokratisierungsprozesse spiegelt die dahinterliegenden komplizierten
Machtverhältnisse unter den einzelnen Zentren und Gruppen der Conquista
wider. Und natürlich den Widerstand der Indiovölker sowie der Sklaven und
sozusagen die hinhaltende Gegenwehr bizarrer Landschaften, riesiger Wälder,
236
Chiossone, Tulio, Formación Jurídica de Venezuela en la Colonia y la República, Caracas: Universidad Central
de Venezuela, 1980; Tosta, Virgilio, Historia de Barinas, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987
(Bibliotec de la Academia Nacional de la Historia; 193 und 194).
237
Cartay, Rafael A., Memoria de los orígenes : economía y sociedad en Barinas, 1786-1937, Caracas : Academia
Nacional de Ciencias Económicas, 1990.
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Berge und Ströme; des Meeres und der Flüsse sowie von Insekten, Hitze und
Feuchtigkeit. Erst die Werke vor allem der Jesuiten - eine Fundgrube der
Wissensgeschichte - im 17. und 18. Jahrhundert inkorporierten diese gigantische
Kontinentalität in die Archive des Kolonialismus.
Bürokratie verwaltet und regelt Macht. Staatliche Macht gründet auf
Territorien und Grenzen. Die Folge der Komplexität und des Wirrwarrs von
Zuständigkeiten für die spanischen, deutschen, schweizer, italischen Siedler,
afrikanischen Sklaven sowie ihre Nachkommen mit Indios in Venezuela war,
dass sich erst sehr spät eine überregionale Identität entwickelte; die Konflikte
etwa zwischen Mérida, Maracaibo und Caracas oder Cumaná sind noch heute
viele stärker als die zwischen Berlin und München, da sich zu den eigentlich
normalen regionalen und lokalen Differenzen in Venezuela, wie überall im
kolonisierten Amerika, starke sowie ethnisch-rassisch definierte Unterschiede
gesellten.
Wenn europäischer Kolonialismus seine Aufgabe darin sah, Raum (oder
„Land“, das eigentlich anderen Menschen gehörte) in Staat zu verwandeln, so
war Spanien im nordöstlichen Teil Südamerikas nicht weit gekommen. Die
„Provinzen“ des damaligen spanischen Imperiums waren zwar gegeneinander
auf den bunten Karten abgegrenzt, aber keiner wusste erstens, wo diese Grenzen
in der Realität waren. Zweitens waren diese bürokratischen Territorien
sozusagen nach „vorne“, zum Meer hin, offen und ungeschützt, verletzlich
durch Piraten und die Wucht der Dünung sowie der tropischen Stürme (obwohl
Hurrikans in der Karibik meist von Südosten nach Nordwesten ziehen), und
„nach hinten“, in Richtung des gigantischen Inneren des Neuen Kontinents,
auch. Die Llanos waren sozusagen per definitionem ohne Grenzen. In Venezuela
kam hinzu, dass die Provinzen auch im Osten „offen“ und ungeschützt waren
(zusätzlich existierte die Hintertür der von Indígenas kontrollierten
Orinokomündung und des Flusslaufes, auf dem feindliche Schiffe oder Kanus
bis in das Zentrum der Llanos vordringen konnten) und im Westen riesige
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Entfernungen zum Kolonialzentrum Cundinamarca und Bogotá zurückzulegen
waren. Zudem waren die Flächen dieser Provinzen theoretisch riesig; die
spanische Siedlung beschränkte sich weitgehend sich auf Punkte, um nicht zu
sagen: Pünktchen der Küsten- und Kordillerensiedlungen, verloren in den
türkisen Wassern der Karibik, den Bergfalten der Kordilleren und den endlosen
Weiten der Llanos.
Städte und Räume
Der wichtigste strukturelle und sozialgeschichtliche Prozess der
neuzeitlichen Geschichte Venezuelas ist der der Herausbildung eines urbanen
Komplexes von Städten und Siedlungen an den Küsten des Landes, in den
Küstentälern der Kordilleren und im Andenbogen, der Venezuela mit den
Hochanden im heutigen Kolumbien verbindet. Da die Küste so gigantisch war
und die ersten spanischen Siedler aus Norden, von den Antilleninseln und vom
karibischen Meer kamen, waren die ersten Siedlungen überhaupt nicht
untereinander verbunden, sondern auf Santo Domingo und La Española in der
heutigen Dominikanischen Republik ausgerichtet oder, in den Anden, auf
Bogotá; Maracaibo auch auf Cartagena.
Die wichtigsten Städte (villas und ciudades) sowie dörfliche Siedlungen
(pueblos de españoles und pueblos de indios) dieses urbanen Komplexes auf
dem Territorium des heutigen Venezuela entstanden im Zeitraum zwischen 1500
und 1650. Zwischen dem späten 17. und während des 18. Jahrhunderts
versuchten die Eliten des größten (und zentralen) urbanen Komplexes, die von
Caracas-La Guaira-Valencia und die imperialen Eliten, die wichtigsten
Verbindungen und die Verwaltung der Kolonie auf eben dieses Zentrum Caracas
auszurichten. Auch die Verbindungen zur atlantischen Welt und Europa sollten
vor allem über Caracas sowie seinen Hafen La Guaira laufen. Als dieser
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Anpassungsprozess einigermassen erfolgreich beendet war, zerstörte der Kollaps
des Spanischen Imperiums die Ordnung der späten Kolonialzeit. Es dauerte etwa
hundert Jahre (bis um 1870), bis die urbane Struktur mit Zentrum Caracas
wieder einigermassen hergestellt war. Seitdem gibt es zwar Konflikte und
Eifersüchteleien, sehr stark etwa zwischen Caracas und Maracaibo, aber die
Stellung einer primären Stadt ist Caracas nicht mehr zu nehmen gewesen und
durch die Erdölmodernisierung, auch die der städtischen Strukturen und der
Stadtsilhouette, im 20. Jahrhundert im Grunde nur bestätigt worden. Aus Sicht
des nordatlantischen Handels- und Wirtschaftssystems war Caracas seit dem 19.
und im frühen 20. Jahrhundert eine idealer kommerziell-bürokratischer
Außenposten in einem noch quasikolonial-jungfräulichen Territorium, das im
Norden (der sich „Westen“ nennt) gesuchte Pflanzen, Drogen, Rohstoffe und
Ressourcen produzierte. Das drückte sehr emphatisch schon 1843 Johann Eduard
Wappäus, der in einer der ersten deuten kommerziell-statistischen Landeskunden
schrieb: “Kein anderes Land des Spanischen Amerika liefert wie Venezuela einen
vergleichbaren Reichtum und solch eine Vielfalt von Waaren des Pflanzenreiches,
die Gegenstand des Welthandels sind”.238
Die eigentlich “spanische” Kolonialordnung und die hispanische Kultur der
Eliten, auf die sich heute noch Eliten als “lateinische” Kultur beziehen, basierten
auf dem urbanen Netz der Städte. Dieses Netz gibt also für die ältere
Kolonialgeschichte Venzezuelas, wie auch für vorliegendes Buch so etwas wie
eine Grundstruktur vor – die zugleich so etwas wie die Knochen eines historischen
Skeletts der Geschichte des heutigen Venezuela darstellen.
Die ersten europäischen Siedlungen an den Küsten und auf den Insel
Venezuelas existierten nur Monate (wie Santa Cruz in der Gobernación de
Coquibacoa von Alonso de Ojeda, Mai-September 1502, wahrscheinlich an der
Küste in Nähe der heutigen Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien).
238
Wappäus, Johann Eduard, Die Republiken von Südamerika geographisch-statistisch, mit besonderer
Berücksichtigung ihrer Produktion und ihres Handelsverkehrs, vornehmlich nach amtlichen Quellen (1. Abt.,
Venezuela), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1843, S. 163.
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Nueva Cádiz auf Cubagua florierte nur wenige Jahre (zwischen 1515 und 1540).
Sie waren Episoden. Die wichtigste Folge der Conquista und der europäischen
Kolonisation in Form der Sklavenfangwirtschaft mit Perlenfischerei waren
zuerst die Verwandlung karibischer Küsten in Kriegsterritorien und danach die
Entvölkerung großer Landstriche an der Küste und in den Küstentälern
Venezuelas.239 Die Welser-Episode hatte diesen Trend noch verschärft. Dazu
kamen die Krankheiten, die ganze Völker ausrotteten, in manchen Gegenden der
Karibik, wozu Venezuela bis auf die höheren und westlichen Lagen der
Kordilleren gehörte, zwischen 80 und 98% der Indígenas.240
Spanische Kolonisation und pacificación (Befriedung), wie der ganze
Prozess seit ca. 1560 hochoffiziell genannt werden sollte, bestand im Kern aus
der Anlage von Städten, dem landwirtschaftlichen Ausbau des Umlandes sowie
der Suche nach Edelmetallen in der weiteren Umgebung. 241
Die erste wirkliche Siedlung auf dem Kontinent war eigentlich ein InselFestlandkomplex mit der Stadt Nueva Cádiz auf der Insel Cubagua, die nur
einen Zweck hatte – die Ausbeutung von Perlen. Der Festlandsteil des Umlandes
von Cádiz bestand aus einer Siedlung an der Mündung des Flusses Cumaná.242
Die wasser- und baumlose Insel Cubagua wurde von diesem Territorium namens
„Cumaná“, mit Wasser, Nahrungsmitteln, Holz und Indio-Sklaven versorgt.
Nueva Cádiz war in ihrer Anlage als Perlenzentrum so etwas wie eine autonome
Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la
historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, S. 247-265.
240
Pieper, Renate, “Die demographische Entwicklung”, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. I, S.
313-328, hier S. 318ff.
241
Cunill Grau, Pedro, „Aspectos de geografía urbana Venezolana“, in: Flores S., Eusebio et al., Estudios
Geográficos. Homenaje de la Facultad de Filosofía y Educación a Don Humberto Fuenzalida Villegas, Santiago de
Chile : Facultad de Filosofía y Educación, Universidad de Chile, 1966, S. 83-110 ; Ardao, Alicia, „La fundación de
ciudades como instrumento de conquista y colonización“, in: Ardao, El café y las ciudades en los andes
venezolanos (1870-1930), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1984 (Fuentes para la historia republicana
de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 34), S. 34-37. Von den frühgegründeten Städten
der venezolanischen Anden überlebte nur Gibraltar (gegr. 1591/92, Verfall seit Piratenüberfällen – Morgan 1679,
Erdbeben, Angriffen einer Allianz von See- und Landindios 1607 und Überfällen der Indios Motilones 1713) nicht,
siehe: Uslar Pietri, Arturo, Morgan y los piratas, Caracas: Editorial Lisbona, 1982; Altez, Rogelio; Parra Grazzina,
Illeana; Urdaneta Quintero, Arlene, „Contexto y vulnerabilidad de San Antonio de Gibraltar en el siglo XVII – una
conyuntura desastrosa“, in: BANH, Tomo LXXXVIII, Nr. 352 (Oct.-Dic. 2005), S. 181-209.
242
Gómez, José Mercedes, Génesis, evolución y decadencia de la provincia de Cumaná, Cumaná: Editorial
Provincia, 1990; Gómez, Historia los orígenes de Cumaná: desde el descubrimiento hasta la creación de la
provincia, Cumaná, s.l., 1992.
239
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Stadt; ein Gebilde, das damals república (im Sinne von Kommune) genannt
wurde.
In Cumaná, dem Hauptort des Ostens, überlagerten sich verschiedene
Siedlungsansätze. Von 1512 bis 1521 hatten sich Franziskaner an der Mündung
des Flusses Cumaná nieder gelassen. Etwas weiter entfernt, an einem Ort
namens Chichirivichi, bereits seit 1499 als pueblo de flecheros – Dorf der
Bogenschützen (mit Curarepfeilen), bekannt, gründeten Dominikaner 1515 ein
Kloster namens Santa Fe. 1521 wurden diese Missions-Versuche wegen des
Widerstands der spanischen Sklavenjäger und der Kariben beendet. Als die
Kariben-Indios sich zweimal gegen die Sklavenfänger-Razzien sowie die
Strafexpeditionen von Santo Domingo und Cubagua gewehrt hatten und die
Kirchen und Klöster zerstörten, wurde unter dem Conquistador Jácome de
Castellón 1523 - auch gegen die bald einsetzenden Piratenangriffe - eine Art
Festungsturm an der Mündung des Flusses Cumaná gegründet, der 1530 einen
Erdbeben zum Opfer fiel. Aber nicht nur der Festungsturm zerschellte, sondern
auch der Plan des Padre Córdoba und des noch nicht zu den Dominikanern
gehörenden Las Casas. Sie träumten von einer anderen Art der Kolonisierung
durch Predigt des Evangeliums und friedliche Erziehung der Indios (nicht etwa
gewaltfreie, bei den damaligen Erziehungsmethoden).243 Trotz des Scheiterns
dieser ersten Versuche (relativ) friedlicher Missionierung in einer gobernación
espiritual (geistige Herrschaft) der Franziskaner sowie der Dominikaner
(darunter Fray Bartolomé de las Casas) wurde Venezuela ein Gebiet nicht nur
der Conquista, sondern auch Missionen – vor allem deshalb, weil der
Landnahmeprozess aufgrund der peripheren Lage des Landes und der wenigen
Kolonisten sehr langsam verlief. Missionare erforschten zeitig abgelegene
Landstriche, wie der Dominikaner Jacinto de Carvajal (1567 - ?), der das
Tagebuch einer Expedition auf dem Río Apure von Barinas bis Cabruta (1647)
243
Ramos [Pérez], „El P. Córdoba y de Las Casas en el plan de conquista pacífica de Tierra Firme“, S. 113-165.
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hinterlassen hat und damit die erste ethnographische und naturhistorische
Beschreibung der Llanos lieferte.244
Allerdings fassten die großen Missionsorden der Franziskaner, Kapuziner,
Jesuiten und Dominikaner wirklich erst nach den Misserfolgen des frühen 16.
Jahrhunderts im 17. und 18. Jahrhundert Fuss im Innern des Landes; in gewisser
Weise ist Venezuela außerhalb der Küsten und der Kordilleren ein Gebiet der
Missionen und der Sklavenexpeditionen geworden.
Franziskaner setzten sich vor allem in Caracas selbst, in der Mission Píritu
(bei Barcelona, 1656), Mission des Orinoco und Caura (1734) sowie in der
Mission des Alto Orinoco (1772) im Süden fest; die Kapuziner aus Katalonien
und Aragón in den Missionen von Cumaná (1657), Mission der Llanos von
Caracas (1658), Mission von Trinidad und Guayana, vor allem die am Río
Caroní (1686), und die Mission von Maracaibo (1694), Mission der
venezolanischen Goajira, die seit 1749 den Kapuzinern aus Navarra anvertraut
wurden, dazu kam seit 1762 die Mission des Alto Orinoco und Río Negro.
Jesuiten kontrollierten die Mission von Guayana, die Mission des Meta und
Casanare (die in den heutigen kolumbianischen Llanos lagen, seit 1661),
Mission des Orinoco (1731); die Dominikaner kamen erst 1709 in der Mission
von Barinas und Apure in den venezolanischen Llanos vom Apure zum Zuge.
Mission, Sklavenfang und fortlaufende Conquista ergänzten sich im Alltag des
Kolonialismus. Grundidee der Mission war es, nomadisierende und feindliche
Indiovölker zu missionieren (evangelización) und ihnen zusammen mit
europäischer Religion, Kultur und Lebensweise auch europäische
Siedlungsweisen (reducción, Zusammensiedlung in Dörfern) und
Wirtschaftsformen (Viehhaltung, Handwerk und Ackerbau) beizubringen. Dafür
sollten die Missionen 20 Jahre frei von Encomieda sowie Tributen sein;
Spaniern und Negern war offiziell das Leben in den Missionen untersagt. Durch
244
Fierro Bustillos, Lourdes, Realidad e imagen de Venezuela, en las Jornadas náuticas (1648) de Fray Jacinto de
Carvajal, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1983; Carvajal, Jacinto de, Descubrimiento del río Apure,
Madrid: Historia 16, 21985.
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gute Organisation, vielfältigen Handel und Rechnungsführung wurden
Missionen oft zu exzellenten Wirtschaftsunternehmen. Nach 20 Jahren sollten –
theoretisch – die Missionsgebiete in das normale politische Regime der
Provinzen und Städte einbezogen werden. Allerdings in selbständigen IndioSiedlungen, den repúblicas de indios oder doctrinas de indios; diese ehemaligen
Missionsiedlungen245 bewahrten den kommunalen Bodenbesitz der Indios; seit
dem 19. Jahrhundert wurden diese Siedlungen resguardos genannt und
Gegenstand einer liberalen Bodengesetzgebung. Die Indios leisteten
Encomiendadienste waren neben Kolonialfunktionären und Siedlern weiterhin
den Patres der Indianer-Doctrinas unterworfen. Zudem zahlten sie in den
pueblos de indios Kopfsteuer. Angesichts des Rückzugs der Indios und der
großen Bevölkerungsverluste durch Krankheiten und Conquista einerseits und
starken Widerstand andererseits ist die Einbeziehung der Missionsgebiete in
Territorial-Kolonien in Venezuela während des Kolonialzeit entweder nicht
gelungen oder die territoriale Integration der Missionen in das normale
Kolonialgebiet ist lange erfolgreich – auch durch die Missionsorden selbst –
hintertrieben worden. Das verweist auf einen grundlegenden Unterschied
zwischen Venezuela und den Zentralregionen der spanischen Indias: während
Kerngebiete Perus, Mexikos oder Neu Granadas in relativ kurzen heroischen
Dramen erobert und einer neuen Ordnung durch Encomiendas sowie Landbesitz
unterworfen wurden, gingen Mission und kreolische Conquista sowie langsame
Besiedlung in Venezuela (wie auch in Brasilien) Hand in Hand.
Auch die Landvergabe an Siedler verlief zwischen 1546 und 1590 eher
schleppend. Erst dann kam es in den Zentraltälern bei Caracas und im Tuytal zu
einer ersten Vergabewelle von Land gegen Zahlung einer bestimmten
Geldsumme (composiciones de tierras). Seit 1650 erst, mit dem Beginn der
Kakaowirtschaft, kam es zu einer neuen Vergabewelle; das Land wurde
zunächst oft illegal und durch Gewalt angeeignet (ocupación) und später durch
245
Gómez Canedo, “Las Doctrinas”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S. 103-117.
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Zahlung einer Ablösesumme (composición) legalisiert.246 Von diesen
Okkupations- und Aneignungszyklen gab es im Laufe der Kolonialzeit mehrere,
so dass um 1750 das gute und leicht erreichbare Land im Umfeld der Städte im
Besitz von Latifundisten war.
Oft wurde Missionierung oder die Gefangennahme durch die
Conquistadoren von den Indios ausgenutzt, um sich neues Wissen, neue
Technologien und Techniken (vor allem Eisenprodukte und Macheten)
anzueignen und zu ihren Leuten in das Hinterland zu fliehen – und weiter
Widerstand zu leisten. Im Grunde wurden in Venezuela alle möglichen Arten
von Kolonierung und Siedlung erprobt; fast alle im Zusammenhang mit
Missionierung im 17. Jahrhundert oder gar erst im 18. Jahrhundert. Mitte des 17.
Jahrhunderts herrschten südlich der Anden immer noch die Siedlungsparameter
und Lebensweisen (siehe das Kapitel über das „Essen der Missionare“ bei Gilij)
der frühen Conquista vor247; wirklich besiedelt und mit Städten gesichert waren
nur die Andenbögen und die Küsten bis Cumaná, in dessen Umfeld die
Siedlungen Cariaco und Cumanacoa entstanden, die Insel Margarita war dünn
besiedelt; dazu kamen jeweils eine Siedlung auf der riesigen Insel Trinidad (San
José de Oruña) und die unstabile Siedlung namens Santo Tomé de Guayana am
Orinoco, die zwischen Ende des 16. Jahrhunderts und dem 19. Jahrhundert
mehrere Siedlungsplätze bezeichnete, vor allem Siedlungsplätze, an denen
ausreichend Indios lebten. Alles andere waren Missions- oder Indioterritorien.
Aus Sicht der Krone bestand bei derart dünner spanischer Besiedlung die große
Gefahr, dass sich fremde Kolonialmächte, wie die Niederlande, England oder
Portugal mit den Indios auf dem Gebiet Venezuelas verbündeten und die Gebiet
von Spanien abspalteten. Deshalb waren Missionare und Missionen hoch
willkommen. Mitte des 18. Jahrhunderts war eine Reihe von Siedlungen in
246
Arcila Farías, Eduardo, El régimen de la encomienda en Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela,
³1979; .
247
Gilij, “De la comida de los misioneros”, in: Gilij, Ensayo de Historia Americana. Traducción de Tovar, Antonio,
3 Bde., Caracas: Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela, Italgráfica, 1965 [1782] (Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia, 71-73), Bd. III, S. 68-71.
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verschiedenen Teilen der Llanos gegründet, die auf Missionansiedlungen
zurückgingen. Südlich des Orinoco existierten bereits seit Ende des 17.
Jahrhunderts die reichen Kapuziner-Missionen des Río Caroní (mit denen der
niederländischen, französischen und englischen Expansionen Einhalt geboten
werden konnte; sie reichten bis zum Río Yuruari, Cuyuni und zum Caura). Am
oberen Orinoco erreichten Missionare den Río Casiquiare. Eine beachtliche und
eigenständige Kolonisationsleistung der indianischen Völker und der
Missionsorden. Ende des 18. Jahrhunderts kam es noch einmal zu einem
Aufschwung der Missionen, bevor die Missionsbemühungen um 1820 und in
der Zeit bis 1837 in den Unabhängigkeitskriegen und den nachfolgenden
Kloster- und Ordensschließungen zusammenbrachen. Erst nach 1840 schickte
die katholische Kirche wieder Missionare in die Urwälder Guayanas und der
Orinoquía. Allerdings hatten die Missionare nun Konkurrenz, unter anderem
auch von Wissenschaftlern, Künstlern, Entdeckern und Abenteurern. Sie
stiessen auch oft mit den neuen republikanischen Lokalbehörden zusammen, die
mit den Indios noch immer einen schwungvollen Schmuggelhandel betrieben
oder die Indios gleich als Sklaven verkauften.
Die Besiedlung der frühen „Städte“ Coro und Maracaibo248 (1527-1529
sowie 1530-1531) - in Wirklichkeit Nester mit Kirchen - hatten sich wegen
anderer strategischer Ziele der Welser und ihrer Faktoren bereits in den vierziger
Jahren des 16. Jahrhunderts als eine Art Sackgasse erwiesen. Seit den Leyes
Nuevas von 1542 (genauer: Barcelona, 20. November 1542 und Valladolid, 4.
Juni 1542) war Indiosklaverei verboten und die bestehenden Encomiendas
wurden aufgehoben (die Encomiendas mussten wegen des massiven
Widerstands der Siedler in Amerika bald wieder zugelassen werden). Nach der
letzten Entrada des Welser-Hauptmanns Philipp von Hutten und der Ermordung
von Hutten und Bartolomäus Welser dem Jüngeren verfiel die Welser-Kolonie
seit 1544-46. Die letzten Welserleute vegetierten elend in Coro oder zogen nach
248
María, Nectario Hermano, Los origenes de Maracaibo. A la luz del estudio y análisis de los documentos
encontrados en el Archivo General de Indias, de la Ciudad de Sevilla, Maracaibo, 1959.
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Neu Granada, mindestens aber nach El Tocuyo ab. Einer der letzten Faktoren
und Alcalde Mayor (Oberrichter) von Coro, Heinrich Rembold, hatte aus dem
Paria-Gebiet um Cumaná und Cubagua rund 100 Sklavenjäger nach Coro
kommen lassen, um mit ihnen die Gründung einer neuen Siedlung
voranzutreiben: „Heute [1545] wohnen dort [in Coro] wenige Christen, sie leben
miserabel, säen Mais und züchten Hühner, um sie an die zu verkaufen, die […]
von Cabo de la Vela kommen“.249 1551 schreibt Bischof Ballesteros: „ich fand
die Stadt Coro, bevölkert mit etwa 40 Vecinos, sehr arm und einige krank. In der
Siedlung von Coro gibt es eine mit Stroh gedeckte Kirche, eine der besten von
Tierra firme“.250 Wegen Mais und Hühnern oder armen Nestern waren weder
Schwaben noch Schweizer oder Spanier nach Amerika gekommen. Die
wirklichen Gewinne wurden nun am Cabo de la Vela nordöstlich von Ríohacha
im heutigen Kolumbien gemacht, wo sich seit dem Niedergang von Cubagua
Perlenfischerei (und Sklavenjagd) konzentrierte.251
Die frühen Siedlungen auf Cubagua, anderen Inseln (wie Margarita,
Trinidad oder Curazao) und bei Cumaná verfielen ebenso wie Maracaibo oder
Coro – Coro allerdings überlebte als Stadt und früher Bischofssitz (mit einer
Reihe deutscher, auch schweizerischer – insgesamt wohl alemannischer Kulturspuren252). Nicht zuletzt weil sich auch Indios angesiedelt hatten und die
Kaquetíos, die in die Sierra de San Luis (Serranía de Coro) oder auf die
trockene Halbinsel Paraguaná zurückgezogen hatten (wegen der massiven
Versklavungen seitens ihrer „Freunde“), die Christen in Coro trotz zunehmender
Feindseligkeiten weiter mit caza y pesca („Fleisch und Fisch“, was man vor
allem als Fisch und Mais verstehen sollte) versorgten [nach: Relación de las
tierras y provincias de la gobernación de Venezuela].
249
Cey, Galeotto, Viaje y Descripción de Las Indias 1539-1553, estudio preliminar, notas e índices, Lovera, José
Rafael, Caracas: Fundación Banco Venezolano de Crédito, 1995 (Colección V Centenario del encuentro entre dos
mundos), S. 56.
250
Zit. nach: Arrelano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 101.
251
Joetze, Franz, “Brief eines Lindauers aus Venezuela vom Jahre 1535”, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns
XV (1907), S. 271-278; Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-1556 …,
S. 181ff.
252
Avellán de Tamayo, Nieves, „Los primeros alemanes que llegaron a la provincia de Venezuela en el siglo XVI y
algunos de sus descendientes, in: Rodríguez (comp.), Alemanes en las regiones equinocciales ..., S. 35-56.
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Der Sankt Gallener Melchor Grubel (sicherlich: Grübel; in Sankt Gallen
verheiratet mit Kathrin Vonwiler – 1552 geschieden), Faktor der Welser und
alcalde mayor in Coro sowie poblador (Siedlungsgründer) von El Tocuyo und
Nueva Segovia, etwa hatte Nachkommen mit einer India namens Beatriz (ihr
indianischer Name ist nicht bekannt) und eine große Nachkommenschaft in El
Tocuyo, Carora, Barquisimeto und Guanare. Von Santafé de Bogotá und
Pamplona im Nuevo Reino de Granada gründeten Goldsucher und Siedler
Santiago de los Caballeros de Mérida (1558) in den Anden.253 Die Schwaben,
Schweizer, Obersachsen und Flamen, die in Venezuela verblieben, taten sich mit
Indias zusammen. Wenn sie nicht an Krankheiten starben oder auf ihren
„deutschen“ Konquistazügen (deshalb wird hier das spanische Wort Conquista
gerne als Konquista geschrieben) zu Tode kamen, heirateten ihre Nachkommen
in die entstehende spanisch-christliche Siedlerelite ein. Der Welser-Faktor
Grubel hatte sich schon in der Auseinandersetzung zwischen Hutten und
Carvajal auf die Seite der Spanier geschlagen; einfach weil von Deutschland und
den Welsern in Augsburg nichts mehr zu erwarten war – und aus der Schweiz
auch nichts.
Eine Welle intensiverer Siedlungsgründungen von Spaniern und ihren
Nachkommen sowie den relativ wenigen verbliebenen Oberdeutschen setzte im
heutigen Venezuela noch während der Zeit ein, in der die Gobernación formell
der Welser unterstand (bis 1556), sozusagen als eine hybride Mischung
zwischen Siedlungsbemühungen der verbliebenen Welserleute, spanischen
Kolonisten von den Antillen (oder aus Spanien), Sklavenjägern, Goldsuchern
sowie ihren Nachkommen, Funktionären aus Santo Domingo und der Krone, die
schon nicht mehr zur eigentlichen Conquista zu zählen sind, sondern eher zu
Bemühungen um die Sicherheit von Randlagen und Peripherien des
entstehenden Imperiums. Die Führung lag allerdings nicht mehr bei den Welsern
und ihren Faktoren oder den Oberrichtern von Coro, sondern wurde von lokalen
Avellán de Tamayo, „Los primeros alemanes que llegaron a la provincia de Venezuela en el siglo XVI y algunos
de sus descendientes”, S. 35-56, hier S. 43.
253
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Interessen diktiert. Oft waren die mestizisierten Söhne der ersten
Conquistadorengeneration sowie der Welserleute (und Sklavenjäger) mit Indias
Siedlungsgründer.
Am 1. November 1545 wurde El Tocuyo gegründet; ein Ort, wo die
Siedler vor den zunehmenden Angriffen französischer und bretonischer Piraten
geschützt waren. Sie konnten in einiger Ruhe Landwirtschaft und Viehzucht
betreiben. Obwohl die Siedler zunächst kaum andere Ziele hatten, als sie früher
auch in Coro angestrebt hatten – also Sklaven jagen und „Goldreiche“ suchen –
wurde die Stadt El Tocuyo (Nuestra Señora de la Pura y Limpia Concepción del
Tocuyo) zum Kreuzungspunkt von Transport- und Handelswegen, die über das
Tal des Tocuyo-Flusses zur karibischen Küste einerseits, über die Kordilleren
nach Cundinamarca andererseits sowie in die Llanos führten. Tocuyo wurde
auch zur Mutterstadt für Nueva Segovia de Barquisimeto (1552, wo 1561 auch
Lope de Aguirre, der Rebell gegen König Philipp II., nach einem Scharmützel
hingerichtet wurde254), den Hafenflecken Borburata (1549), Trujillo (1557),
Valencia (1553), Nirgua (1554). Schließlich, weil in den Tälern weiter nach
Gold gesucht wurde, entstand 1567 unter Diego de Losada Santiago de León de
Caracas – im Gebiet der Karakas-Indios. 1568 wurde auch Maracaibo als
Ciudad Rodrigo de Maracaibo und schließlich nochmals 1574 als Nueva Zamora
Laguna de Maracaibo, neu gegründet.255
In den Städten entstanden cabildos oder ayuntamientos der ersten Siedler
(Ratsversammlungen) als Ausdruck der Selbstverwaltung der vollberechtigten
Stadtbürger (vecinos).256 Seit 1546 wurden, von El Tocuyo unter Juan de
Carvajal ausgehend, die ersten Encomiendas (Arbeitstribute der Indios) in
Venezuela vergeben257; neben der Viehhaltung und der Suche nach Edelmetall
entstanden Zuckergüter (trapiches) mit schwarzen Sklaven sowie koloniale
254
Galster, Ingrid, Aguirre oder die Willkür der Nachwelt. Die Rebellion des baskischen Konquistadors Lope de
Aguirre in Historiographie und Geschichtsfiktion (1561-1992), Frankfurt am Main: Vervuert, 1996.
255
Arrelano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 100-102.
256
Boza, Guillermo, “Cabildo y regidores”, in: Boza, Estructura y cambio en Venezuela colonial, Caracas: Editorial
Arte, 1973, S. 33-41.
257
Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim.
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Manufakturen (obrajes), in denen von Indios in Zwangsarbeit lienzos Tocuyo
(Tocuyoleinen) hergestellt wurde; in Guanare auch die ersten Tabakpflanzungen
unter spanischer Kontrolle. Der im Vergleich zu Coro bessere Erfolg Tocuyos
beruhte darauf, dass unter der Kontrolle (corregimiento de indios) des neuen
Ortes einige der am dichtesten besiedelten Indioterritorien Venezuelas standen.
In der Gegend konnte Weizen angebaut und Vieh gehalten werden, aber auch
tropische Pflanzen und Tabak gediehen gut. Wegen der Entfernung von der
Küste war die Siedlung gegen Piratenüberfälle einigermaßen geschützt.
Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass wegen der Lage in einem höher
gelegenen Kordillerental die Krankheitskeime der Europäer nicht so verheerend
wie an der Küste oder auf den Inseln der Karibik wirkten. 1563 erhielt El
Tocuyo Wappen und den Titel Muy Leal Ciudad de El Tocuyo.
Die komplizierte Siedlungsgeschichte Venezuelas wurde auch im Osten
(Cumaná) deutlich. Nachdem die Siedlungen mit den Namen Mission Cumaná,
Nueva Cádiz, Nueva Toledo und Nueva Córdoba gescheitert waren, gelang den
Franziskanern mit Hilfe der ersten Mestizengeneration der Nachkommen von
spanischen Sklavenjägern und Indias die endgültige Ansiedlung unter der
ursprünglichen Indio-Benennung des Flusses, Cumaná, 1569 (Fernández de
Serpa); 1591 erfolgte durch Philipp II. die Zuerkennung der Stadtrechte (ciudad)
mit Wappen unter dem Namen Santa Inés de Cumaná. Cumaná wurde Hauptort
der Provinz Nueva Andalucía. Die Stadt war bis ca. 1770 (bis zum Impuls der
bourbonischen Reformen) ein elendes Nest; im Grunde nur durch
Missionssiedlungen, Indios und Schmuggel vor dem Verschwinden gesichert.
Noch 1720 hatte die Stadt etwa (nur) 100 Häuser; aber 1761 schon 432. 1745
lebten 1163 Einwohner in Cumaná, 1773 aber schon 5409, davon in der freien
Bevölkerung ca. 75% blancos (in der Masse wohl Nachkommen von Europäern
und Mestizen) und 25% pardos libres (freie Farbige, Nachkommen von Kreolen
und Schwarzen) sowie (1745) 391 Sklaven; 1765 aber schon 937; von den 776
Familien 1761 waren nur 57 Besitzer von Haciendas (die meisten für Kakao,
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aber auch Zucker und Bananen, nur zwei Hatos de Ganado).258 Auch Coro hatte
1773 erst rund 6000 Einwohner. Von Margarita und Cumaná aus verstreuten
sich Siedler in die fruchtbaren Täler der feuchtwarmen Paria-Halbinsel (Cariaco,
Carúpano, Río Caribe, rund 100 km östlich von Cumaná); sie versklavten
Kariben und bauten Tabak und Kakao an oder hielten Rinder und Schweine.
Bald kamen auch die ersten schwarzen Sklaven, die sie im Schmuggelhandel
von Portugiesen, Engländern oder Niederländern eintauschten. Die verlorenen
Nester an den Küsten lebten vom Schmuggel in der Karibik und liessen den
fernen König einen guten Mann sein. Im Grunde stellten sie Enklaven der
atlantischen Welt dar. Erst nach und nach konnten die Kolonialinstitutionen
(Steuern, Kirche) diese Schmuggelsiedlungen in ihre Territorialstrukturen
einbauen (erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts). Seit dieser Zeit entstanden
um Carupanó eine wichtige Sklavereilandschaft und ein Zentrum der
Plantagenkakaoproduktion wie auch der afrovenezolanischen Kultur.259
Zusammen mit Cumaná ist die Landschaft um Carúpano auf der Halbinsel Paria
das Zentrum des eigentlichen karibischen Venezuela.
Noch komplizierter war die Geschichte einer Siedlung, die den
endemischen Schmuggel von portugiesischsprachigen Sklavenhändlern sowie
den Schmuggel, die Suche nach „El Dorado“ und die Expansion von Engländern
und Niederländer im Guayanagebiet der Karibenvölker kontrollieren sollte – im
quasi unkontrollierbaren fernen Süd – dem Orinoko- und Amazonas-Venezuela.
Santo Tomé ist, wie die abwandelte Form im westafrikanischen Inselnamen São
Tomé, die nordportugiesische oder galicische Benennung eines Ortes im
weiteren Umfeld des Zusammenflusses zwischen Orinoco und Río Caroní sowie
dem Delta des Orinoko in den Urwaldgebieten Guayanas.260 Noch bis
Molina Martínez, Miguel, “Aspectos demográficos de Cumaná a mediados del siglo XVIII”, in: Serrano
Mangas, Fernando; Álvaro Rubio, Joaquín; Sánchez Rubio, Rocío; Testón Núñez, Isabel (coords.), IX Congreso
Internacional de Historia de América, 2 Bde., Mérida (Badajoz): Editora Regional de Extremadura, 2002, Bd. I
[Documentos/Actas], S. 235-244; siehe auch: Izard, Miguel, “La agricultura venezolana en una época de transición,
1777-1830”, in: Boletín Histórico, Num. 28, Caracas (1972), S. 3-67 (Separatum).
259
Tavera Acosta, Bartolomé, Historia de Carupanó, Caracas: Vadell Hermanos, 1992.
260
Ojer, Pablo, Antonio de Berrío, gobernador del Dorado, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 1960;
Ramos Pérez, El mito del dorado, su genesís y proceso con el Discovery de Walter Raleigh (traducción Betty
258
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Humboldts Zeiten schwebte über Guayana, Orinoquía und tieferer Amazonía die
Legende, sozusagen Heimat der Mythen von „El Dorado“, Manoa oder vom
Parime-See zu sein (der auch noch auf Karten des frühen 19. Jahrhunderts zu
sehen ist).261 In Wirklichkeit befand und befindet sich in diesen Weltgegenden,
die erst seit 1950 systematisch erforscht wurden, ein Dorado vegetal (Demetrio
Ramos) - ein El Dorado der Pflanzen in Wäldern, unter deren grünen
Pflanzendächer unter anderem Erdnuss, Yuca und Kakao domestiziert worden
sind. Noch Humboldt schrieb emphatisch über die Gegend: „Nur hier, hier …, in
der Guayana in Süd Amerika, ist die Welt recht eigentlich grün“.262
Bei der Gründung von Santo Tomé spielten einmal mehr die Suche nach
dem Dorado sowie Kolonisationskonkurrenz vor allem mit England in Gestalt
von Sir Walter Raleigh und später mit den Niederländern (die sich zwischen
1630 und 1656 in Pernambuco und Olinda im heutigen Brasilien festgesetzt
hatten) eine wichtige Rolle. Auch imperiales Sicherungsinteresse war im Spiel,
denn über die Mündungsarme, Ästuar sagt man wohl heute, des gigantischen
und schiffbaren Orinoco konnten Schiffe vom Atlantik fast bis Bogotá
vorstossen. Der in West-Ostrichtung fliessende Unterlauf des Orinoco war ein
Schmuggelfluss par excellence; die Schiffe konnten wegen der vorherrschenden
Winde gegen Strömung segeln. Der in Süd-Nordrichtung fliessende Oberlauf
wurde erst durch Mission im 18. Jahrhundert erschlossen; als die Gefahr der
„portugiesischen Bedrohung“ aus dem Amazonasgebiet im deutlicher wurde.
Die Spanier und ihre mestizischen Söhne unternahmen auch hier den
Versuch der Conquista und der Gründung einer Provinz. Antonio de Berrío
(Segovia 1527 – Santo Tomé de Guayana 1597) unternahm sozusagen in
Moore) y otros papeles doradistas, Caracas: Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 1973 (Fuentes para
la historia colonial de Venezuela, 116); Ojer, Santo Tomé de Guayana, Angostura o Ciudad Bolívar, Caracas:
Ediciones Amón, 1980.
261
Humboldt, „Vorwort von Alexander von Humboldt“, in: Robert Hermann Schomburgk’s Reisen in Guiana und
am Orinoko …, S. XV-XXIV; Humboldt, „Über einige wichtige Punkte der Geographie Guyana’s“, in: Ebd., S. 139; ; Ojer, Robert H. Schomburgk, explorador de Guayana y sus líneas de frontera, Caracas: Universidad Central de
Venezuela, 1969.
262
Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur
Alexander-von-Humboldt-Forschung; 16), S. 122-131, hier S. 128 (Brief aus Havanna vom 21. Februar 1801 an
Karl Ludwig Willdenow).
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umgekehrter Richtung drei Expeditionen auf der Suche nach dem Dorado. Aus
der Nähe von Bogotá zogen seine Leute über die Llanos im heutigen Kolumbien
und am Río Meta zum Orinoco. Berrío war im Besitz einer Kapitulation für die
Gobernación El Dorado y los llanos, die er von seinem Schwiegervater Gonzalo
Jiménez de Quesada geerbt hatte. Hätte sich die ursprünglich
Raumkonfiguration dieser Kapitulation und der frühen Territorialpolitik
durchgesetzt, würden die venezolanischen Anden bis nach Trujillo, die Llanos
und Guayana heute zu Kolumbien gehören oder einen eigenen Staat Guayana,
zwischen Orinoko und Amazonas begründet haben. Umgekehrt kann man sicher
auch sagen: wenn sich die Welser mit ihren Bemühungen durchgesetzt hätte,
Cundinamarca ihrer Kapitulation zuzuschlagen, wären Venezuela und
Kolumbien heute eine Land. Venezuela war (und ist in gewissem Sinne noch
heute) ein karibisches Land. Auf seiner dritten Expedition, die sich nur wenig
von den Entradas der Conquistadoren unterschied, bekam Berrío Anfang 1591
die Erlaubnis des Kaziken Morequito, eine Siedlung zwischen Orinoco und Río
Caroní anzulegen. Als Berrío versuchte, die Insel Trinidad zu besiedeln (San
José de Oruña, 1592), wurde er von Engländern unter Walter Raleigh
gekidnappt. Eine Truppe des Gouverneurs von Cumaná befreit ihn. Danach
gründete Berrío im Dezember 1595 offiziell Santo Tomé de Guayana.263
Die Stadt wurde im Laufe der nächsten zweihundert Jahre fast ein
Dutzend Mal von Niederländern, Engländer sowie Kariben zerstört oder von den
Spaniern verlegt, um schließlich 1764 als Nueva Guayana de la Angostura del
Orinoco oder einfach Angostura in unter dem Schutz der Flussfestung San
Gabriel de la Angostura in die Geschichte einzugehen. Der Platz des „alten“
Guayana hieß seit dieser Zeit Santo Tomé de Guayana oder Guayana la Vieja
(heute Los Castillos de Guayana). Beide Castillos sind auf Granitfelsen des
Berrio, Antonio de, “Relación del descubrimiento de Guayana y otras provincias” (1590?), in: Relaciones
Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno, Antonio, Caracas :
Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 70), S. 233-238;
Ibarguen y Vera, Domingo, “Relación sobre el Dorado y sobre la expedición de Antonio de Berrio” (1597), in:
Ebd., S. 247-257; Antonio de Berrío, la obsesión por El Dorado, estudio preliminar y selección documental de
Lovera, Caracas: Petróleos de Venezuela, 1991.
263
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südlichen Ufers gebaut. Das etwas niedriger gelegene Castillo de San Francisco
de Asís (oder Villapol) wurde in seiner heutigen Gestalt in den Ruinen des
Franziskanerklosters zwischen 1676 und 1682 gebaut. (check) Nochmal
überprüfen (erste kleine Festung war San Antonio de Caroní).264 Auf dem Dach
der Kaserne im oberen Teil sind zwei Toiletten (wahrscheinlich 19. Jahrhundert)
erhalten. Das zweite Castillo San Diego de Alcalá wurde hinter dem ersten auf
einem Cerro mit Namen „El Padastro“ zwischen 1734 und 1747 errichtet, in
Vorbereitung und während der Guerra del Asiento zwischen Spanien und
England.265
Der Sohn von Berrío und María de Oruña, Nichte von Gonzalo Jiménez
de Quesada, Gründer von Bogotá, wurde von 1616 bis zu seinem Tode 1622
Gouverneur und Generalkapitän der Provinz Venezuela.
Coro, El Tocuyo, Barquisimeto, Maracaibo, Caracas und Cumaná waren
Kolonialzentren der frühen Tierra firme. Guayana blieb Hinterland und wurde
zunächst Nueva Andalucia (Cumaná) zugeschlagen. In den
Unabhängigkeitskriegen und den Konflikten bis 1870 konkurrierten Cumaná
und Caracas um die Vorherrschaft in Venezuela. Zusammen mit Maracaibo und
Caracas stellt Cumaná auch ein historisches Zentrum des heutigen Venezuela
dar; etwas abseits, weil im Grunde nochmals Peripherie in der Peripherie und
formal zunächst Cundinamarca zugeordnet, lag Santo Tomé de Guayana.
Mérida im Zentrum der venezolanischen Anden war zunächst
Einflussgebiet von Bogotá und Tunja in den kolumbianischen Anden (von Tunja
aus konnte der Fluss Zulia bis zum Maracaibosee befahren werden). Zeitweise
gehörten Mérida zusammen mit Maracaibo als „Provincia de Mérida y Ciudad
de Maracaibo“ - zeitweilig gehörte sogar die Stadt Coro dazu - ganz zum
Vizekönigreich des Nuevo Reino de Granada (1667-1777) und war
formalrechtlich und verwaltungsmäßig völlig von der Provinz Venezuela
Donís Ríos, Manuel Alberto, “Las fortificaciones construidas durante la colonia: Factor de integración políticoterritorial de Venezuela”, in: Anuario de Estudios Bolivarianos. Bolivarium Año V, núm. 5 (1996), S. 45-68.
265
Sanoja; Vargas Arenas, “Las fortificaciones coloniales de Santo Tomé”, in: Sanoja; Vargas, Las edades Guayana
..., S. 177-214, siehe Bilder Figura 24 und 47.
264
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getrennt. Von den Provinzen und Städten in Randlagen (in Bezug auf Caracas
und Cumaná) Coro, Maracaibo und Guayana gingen in den Kriegen der
Unabhängigkeitszeit immer wieder Versuche aus, Zentren eigenen Rechts zu
bilden und das spanische Imperium zu erhalten.
Die Hinterlandsstädte Angostura und Guayana la Vieja wurden von 1816
bis 1819 zur Gründungszelle der unabhängigen Venezuela und eines
Staatsgebildes, „Groß“-Kolumbien, das nur elf Jahre (1819-1830) existierte und
im Kern die Vereinigung zwischen Venezuela und Cundinamarca darstellte, wie
sie schon die Züge von Antonio de Berrío symbolisiert hatten. Heute ist Coro
eine Kleinstadt im heißesten Teil der Karibik. Angostura (Ciudad Bolívar) ist
auch eine Kleinstadt und Ciudad Guayana ist Zentrum eines Industriegebietes
am Orinoco.
Als Basiskonstanten der venezolanischen politischen Kultur und ihrer
Geschichtsauffassung bis heute bleiben einerseits die Ausrottungs- und
Versklavungpolitik gegenüber den Indios (vor allem gegen Kariben, die wie
Ungeziefer dargestellt wurden) sowie der massive und ungeregelte
Sklavenhandel sowie der Schmuggel, verbunden mit einer
antiobrigkeitsstaatlichen Grenzer-, Aufsteiger- und Schmugglermentalitäten,
deren Ideal der rücksichtslose Catire (so etwas wie eine schöne, blonde Bestie)
darstellt. Indios findet man in der venezolanischen Geschichtsschreibung nicht
oder nur am Rande und wenn, dann kaum als Akteure mit positiven Beiträgen
zur Geschichte des Landes, sondern als „Wilde“, Stumpfsinnige oder zu
missionierende Menschen. Die Indios und die Geschichte der Sklaverei gehören
– bei Anerkennung einiger sehr guter Leistungen der venezolanischer
Wissenschaften266 – zum großen Bereich der nicht verarbeiteten Geschichte des
venezolanischen Volkes. Zweitens bleiben als Grundkonstanten der
venezolanischen Geschichte Partialisierung und Balkanisierung der Territorien,
Schwierigkeiten der Herausbildung eines Zentrums, die rücksichtslosen
266
Pollak-Eltz, Aportes Indígenas a la Cultura del Pueblo Venezolano, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello,
Instituto de Investigaciones Históricas, 1978.
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Konflikte der lokalen Eliten (Oligarchien) und die Stiefmütterlichkeit des
Imperiums (des Hin- und Herschiebens von Territorien und Herrschaften)
gegenüber den Peripherien an der Tierra firme. Theoretisch sprechen
Kolonialhistoriker von struktureller Instabilität kolonialer Herrschaft. Auch die
Versuche zentralistischer Steuerung von Wirtschaftsaktivitäten durch die
Metropole haben tiefe Spuren hinterlassen, wie die monopolistische Kontrolle
von Tabak und Kakao, die sich wegen relativ leichter Transportierbarkeit gut als
Schmuggelgüter eigneten, anders als Zucker, der in schweren Fässern
transportiert werden musste. Die Kronbeamten fürchteten, dass sich andere
Kolonialmächte durch Tabak- und Kakaoschmuggel eingeladen fühlten. In
gewissem Sinne hatten sie Recht mit ihren Befürchtungen, denn sowohl
Engländer wie auch Niederländer, Portugiesen, Brasilianer und Franzosen, deren
Vorhut immer Indiovölker, Schmuggler/Piraten und Korsaren gewesen waren,
rissen im Laufe der Kolonialzeit Teile aus den Territorien der
zusammengewürfelten Provinzen an sich (vor allem in den Guayanas sowie in
den Urwaldgebieten zwischen Orinoco und Amazonas) oder besetzten Inseln der
venezolanischen Küsten, wie die Niederländer Curaçao 1634 (anerkannt im
Frieden von Müster 1648) und die Briten Trinidad 1797.267
Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galt kein Nationalbegriff für
die Nordfassade Südamerikas, sondern der Begriff aus der Zeit der Conquista:
Costa Firme oder Tierra Firme (feste Küste oder Festland im Gegensatz zu den
Insel der großen Antillen). Definition der Costa Firme: „todo el país comprendido
entre las bocas del Orinico y el istmo de Panamá: esto es, las provincias de
Cumaná, Barcelona, Caracas, Coro y Maracaibo que pertenecen a Venezuela, las
de Río Hacha, Santa Marta, Cartagena y Panamá que son parte del virreinato de
267
Hartog, Johannes, Curaçao from colonial dependence to autonomy, Aruba: De Wit, 1986; Hartog, Curaçao:
short history, Aruba: De Wit, 41979; Trinidad . Arauz Monfante, Celestino Andrés, “Los holandeses y judíos
retornan a las Tucacas, punto neurálgico del contrabando en Tierra Firme”, in: Arauz Monfante, El contrabando
holandés en el Caribe durante la primera mitad del siglo XVIII, 2 vols., Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1984 (Biblioteca Academia Nacional de la Historia, 168; 169/Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela), Bd.
I, S. 198-201; Zum Hintergrund siehe: Cwik, Christian, “Neuchristen und Sepharden als cultural broker im
karibischen Raum (1500-1700)”, in: Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven Jg. 8, Heft 2
(Herbst 2007), S. 153-175, bes. S.171f.
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Santa Fe, y los indios de la Guajira que a nadie pertenecen. Ésta es la Costa Firme
propiamente dicho”.268
Gegen diese auseinanderstrebenden Kräfte der Geschichte hat der liberale,
aber auch der konservative Geschichtsdiskurs, seit etwa 1870 die extrem
geschichtsmächtige „rückwirkende Konstruktion“ einer Nation gesetzt, die im
Grunde schon beim Namen „Venezuela“ als erster Regung des
Nationalbewusstseins ansetzt.269 Dieses Geschichtskonzept war in und für die
Kolonialzeit (1550-1810) nur schwer zu vermitteln, weil lokalistisches
Bewusstsein der einzelnen Städte, Korporationen (Mönchsorden,
Kolonialbürokratie, Militär) und Provinzen sowie starke ethnische, rassiale und
regionale Spannungen (koloniale Küstengebiete und Anden, Llanos und
Indiogebiete in den Guayanas) jedem vor Augen führte, dass eine in das 16.
Jahrhundert rückprojizierte Nation einfach Unfug war und ist. Erst der Kampf
der Helden der venezolanischen Geschichte hätte dann im frühen 19.
Jahrhundert nur noch der - natürlich fast übermenschlichen Anstrengung bedurft, um diese „eigentlich“ schon seit dem 16. Jahrhundert existierende
Einheit „Venezuelas“ in Form einer Allianz der „Guten“ gegen Spanien zu
mobilisieren und endgültig „die Nation“ gegen viele Widerstände ins Leben zu
rufen. Während des 19. Jahrhunderts sei dann nur noch die Form der ElitenDominanz - zentral oder föderal - über diese „Nation“ ausgekämpft worden;
weil die militärischen Anführer der Kriege des 19. Jahrhunderts, die Caudillos,
das Land ausbluten liessen, habe sich die Notwendigkeit von Diktaturen zur
Stabilisierung der „Nation“ ergeben (die fast immer den Diskurs der
Unterschichten aufnahmen, selbst oft aus einfachen Verhältnisse stammten und
nach Siegen in die herrschenden Oligarchien einrückten) – daraus hat ein
genialer venezolanischer Intellektueller dann die Theorie des „notwendigen
Díaz, José Domingo, “Impugnación al folleto titulado la América y la Europa en 1846 o El Congreso de
Panamá, escrita por Mr. G.L., traducido del francés al castellano por D.S.L. y publicado en Hamburgo por Hoffman
y Campe en 1826”, in: Navarro García, Puerto Rico a la sombra de la independencia continental (Fronteras
ideológicas y políticas en el Caribe, 1815-1840), Sevilla – San Juan: Centro de Estudios Avanzados de Puerto Rico
y El Caribe/CSIC, 1999, S. 209-280, hier S. 226.
269
Harwich Vallenilla, Nikita, „Construcción de una identidad nacional. El discurso historiográfico de Venezuela
en el siglo XIX“, in: Revista de Indias, LIV, 202 (1994), S. 637-653.
268
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Gendarmen“ konstruiert. All diese Konstanten sind auch heute subkutan
wirksam, wenn darüber debattiert wird, was Venezuela ist und sein kann.
Aus diesen Widersprüchen hat sich bis heute eine sehr komplizierte
Geschichtssicht entwickelt270, die gerade in Bezug auf den ethnischen und
rassialen Inhalt des Konzepts der Nation eine Umformulierung erlebt. Unter
Rückgriff auf die Geschichte des Landes wird eine sozial und ethnisch
homogenere „Nation“ unter dem Konzept des Bolivarianismus als Argument
gegen die korrupte Elitennation der letzten vierzig Jahre sowie gegen bestimmte
der Formen der Globalisierung reklamiert und propagiert. Eine Reihe von
Widersprüchen bleiben weiterhin existent, zum Beispiel, dass die Masse der
Venezolaner (vor allem die Bewohner der Gebiete, die in den sieben Sternen der
venezolanischen Flagge repräsentiert sind; der achte Stern, der 2006
dazugekommen ist, steht für Bolívar) gerne an die frühe Existenz der Nation mit
dem Vornamen „Venezuela“271 glauben möchte, zugleich aber genau weiss, dass
ihre Vorfahren Indios, Negros oder Pardos waren, also zu Kolonialzeiten und
auch im 19. Jahrhundert, manchmal sogar noch im 20. Jahrhundert von den
Konstrukteuren des Eliten-Nationsbegriffes nur als Kanonenfutter, Diener,
Barbaren, Soldaten oder gar Sklaven in Betracht gezogen oder als
außenstehende „Wilde“ bekämpft wurden.272 Dazu kommen die Gebiete, die
nicht in den sieben Sternen repräsentiert sind – Maracaibo-Zulia, Coro-Falcón
und Guayana – mehr als die Hälfte der Fläche der heutigen venezolanischen
Staatsgebietes umfassend -, deren Eliten schon immer auf lokale Autonomie
(und Imperium oder Separatismus) gesetzt haben.
270
Carrera Damas, Germán, Formulación definitiva del proyecto nacional, 1879-1900, Caracas: 1988; Langue,
“Regards sur le positivisme vénézuélien et ses interpretations récentes”, in: L’Ordinaire Latino-Américain 160-161
(1996), S. 85-89.
271
Die konsistenteste Perspektive auf das historische Projekt “Venezuela Nation” hat Germán Carrera Damas in
seinem Buch: Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela, Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana,
5
1997 entwickelt, allerdings vom Standpunkt der “Vierten Republik”. Deshalb gehört Carrera Damas auch zu den
einflussreichen Verteidigern der intellektuellen und wissenschaftlichen Standards in Venezuela – gegen die
Perspektive des Chavismo.
272
Langue, „Historiografía colonial de Venezuela, pautas, circunstancias y una pregunta: ¿también se fue la
historiografía de la colonia detrás del caballo de Bolívar ?“, S. 247-265 ; Langue, “L’histoire officielle au
Venezuela. Vertus et paradoxes d’une histoire nationale”, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas (JbLA), 40
(2003), S. 355-372.
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Rinder, Pferde und Llanos
Auch Tiere machen Geschichte. Ochsen, Pferde und Schweine als
historische Akteure. Kolonisation und Besiedlung hatten nicht nur die Bildung
neuer Territorien und Städte für Menschen, sondern auch die Bildung neuer
Räume für Tiere zur Folge; man könnte auch sagen, die Räume wurden wegen
des Reichtums an Tieren überhaupt wahrgenommen und erschlossen. Diese
Landschaften waren wirklich von Tieren und Menschen geschaffenes Land, die
für Venezuela höchst bedeutsam wurden – wie die Llanos, die ohne Pferde,
Rinder und Reiter nicht vorstellbar sind. Auch diese Landschaften prägen in
ihrem schieren Da-Sein bis heute die Geschichte des Landes (vor allem in Bezug
auf die Verteilung der Bevölkerung und der Infrastrukturen).273
Humboldt war von den Weiten der Llanos so beeindruckt, das er in
seinem holistischen Weltbild im Flug seiner Gedanken einen kosmischen
Standpunkt einnahm, um die majestätischen Landschaften der asiatischen und
afrikanischen Wüsten und Steppen sozusagen „von oben“ mit den Llanos,
Prärien und Pampas in den Amerikas vergleichen zu können.274 Auch wenn viele
der neuen Landschaften nur spärlich besiedelt waren, entstand sozusagen als
Vorhut der Besiedlung nach Süden, Südwesten und Osten eine regelrechte
Rinder- und Pferde-Grenze. Allerdings war das erst möglich, als europäisches
Nutzvieh zu Cimarron-Vieh (orejanos, montaraz oder mesteño, woraus in
Nordamerika mustang wurde). Die erste der kolonialen Landschaffungen von
Makrostrukturen, vielleicht sollte man vom Auffüllen einer existenten
geographischen Fläche275 sprechen, bestand darin, dass sich die Llanos, die
Denevan, William M., „The Pristine Myth: The Landscape of the Americas in 1492“, in: Annals of the
Association of American Geographers 83 (1992), S. 369-385.
274
Humboldt, „Über die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt, Alexander von, Ansichten der Natur, mit
wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des Autors, Frankfurt am Main: Eichborn
Verlag, 2004 (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), S. 15-131.
275
Die Llanos gehören wirklich zu den Naturlandschaften Südamerikas, siehe: Denevan, William M., „The Pristine
Myth: The Landscape of the Americas in 1492“, S. 369-385, hier S. 373.
273
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vorher fast „leer“ in Bezug auf Großvieh gewesen waren mit europäischen
Rindern, Maultieren und Pferden füllten. Leer ist natürlich relativ, denn in den
Llanos wimmelte es von Tapiren, Stachelschweinen, Affen, Anacondas, Boas
(traga-venado), anderen Schlangen,Wasserschweinen (chiguires), Kaimanen,
Ameisenbären, Krokodilen, Geiern, großen Fischen und Jaguaren, Ozelots
(manigordo) sowie einer riesigen Vielzahl großer und kleiner Vögel und der
plaga – Insekten, Spinnen, Skorpione, Würmer und Schmetterlinge aller Größen
und Typen - abgesehen.276 In den Llanos herrschten Tiere, nicht Menschen. Die
Rinder ermöglichten es Menschen aber, vor allem geflohenen Indígenas und
Sklaven, Sträflingen sowie Schmugglern, Sklavenjägern und Missionaren,
überhaupt erst in diesen wilden Savannen zu überleben und auch dort
rudimentäre Formen von Exportwirtschaften (hatos)277 in den Llanos von
Caracas (später Guárico) zu schaffen, die sich vom ersten Tage ihrer Existenz
im gewalttätigen Konflikten mit den Subsistenznomaden der Indios und der
Cimarrón-Fluchtkulturen der Llaneros befanden.
Mit der Conquista wurde in Amerika das „Imperium der Rinder“ (J.
Rifkin) inauguriert. Westeuropa hatte nur noch an seinen Peripherien Platz für
Rinder, in der Puszta, in der Bukowina, in den Fjorden Norwegens, den
südrussischen Steppen, Hochschottland, auf den Hochalmen der Schweiz, der
Camargue und in bestimmten Regionen Andalusiens. Das Image eines
Imperiums der Rinder hat den Kontinent Amerika (und heute vor allem dem
„Westen“ Nordamerikas) auch geprägt – bis heute. Das ist - wie fast alles, was
die Perzeption „Amerikas“ in Mitteleuropa betrifft - insofern ungerecht, als die
wichtigsten Viehgebiete Amerikas in den kolumbianischen und venezolanischen
Llanos, den argentinischen, uruguayischen-südbrasilianischen Pampas oder den
Llanos im Norden Mexikos entstanden. Erst Hollywood hat sich dieses Images’
für den Mythos USA bedient – herausgekommen ist das Format Cowboy-Film
Rubio Recio, J.M., “La vida animal en Los Llanos”, in: Rubio Recio, El Orinoco y los Llanos, Madrid:
Ediciones Anaya, 1998, S. 45-81.
277
Armas Chitty, José Antonio de, “El hato”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico, 2 Bde., San Juan de los
Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 65-76.
276
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und die Telenovela „Dallas“ mit der der Neoliberalismus in den Medien Einzug
hielt (zumindest in den mitteleuropäischen). Aber auch das Gegenteil scheint
möglich – immerhin gilt Hugo Chávez als echter llanero (Llanobewohner),
obwohl er mittlerweile sicherlich meist im Präsidentenpalast in Caracas wohnt.
1530 hatte Cristóbal Rodríguez 18 Kühe mit Kälbern, 10 Stuten aus Jérez
und einige Schweine mit auf einen Zug in die Llanos geführt – sagt jedenfalls
die historische Legende. Der historische Prozeß der biologischen
Veränderungen in der Folge der Conquista war profaner. 1548 gab es in El
Tocuyo 215 Siedler sowie 100 Hengste, 200 Stuten, 300 trächtige Kühe, 500
Schafe und einige Schweine. Dreißig Jahre später durchstreiften zwischen 12000
und 14000 Rinder sowie etwa die Hälfte an Pferden, Eseln und Maultieren
(mulas) die westlichen Llanos altos; um 1783 soll der venezolanische Oriente
pro Jahr etwa 10000 Maultiere exportiert haben ohne dass die vorhandenen
Viehbestände abgenommen hätten – vor allem in die Karibik und für das Jahr
des Friedens von Amiens (1802-1803) gibt Ramón Aizpurúa auf Basis von
Information Dauxion-Lavaysses die fast unglaublichen Exportzahlen (nur) für
den Hafen von Barcelona: 132000 Ochsen, 2100 Pferde, 84000 Maultiere und
800 Esel.278 Zwischen Jamaika und Curaçao existierte ein direkte
Schmuggelverbindung, auf der vor allem Maultiere aus Venezuela in den
britischen Kolonialbereich gelangten. Curaçao hing am Tropf Coros; Trinidad
am Tropf Cumanás.
Die Llanoebenen des Landes füllten sich mit entlaufenem europäischem
Cimarrón-Großvieh sowie Schweinen. Bereits hundert Jahre nach den ersten
Kontakten der Europäer waren die Orinokosavannen, vor allem die Llanos de
Apure in der Mitte Venezuelas voller riesiger Herden von Rindern, Pferden,
Eseln und Maultieren sowie wilden Schweinen und Hunden.279 Las Casas
Arellano Moreno, Orígenes de la economía venezolana ..., S. 149; Aizpurúa, Ramón, “Las mulas venezolanas y
el caribe oriental del siglo VXIII: Datos para una historia olvidada”, in: Boletín Histórico XXX, Nr. 38, Barcelona
(1988), S. 5-15.
279
Izard, „El llano se llena“, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona: Sendai Ediciones, 1988, S.
31-43 (dort auch Karte).
278
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schreibt 1518: “Gott schafft in jenen Landen mehr [Rindviecher] als in
irgendwelchen anderen der Welt”280. Eine tiefgreifende Transkulturation, hin zu
einer stärker mediterran-atlantisch geprägten Landwirtschaft mit vielen lokalen
Varianten (und arabischen Einflüssen) nahm ihren Lauf.281 Die europäischen
Tiere wurden zur freilaufenden Ernährungsreserve für Europäer, aber auch für
die seit der Conquista entstehenden neuen Cimarrón-Völker, wie die Llaneros,
die aus dem ganado Frischfleisch, Milch, Käse, Schinken, Salzfleisch, Tasajo,
aber auch Leder, Riemen und viele andere Gegenstände des täglichen Bedarfs
gewannen. Besonders wichtig für die Spanier waren Rind, Pferd und das
gemeine Hausschwein.282 Im Grunde ruhte die christlich-europäische Kultur der
atlantischen Conquista-Kolonisationsprozesse auf diesem Tier. Für die Llaneros
und Gauchos wurden Rinder und Pferde lebensprägend und – Rindersteak sowie
Trockenfleisch (tasajo).283 Die Lebens- und Esssitten änderten sich – die Welt
des Atlantiks war eine Welt des Salz- und Räucherfleisches sowie Salzfisches;
die der Llanos und Pampas eine Welt des reichlichen Frischfleisches, der Häute
(in England, Frankreich und den Niederlanden als „Caracas“ bekannt) und des
Leders; damit ging es den Unterschichten meist nicht schlechter, vielleicht sogar
besser als der Masse der Unterschichten im nichtmaritimen Europa, Asien und
Afrika.
Nach den Entradas der Hutten und anderer Welser-Hauptleute allerdings
wagten sich nur noch wenige Spanier oder Siedler aus dem Norden in die
gefährlichen Weiten; die Städte Barinas im Westen und Maturín im Osten sowie
San Sebastían südlich von Caracas sowie Barcelona, wo die Llanos nah an die
Küste herankommen, im Osten bildeten Grenzorte zu den Savannen der
Las Casas, Fray Bartolomé de, “Memorial de Remedios para las Indias” (1518), in: Casas, Obras Completas, 14
Bde., Madrid: Alianza Editorial S.A., 1994, Bd. 13, S. 49-53.
281
Río Moreno, Justo L. del, Los inicios de la agricultura europea en el Nuevo Mundo 1492-1542, 2 Bde., Sevilla:
Editores ASAJA Sevilla/Caja Rural de Huelva/Caja Rural de Sevilla, 1991; Río [Moreno], Caballos y équidos
españoles en la conquista y colonización de América (siglo XVI), Sevilla : Editores ASAJA Sevilla/Caja Rural de
Huelva/Caja Rural de Sevilla, 1992.
282
Río Moreno, “El cerdo. Historia de un elemento esencial de la cultura castellana en la conquista y colonización
de América (siglo XVI)”, in: AEA, Tomo LIII, 1 (1996), S. 13-35.
283
Die Ernährung der Masse der einfachen Peones der Llanos ist umstritten, siehe: Lovera, José Rafael, „Entre la
buena mesa y el diario sustento“, in: Baptista, Asdrúbal (coord.), Venezuela siglo XX. Visiones y testimonios, 3
Bde., Caracas: Fundación Polar, 2000, Bd. I, S. 156-173.
280
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Cimarrones. Oft war seit dem 17. Jahrhundert die Rede davon, „auf die andere
Seite des Apure“ nach Süden zu ziehen und es mag eine Reihe von Goldsuchund Sklavenfangexpeditionen oder Versuche der Territorialgründung (wie
Berrio) gegeben haben. Über eine der ersten Expeditionen wird 1653 berichtet,
dass sie von San Sebastián startete, um die frechen Worte eines mulato zu
rächen sowie die Bedrohungen durch Indios caribes und geflohenen Negern
zurück zu schlagen. Unter dem Hauptmann Garci González de Ledezma
sammelten sich 114 wohlbewaffnete Offiziere und Soldaten mit Säbeln, Lanzen
und Armbrüsten, wohl auch dieser und jener Feuerwaffe. Der Hauptmann hatte
auch die Erlaubnis des Generalkapitäns von Caracas beschafft. Erstaunlich ist
nur, dass in der Namensliste alle die großen Namen erscheinen, die später als die
ersten Hato-Besitzer in den Llanos von Caracas verzeichnet sind: Bolívar, Pérez
de Valenzuela, Rodríguez, Zapata, Velasco, Tabares ... und viele viele mehr.284
Das systematische Vordringen der kolonialen „Zivilisation“ des Nordens
in die Llanos begann mit den Missionaren und ging sehr langsam vor sich. Noch
200 Jahre lang, bis etwa 1750 blieben die Llanos mit Ausnahem der nördlichen
Ränder ein Gebiet eigener Kultur, das von direkter Herrschaft der
kolonialspanischen „Zivilisation“ verschont war. Das heisst nicht, dass es keinen
Austausch zwischen Norden und Süden gegeben hätte, auch und gerade in
Bezug auf Sklavenfang, Fleisch und Tiere gegen Stoffe und Eisenwaren. Die
Sozialisierung als Llanero der vordringenden Viehwirtschaft und die
Alltagsgeschichte eines Peones (d.i., in etwa, ein Cowboy) beschreibt die
Autobiographie eines der venezolanischen Nationalhelden, José Antonio Páez.
Das Buch kennt jeder Venezolaner, es hat neben dem Roman Doña Bárbara
wohl am meisten zur Konstruktion des Llano-Mythos in Venezuela beigetragen.
Die Autobiographie ist in den 1860er Jahren entstanden und beschreibt die
Jugend des Helden um 1800, als José Antonio, in der Sprache der Llaneros ein
catire (Blonder, „Weißer“) in jungen Jahren wegen eines Totschlags in die
Armas Chitty, “La lección de Chiapara”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., 2 Bde., San Juan de los
Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 76-79.
284
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Llanos geflohen, von einem Hatovorsteher, dem „Neger Manuelote“ in die
Cimarrón-Kultur der Llaneros eingeführt wurde.285
Buria, Cocorote, Aroa und Araya: Früher Bergbau und Salz
Gold und andere Schätze waren Hauptziele der Conquistadoren. Die
Suche und der Abbau von Edelmetallen wurde auch anderswo betrieben, galt als
gottgefällig, und war wirtschaftshistorisch der Ausdruck der Unterentwickeltheit
Europas, zumindest aber ein Zeichen dafür, dass Mangel an Edelmetallen als
allgemeinem Tauschäquivalent in Europa herrschte (weil viel Silber in den
Orient für chinesische und arabische Luxuswaren sowie Gewürze abfloss).
Goldfunde in Venezuela sind Teil der Geschichte, allerdings nur in
beschränktem Umfang und nur während des 16. Jahrhunderts (erst im 19.
Jahrhundert wurde in Guayana wieder Gold gefunden). Ein Höhepunkt der
Goldausbeute in Venezuela war das Jahr 1533. Die Entrada des Ambrosius
Alfinger erbrachte die Riesensumme von Gold im Wert von 89080 Pesos
(wovon nur 35000 abgeliefert wurden); alles aus Razzien, Plünderungen,
Erpressungen und Grabraub.286 Ein Vorteil hatte die verzweifelte Suche nach
Gold – die Buría-Goldminen, von begrenzter Ausbeute seit Beginn, lenkten die
Aufmerksamkeit der Conquistadoren auf das reiche landwirtschaftlichen Gebiet
der Aragua- und Caracastäler (wo zunächst einige kleinere Goldminen gefunden
worden waren) sowie des Valenciasees. Und dort entstand der wirkliche
Reichtum der Kolonie – Caracas und die Kakaoexportwirtschaft.
Salz stellte eines der Haupthandelsgüter der Indígenas der Venezuelaküste
dar. Die Spanier knüpften daran an, indem sie die natürlichen Salzpfannen der
Halbinsel Araya in der Nähe von Cumaná ausbeuteten. Salz war als
Konservierungsmittel (Fleisch, Fisch) unter den Bedingungen des
Páez, José Antonio, “Capítulo I, 1790-1809”, in: Páez, Autobiografía del general José Antonio Páez, 2 Bde.,
Bogotá: Editorial Bedout S.A., o.J. (Facsimile des Originals), Bd. I, S. 1-11.
286
Denzer, “Die Plünderung des ‘Tals der Pacabueyes’”, in: Denzer, Konquista der Augsburger WelserGesellschaft in Südamerika …, S. 90-93.
285
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vortechnischen Zeitalters wichtig. Das europäische Spanien kontrolliert selbst
Salzproduktionsstätten, so dass die Araya-Pfannen und die Salinen von Píritu an
der Mündung des Río Unare oder von Pampatar auf Isla Margarita und in der
Nähe von Puerto Cabello als transatlantische Salzexporte nach Europa für das
Imperium nicht so wichtig waren. Überlebenswichtig wurde dagegen Salz für
die Niederländer seit etwa 1590. Wegen des Krieges gegen Spanien und
Portugal (die zwischen 1580 und 1640 unter kastilischer Krone vereint waren)
wurde ihnen während des „Abfalls der Niederlande“ (Schiller) der Zugang zu
den iberischen Salinen verwehrt. Die Niederländer kontrollierten aber die
Produktion und den einträglichen Handel mit Salzfisch (Hering und Dorsch),
vor allem ins Heilige Römische Reich, und den Salzhandel nach den
skandinavischen Gebieten und Nordrussland.287 In ihrer Not tauchten seit etwa
1592 niederländische Schiffe in der Karibik auf – viel später als englische,
französische oder bretonische Schiffe, weil sich die Niederländer sich in Europa
in schweren Abwehrkämpfen gegen die Spanier befanden. In Afrika
konzentrierte sich die niederländische Expansion erst einmal auf die
portugiesischen Besitzungen (auch in Asien). Salz brauchten die
niederländischen Städte allerdings immer. Zwischen 1595 und 1605 fuhren
jährlich etwa 10 kleinere Lastschiffe, so genannte urcas (mit 200-300 Tonnen
Ladung), über den Atlantik zwischen niederländischen Häfen und der Halbinsel
Araya im Osten Venezuelas. Die spanische Krone wollte sich das Herumtanzen
von verstockten Ketzern (viele Niederländer waren Kalvinisten und
Protestanten) nicht bieten lassen. Der König von Spanien, Philipp III., schickte
Flotteneinheiten, die seit seit 1606 viele Salzschiffe aufbrachten; er verbot
seinen Untertanen, den „Handel“ mit corsarios, holandeses und portugueses
weiter zu treiben, die die Siedler der peripheren Küsten bislang vor allem mit
stark nachgefragten europäischen Waren versorgt hatten. Deshalb auch die
positive Konnotierung, die das Wort corsario zwischen 1520 und 1620 hatte –
287
Varela, Marcos Jesús, Las salinas de Araya y el origen de la armada de Barlovento, Caracas: Academia Nacional
de la Historia, 1980;
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es waren Monopolbrecher, die die Preise der auf der Carrera de Indios von
privilegierten Händlern aus Spanien gebrachten Waren und Produkte um ein
Vielfaches unterboten.288 Der corso wurde zu Piraterie und zum „Schmuggel“
erklärt – was ja im Grunde nichts anderes heisst, als die „Freiheit der Meere“
und die „Freiheit des Handels“ staatlichen Regeln, Monopolen und Abgaben zu
unterwerfen. Korsaren durften seitdem offiziell nur noch Kapitäne sein, die ein
Korsarenpatent bei der Krone erworben hatten und für diese Lizenz zum
Seeraub viel Geld bezahlt hatten. Viele trieben weiterhin corso ohne Patent –
was nun mehr und mehr als piratería in den spanischen Quellen erscheint. Das
karibische Piratentum sowie die berühmten Küstenbrüderschaften (bucaneros,
buccaneers = Bukaniere) und Flibustier (filibusteros, fryboters) waren
entstanden. Piraten waren nicht zuletzt Rebellen und Seenomaden, in offizieller
Lesart Verbrecher, Ketzer aus Europa sowie sehr viele geflohene Sklaven und
Dienstknechte.289 Die leistungsfähigen niederländischen Werften lieferten die
Technologie dazu: die Fleute (auch Fluyt, das heisst, „Flöte“, ein kleines,
längliches und im Querschnitt rundes Schiff mit drei Segeln und hoher
Takelage, sehr schnell, wendig und, da flach, auch gut für die Buchten und
flaches Küsten der Karibik geeignet). Die Gegenstrategie der spanische Krone
war simpel und teuer: einerseits wurde Festungen gebaut (die Karibik wurde
zum bestbefestigten Gebiet der Welt), andererseits verfügte die spanische Krone
so genannte devastaciones (Verwüstungen), den Abriss und die Rücksiedelung
illegal angelegter Siedlungen an den Küsten vor allem Ostkubas, Jamaikas und
Ostvenezuelas und des westlichen Teil der Insel Española. Dort drangen wenig
später, von Tortuga aus, französische, normannische und bretonische Piraten ein
und gründeten Siedlungen, die zum Kern der französischen Kolonie SaintDomingue wurde, eigentlicher Name: la partie occidentale de la île de SaintDomingue. Auch im Osten Venezuelas drangen englische und niederländische
288
Acosta Saignes, Miguel, Historia de los portugueses en Venezuela, Caracas: Ediciones de la Librería Suma,
1977.
289
Snelders, Stephen, The devil's anarchy : the sea robberies of the most famous pirate Claes G. Compaen & the
very remarkable travels of Jan Erasmus Reyning, buccaneer, New York : Autonomedia, 2004.
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Siedler vor und besetzten zwischen den 1630ern und 1667 (Frieden von Breda)
Gebiete der wilden Küsten (Essequibo, Demerara).290 Damit verfügten sie über
beste Positionen im Schmuggel, Seeraub und im illegalen Sklavenhandel, den
auf den Meeren vor der Küste liefen die Handelslinien von Afrika nach
Amerika. In Ostvenezuela kam es zu einem neuen Aufschwung der
Missionstätigkeit (Kapuziner, Franziskaner und Jesuiten) und neue Orte, wie
San Antonio de Clarines, wurden gegründet. Wegen der Piratengefahr wurde der
Sitz des Bischofs von Venezuela aus der Küstensiedlung Coro nach Caracas
hinter den Bergen verlegt. Bereits 1610 wurde das Salz von Cumaná zum
königlichen estanco (Monopol) erklärt.291
Der englisch-spanische, französisch-spanische und spanischportugiesisch-niederländische Antagonismus führte, vor dem Hintergrund des
Angriffs der Holländer auf die portugiesischen Besitzungen sozusagen in „aller
Welt“, einerseits dazu, dass die Niederländer 1634 die Insel Curaçao besetzten
(die bis dahin offensichtlich vor allem von portugiesischen Sklavenschmugglern
benutzt worden war).292 Andererseits liess die spanische Krone bei den Salinen
von Araya, die Festung Real Fuerza de Araya errichten - eine von vielen
Festungen der, die unsere Filmmemoria der Karibik prägen, die berühmtesten
sind die von Cartagena und die von Havanna – von Juan Bautista Antonelli,
einem der berühmten Festungsbaumeister der spanischen Karibik. Die koloniale
Silhouette der karibischen Städte und der Karibik insgesamt wurde von ihm
begründet – genau diese Silhouetten sind noch heute auf den bunten
290
Boxer, Charles R., The Dutch Seaborne Empire, 1600-1800, London: Penguin Books, 1965, S. 113 (Karte:
“Dutch conquests in the West Indies and Brazil”).
291
Siehe den Bericht des Bischofs von Puerto Rico über seine Visitation der Saline von Unare: Fr. Juan [Alonso de
Solis], obispo de Puerto Rico, Cumaná, 28. November 1640, “Carta a Su Magestad”, in: Las Misiones del Piritú ...,
Bd. II, S. 9-15, hier S. 12-14; Sarabia Viejo, María Justina, “Evolución del estanco de la sal en Venezuela”, in:
Mena García, María Carmen (coord.), Venezuela en el siglo de la Luces, Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y
Montraveta eds., 1995, S. 83-100.
292
Emmer, “Jesus Christ Was Good, but Trade Was Better”: An Overview of the Transit Trade of the Dutch
Antilles, 1634-1795”, in: The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L.,
Engerman, Stanley, Gainesville: University Press of Florida, 1996, S. 206-222.
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Werbebroschüren der Tourismusbranche zu sehen. Ohne Piraterie, Schmuggel
und Menschenraub keine anständige Werbung.293
Repartimiento, Encomienda, Sklaverei und Zwangsarbeit in Venezuela
“En la Colonia todo, en último término, dependía de los esclavos” (In der
Kolonie hing letztlich alles von den Sklaven ab)294, hat Miguel Acosta Saignes
in einem der seltenen venezolanischen Bücher über die Sklaven geschrieben.
Diese an und für sich richtige Beobachtung führt allerdings in die Irre, wenn
man sie nur auf Sklaven afrikanischer Herkunft bezieht. Vor allem hing
zunächst alles, speziell die Sklaverei in Venezuela, von den Indios ab.
Venezuela war, im Gegensatz zu unserem auf den Süden der USA oder
Brasilien fixiertes Bild der Massensklaverei der Baumwolle oder des Kaffees,
eine Territorium unterschiedlicher, sehr verschiedener Sklavereien in eher
kleinflächigen Landschaftsformationen.
Die Indígenas selbst kannten die Sklaverei. Bei ihnen kam
Kriegsgefangenen-, Opfer- und Kazikensklaverei vor. Die Kariben begründeten
den Sklavereistatus allerd anderen Indiovölker aus ihrer Weltanschauung. José
Gumilla, der Jesuit, der zwanzig Jahre Missionar am Casanare, Meta sowie
Oriniko gewesen war, schreibt: „La sobresaliente y dominante en el Orinoco es
la nación Caribe“.295 Wenn man Kariben nach der Herkunft ihrer Vorfahren
befragte, so Gumilla, würden sie antworten: „Ana cariná rote, es decir:
‚Solamente nosotros somos gente’“. Y esta respuesta nace de la soberbia con
que miran al resto de las naciones, como esclavos suyos. Y con la misma
desfachatez se lo dicen en la cara: Amucón paporóro itóto nantó: ‘Todas las
293
294
Felice Cardot, Carlos, Curazao Hispánico (antagonismo flamenco-español), Caracas : ³1982, S. 110-118.
Acosta Saignes, Miguel, Vida de los esclavos negros en Venezuela, La Habana: Casa de las Américas, 1978, S.
9.
295
Gumilla, S.I., P. José, El Orinoco Ilustrado y Defendido, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1963
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 68); hier zitiert nach: Gumilla, “Los Caribes cuenta su origen”,
in: Gumilla, El Orinoco Ilustrado, ed. Rodríguez Ortiz, Oscar (ed.), Caracas: El Nacional, 1999, S. 26.
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demás gentes son esclavos nuestros’”.296 Alle Nichtkariben galten den Kriegern
der Stämme als Feinde und potentielle Sklaven (itotos); besonders leicht zu
besiegenden und zu versklavenden Feinde nannten die Kariben macos (oder
makus). Auch Sklaven wurden bei den Kariben Macos genannt - und Poitos.297
Maco (auch Aruak: maku) und Poito bedeuteten beide sowohl Sklave
(kriegsgefangener Mann oder Junge) und Schwiegersohn, aber auch so etwas
wie „dummer Mensch“ oder „Trottel“. Die anderen Indio-Völker hielten
Kariben für Dämonen, die von Leichenwürmern einer gigantischen Schlange
abstammten, die ein Sáliva-Krieger einst getötet hatte. Die Achaguas hatten
einen Mythos entwickelt, in dem die Kariben von Jaguaren mit Lanzen
abstammten.298 Diese Völker und die Otomaken versklavten ihrerseits Kariben
und ihre jeweiligen Feinde.
Die von Indios praktizierte Sklaverei und der Handel mit
Kriegsgefangenen seitens der Indios intensivierten sich mit Conquista und
Kolonisierung. Vor allem in den Gebieten, die bis in das 18. Jahrhundert als
Conquista- und Grenzgebiete galten – und das waren fast die gesamten Llanos
entlang des nördlichen Orinoco- und Apureufers, der „ferne Osten“ (Oriente)
und Süden Cumanás, der Maturín und das Orinocodelta sowie die Sierra de
Perijá und die gesamte Goajira im Westen. Besonders intensive Formen der
Indiosklaverei entwickelten sich in den Gebieten, die von verschiedenen
Kolonialmächten beansprucht wurden, wie alle Kariben-Gebiete Cumanás und
der nördlichen Guayanas; im Grunde existierte als Hintergrund der
Küstenkolonien Esequibo, Berbice, Demerara (zunächst niederländisch, ab 1814
britisch) Suriname, und Cayenne (heute die nichtiberischen Guayanas) ein
expansives Karibenreich auf der Basis von Sklavenjagd für Niederländer und
Engländer sowie ihre karbischen Kolonien. Die Kariben zogen sich unter dem
296
Ebd.
Acosta Saignes, „Macos e Itotos“, in: Acosta Saignes, Estudios de etnologia antigua de Venezuela, La Habana:
Casa de las Américas, ²1983, S. 89-114 (Original: Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1961).
298
Gumilla, “Los Sálivas y Achaguas cuentan el origen de los Caribes”, in: Gumilla, El Orinoco Ilustrado ..., S.
26f.
297
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Druck von Missionaren und europäischen Siedlern von den Küsten zurück,
schützten aber zugleich die niederländischen, englischen, deutschen, jüdischen,
portugiesischen und französisch-hugenottischen Siedler vor ihren Hauptfeinden,
den Spaniern, und verschafften ihnen Sklaven. Das Kariben-Reich der Caribana
(Guayana) wurde noch 1800 von Humboldt nachgerade elegisch beschrieben
und ansonsten im Wesentlichen von Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert (bis
1767) sowie von deutschsprachigen Forschern im 19. und frühen 20.
Jahrhundert dargestellt.299
Die Sklavenjägertrupps der Kariben gelangten auf ihren schnellen
Piraguas bis tief in das Herz der Orinoco- und Amazonaswälder, tausende von
Kilometern von den Küsten des karibischen Meeres entfernt. Humboldt hat
diesen Sachverhalt in der tiefsten Selva am Río Negro folgendermaßen
ausgedrückt: „Damals, sag ich, waren Cariven Meister des Orinoco, sie streiften
von Berbice und Esquivo durch Carony und Paraguamuci nach R[ío] de Aguas
Blancas, wie durch Caura nach Ventuari und Esmeralda; sie reizten kleine
Ind[ianische] Fürsten zu Kriegen, kauften mit Waren (Messern, Machetta
[Machete – M.Z., eine Art Kalaschnikow des 16. bis 19. Jahrhunderts],
Angelhaken), die sie von Holländern und Portugiesen empfingen, von diesen
Fürsten die Sklaven und lieferten sie an Holl[änder] und Portugiesen. So litten
die unglücklichen Bewohner dieser Gegend von Europäischer Barbarei, ohne die
Europäer selbst mit Augen zu sehen“.300
Eine besonders schlimme Form der Razziensklaverei entwickelte sich seit
1495 in den Raubzügen der iberischen Baquianos. Zu diesen Gruppen von
spezialisierten Sklavenjägern gehörten auch die mestizischen Söhne der Spanier
und eventuell Söhne von Portugiesen mit afrikanischen Frauen. von La Española
299
Im Lande der Kariben. Reisen deutscher Forscher des 19. Jahrhunderts in Guayana. Alexander von Humboldt,
Robert Schomburgk; Richard Schomburgk; Carl Ferdinand Appun, ausgewählt und eingeleitet von Scurla, Herbert,
Berlin: Verlag der Nation, 1964; Walter, Rolf, „Panoramica de las investigaciones sobre Venezuela realizada por
científicos alemanes después de Alexander von Humboldt (siglo XIX)“, in: Becker [et al.] (eds.), Presencia y
pasado de América Latina en las letras y ciencias sociales alemanes, Caracas: Monte Avila Editores, 1985, S. 479494; Alert, Anja, „Deutsche Reisende in Venezuela“, in: Zeuske, Michael; Schröter, Bernd (eds.), Alexander von
Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 1992, S. 49-60;
Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 344f.
300
Ebd., S. 306.
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und seit 1500 auf Razzien der Kapitäne und auf den Entradas der
Conquistadoren in Venezuela (und insgesamt in allen peripheren
Conquistagebieten Amerikas). Wie den Kariben galten den Europäern und
Atlantikkreolen alle Indios außerhalb ihres direkten Herrschaftsgebietes als
gefährliche Feinde (itotos). Bis um 1560 waren die Spanier in Amerika
überzeugt, dass die Zahl der Indios „unendlich“ sei. Von diesem
verhängnisvollen Irrtum (für die Indios) konnten sie auch die Predigten von Fray
Pedro de Córdoba sowie seiner Dominikaner (wie Montesinos, der 1511 die
berühmte Weihnachtspredigt gegen die Versklavung der Indios hielt301) nicht
abhalten, obwohl diese an Drastik und Schärfe nicht zu wünschen übrig ließen.
Angesichts der kleinen Anzahl von Conquistadoren in den Entradatrupps, die
den riesigen Kontinent auf Suche nach Beute und Schätzen durchstreiften,
waren die Indios eben wirklich „unendlich viele Feinde“. Deshalb galt es als gut,
Gegner (sowieso), aber auch Gefangene zu töten (und die anderen Feinde damit
in Schrecken zu versetzen) oder als Träger zu Tode zu hetzen oder verhungern
zu lassen. Auch auf den Schiffstransporten von gefangenen Indios auf dem
karibischen Meer starben sehr viele Menschen, mindestens in der Höhe von
Hunderttausenden. Auf den Entradas der Conquistazüge wurde besiegte und
gefangene Indios „verteilt“ (repartir) – das bedeutete, der jeweilige Anführer
teilte den Teilnehmern des Conquistazuges je nach Verdienst und Status Indios
und Indias als Träger, Dienstsklaven, Ernährer und Bettgenossinnen zu. Daraus
entwickelte sich die Institution des Repartimiento; in Realität handelte es sich in
der Ökonomie der Conquista um relativ ungeregelte Kriegsgefangenensklaverei.
Die Krone und ihre Funktionäre vor Ort, die Kirche generell (vor allem
die Orden der Dominikaner und Franziskaner), aber auch Spanier, die sich in
einem Gebiet als Kolonisten und Siedler niederlassen wollten, waren allerdings
am Überleben von möglichst vielen Indios interessiert, denn die Indios waren
“Die Adventspredigt des Antón Montesinos eröffnet das Ringen der Dominikaner um die Menschenrechte der
Indios (1511)“, in: Dokumente, Bd. III, S. 489-497.
301
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sowohl neue Seelen für die Mission, Tributzahler für die Krone302, aber auch
Arbeitskräfte für die Siedler und – sofern Kariben – Sklaven, die verkauft
werden konnten. Der Repartimiento, zunächst wirklich eine ungeregelte und
ziemlich schreckliche Form der Kriegsgefangenenversklavung, in zwei
Grundrichtungen weiter: Einerseits gab es in nach Süden und Osten
vorrückenden Grenzgebieten weiterhin Razzien-Entradas (in Venezuela bis in
das 18. Jahrhundert, manchmal sogar noch im 19. Jahrhundert) und die
Indiosklaven wurden, bis in das 19. Jahrhundert, verkauft oder vertauscht. Vor
allem Ostvenezuela galt sozusagen als die „Heimat“ der Kariben mit ihrem
harten Widerstand. Hier wurden die Entrada-Razzien (jornadas) zum Zwecke
des Menschenfangs besonders intensiv und lange betrieben (worauf wiederholte
Verbote der Indiossklaverei hinweisen, wie etwa 1679).303 Eine wahrscheinlich
weit wichtigere Form der Versklavung, aber auch der Transkulturation, ergab
sich aus den Aktivitäten von Missionaren.304 Humboldt kritisierte noch 1800 die
von den Missionen ausgehenden Razzien (jornadas, entradas) zum Zwecke des
Sklavenfangs: „Eine schändliche Sache, obgleich selten jezt [sic], doch Schande
des Jahrhunderts sind die Jornadas [jornada = entrada - M.Z.] der Missionäre.
Ein Mönch bietet, um sein Dorf zu vergrößern oder neue anzulegen, alle
Mannschaft in der Nähe auf, ihm bewafnet gegen die Indios bravos zu folgen.
Indianer (schon bekehrte) und die Spanier, alle müssen im Namen der Religion
folgen. Tenientes müssen Padre Beistand leisten, zur Jornada zwingen. Man
überfällt unschuldige Indianer, sie retten sich meist nur durch Flucht, man sezt
ihnen nach, tötet alles, was sich widersezt, oft ein [einige] 50-60 Männer und
302
Zum Indianertribut existieren eine Reihe von klassischen Arbeiten: Miranda, José, El tributo indígena en la
Nueva España durante el siglo XVI, México, 1952; Escobedo, Ronald, El tributo indígena en el Perú (siglos XVIXII), Pamplona 1979; Eugenio Martínez, María Ángeles, Tributo y trabajo del indio en Nueva Granada, Sevilla
1977; für Venezuela gibt es nur Artikel: Nestares Plegezuelo, “Tributación indígena y deficit fiscal en Nueva
Andalucia durante el siglo XVIII”, in: Mena García, María Carmen (coord.), Venezuela en el siglo de la Luces,
Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y Montraveta eds., 1995, S. 173-200.
303
Armellada, Cesáreo Fray, Fuero Indígena Venezolano 1811-1977, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello,
1977; Jiménez G., La esclavitud indígena en Venezuela (siglo XVI) ...; Laserna Gaitán, Antonio Ignacio, “Los
guarichos: indígenas utilizados como sirvientes domésticos en Nueva Andalucia”, in: Mena García, María Carmen
(coord.), Venezuela en el siglo de la Luces, Sevilla-Bogotá: Muñoz Moya y Montraveta eds., 1995, S. 137-172.
304
Gilij beschreibt diese Form der Versklavung in umgekehrter Legitimation, das heisst, als Missionar beschuldigt
er die Indios, sich gegen die Mönche zu verteidigen, siehe: Gilij, Ensayo de Historia Americana …, passim,
speziell: Bd. III, S. 305.
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Weiber, raubt Kinder und schlept alt und jung, oft ein 200-300 triumphierend in
das Dorf. Es gibt um Calabozo, Tisnao, Nutrias Gesindel, besonders Zamben,
welches mehrere solcher schändlicher Giornadas mitgemacht und sich öffentlich
rühmt, 5-6 Indianer erlegt zu haben.“ 305 Insofern glich Venezuela eher dem
Süden und Norden Brasiliens mit seinen mestizischen SklavenjägernEntdeckern (bandeirantes) und anderen Indiofängertrupps.306 In Esmeralda, dem
südlichen Endpunkt seiner Orinoko-Flussreise im Mai 1800 hält Humboldt
folgende Beobachtung in seinem Tagebuch fest: „Der Comendant des R[ío]
negro machte entrada ohne Erlaubniß des Governadors, Vorwand, um Yndier zu
holen, und da er so wenige brachte, sagte er, er sei gewesen [er habe es
gemacht], um geograph[ische] Entdekkungen zu machen! Wahrer Zwek, Neger
zu Sklaven zu machen, welche (Holländer [307]) an Parime unter Indios Guaycás
wohnen, und von denen er gehört. Indianer thaten Widerstand, ein Spanier mit
Curare verwundet; Rache und schändlich und unnüz unter Indianern
gemezelt“.308
Andererseits entwickelten Krone und europäische Rechtsgelehrte auf
Basis iberischer Erfahrungen das Konzept der encomienda (Kommende,
Anheimgabe) als den Versuch einer Institution nach dem Motto „Integration in
die christliche Gesellschaft gegen Arbeitstribute (oder andere Formen des
Tributs)“.309 Theoretisch sollte die Encomienda Sklaverei verhindern. Die
Rechtsform bestand darin, dass die Indios zu „freien“ Untertanen der Krone
Humboldt, „Missionen“, in: Humboldt, Vorabend..., S. 160-162, hier S. 161 (Dokument Nr. 92). Hier wurde die
„Chronik der angekündigten Gewalt“ (Miquel Izard) geschrieben, die im Sozialkrieg der Independenciazeit
kulminierte und den Begriff sowie die Anwendung von nichtstaatlicher Gewalt im 19. Jahrhundert prägte; siehe:
Riekenberg, Michael, „Kriegerische Gewaltakteure in Lateinamerika im frühen 19. Jahrhundert“, in: R. P.
Sieferle/H. Breuninger, (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der
Geschichte, Frankfurt am Main: Campus, 1998, S. 195-214. Arcila Farías hat nachgewiesen, daß der größte Teil
des venezolanischen Territoriums durch solche „Jornadas“ und Entradas, de facto religiös-militärischen
Unternehmungen, erobert worden ist, siehe: La obra pía de Chuao 1568-1825, comp. C.Salazar u.a., Caracas :
Universidad Central de Venezuela, 1968, S.30ff.
306
Gilij, Ensayo de Historia Americana …, passim; Góngora, “Cabalgadas y banderas paulistas”, in: Góngora, Los
grupos de conquistadores en Tierra Firme ..., S. 98-103.
307
Von den Plantagen in Surinam geflohene afrikanische Sklaven.
308 Humboldt, Vorabend …, S. 150 (Dokument 78); siehe auch: Ferguson, Brian, “Early Encounters”, in:
Ferguson, Yanomami warfare. A political history, Santa Fe: School of American Research Press, 1995, S. 77-98.
309
Arcila Farías, Eduardo, El régimen de la encomienda en Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela,
³1979.
305
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erklärt wurden (mit Ausnahme von „Kariben“, Indios, die die Waffen nicht
niederlegten und Apostaten – vom Glauben (wieder) Abgefallene). Um die
Ansiedlung der unsteten und wilden Conquistadoren zu befördern, trat die
Krone mit Landvergaben, den mercedes (seit 1546, in Caracas seit 1567, im
Tuytal seit 1592, meist als peonía - 5000 Fuss im Quadrat - oder als caballería –
20000 Fuss im Quadrat) und Encomiendas Teile ihrer Rechte an den neuen
Untertanen an die Siedler ab, was bedeutete, Siedlern wurden Encomiendas in
der Nähe der ihnen ebenfalls zugesprochenen Landbesitze übertragen – aber nur,
wenn sie wirklich einige Jahr siedelten (und bei den Indio-Sklaven drückte man
beide Augen zu). Die Encomienda-Indianer mussten für den Encomendero als
dem Inhaber einer Encomienda arbeiten oder ihm eine andere Art von Tribut
(Nahrungsmittel, Salz, eingesammelten Kakao, Heil- oder Färbepflanzen,
Waschgold o.ä.) abliefern. Der Encomendero verpflichtete sich im Gegenzug,
die Indios in Doctrinas christlich zu erziehen (Glaubensinhalte und -regeln,
Arbeits-, Verhaltens- und Kleidernormen) und Heerfolge in seinem Gebiet zu
leisten (seine Stadt oder Provinz im Falle eines Angriffs zu verteidigen310); in
Realität vermittelte er ihnen aber vor allem christliche Arbeits- und Zeitnormen
sowie Strafen, das heisst, neue Arten von extremem Zwang – die Folgen waren
Trübsinn, Trunksucht, Selbstmorde, generell hohe Sterblichkeit und
Reproduktionsverweigerung bei vielen Indias und Indios. Die Institution
Encomienda glich in Realität einer Art Leibeigenschaft, bei der in der konkreten
Realität Sklaverei die Basis bildete. Die Encomiendas und der Landbesitz der
Mercedes wurden oft zum Ursprung der Haciendas und diese, wie auch die
Hatos in den nördlichen Llanos, zu Kernen von Siedlungen.311 Konkret etwa im
Falle der Hacienda La Vega, auf deren späterem Gebiet zunächst die CaracasIndios lebten, für die an den Conquistador Garci González de Silva 1568 eine
Encomienda erhalten hatte. 1594 vergab der Gobernador Ponce de León den
Cardoza Sáez, “Milicias y encomiendas en los Andes venezolanos durante el período colonial“, S. 213-223.
Troconis de Veracoechea, “Haciendas de Venezuela”, in: Gasparini, Graziano; Troconis de Veracochea, Ermila,
Haciendas Venezolanas, Caracas: Armitano Editores, C.A., 1999, S. 15-52.
310
311
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offiziellen Eigentumstitel über die Tierras del La Vega y del Valle de Yaguara
an die Familie des Conquistadors. Anfang des 17. Jahrhunderts ging die
Hacienda, von der heute in der Stadt Caracas noch Gärten und ein Haupthaus
zeugen, in das Eigentum der Familie Tovar über, wo sie bis in das 19.
Jahrhundert verblieb.312
Offiziell eingeführt worden war die Rechtsinstitution Encomienda
1512/13, mit den Leyes von Burgos (es kam zu vielen weiteren Regelungen).
Am verheerendsten an den Leyes de Burgos war wohl, dass den „Christen“
(Spaniern) erlaubt wurde, in den Gebieten ihrer Encomiendaindios zu siedeln
(da sie nach offizieller Auffassung durch ihr „Beispiel“ christliche Werte
vermitteln sollten). Nachdem Mönchorden und Krone feststellten, dass es der
enge Kontakt mit den ehemaligen Conquistadoren, nun Siedlern und Kolonisten
(und ihr in Realität oft „schlechtes Beispiel“) war, der die Indios wie die Fliegen
sterben liess (insgesamt für das spanische Amerika von rund 65 Millionen 1492
auf 5 Millionen 1650313), beschloss die Krone nach langer und zäher
Überzeugungsarbeit vor allem der Dominikanermönche und des Padre de Las
Casas 1542 (weil die Indios auf den Antillen faktisch „durch die Encomienda“
ausgestorben waren), mit den Leyes Nuevas die Encomienda wieder
abzuschaffen; abgeschafft werden sollten auch (fast) alle Formen der
Indiosklaverei, vor allem auch die so genannte Naboría (eine Art informeller
Haussklaverei).314 Diese formale Abschaffung der Encomienda musste
allerdings fast sofort rückgängig gemacht werden, weil es in vielen Gebieten zu
Siedlerunruhen und –aufständen kam.
In Venezuela wurden die ersten Encomiendas erst nach Ende der WelserHerrschaft und nach dem ersten Verbotsversuch des nuevas leyes vergeben;
Gasparini, “Las casas de la Haciendas”, in: Gasparini; Troconis de Veracoechea, Ermila, Haciendas
Venezolanas ..., S. 83-263, hier S. 97.
313
Lucena Salmoral, Manuel, “La Colonización (1550-1700)”, in: Ciudad, Andrés; Lucena; Malamud, Carlos
(eds.), Manual de Historia Universal, 10 Bde., Madrid: Historia 16, 1992, Bd. X: Historia de América, S. 249-307,
hier 251-254, sowie: Lucena Salmoral, “¿Quién mató a sesenta milliones de indios?”, in: Ebd., S. 252-254.
314
Konetzke, Richard, Colección de Documentos para la Historia de la Formación Social de Hispanoamérica,
1493-1810, 3 vols. in 5 Bden., Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 1958-1962, Bd. I, S. 132:
“Ninguna persona se pueda servir de los indios por vía de naboría ni tapía ni otro modo algunos contra su
voluntad”.
312
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konkret in El Tocuyo (seit 1546). Die befreundeten Stämme der Kaquetíos von
Coro und die Guaiqueríes von Cumaná und Margarita galten als indios de la
Real Corona (Königsindios) und waren den Encomiendaregime nicht
unterworfen. Als Rechtsform galt die nach der gescheiterten Abschaffung der
Encomienda 1542 durch die Krone tolerierte encomienda de tributo, bei der
theoretisch keine direkte Arbeitsleistung abverlangt werden sollte, sondern in
Geld festgesetzte Tributsummen. In Venezuela war aber weiterhin die
encomienda de servicio (Arbeitstribut) üblich oder andere Formen der
Zwangsarbeit (wie vor allem in den Anden um Mérida die aus Neu-Granada
bekannte mita urbana315). 1649 und 1659 wurden königliche Verordnungen
(cédulas) erlassen, die es ermöglichte, die eigentlich nur auf ein oder zwei
Leben vergebenen Encomiendas gegen eine Geldzahlung (composición de
indios) weiter zu führen; quasi zu vererben.316 Anlaß waren Klagen von Witwen
sowie Rechtsvertretern unmündige Kinder von Encomenderos. Im Grunde, im
wiederhole das, kam es zu einer rechtlichen Regelung, die in der Realität dazu
führte, dass Encomiendas vererbt wurden.317
Die Familie Bolívar verfügte seit 1593 über eine Encomienda unter den
Quiriquire-Indios am Río Aragua; in dem Gebiet lag die Familien-Hacienda San
Mateo (mit Kakao, Zuckerrohr, Tabak, Bananen, Weizen, Mais, Bohnen und
Yuca), der unteilbarer Besitz (mayorazgo) sicherte ihren Status als Mitglieder
der Elite (bis 1811). Auf der Familien-Encomienda lag auch das pueblo de
doctrina San Mateo.318
In Realität war die Encomienda in Venezuela weiterhin der Sklaverei sehr
nahe. Encomienda hatte theoretisch aber nichts mit Landbesitz zu tun, sondern
315
Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim; Samudio A., Edda O., El trabajo y los
trabajadores en Mérida colonial, San Cristóbal: Universidad Católica del Táchira, 1984; Samudio, Sumario
histórico sobre el trabajo colonial, San Cristóbal: Universidad Católica del Táchira, 1984.
316
Arcila Farías, El régimen de la encomienda en Venezuela ..., passim; Jiménez G., La esclavitud indígena en
Venezuela (siglo XVI) ..., passim.
317
Rojas, Reinaldo, El tema de la encomienda en la historiografía venezolana, Caracas: Universidad Santa María,
1991.
318
Landaeta Rosales, Manuel, Una visita a San Mateo el 25 de junio de 1816, Caracas: Litografía y Tipografía del
Comercio, 1917; Gasparini, “Las casas de las haciendas”, in: Gasparini; Troconis de Veracoechea, Ermila,
Haciendas Venezolanas ..., S. 83-263, hier S. 90-96 (El Ingenio Bolívar).
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es handelte sich formell um auf Zeit vergebene Tribute, Herrschgewalt und
Abgaben. Oft entsprachen sich Encomiendagebiete und Doctrinas, in denen die
Indios durch Predigt und Unterweisung zur christlichen lebensweise erzogen
werden sollten. Die erste lokale ordenanza zur Regelung der Encomienda in
Venezuela wurde 1555 erlassen. Der Rechtsstatus von Indios wurde in dieser
Ordenanza als der von Minderjährigen festgelegt. In der Ordenanza wurden
Minenarbeit und Perlenfischerei für die Encomiendaindios verboten.319 Aber
Tribut in Form persönlicher Arbeit wurde festgeschrieben (im Grunde gegen die
Festlegung der Krone, den Tribut nur noch in Geld abzuleisten). Frei von diesem
Arbeitstribut blieben in Venezuela nur die Salinen-Indios, das heisst, die
Indiovölker, in deren Siedlungsgebiet Salzproduktionsstätten lagen (wie die
Indios von Araya oder von Piritú). Die Pflege und Erhaltung der Salinen lag in
strategischem Interesse sowohl der Imperiums wie auch der lokalen Behörden.
Deshalb mussten die Salinen-Indios ihrem Encomendero nur das Salz für dessen
Haushalt abliefern. Alles restliche Salz durften sie frei verkaufen. Besonders in
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es einige Indio-Aufstände gegen das
Encomienda-System. Trotzdem hielten sich Formen der Encomienda in
Venezuela bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, zum Teil bis in das 19.
Jahrhundert.
Für Venezuela als Peripherie galten all die Rechtsnormen, wie die
Institution Encomienda, für die zentralen Kolonialgebiete zwar im Allgemeinen;
da das Land aber bis 1570 nur punktuell überhaupt als Kolonie bezeichnet
werden kann und weiterhin Conquista- und Kriegsgebiet darstellte, galten die
Schutzfunktionen, die sie Institution Encomienda haben (sollte) nur in
Grenzgebieten – wenn es überhaupt Encomiendas gab (die ersten wurden in El
Tocuyo seit 1546 vergeben). Sklaverei in Venezuela im 16. und auch noch im
319
Da Prato Perinelli, Antoinette, Las encomiendas de Nueva Andalucía en el siglo XVII, 4 Bde., Caracas:
Academia Nacional de la Historia, 1990; Rojas, El régimen de la encomienda en Barquisimeto colonial 1530-1810,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1992.
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17. Jahrhundert bedeutete konkret vor allem Razzien (von Baquinaos und
Kariben sowie zunehmend auch Mönchen).
Besonders wichtig für Spanien war seit 1505 die Sklaverei von
Perlenfischern. Die Taucher waren vor allem versklavte Indios aus den
Karibengebieten (was nicht bedeuten muß, daß es immer Kariben waren; denn
im Grunde bestimmten lokale Institutionen oder die Sklavenfänger selbst wer als
„caribe“ gelten sollte und versklavt werden konnte), am Anfang vor allem
Lucayos (versklavte Indios von den Lucayas – das war der frühe Name für die
Bahama-Inseln), aber auch von anderen Antilleninseln und von den
Karibikküsten bis nach Yucatán, besonders aber kriegsgefangene und versklavte
Indios von der Küste des heutigen Venezuela von Caracas bis zum Orinoco, die
von Sklavenjägern eingefangen worden waren, wie sie der Welser-Faktor
Rembold 1542 nach Coro eingeladen hatte. Seit 1527 autorisierte die Krone die
Einführung von Negersklaven, später, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
wurden auch versklavte Indios aus brasilianischen Gebieten eingesetzt. Auch
dieser oder jener Spanier hat wohl manchmal den Sprung in das Wasser gewagt.
Eine privilegierte Stellung hatten die Indios der Inselgruppe von Margarita. Die
Guayqueríes galten theoretisch als frei. Sie halfen den spanischen Organisatoren
der Perlenfischerei bei der Auffindung neuer Austernbänke und versorgten die
Rancherías.320
Die ersten schwarzen Sklaven waren als Sklaven-Conquistadoren zur
Tierra Firme gelangt oder von den Welsern eingeführt worden. Als Vorarbeiter
der Perlenfischer wurden oft erfahrene Schwarze als capitanes der
Perlenfischerkanus und der lanchas (flache Langboote) eingesetzt.321
Die Sklaverei, die Spanier und Europäer sowie in gewissem Sinne auch
Afrikaner nach Venezuela brachten, war zunächst Sklavenjagd auf Indios,
320
Otte, Las perlas del Caribe ..., S. 48f.
Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod. Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und
Finanzinteressen bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in : Spanische Forschungen der
Görresgesellschaft 22. Bd., Münster (1965), S. 283-320; Otte, “Der Negersklavenhandel Amerikas bis zum Asiento
der Deutschen”, in: Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, S. 117-159.
321
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Razzien, Überfälle und Verschleppung in andere Territorien, wie La Española
oder zu den Perlenbänken von Cubagua, Paria, Margarita oder Goajira. Diese
Funktion der Tierrafirme als Sklavenjagd und -fanggebiet währte von 1499 bis
etwa 1600 (in einigen Gebieten auf der Guajira sowie im Süden und Osten von
Cumaná noch viel länger). Daran änderte auch die Welserzeit nichts, ganz im
Gegenteil. Als die Europäer, etwa seit der Gründung von El Tocuyo, wirklich zu
einigermassen dauerhaften Siedlungen übergingen, brauchten sie für den
Bergbau und den Zuckerrohranbau Spezialisten. Sie setzten an den Bräuchen der
Indios an und nutzten zugleich ihre eigenen Erfahrungen mit Sklaverei Fremder
von der iberischen Halbinsel und aus dem atlantischen Bereich – am
vorteilhaftesten erwies sich aber bald die Einführung von versklavten Menschen
aus Afrika. Am Ende des 16. Jahrhunderts lebten etwa 2000 blancos (Spanier
und ihre Nachkommen) auf dem Territorium des heutigen Venezuela sowie eine
unbekannte, aber viel größere Anzahl Indios. Dazu mehr als 5000 schwarze
Sklaven322, die meisten aus Afrika (oft von den Kapverden). Viele der Sklaven
waren auch von anderen Inseln der Karibik nach Venezuela verkauft worden
und hatten eine Cimarrón-Identität angenommen.323
Indianische und europäische Sklavereiformen waren ziemlich
unterschiedlich; im Grunde kann man „vom Sklaven als Mitglied der
Dorfgemeinschaft versus Sklaven als Handelware und verkäuflicher
Privatbesitz“ sprechen, auch das Gesamtkonzept der Sklaverei (Art der
Arbeiten) sowie ihre Dauer (bei den Indios oft ein vorübergehender Status, bei
den Europäern theoretisch lebenslänglich). Juan de Castellanos (1522-1607)324,
Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, in: Pollak-Eltz, La esclavitud en Venezuela: un estudio
histórico-cultural, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2000, S. 37-47, hier S. 40; Documentos para el
estudio de los esclavos negros en Venezuela. Selección y estudio preliminar de Troconis de Veracochea, Ermila,
Caracas : Academia Nacional de la Historia, ²1987 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de
la Academia Nacional de la Historia, Vol. 103).
323
Landers, Jane G., “Cimarrón Ethnicity and Cultural Adaptation in the Spanish Domains of the CircumCaribbean, 1503-1763”, in: Lovejoy (ed.), Identity in the Shadow of Slavery, London; New York: Continuum,
2000, S. 30-54.
324
Ramos, “Juan de Castellanos y su obra”, in: Castellanos, Juan de, Elegías de Varones Ilustres de Indias.
Introducción y notas de Pardo, Isaac J., Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1962 (Fuentes para la Historia
Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia ; 57), S. XI-XLV; Vila, “Valores
geográficos en la cronica de Juan de Castellanos”, in: Vila, Visiones geohistóricas ..., S. 261-287; Vila, Marco
322
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der um 1539 nach Amerika gekommen war, und sich in den
Sklavenfangregionen von Puerto Rico, auf Margarita, Santa Marta, Maracaibo,
Barquisimeto und Cubagua bewegte, bezeichnete sich selbst als Baquiano:
„Los pocos baquianos que vivimos/ Todas aquestas cosas …”
“Baquiano” ist zwar hier im Sinne von „alter Hase“ gemeint, aber der zweite
Teil bezieht sich eindeutig (was aus dem weiteren Text deutlich wird) auf malos
tratos (schlechte Behandlung) der Indios, im Klartext Versklavung und Tod.325
Castellanos hat das typische Leben eines unruhigen Conquistadors geführt, der
nie Anführer war, und er mag ein Sklavenjäger, Haudegen, Conquistador und
pícaro (Schelm; Spitzbube) gewesen sein, wie es im barocken Spanien und im
hispanisierten Amerika viele gegeben haben mag - um 1554-1555 liess er sich
auch noch zum Priester weihen. Aber seine Stanzenverse zeigen zumindest
eines: die Achtung vor der Würde und Buntheit der indianischen Kulturen
Venezuelas (die er im Wesentlichen beschreibt). Möglicherweise sind seine
„Elegien illustrer Männer“ (Elegías de Varones ilustres) in Spanien nie
vollständig publiziert worden. Auf soziale Typen wie Castellanos beziehe ich
mich, wenn ich von Sklavenjägern und Conquistadoren als Priestern spreche.
Afrikanische Sklaven gelangten mit Perlensuchern und Welsern in das
Gebiet des heutigen Venezuela.326 Erste größere Kontingente versklavter
afrikanischer Menschen kamen nach der Welsernzeit unter Diego de
Mazarriegos (nach Buria) sowie zwischen 1572 und 1575.327 Bereits seit dem
letzten Drittel des 16. Jahrhunderts kam es zum massiven Sklavenschmuggel
(mala entrada, arribadas maliciosas). Afrikaner waren teuer, denn sie waren
Aurelio, La Venezuela que conoció Juan de Castellanos. Siglo XVI (Notas geográficas), Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1998 (Biblioteca de la Academia nacional de la Historia; 238).
325
Castellanos, Juan de, Elegías de Varones Ilustres de Indias. Introducción y notas de Pardo, Isaac J., Caracas :
Academia Nacional de la Historia, 1962 (Fuentes para la Historia Colonial de Venezuela ; Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia ; 57), S. XXII.
326
Otte, „Die Welser in Santo Domingo“, in: Otte, Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten,
Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, Vollmer, Günter; Pietschmann
(eds.), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 58), S. 117-159; Simmer, Götz,
„Die Jagd nach Gold und Sklaven: die Provinz Venezuela während der Welser-Statthalterschaft“, in: Schmitt,
Eberhard; Simmer (eds.), Tod am Tocuyo. Die Suche nach den Hintergründen der Ermordung Philipps von Hutten
1541-1550, Berlin: Berlin Verlag Spitz, 1999, S. 1-34; Simmer, Gold und Sklaven: Die Provinz Venezuela während
der Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag, 2000.
327
Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 40.
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Spezialisten (Bergbau, tropische Landwirtschaft), auch Spezialisten im
Überleben unter tropischen Bedingungen. Die Sklaven wurden von
portugiesischen Sklavenkapitänen, aber bald auch von französischen und
englischen Interlopers (wie John Hawkins) sowie Niederländern zusammen mit
europäischen Manufakturwaren nach Venezuela gebracht, wo Siedler die
Schmuggler, genannt corsarios, schon erwarteten.328 Meist liefen die Schiffe
erst die Isla Margarita, Curaçao oder Trinidad (erst seit 1797 britisch) an und
dann andere, kleinere Schmuggelhäfen in den verborgenen Buchten der riesigen
Küstenlinie.329
Einige der 80 afrikanischen Sklaven, die zum Goldwaschen nach Buría
gebracht worden waren, beteiligten sind an der Erhebung des legendären Negro
Miguel (1553). Die Waschgoldminen des Flusses Buría befanden sich sieben
Leguas von der Stadt Nueva Segovia de Barquisimeto entfernt. Da die
Golderträge hohe Einkünfte versprachen, kam es zu einem Goldrausch in El
Tocuyo. Ende 1552 zogen Vecinos mit ihren Sklaven los. Der Real de Minas de
San Felipe de Buría in der Nähe von Nirgua (heute Estado Yaracuy) entstand.330
Der Negro Miguel war Sklave von Pedro del Barrio, Sohn von Damían del
Barrio, Entdecker der Goldlagerstätten. Miguel war aus San Juan de Puerto Rico
nach Venezuela verschleppt worden, wo er wohl schon in der Sklaverei geboren
worden war. Er hatte aber die Bräuche seiner Heimat keinesfalls vergessen.
Anfang 1553 floh er in die Berge. Mit anderen geflohenen Sklaven, Cimarrones,
und widerständigen Indios gründete er ein Cumbe mit Palisadenzaun (auch
Ferry, “Cacao in the Seventeenth Century: The First Boom”, S. 45-71, hier S. 48f; ; Lane, Kris, Pillaging the
Empire: Piracy in the Americas, 1500-1750, Armonk: M.E. Sharpe, 1998; Lane, Blood and Silver: a history of
piracy in the Caribbean and Central America, foreword by Hugh O’Shaughnessy, Oxford : Signal Books ;
Kingston, Jamaica : Ian Randle Publishers, 1999; Pérotin-Dumon, Anne, “French, English and Dutch in the Lesser
Antilles: from Privateering to Planting”, in: General History of the Caribbean, 6 Bde., vol. II. New societies: The
Caribbean in the long sixteenth century, ed. Pieter C. Emmer/co-editor: Germán Carrera Damas, Hong Kong:
UNESCO Publishing, 1999, S. 114-158.
329
Siehe Beschreibung und zeitgenössische Karte der Küste der Provinz Caracas von Macuto im Osten von Guaira
bis Coro: Olavarriaga, “Estado particular y presente de la Costa Marítima de la Provincia de Venezuela, desde
Macuto hasta la Punta de los Flamencos, sus puertos, valles, ríos, haciendas, nombres de sus amos, árboles de
cacao, su producto, poblaciones y demás circunstancias que sirven de instrucción a la planta de dicha Costa incluida
en dicho Capítulo”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la Provincia de
Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 221-248.
330
Pollak-Eltz, Folklore y Cultura de los Negros del Estado Yaracuy, Caracas: Universidad Católica Andrés Bello,
1984.
328
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palenque, rochela oder quilombo genannt).331 Die Afrikaner in Amerika
kombinierten atlantische und indianische Conucos mit afrikanischen
Bananenkulturen.332 Miguel ernannte sich zum König, seine Frau Guiomar
wurde als Königin gekrönt; ihr Sohn wurde als Prinz anerkannt. Auch einen
Bischof ernannte Miguel. Die kriegerischen Indios Jiraharas unterstützten die
Cimarrones. Im Grunde schuf Miguel ein transkulturelles Gemeinwesen aus
spanischen, afrikanischen und indianischen Elementen. Die Spanier mussten
Nueva Segovia und die Minen aufgeben. Bei einem Angriff auf Barquisimeto
wurde Miguel schließlich durch die vereinten Käfte der Siedler dieser Stadt,
Sklavenjägern und der von El Tocuyo getötet.333
Zunächst waren die Sklaven vor allem Perlentaucher und
bergbauerfahrene Männer (vor allem wohl aus der Akan-Region der Goldküste
und aus dem Kongo). Sklaven in der Landwirtschaft fanden sich in Venezuela
im Barlovento, im Tuy-Tal, in den Aragua- sowie Tocuyo-Tälern, im Süden der
Maracaibo-Sees, in der Serranía de Coro sowie in einigen Gebieten der
Anden.334 Im 17. Jahrhundert wurden Sklaven auch zum Straßenbau und in
vielfältiger Weise in den urbanen Kulturen eingesetzt.
In den Anden, in Táchira, Mérida und Trujillo stellten zunächst Indios die
Arbeitskräfte und es entwickelte sich eine mestizisierte Bauernschaft. Relativ
wenige Sklaven arbeiteten und lebten vor allem im urbanen Bereich; sie bildeten
eine „Kaste“ neben anderen Kasten. Die Kaffeewirtschaft in den Anden
Pollak-Eltz, “El cimarronaje”, in: Pollak-Eltz, La esclavitud en Venezuela ..., S. 61-68, hier S. 64f.
Acosta, Vladimir, “El Rey Miguel y el Rey Banano: Rebeliones Negras en la América Hispánica del Siglo
XVI”, in: Revista Venezolana de Economía y Ciencias Sociales, Nos. 2-3, Caracas (Abril-Septiembre 1999), S.
137-176.
333
Agudo Freites, Raúl, Miguel de Buría, Caracas : Alfadil Ediciones, 1991; Herrera Salas, Jesús María, El negro
Miguel y la primera revolución venezolana. La cultura del poder y el poder de la cultura, prólogo de Izard, Miquel,
Caracas: Vadell Hermanos, 2003.
334
Ramos Guédez, José Marcial, „Los descendientes de africanos en Venezuela: aporte a la cultura e identidad
nacional“, in: Revista Universitaria de Historia 2, Universidad Santa Marta, Caracas (Mayo-Agosto 1982), S. 147157; Ramos Guédez, “Mano de obra esclavizada en el eje Barlovento-Valles del Tuy durante el siglo XVIII”, in:
Equipos Locales de Investigación/ELI (eds.), Reconociéndonos en nuestros saberes y haceres (Tomo VI Estado
Miranda), Caracas: Ministerio de Culture/ Consejo Nacional de la Cultura; Dirección General de Apoyo Docente,
2006, S. 1-24
331
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entwickelte sich im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert fast ohne schwarze
Sklaven.335
Urbane Sklaven lernten bei einem Meister einen Beruf (Maler,
Silberschmied, Schmied, Maurer, Tischler/Schreiner, Vergolder,
Ziegeleiarbeiter und in einigen Fällen Lehrer). Die Herren, die sie als Fachleute
gekauft oder ausbilden lassen hatten, vermieteten ihre Sklaven oft.
Sklaven taten auch alle Arten von landwirtschaftlichen Arbeiten
(agricultores und criadores), mehr und mehr seit dem 17. Jahrhundert die der
Ernte und Verarbeitung von Exportprodukten, wie Kakao und Zucker. Im 16.
Jahrhundert arbeiteten die meisten Sklaven in den Kupferminen und an den
Perlenbänken von Cubagua. Seit dem 17. Jahrhundert entwickelte sich eine
tropische Landwirtschaft auf Zucker, Indigo, vor allem aber auf Kakao in den
zentralen Tälern und im Barlovento, dort im weiter von Caracas entfernten Tals
des Tuy [Karte336] vor allem durch Einwanderer von den kanarischen Inseln seit
1690 (Gründung von Cúa 1690 und Ocumare del Tuy 1693) und verstärkt seit
1730-1750 (Gründung von Panaquire 1730).337 Die Hochzeit der Sklaverei im
Kakao war das 18. Jahrhundert. Caracas-Kakao galt für etwa hundert Jahre als
der beste der Welt. Die größte Gruppe von Sklaven arbeitete in der
Kakaowirtschaft. Um 1750 gab es ca. 500000 Kakaobäume und rund 35000
Sklaven waren auf Kakao-Haciendas beschäftigt.338
Die Kakaoplantagen mussten allerdings in der Nähe von Flüssen in
Gebieten mit einem günstigen, sehr feucht-heißen Mikroklima angelegt werden.
Diese Landschaften existierten nur flachen Flusstälern oder Uferlandschaften
von Seen. Deshalb gab es in Venezuela nie riesige, mehr oder weniger
Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45; zum Sklavenhandel von Caracas siehe:
Andrade, Marcos, “Estudio de la trata de negros en Venezuela”, in: Boletín Histórico XXXVII, Nr. 47, Barcelona
(1997), S. 7-14.
336
Vila, Marco-Aurelio, Aspectos Geográficos del Estado Miranda, Caracas: Corporación Venezolana del
Fomento, 1967, S. 92.
337
Vila, Marco-Aurelio, “Aspectos Humanos”, in: Vila, Aspectos Geográficos del Estado Miranda, Caracas:
Corporación Venezolana del Fomento, 1967, S. 109-163, bes. S. 115-121; Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes
para la historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981 (Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia; 151); Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45.
338
Ebd.
335
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geschlossene Landschaften der Sklaverei, wie in Minas Gerais in Brasilien, in
der Cuba grande auf Kuba oder dem Baumwollsüden der USA, sondern eine
Vielzahl von Tälern (valles), wie die Region Valles del Tuy und Barlovento (im
Grunde das sumpfige Mündungs des Tuy-Flusses. Im Tuy-Gebiet entstanden
auch die ersten Cofradías von schwarzen Sklaven. Die dichten
Sklavenpopulationen des Tuy- und Barloventogebietes entwickelten eine
eigenständige afrovenezoanische Kultur, die im ruralen Barlovento sogar die
Traditionen des Hausbaus beeinflusste.339
Um den venezolanischen Luxus-Kakao auf die wichtigsten Märkte zu
bringen, bauten findige Kreolen mit Hilfe ihrer Sklaven bald eigene Schiffe.
Eine venezolanische Kakaoflotille, die zeitweilig auch als
Sklaventransportflotille diente, nahm seit 1627 den regelmäßigen Verkehr nach
Veracruz, Havanna, Puerto Rico und Santo Domingo auf. Nach dem Verkauf
des Kakaos, der Sklaven oder des Schmuggelgutes aus Angola, wurde mit
mexikanischem Silber in Havanna oder Santiago Waren eingekauft, die die
Flotas und Galeones gebracht hatten. Bis 1650 fuhren 119 Schiffe nach Mexiko;
Ende des 18. Jahrhunderts, nach der Zeit des Guipuzcoana-Monopols, verfügte
das Land über viele erfahrene und gut ausgebildete Kapitäne und Matrosen, die
Hunderte kleinerer Goletas (100-200 Tonnen), aber auch einige Dutzend
wirklich großer Schiffe, wie die Fregatte San Carlos (616 Tonnen), über die
Karibik oder den Atlantik steuerten.340
Neben der ruralen Sklaverei oder besser der Ausgangspunkt der ruralen
Sklaverei war in Venezuela und Spanisch-Amerika die urbane Sklaverei. Urbane
Sklaverei war vor allem Sklaverei im Hafen, im Transport und im Handwerk.
Versklavte afrikanische Frauen waren in allen Arten von Dienstleistungen in den
urbanen Zentren des Landes, aber auch in den kleinen Landstädten beschäftigt.
Als Köchinnen, Dienerinnen, Wäscherinnen, Büglerinnen, aber auch in der
Herrera H., Gerónimo J., “Etnohistoria de los diablos de Yare”, in: in: Revista Universitaria de Historia No. 2,
Universidad Santa María (Mayo-Agosto 1982), S. 125-146; Acosta Saignes, “La vivienda rural en Barlovento”, in:
Revista Nacional de Cultura, No. 126 (enero-febrero 1958), S. 130-145.
340
“Flota mercante colonial venezolana”, in: Diccionario, II, S. 363f.
339
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Kinderpflege und – wie für Venezuela immer wieder hervorgehoben wird (weil
es zum Bolívar-Mythos gehört) – als Ammen. Frauen arbeiteten aber auch im
ruralen Bereich und als Köchinnen. Venezuela wurde relativ zeitig Teil des
atlantisch-karibischen Sklavenhandelsreiches.341
Das Land wurde auch Teil des Einzugsbereiches atlantischer Epidemien:
1580 brach die erste relativ klar erkennbar Epidemie der Pocken (viruelas), 1588
bis 1590 rottet eine Epidemie fast ein Drittel der dichtbesiedelten Andengebiete
aus, 1617 kam es zu einer Sarampión-Epidemie (Masern) und 1623 gab es eine
neue Viruela-Epidemie (Pocken), ausgelöst durch eine illegale
Sklavenanlandung an der Küste von Morón. Die „Blattern“ (Viruelas=Pocken)
griffen schnell auf die Valles de Aragua, La Guaira und Caracas über. 1631 kam
eine Typhusepidemie hinzu.342 Die Viruelas blieben die wichtigste Epidemie;
1760-1770 kam es zur schwersten Epidemie, die erst auf die Städte (1764 etwa
1000 Tote in Caracas) und dann auf die Missionsgebiete der Kapuzinermönche
am Caroní übergriff (ca. 10000 Tote, vor allem Missionsindios); deshalb wurde
Guayana sehr zögerlich besiedelt).343
In der Periode der licencias bekam Sancho Briceño 1560 eine Lizenz für
200 Neger und der Vorfahre Simón Bolívars, Simón de Bolibar el viejo, bat um
eine Lizenz für 3000 Neger aus Afrika. Der Sklavenhandel an der karibischen
Nordfassade Südamerikas lief zunächst vor allem als Schmuggel ab. Etwa als
Tausch Sklaven aus Angola gegen Kakao, der dann in Veracruz gegen
mexikanisches Silber verkauft wurde344, oder Maultiere gegen Neger aus Afrika,
die zunächst die Portugiesen und dann Niederländer und Engländer
Acosta Saignes, „La trata en Venezuela“, in: Acosta Saignes, Vida de los esclavos negros en Venezuela, La
Habana: Casa de las Américas, 1978, S. 31-58; siehe auch: Otte, “La integración”, in: Otte, Las perlas del Caribe ...,
besonders S. 96-149 und “Los negros”, in: Ebd., S. 355f.; sowie: Otte, “Los mercaderes vizcaínos Sancho Ortiz de
Urrutia y Juan de Urrutia”, in : Boletín Histórico 6, Caracas (Septiembre de 1964), S. 5-32.
Otte, “Die Negersklavenlizenz des Laurent de Gorrevod. Kastilisch-genuesische Wirtschafts- und Finanzinteressen
bei der Einführung der Negersklaverei in Amerika”, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 22. Bd.,
Münster (1965), S. 283-320; Otte, „Los Jeronimos y el tráfico humano en el Caribe : una rectificación”, S. 187-204.
342
Delgado, Álvaro, “La economía y la vida colonial”, in: Delgado, La Colonia. Temas de historia de Colombia,
Bogotá: CEIS, 1974, S. 68-80, hier S. 79.
343
“Epidemias”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4 Bde., Caracas:
Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 227-229, hier S. 227.
344
Ferry, Robert, “Trading Cacao : a View from Veracruz, 1629 – 1645”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos 6
(2006): http://nuevomundo.revues.org/document1430.html (8. Februar 2006).
341
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heranschafften. Auch der Tausch des exzellenten Kakaos aus den
Urwaldgegenden Venezuelas, der meist zunächst von Indios beschafft wurde
oder Salz, ebenfalls ein Unternehmen bestimmter Indio-Stämme, gegen Sklaven
aus Afrika, war üblich.
Im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellte sich die Beschaffung
von Sklaven für das spanische Amerika als ein sehr lukratives Geschäft heraus.
Zunächst waren es Portugiesen, Lançados, Atlantikkreolen, Baquianos und
Corsarios, die Sklaven schmuggelten; aber auch Genuesen und portugiesische
Untertanen der portugiesischen und kastilischen sowie spanischen Krone
erhielten Lizenzen zum offiziellen Sklavenhandel.345
1621 begann die niederländische West-Indische Compagnie (Sitz
Middelburg) ihre Geschäfte in der Karibik, 1672 folgte ihr die Royal African
Company sowie ab Beginn des 18. Jahrhunderts die französische Compagnie
Royale d’Afrique. Erst ab 1764 zog die spanische Krone mit zwei Kompanien
nach (Real Compañía Guipuzcoana346 und Real Compañía de Barcelona). Die
Kompanien versuchten den Sklavenhandel als dezentralisiertes Monopol in die
Hände bestimmter Kaufleuteeliten in Spanien und Venezuela sowie der Krone
zu halten. Daneben existierte das System der königlichen Lizenzen und Asientos
weiter (ein Asiento war von 1713 bis 1750 in den Händen Großbritanniens).
Diese Monopole wurden seit 1778/1792 und 1789-1804 durch den so genannten
„Freihandel“ ersetzt, der auch „Freihandel“ mit Sklaven war.347 Allerdings gab
Vila Vilar, Enriqueta, “Los asientos portugueses y el contrabando de negros”, in : Anuario de Estudios
Americanos (AEA) 30, Sevilla (1973), S. 227-609; Vila Vilar, “La sublevación de Portugal y la trata de negros”,
in : Ibero-Amerikanisches Archiv, Neue Folge, Jg. 2, Berlin (1976), S. 171-192; Vila Vilar, Hispanoamérica y el
comercio de esclavos. Los asientos portugueses, Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos, 1977; Vila
Vilar, “La esclavitud en el Caribe, La Florida y Luisiana : algunos datos para su estudio”, in : Marchena Fernández,
Juan (ed.), La influencia de España en el Caribe, la Florida y la Luisiana (1500-1800), Madrid: Instituto de
Cooperación Iberoamericana, 1983, S. 109-128; Vila Vilar, “Posibilidades y perspectivas para el estudio de la
esclavitud en los fondos del Archivo General de Indias”, in : Archivo Hispalense LXVII, Sevilla (1985), S. 255272; Vila Vilar, “Comienzos de la trata de esclavos en el Caribe”, in: Palabras de la Ceiba, n.º 3, Sevilla (1999), S.
29-52; Vila Vilar (comp.), Afroamérica: Textos Históricos, Serie II, Vol. 7: Temáticas para la historia de
Iberoamérica, Madrid: Fundación Histórica Tavera, Mapfre Mutualidad, Banco Nacional de España, Digibis, 1999
(Colección Clásicos Tavera; CD-Rom).
346
Garate Ojanguren, Montserrat, La Real Compañía Guipuzcoana de Caracas, San Sebastián: Real Sociedad
Bascongada de los Amigos del País, 1990.
347
Andreo García, Juan, “La capitanía General de Venezuelas y el comercio libre de negros”, in: IX Congreso de
Historia de América. Europa e Iberoamérica: Cinco siglos de intercambios, 3 Bde., coord. María J.Sarabia Viejo,
345
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es wegen der Krise der Kakaowirtschaft in den Zentraltälern und in Barlovento
um 1800 kaum noch eine Nachfrage nach neuen schwarzen Sklaven aus Afrika
oder der Karibik.348 Um 1802, nach der endgültigen Besetzung der Insel
Trinidad349 durch die Briten, kamen einige spanische, italienische und
französische Hacendados, wie Francisco Isnardi (Turin, c. 1750 – Spanien, ca.
1820), mit ihren Sklaven auf die Península de Paria und gründeten neue
Landschaften der Sklaverei, die relativ autonom gegenüber Caracas waren. Sie
sprachen meist ein Französisch-Spanisch-Patois und begannen, um Güiria
Baumwoll- und Kakaoplantagen anzulegen.350
In den Missionsgebieten und in den Llanos gab es zunächst fast keine
afrikanischen Sklaven im ruralen Bereich; nur einige wenige Haussklaven
organisierten reicheren Hacendados oder Viehhändlern die Haushalte. Erst im
18. Jahrhundert entwickelte sich, oft unter Kontrolle mulattischer Eigentümer
von Sklaven, den so genannten pardos beneméritos, Hatos mit schwarzen
Sklaven an den Rändern der Llanos von Barinas sowie den Llanos de Caracas.351
So entwickelte sich in der Viehwirtschaft der Hatos an den Rändern der
nördlichen Llanos de Caracas eine besondere Kategorie Sklaven - schwarze
Cowboys, Hütesklaven. In größeren Hatos gab es auch Haussklaven.352
Humboldt beschreibt einen kleinen Hato in den Llanos de Caracas
folgendermaßen: „Ein hato ist eine Art Vorwerk, wo ein Sklave als Majordomus
Sevilla 1992, Bd. III, S. 617-630 (mit allen wichtigen Quellen AGI); Andrade, Marcos, “Estudio de la trata de
negros en Venezuela”, in: Boletín Americanista, Nº 47, Año XXXVII, Barcelona (1997), S. .
348
Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 44.
349
John, A. Meredith, The Plantation Slaves of Trinidad, 1783-1816, New York: Cambridge University Press,
1988.
350
Dauxion Lavaisse, Jean Jacques, Viaje a las islas de Trinidad, Margarita y diversas partes de Venezuela en
América Meridional, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1962, S. 221, 249; Isnardi, Francisco, Proceso
político, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960, S. 113f.; Gabaldón Marquéz, Joaquín, Francisco Isnardi,
1750-1814, Caracas: Ministerio de Educación, 1973.
351
Gómez, “Las revoluciones blanqueadoras: elites mulatas haitianas y ‘pardos beneméritos’ venezolanos, y su
aspiración a la igualdad, 1789-1812”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Coloquios, 2005, [en línea], Puesto en
línea el 19 mars 2005. URL: www.nuevomundo.revues.org/index868.html (consultado el 23 septiembre 2009).
352
Armas Chitty, “Esclavos en el siglo XVIII”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., 2 Bde., San Juan de los
Morros, s.l., 1978, Bd. I (1532-1800), S. 207-210.
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mit ein vier bis fünf Sklaven wohnt, um Hornvieh und Pferde in der Weide
S(avanna) zu beobachten, zu suchen, wenn sie sich verlieren“.353
Die Indios der Missionen wurden im Maturín und in Guayana zu
kreolisierten Mestizenbauern.354 Im Osten Venezuelas und im Norden des
portugiesischen Einzugsgebietes fanden sich immer noch sehr viele
Indiosklaven. Humboldt hielt im Sommer 1800 fest: „Sklaven. Noch bis 1756
waren [die] Cariben die Handelsleute, [die] Armenier dieses Continents.
Niemand unternahm solche Reisen, und da sie alles bezwungen, so reisten sie
sicher, da niemand sie anzugreifen wagte. Ihr Hauptgewerbe war, von [den]
Holländern angereizt, [der] Sklavenhandel. Sie fingen selbst ein, und andere
Nazionen am Ventuari und Padamo halfen ihnen. Sie zogen von Esequibo,
demerary mit Spiegel, Messer …. Beladen über Caroní, Paragua in den Arm des
letzteren, Caño Paruspo, von da rastrando la Piragua [Schleppen der Piraguas] in
den Chavarro, den R[ío] Caura abwärts in den Erevato und durch diesen wieder
ein drei Tage durch Gebirge und Savanah in den Manipiare und Ventuari. [Die]
Portugiesen trieben, durch Temi und Cababuri eindringend ebenfalls
Sklavenhandel, von Marañon aus noch 1756“.355
Afrikanische Sklaven fanden sich während der gesamten Kolonialzeit und
darüber hinaus bis 1854 vor allem in den ruralen Wirtschaften der Küstenzonen
der Tierra Firme, vor allem am Litoral central und an den Küsten des Ostens
(Cumaná, Carúpano und Cariaco), in den Küstentälern (de Barlovento, del Tuy,
Yaracuy und Valle del Tocuyo), die fruchtbare Xuruara-Region im Süden des
Maracaibosees, um den Valencia-See, in Coro und der Serranía de Coro (Sierra
de San Luis)356 und an einigen Orten der Llanos, der Anden (wie Barquisimeto)
und des südlichen Andenfusses (wie Barinas, den Llanos von Caracas und den
Humboldt, „Durch die Llanos von Guacara bis San Fernando de Apure“ (6. März-27. April 1800), in: Humboldt,
Reise durch Venezuela ..., S. 222-235, hier S. 223f.
354
Pollak-Eltz, “La Trata de esclavos a Venezuela”, S. 37-47, hier S. 45.
355
Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem
Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor
allem S. 332.
356
Aizpurúa, “En torno a la aparición de un pueblo de esclavos fugados de Curazao en la Sierra de Coro en el siglo
XVIII”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de 2004), S. 109-128.
353
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nördlichen Llanos de Maturín). Daneben existierten Haussklaverei und
verschiedene Sklavereiformen in den urbanen Zentren und Wirtschaften.Dort
wurden Sklavinnen und Sklaven relativ häufig frei gelassen und verschafften
sich auch selbständig Zugang zur Justiz.357
Ehemalige Sklaven aus der Karibik, aus dem Pariagebiet und aus den
Guayanas siedelten sich nach 1850 vor allem in den Kakaozonen um Carúpano
und Río Caribe sowie in den Goldzonen um El Callao an. In die Gegend kamen
vor allem Menschen aus den anderen Guayanas (Essequibo, Demerara, Berbice,
Surinam und Cayenne sowie aus brasilianischen Gebieten), Dominica, Saint
Vincent, Saint Lucia sowie von der Paria-Halbinsel.
Handwerks- und Lehrlingssklaverei in der Form, dass afrikanische
Sklaven eine Ausbildung erhielten und dann für ihre Besitzer und Herrinnen,
relativ selbständig auf der Straße Geld verdienten, war weit verbreitet, wie aus
folgendem Beispiel deutlich wird. Martín Fernández, Vecino von Trujillo in den
venezolanischen Anden, gab mit einem Protokoll vom 27. Mai 1592 seinen
Sklaven „genannt Juan“, 15 Jahre alt, von Nation, wie es scheint, conga, für eine
Zeit von dreieinhalb Jahren“ in den Dienst von Gonzalo García de la Parra,
Schmied. Juan müsse dem Schmied dienen (als Sklave), der habe ihm im
Gegenzug im Handwerk des „Schlossers und Schmiedes“ zu unterweisen und
während der Lehrzeit für Beköstigung, Bekleidung und Gesundheit zu sorgen.358
Es gab aber auch, wie Quellen über Kakaoplantagen in Barlovento berichten,
Verwalter, die Sklaven waren.359
Der französische Reisende Depons bemerkt, dass Status und Reichtum
einer Familie an der Zahl der Haussklaven gemessen wurde: „se cree que la
Torres Pantin, Carmen, “Estudio Introductorio. El acceso del esclavo a la justicia (En Causas Civiles, Siglo
XVIII)”, in: Índice sobre esclavos y esclavitud (Sección civiles-esclavos), recopilación y estudio preliminar por
Torres Pantín, coordinación Ponce, Marianela, Caracas: Academia Nacional de la Historia; Departamento de
investigaciones históricas, 2002 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; Serie archivos y catálogos; 11),
S. 13-72.
358
Archivos de los Registros principales de Mérida y Caracas, Protocolos del Siglo XVI, estudio preliminar,
resumenes e indíce analítico por Agustín Millares Carlo, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 80), S. 82 (Protokoll Nr. 295).
359
Castillo Lara, Apuntes para la historia colonial de Barlovento ..., S. 623.
357
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riqueza de una casa está en proporción al número de esclavos de ella. Hay casas
que tienen doce o quince esclavos …”360
Kreolisierung, Atlantik und Cimarronaje
Venezuela wurde schnell ein Land der Mestizen, Kreolen und Cimarrones
und – bis heute existiert eine starke, allerdings kaum in den Medien und schon
gar nicht im Denken der Eliten repräsentierte afrovenezolanische Kultur.361
Diese Kultur konzentriert sich heute vor allem im Zentrum des Landes, um
Caracas und La Guaira, aber auch im Osten, um Cumaná und Cariaco sowie im
Westen, am Südufer der Maracaibosees bei Gibraltar.
In zeitgenössischen Quellen werden als Vorläufer von Ortsgründungen
durch Sklaven, Cimarrones, ehemalige Sklaven (freie Farbige) genannt:
capellanías de negros, entstanden aus Pfarrgemeinschaften auf Hatos und
Haciendas mit hohem Anteil Schwarzer, cumbes und palenques [Karte362] sowie
Kakao-Haciendas, aus deren Hüttensiedlungen of Ort von „negros, zambos y
mulatos“ entstanden.363
Die punktuelle Kreolisierung begann allerdings nicht erst mit den
Ortsgründungen in Amerika, sondern als Transkulturationsprozess bereits in
Afrika; schon Inka Garcilaso de la Vega (1528-1619) hatte zum Wort criollo
eine dezidierte Meinung „lo inventaron los negros“ (die Neger haben ihn – den
Begriff Kreole – erfunden; Comentarios Reales, Lissabon 1609, Buch IX,
Kapitel XXXI: „Nombres nuevos para nombrar diversas generaciones“). 364
360
Zit. nach: Lucena Salmoral, Manuel, Caracas: Vísperas de la independencia americana, Caracas: Alhambra,
1986, S. 51.
361
Ramos Guédez, José Marcial, Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial, Caracas:
Instituto Municipal de Publicaciones; Alcaldía de Caracas, 2001.
362
Ramos Guédez, Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial ..., S. 39, mapa Nr. 2:
“Centros poblados de Venezuela colonial fundados por negros cimarrones”, im Grunde in der ganzen “Zona de
Haciendas”.
363
Ramos Guédez, “Lo africano en la formación histórica del territorio venezolano” in: Ramos Guédez,
Contribución a la historia de las culturas negras en Venezuela colonial ..., S. 23-48, hier S. 29.
364
El Inca Garcilaso de la Vega, Comentarios reales/ La Florida del Inca, introd., ed. y
notas Mercedes López-Baralt, Madrid: Espasa-Calpe, 2003 (Biblioteca de literatura universal), S. 708.
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Damals gab es den modernen Rassismus nicht, der Begriff war genealogisch
gemeint und verbarg den Rassismus noch unter „Herkunft“. Afrikaner als
Sklaven, darunter viele schon kreolisierte Afrikaner, wurden von „Portugiesen“,
meist im Schmuggel, nach Amerika und Venezuela gebracht. So kam das Wort
crioulo (criollo – Kreole) mit dem frühen atlantischen Sklavenhandel von Afrika
nach Amerika und ging auch wieder zurück, sehr oft. Es wurde zu einem
atlantischen Allerweltsbegriff für etwas sehr Besonderes: die transkulturell
Mischung zwischen Afrika und Amerika, vermittelt und verstärkt durch den
riesigen Resonanzraum des Atlantiks.365
Sklavenhandel wurde zu einem alltäglichen Geschäft. Die ersten
Nachrichten über interne Sklavenkäufe und -verkäufe von Schwarzen in
Venezuela lauten so (oder ähnlich): Francisco Ruiz, Alcalde von Mérida,
verkaufte am 17. November 1579 an Cristóbal Jáimez, Vecino von Pamplona,
einen Negersklaven, genannt Baltasar, Sohn seiner Negerin María und von
Diego „auch Negersklave“. Baltasar war acht oder neue Jahr alt und ohne
„weitere Fehler, als verlogen zu sein“.366
In Amerika und Venezuela begann mit der Conquista eine intensive
biologische Vermischung zwischen Indios, Europäern und bald auch zwischen
beiden sozialen Gruppen (sowie ihren Nachkommen) mit afrikanischen Sklaven.
Die Kreolisierung zwischen Afrikanern und Europäern hatte schon in Afrika
eingesetzt.367 Die spanische Krone begann bald nach Einführung afrikanischer
Sklaven in Amerika eine legislative Tradition, die die Mestizisierung in den
urbanen Gesellschaften nicht stoppen konnte, aber zumindest bremsen sollte.
Vor allem stellte die Krone dreierlei von Anfang an klar: die Sklaven sollten
heiraten, aber möglichst unter sich; zweitens zog die Heirat - etwa die eines
Warner-Lewis, Maureen, “Posited Kikoongo Origins of some Portuguese and Spanish Words from the Slave
Era”, in: América Negra 13 (1997), S. 83-95; Zeuske, “Atlantik, Sklaven und Sklaverei – Elemente einer neuen
Globalgeschichte“, in: Jahrbuch für Geschichte der Europäischen Expansion 6 (2006), S. 9-44.
366
Archivos de los Registros principales de Mérida y Caracas, Protocolos del Siglo XVI, estudio preliminar,
resumenes e indíce analítico por Agustín Millares Carlo, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1966
(Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 80), S. 30f. (Protokoll Nr. 89).
367
Lovejoy, Paul E., “Identifiying Enslaved Africans in the African Diaspora”, in: Lovejoy (ed.), Identity in the
Shadow of Slavery, London; New York: Continuum, 2000 (The Black Atlantic), S. 1-29.
365
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afrikanischen Sklaven mit einer Indianerin -, nicht automatisch die Freiheit nach
sich und drittens galt der Rechtsgrundsatz „vientre esclavo engendra esclavo“
(Sklavenbauch bringt Sklaven hervor). Diese Aktivitäten brachten eine
legislative und erbrechtliche, durchaus „von oben“ angestrebte, Tradition der
Verfestigung des Sklavenstatus in mütterlicher Erbfolge hervor, die sich in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkte. Ermila Troconis de Veracoechea
zitiert ein Dokument, in dem ein Sklavin zu gleichen Teilen zwei Geschwistern
gehört; aber nicht nur das, auch die zukünftigen Nachkommen der Sklavin
sollten beiden Erben zu gleichen Teilen gehören: „ ... [eine] Hälfte, die mir
gehört, denn die [andere] Hälfte der Geburten gehört meinem besagten
Bruder“.368 Diese Tradition der immer weiteren Bestialisierung des
Sklavenstatus war (und ist) für afrodescendientes, die Nachkommen von
Menschen, die aus Afrika nach Amerika verschleppt worden waren, die tiefste,
traumatischste und schlimmste historische Konsequenz des Sklavenstatus. Die
Sklaven und ihre Nachkommen wehrten sich mit Aufständen und Flucht.
Besonders die Urwälder im Osten, die Guayanas, aber auch Flüsse und die
Llanos füllten sich mit Cimarrones aus den Städten des Nordens, aus Suriname
und anderen Plantagenkolonien. Die Cimarrones schlossen sich oft Resten von
Indiovölkern an und begründeten eigenständige indianisch-mestizische
Kulturen, die mit Fug und Recht als Cimarrón-Kulturen gelten können.369 Die
Cimarrones schufen sich ihre Siedlungen (cumbes) und eine eigenständige
Lebensweise.370 Der Kolonialfunktionär Pedro José de Olavarriaga schätzte im
17. Jahrhundert, dass es in Venezuela rund 20000 Cimarrones gäbe; Ende des
Troconis de Veracoechea, “El trabajo esclavo en la economía colonial”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345
(Enero-Marzo de 2004), S. 59-75, hier S. 69.
369
Pérez, Berta E., “The Journey to Freedom: Maroon Forebears in Southern Venezuela”, in: Ethnohistory No. 47
(2000), S. 611-634; Cwik, Christian, “Cimarronaje en la ‘frontera’ de Guayana. ¿Cómo los españoles aprovecharon
este fenómeno para la gestión territorial?”, in: Elías Caro, Jorge Enrique; Silva Vallejo, Fabio (eds.), Los mil y un
Caribe ... 16 Textos para su (DES) entendimiento, Santa Marta: Universidad del Magdalena, 2009, S. 237-236.
370
Acosta Saignes, “Life in a Venezuelan Cumbe”, in: Price, Richard (ed.), Maroon Societies: Rebel Slave
Communities in the Americas, Baltimore: Johns Hopkins University, ²1979, S. 64-73.
368
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18. Jahrhunderts waren es bereits zwischen 25000 und 30000 Cimarrones – die
Hälfte der Sklavenpopulation.371
Um 1770 hatte ein Cimarrón-Anführer namens Guillermo Rivas eine
Siedlung (cumbe) ehemaliger Sklaven bei Ocoyta in den Montes de Panaquire
im Hinterland zwischen Barcelona und Ocumare de la Costa gegründet.372 Er
führte andauerende Raubzüge gegen Städte und Haciendas der Gegend und
bewegte sich sehr aktiv zwischen Ocoyta, Chuspa, Ocumare und Barcelona, um
den Feinde dauernd in Alarm zu halten und Waffen zu rauben, aber gleichzeitig
die Verbindung zu anderen Cimarrones zu halten und Überfälle zu organisieren.
Er raubte auch Kakao und verkaufte ihne an Schmuggler.373
Neben der inneren Cimarronaje existierte die Cimarronaje zwischen
unterschiedlichen Kolonien und Cimarronaje über Meer. Besonders intensiv war
diese äussere Cimarronaje zwischen Curaçao und der costa de Coro sowie im
Osten zwischen Essequibo und Caroní.374 [Karte der Guayana Maroons „Map
10: Guayana Maroon settlements in the Early nineteenth century“, in:
Thompson, Alvin O., Flight to Freedom. African Runaways and Maroons in the
Americas, Kingston: University of the West Indian Press, 2006, S. 134].375
Aber insgesamt gilt für alle Menschen, die im urbanisierten Venezuela
irgendwo einen „Neger“ (ist im zeitgenössischen public transcript gleich
Sklave, ohne Ehre, fast Nicht-Mensch, ohne Kultur, fast Tier) in ihrer
Ahnenreihe hatten, mussten diesen verbergen (unter anderem durch den Verweis
darauf, criollo zu sein) – oder sie konnten nicht aufsteigen. Allerdings
anerkannten die kastilischen Gesetze und der ihnen innewohnende
philosophische Geiste des Thomismus (Thomas von Aquin) die Freiheit als den
Thompson, Alvin O., “Population Sizes of Maroon Communities”, in: Thompson, Flight to Freedom. African
Runaways and Maroons in the Americas, Kingston: University of the West Indian Press, 2006, S. 127-129, hier S.
128.
372
Ramos Guédez, “Mano de obra esclavizada en el eje Barlovento-Valles del Tuy durante el siglo XVIII”, S. 1-24,
hier S. 19f.
373
Acosta Saignes, “Life in a Venezuelan Cumbe”, S. 64-73, hier S. 64-69.
374
Aizpurúa, “En torno a la aparición de un pueblo de esclavos fugados de Curazao en la Sierra de Coro en el siglo
XVIII”, S. 109-128.
375
Thompson, Colonialism and Underdevelopment in Guyana 1580-1803, Bridgetown, Barbados: Carib Research
and Publications, 1987.
371
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„Naturzustand des Menschen“. Es entwickelte sich eine Tradition der
Freilassung (manumisión) durch Willen und Testament des Herren, durch
„bautismo o pila“ (wenn der Sklave einer Spanien feindlichen Nation oder
anderen Kolonialmacht spanisches Territorium erreichte, ließ er sich taufen und
war damit frei; eine alte Asylgesetzgebung376), durch Kauf einer „carta de
libertad“ seitens des Sklaven oder der Sklavin (coartación = Selbstfreikauf377)
sowie durch spezielle Freilassung seitens des Staates (etwa wenn ein Sklave
einen Aufstand verriet). Oft siedelten ehemalige Sklaven gleicher Herkunft
gemeinsam an einem Ort.378
Sklavenhandel, Kreolisierung, Mestizisierung, Cimarronaje und Tradition
der Freilassung wurde einem mächtigen sozialen Prozess, der dazu führte, dass
bereits nach 250 Jahren die Hälfte der Bevölkerung der Tierra Firme, vor allem
in den Gebieten mit hohem Sklavenanteil, zur sozialen Gruppe der „pardos“
gezählt wurde, deren Status als Kaste aber immer unterhalb der „Weißen“
angesiedelt war, aber relativ vom individuellen wirtschaftlichen und sozialen
Erfolg abhing. Zwischen 1500 und 1810 wurden nach Brito Figueroa 121 168
Sklavinnen und Sklaven, einschliesslich Contrabando (composición de negros
de mala entrada), in das Gebiet des heutigen Venezuela verschleppt; um 1810
mag es 60000-62000 Sklaven in Venezuela gegeben haben; seit 1804 kamen
keine Sklavenschiffe mehr an.379 Sklavinnen und Sklaven waren vor allem
Haussklaven und rurale Sklaven auf den Haciendas der Küste (vor allem
Te Paske, John, „The Fugitive Slave: Intercolonial Rivalry and the Spanish Slave Policy, 1687-1764“, in:
Proctor, Samuel (ed.), Eighteenth Century Florida and its Borderlands, Gainesville: University Press of Florida,
1975, S. 1-12.
377
Lucena Salmoral, “El derecho de coartación del esclavo en la América Española”, in: Revista de Indias 216
(1999), S. 357-374; Lucena Salmoral, La esclavitud en la América española, Warszawa: Universidad de Varsovia,
Centro de Estudios Latinoamericanos (CESLA), 2002.
378
Archivo General de Indias, Sevilla, Audiencia Santo Domingo, Cartas y expedientes sobre las Misiones de
Capuchinos de la Provincia de Venezuela (1588-1695), Legajo 222: “El Gobernador de Caracas, Marqués del
Casal, avisa del recibo del despacho sobre la libertad de unos negros de la villa de San Carlos y formarles pueblo
separado y retirado de los indios como lo propuso Fray Gabriel de Sanlúcar; y demás que expresa”.
379
Hernández Delfino, Carlos, “La deuda de la abolición”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345 (Enero-Marzo de
2004), S. 19-57.
376
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Barlovento, wo es hohe Konzentrationen von Sklaven gab) und, allerdings
weniger dicht, auf den Haciendas und Hatos im Innern des Landes.380
Im 17. Jahrhundert existierten in Venezuela verschiedene Typen des
territorialen Eigentums: Eigentum des Königs (realengos), kommunale und
ejidale tierras der Städte, Eigentum der Kirche, Nutzbrauch (usufructo) der
Missionen, Ländereien unter Verwaltung von Kirche und obras pías, private
Hatos und Haciendas, tierras de Indio-Kommunen, conucos des individuellen
Eigentums von Indios.381 In den Llanos zählte Bodeneigentums nicht oder kaum
- nur an den Rändern im Norden und im Westen. Was zählte, war die
Verfügungsgewalt über Menschen und Vieh.
Bestimmte Gebiete Venezuelas, aber auch Neu-Granadas, Neu-Spaniens
und besonders die Grenzgebiete der Floridas und Guayanas waren quasi unter
der Herrschaft von Cimarrones, die von konkurrierenden Kolonialmächten mit
Waffen versorgt wurden und zusammen mit Indios „koloniale Völker“ bildeten
(wie die Wayúu auf der Halbinsel Guajira). Um 1720 sprechen königliche
Berichte schon von 20000 geflohenen Schwarzen nur für die Provinz von
Venezuela.382 Wie Humboldt feststellte und Jane M. Rausch bestätigt, befanden
sich um 1789 etwa 25000 Menschen, meist Männer, als Flüchtige, Cimarrones,
in den Llanos zwischen dem heutigen Venezuela und Kolumbien.383 In
Venezuela zählten die entfernteren Llanos und die Guayanas immer zu den
Flucht- und Grenzgebieten der Cimarrones. In den tiefen Llanos waren
Cimarrones und nichtunterworfene Indios den Spanier in der Kenntnis des
Territoriums und in Handhabung von Waffen und taktischer Kriegführung
überlegen. So konnten sich Europäer und verbündete Indios bei den reichen
Troconis de Veracoechea, “El trabajo esclavo en la economía colonial”, in: BANH Tomo LXXXVII núm. 345
(Enero-Marzo de 2004), S. 59-75.
381
Ebd., S. 65.
382
Olavarriaga, “Negros se pierden por falta de castigo”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado
presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 215.
383
Rausch, Jane M., Una frontera de la sabana tropical: los llanos de Colombia 1531-1831, Bogotá: Banco de la
república, 1994, S. 439; Thibaud, Clément, “Les Llanos, essai de géographie historique“, in : Thibaud, Repúblicas
en armas. Los ejércitos bolivarianos en la Guerra de Independencia en Colombia y Venezuela, Bogotá: Instituto
Francés de Estudios Andinos-Planeta, 2003, S. 131-160, hier S. 135.
380
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Goldlagerstätten von Nirgua im heutigen Venezuela gegen den Widerstand384
von Indios und Cimarrones nicht durchsetzen. Gouverneur Arías Vaca musste
Schwarze und Zambos zu Conquistadoren ernennen; die dann im siebzehnten
und achtzehnten Jahrhundert den Cabildo von Nirgua dominierten und ihre
Rechte (und die weiterer „farbiger“ Städte) beim König verteidigten.385 Noch
Humboldt spricht im Februar 1800 von „Nirgua ... der Mulattenrepublik
zwischen Valencia und S[an] Felipe“.386
Die Kreolisierung betraf auch kulinarische Bereiche. Afrovenezolanische
Küche arbeitet vor allem mit sofritos (in Öl angebratene Gewürze mit
Knoblauch, Salz und Limettensaft), sehr viel Fett beim Braten und Kochen
sowie der Nutzung von Ñame, Patilla, Quinchoncho, Cafunga (Kokos und
Banane gemischt mit Zucker und in Fett ausgebacken), Mazamorra (junger Mais
mit Papelón und Milch), Quimbombó porteño (vor allem in Puerto Cabello),
Funche (gemahlener Mais mit Schweine-Fett, Salz und Sofrito).387
Kakao, Zucker und Tabak
Trotz riesiger Viehherden und gigantischer Küsten ist die kleine
Kakaobohne zum Symbol der Kolonialzeit in Venezuela avanciert.388 Humboldt
hebt den Wert des Kakaos für Reisende hervor: „Cacao, die wundersame
Erfindung der Span[ischen] Conquistadoren (eine Speise, deren Werth auf
Reisen man in Europa kaum kennt, nährend, reizend [aufmunternd] und
Dieser Widerstand lässt sich bis zur „Rebelión del Negro Miguel“ 1553 zurückverfolgen, siehe: Agudo Freites,
Raúl, Miguel de Buría, Caracas : Alfadil Ediciones, 1991.
385
Acosta Saignes, Vida de los esclavos negros en Venezuela ..., S. 185f.; Mendoza, Irma Marina, “El cabildo de
los pardos en Nirgua: Siglos XVII y XVIII”, in: Bolivarium. Anuario de Estudios Bolivarianos 4 (1995), S. 95-120.
386
Humboldt, Reise durch Venezuela, S. 197, FN und S. 210, FN ; siehe auch: Rojas, “Mestizaje y poder en
Nirgua, una ciudad de mulatos libres en la provincia de Venezuela 1628-1810”, in: Rojas, La rebellión del negro
Miguel y otros temas de africanía, Barquisimeto: Tipografía y Litografía Horizonte, C.A., 2004, S. 119-138.
387
Ramos Guédez, „Los descendientes de africanos en Venezuela: aporte a la cultura e identidad nacional“, S. 147157, hier vor allem S. 148f.
388
Díaz Sánchez, Ramón, „Cacao, símbolo colonial de Venezuela“, in: Revista Nacional de Cultura, Nr. 69,
Caracas (1948), S. 70-91; Arcila Farías, Economía Colonial Venezolana, 2 Bde., Caracas: Italgráfica, 1973 (vor
allem Bd. I); Harwich, Nikita, Histoire du Chocolat, Paris: Éditions Desjonquères, 1992; Harwich, “Le cacao
vénézuélien: une plantation à front pionnier”, in: Caravelle 85, Toulouse (2005), S. 17-30.
384
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sättigend in kleinem Volumen)“.389 Heute wird handverlesener venezolanischer
Criollo-Kakao wieder in den Produkten europäischer SchokoladenLuxusmarken vermarktet - vor allem in Italien, weil nach 1830 eine ziemlich
starke korsische und ligurische Immigration Ostvenezuela erreichte. Der frühe
Ruhm des Kakaos der Tierra firme mag daran liegen, dass die einzelnen
Kolonialgebiete schon damals danach trachteten, sich in gewissem Sinne durch
koloniale „Marken“-Produkte zu definieren. In den einzelnen Provinzen gab es
auch Zucker- und Tabakanbau in weit geringerem Umfang als in Surinam,
Jamaika oder Saint Domingue.
Mit der Kakaowirtschaft kam Massensklaverei ins Land. Besser gesagt,
die Nachfrage nach dem milden und süssen venezolanischen Criollo-Kakao in
Mexiko und Spanien brachte Sklaven an die Küsten der Tierra firme. Die
Kakaowirtschaft nahm seit Ende des 16. Jahrhunderts einen starken
Aufschwung. Damit entstanden auch die ersten stabilen Kerne der Stadteliten
Venezuelas. Insofern hat der Kakao nicht nur die Sklaverei etabliert, sondern
auch die Sklavereieliten.390
Schon seit 1530 segelten portugiesische Sklavenschiffe auf ihren Fahrten
zwischen Westafrika und Amerika wieder und wieder an den langen Küsten der
Pernambucos, Maranhãos, Guayanas („wilde Küste“) und der Provinzen
Venezuelas (etwa 5000 km) nach Cartagena, Puerto Bello und Veracruz.
Sklavenhandel war immer auch Schmuggel. Die Kapitäne und Mannschaften der
portugiesischen Sklavenschiffe machten in den Unterwegshäfen, obwohl es
offiziell untersagt war, unter dem Vorwand der Wasseraufnahme oder
notwendiger Reparaturen Halt. Oder sie legten Landungspunkte in der Nähe von
Flussmündungen und Süßwasserquellen an (diese Orte wurden oft zu
Humboldt, Alexander von, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare,
Río Orinoco bis Esmeralda“ (30. März-23. Mai 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 236-310, hier S.
239.
389
Ferry, “Commerce and Conflict: The First Caracas Elite, 1567-1620”, S. 13-44; Langue, „Origenes y desarrollo
de una élite regional. Aristocracia y cacao en la provincia de Caracas”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión
en la Venezuela del siglo XVIII, Caracas: Italgráfica; Academia de la Historia, 2000 (Biblioteca de la Academia de
la Historia, 252), S. 46-93.
390
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Ausgangspunkten von Kolonien – wie Demerara, Berbice, Suriname oder
Essequibo). Dort schmuggelten sie mit allem, was nicht niet- und nagelfest war.
Zunächst gab es in Venezuela als „Zahlungsmittel“ nur Indiosklaven oder
Nahrungsmittel – und afrikanische Sklaven waren teurer. Dann aber bemerkten
die Schmuggler nach ersten Zwischenlandungen an den venezolanischen Küsten
in den Ankunftshäfen Porto Bello oder Veracruz, dass dort der – auch wegen der
Katastrophe der bisherigen mexikanischen Kakaoproduktionsgebiete
(Soconusco und Izalco (siehe Karte391)) – gute venezolanische Kakao hohe
Preise erzielte und sie den mittelamerikanischen Kakao unterbieten konnten.
Beim nächsten Mal tauschten sie mehrere ihrer afrikanischen Sklaven gegen
Criollo-Kakaobohnen in den Häfen der Tierra firme ein. Besonders intensiv
entwickelte sich dieser Handel zwischen 1580 und 1640 (Kronunion zwischen
Portugal und Kastilien)392; dann übernahmen die Niederländer inoffiziell dieses
Geschäft; vor allem nachdem sie 1634 die Insel Curaçao vor der
venezolanischen Westküste, einige Küstengebiete Surinams sowie Demeraras
(und Brasiliens) und auf afrikanischer Seite die Festung Elmina erobert hatten.
Curaçao kontrollierte faktisch die Einfahrt zum Golf von Venezuela. Die Insel
wurde zur unsinkbaren Schmuggelplattform vor einer unkontrollierbaren
Küste.393
„Portugiesen“, die auch Westafrikaner, Angolaner oder Menschen aus
Pernambuco, dem Maranhão, Ceará, Recife oder Bahia im heutigen Brasilien
sein konnten, schmuggelten aber weiter. So entwickelte sich ein reger Austausch
afrikanische Sklaven gegen Kakao, indianische Sklaven und Maultiere aus den
Llanos; dieser Schmuggelhandel wiederum belebte die venezolanische
Eigenproduktion von Kakao (die vorher schon von Indios betrieben worden war)
ab dem Ende des 16. Jahrhunderts – seit dem 17. Jahrhundert existiert in Europa
„Landkarte der kakaoproduzierenden Gebiete Mittelamerikas zur Zeit der frühen Kolonisation. Die Provinz
Soconusco war wähend der aztekischen Vorherrschaft der größte Kakaoproduzent Mittelamerikas“, in: Coe, Sophie
D.; Coe, Michael D., Die wahre Geschichte der Schokolade. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell,
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997, S. 101; Harwich, „La Tragédie de Soconusco“, in:
Harwich, Histoire du Chocolat …, S. 36-38; Harwich, „Le ‚boom’ cacaoyer d’Izalco“, in: Ebd., S. 38-42.
392
Ferry, “Cacao in the Seventeenth Century: The First Boom”, S. 45-71, hier S. 48f.
393
Arcila Farias, „Los holandeses y el cultivo del cacao“, in: Arcila Farias, Economía colonial ..., Bd. I, S. 142-144.
391
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die Marke „holländischer Kakao“. Zunächst war der wichtigste Absatzmarkt
aber Neu Spanien, das alte Azteken- oder Mexicareich, wo sich Eliten seit jeher
das Göttergetränk Kakao munden liessen. Auch in diesem gigantischen
Austauschgeschäft Menschen gegen Kakao bewahrheitete sich eine generelle
Aussage zum Sklavengeschäft – es sorgte für die ursprüngliche Akkumulation
von Kapitalien. Zumal die kleinen Sklavenschiffe, die vorher zur Verschleppung
von gefangenen Indios über die Karibik (oder für den Transport von Indios aus
Nikaragua nach Guatemala und Acapulco) benutzt worden waren, gut für den
Transport der Kakaoladungen benutzt werden konnten.394
Kakaobohnen und daraus hergestellter Kakaotrunk wurden schon von den
Indios vor Kolumbus benutzt. Die wichtigsten Gebiete, in denen der
einheimische Kakaobaum wild wuchs, waren Andentäler, wie Aragua-Tal und
Tuy-Tal im Südosten von Caracas, Paria und Gebiete im Süden des
Maracaibosees sowie die kleinen Täler der Caracas-Küste; 1579 erschien die
erste geschriebene Information über den Kakao in einer Liste von Produkten, die
aus Mérida exportiert werden konnten.
Der Produktionsprozeß des Kakaos auf den noch relativ bescheidenen
Haciandas ähnelte dem des (erst später) einsetzenden Kaffeeanbaus auf
Haciendas. Fast der gesamt Prozeß konnte mit menschlicher Arbeitskraft
erledigt werden, es waren keine komplizierten Mühlen und nur wenige wirklich
technische Installationen notwendig.395 Kakaobohnen konnten relativ gut
gelagert und transportiert werden – zugleich galten Kakaobohnen in den
Mayagebieten und in Mexiko als eine Art Geld und als Elitegetränk; auch wurde
Kakao zu kultischen Zwecken benutzt; die flüssige Schokolade (chocolatl) galt
als „Getränk der Götter“. Kakao war in Mittelamerika und im Aztekenreich
Nahrungsmittel, Münze und religiöses Symbol.396 Kakao in Form von
getrockneten und fermentierten Samenbohnen der Kakaofrucht war zu Beginn
Harwich, Histoire du Chocolat …, S. 39.
Torres Sánchez, Jaime, “El Cultive del cacao”, in: Torres Sánchez, Haciendas y posesiones de la Compañía de
Jesús en Venezuela. El Colegio de Caracas en el siglo XVIII, Sevilla: CSIC, 2001, S. 27-47.
396
Coe; Coe, Die wahre Geschichte der Schokolade …, passim.
394
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der Conquista ein teures Produkt. Das lag einerseits darn, dass die Kakaobäume
(Theobroma cacao) nur in feuchtem, schattigem Unterholz von
Dschungelwäldern bis jeweils 20° nördlich und südlich des Äquators wachsen
und bei ausbleibendem Regen ihre Blätter und Früchte abwerfen oder schnell an
Pflanzenkrankheiten eingehen. Kakaoplantagen und -bäume müssen ständig
gepflegt werden. Andererseits existierte schon vor 1492 eine starke Nachfrage
nach dem „Getränk der Götter“, vor allem in den mittelamerikanischen
Kulturen. Bestimmte Teile der Kakaofrucht (das weiße und süße Fruchtfleisch,
das wegen seiner Süße roh gegessen oder aus dem eine Art Wein hergestellt
wurde397) waren aber auch schon bei verschiedenen Indiovölkern Venezuelas
und des heutigen Brasiliens, in der Amazonía, sehr gefragt.398
Seit 1620-1630 entwickelten sich Zonen der Kakaoproduktion mit
Sklaven. 1622-32 gingen aus Venezuela jährlich 2000 Fanegas auf legalem
Wege (der Schmuggel ist noch nicht mitgezählt) in den Export. Das entsprach
166000 Kakaobäumen. Die wichtigsten Kakaogebiete lagen im Süden des
Maracaibosees (Gibraltar), wo ein ganzer Haciendaskomplex vom Jesuitenorden
(Residencia de Maracaibo: zwei Hatos, eine Hacienda mit Trapiche – Zucker -,
Kalk- und Ziegelproduktion sowie zwei haciendas integradas, spezialisierte
Kakaoplantagen) betrieben wurde399; um den Valenciasee, bei Cumaná, auf der
Pariahalbinsel sowie sowie in einigen Andentälern. An der Küsten von Caracas
wurde Kakao auf den Haciendas von Choroní, Ocumare, Chuao, Turiamo und
Guaiguaza sowie in den Tälern von Caucagua, Capaya, Curiepe, Guapo, Cúpiro,
etwa weiter entfernt bei Aroa, Barquisimeto, Güigüe und Orituco angebaut.400
„Kakao“ als entfettetes Pulver, das in Mitteleuropa als „holländischer Kakao“ gilt, wurde 1828 von dem
Niederländer Coenraad von Houten erfunden – der Rohstoff, die Kakaobohnen, aber kamen fast immer aus
Venezuela über Curaçao (meist vom Südufer des Maracaibosees) nach Holland; Coe; Coe, Die wahre Geschichte
der Schokolade …, S. 31.
398
Ebd., S. 21ff.
399
Rey Fajardo, José del, “El patrimonio económico del colegio jesuitíco del Maracaibo hispánico”, in: BANH, No.
249, LXIII (1980), S. 73-84; Torres Sánchez, Jaime, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en
Venezuela. El Colegio de Caracas en el siglo XVIII, Sevilla: CSIC, 2001.
400
Arcila Farias, Economía colonial ..., Bd. I, S. 142-144, hier S. 143; Olavarriaga, “Estado particular y presente de
la Costa Marítima de la Provincia de Venezuela, desde Macuto hasta la Punta de los Flamencos, sus puertos, valles,
ríos, haciendas, nombres de sus amos, árboles de cacao, su producto, poblaciones y demás circunstancias que sirven
de instrucción a la planta de dicha Costa incluida en dicho Capítulo”, S. 221-248; Strauss, Rafael A.,
397
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Die Jesuiten etwa statteten ihre Colegios und Residencias mit Haciendas aus, um
sie zu versorgen, aber auch, um ihnen Einkünfte zu verschaffen (wie zum
Beispiel der Colegio de Caracas).401
Mit dem Aufschwung der Kakaowirtschaft, deren Plantagen meist auf
Landgütern der ersten Siedlerelite angelegt wurde, die als Mitglieder der
Stadträte (ayuntamientos, cabildos) auch die lokale politische Macht
kontrollierten, kam es zur Entstehung der ersten Kerne von lokalen Oligarchien
der Sklavenhalter. Zum Teil wurde der Kakao zunächst von Encomiendaindios
geerntet und verarbeitet. Die Elite der „großen Kakaos“ (grandes cacaos), wie
sie bald genannt wurden, waren aber auch die einzigen, die nach den
Sklavenschmuggelszeiten relativ schnell soviel Kapital aufbrachten, um offiziell
und formal afrikanische Sklaven zu kaufen.402 Eines der Beispiele für
erfolgreiche Unternehmer im Kakao, zugleich lokaler Machthaber in Caracas,
war der Urahne von Simón Bolívar – mit fast dem gleichen Namen: Simón de
Bolívar (von Historikern Bolívar el viejo, Bolívar der Alte, genannt), ein
baskischer hidalgo aus dem Dörfchen Bolibar. Nach erfolgreichen Versuchen
mit Kakaoexporten aus den Plantagen in der unmittelbaren Umgebung von
Caracas expandierte die Haciendawirtschaft in das Tuy-Tal und in die vom TuyFluss durchflossene Barloventodepression östlich von Caracas, ein quasi nach
Osten geöffnetes West-Ostdreieck, dass sich in die Küstenkordillere in der Mitte
des Landes wie ein breiter Dolch hineinschiebt [Karte in Tamaro, S. 8403] und
sie in zwei Ketten aufspaltet. Tuy und Barlovento stehen als Regionen für eine
paradigmatische Kakaowirtschaft mit Sklaverei entlang eines Flusstales bis hin
“Aproximación a una demografía de la esclavitud negra en Venezuela, siglos XVI y XVII”, in: Tierra Firme Vol.
XXII, 22, Nr. 85 (Enero-Marzo 2004), S. 75-105.
401
Torres Sánchez, “Introducción. Patrimonio y riqueza del Colegio de Caracas en 1767”, in: Torres Sánchez,
Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en Venezuela ..., S. 1-22.
402
Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes para la historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional
de la Historia, 1981; García, Jesús, Contra el cepo: Barlovento, tiempo de cimarrones, Caracas: Lucas y Trina,
1989; Guerra Cedeño, Franklin, Esclavos negros, cimarrones y cumbes de Barlovento, Caracas: Lagoven, 1984;
Acuña, Guido, La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993; García,
Africanas, esclavas y cimarronas, Caracas: Fundación Afroamérica, 1996.
403
Tamaro, Dorothy C., A new world plantation region in colonial Venezuela: 18th century cacao cultivation in the
Tuy Valley and Barlovento, Ann Arbor: University Microfilms International (UMI), 1988, S. 8 (Map 1:
“Venezuela: Modern boundary, colonial province and Tuy-Barlovento).
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zur karibischen Küste. Große und kleine Hacendados (Landbesitzer) bauten am
Tuy Kakao an und machten vor allem im 17. Jahrhundert durchaus exzeptionelle
Gewinne. Land war im Übermass vorhanden und billig. Schwieriger war es
schon, spezialisierte Sklaven für Pflege und Ernte des anspruchsvollen Kakaos
zu finden; aber auch spezialisierte Vorarbeiter sowie Verwalter (mandadores,
mayordomos) waren schwer zu bekommen. Der weitverbreitete Schmuggel
sorgte dafür, dass auch ärmere Einwanderer des 17. Jahrhunderts, vor allem
isleños von den kanarischen Inseln, sowie freigelassenen Sklaven oder Mestizen
Kakaowirtschaft treiben konnten. Im 18. Jahrhundert begann die königliche
Monopolkompanie der Guipuzcoana die Preise zu drücken und verfolgte den
Schmuggel. Die Produktion weitete sich insgesamt aber aus, obwohl es nun
öfter zu Rebellionen der Kakaohacendados kam.
Die kleinen Kakaohacendados machten Gewinne vor allem im
Schmuggel. Die großen Kakaohacendados, die Besitzer der großen
Kakaohaciendas (grandes cacaos, mantuanos), begründeten ihre wirtschaftliche
und soziale Macht im urbanen Zentrum der Kolonie nicht nur auf den Gewinnen
des Kakaoexportes, sondern auch aus der Größe der Haciendas und aus der
Anzahl der Sklaven – oft heirateten Söhne und Töchter dieser Familien, um
nebeneinanderliegende Haciendas zu noch größeren Latifundien und
Mayorazgos zusammenzulegen. Humboldt hat während einer Reise nach
Valencia und Puerto Cabello im Februar/März 1800 eine eingehende
Beschreibung der Kakaolandschaften hinterlassen.404 Humboldt beschrieb die
Mantuanos, nicht nur die von Caracas, sondern auch von Cumaná, auch als eine
„wahre Munizipalaristokratie“.405 10000 Fanegas Kakao Exporte brachten den
venezolanischen Exporteuren bis um 1780/1800 rund 500000 Silberpesos pro
Jahr ein. Venezuela blieb in Bezug auf seinen Kakaoexport immer mehr mit
Humboldt, Vorabend ..., S. 254 (Nr. 169); Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 185-221; zur Kakaokultur
vor allem S. 220f.
405
Humboldt, Vorabend …, S. 265.
404
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Mexiko als mit Spanien verbunden; aus mexiko kam Silber (Exporte 16211700406):
México
357766 Fanegas407
82,18%
Spanien
71595 Fanegas
16,43%
Andere
5991 Fanegas
1,39%
435352 Fanegas
100,00%
Total
Trotz der Bemühungen der Monopolkompanie Compañía Guipuzcoana seit
1729, die Exporte nach Spanien zu steigern, fielen diese zwar relativ ab, aber es
fielen auch die nach Spanien und der venezolanische Kakao wurde stärker im
atlantischen und karibischen Raum (Kanaren, französische und britische
Kolonien), vor allem aber auf der Schmuggelinsel Curaçao (in den ofiziellen
Zahlen vorliegender Tabellen nicht ausgewiesen) nachgefragt und auch nach
dort exportiert.408
Mexiko
462107 Fanegas
Jährlicher Durchschnitt
15403 Fanegas
Spanien
54415 Fanegas
Jährlicher Durchschnitt
1813 Fanegas
Kanaren
4721 Fanegas
5,6%
Französische Kompanie
2327 Fanegas
5,3%
Englische Kompanie
3433 Fanegas
2,2%
Barlovento-Inseln
2577 Fanegas
2,0%
609580 Fanegas
100,00%
Total
75%
8,9%
Auch Zuckerrohr wurde schon in früher Zeit angebaut. Ebenso wie
Weizen in den Anden und bei Barquisimeto war Zucker in Venezuela aber keine
„Cacao“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. I, S. 565-568, hier 567.
Eine Fanega (Volumen) entspricht hier dem Volumen der Ernte von einer Fanega (Fläche) Boden, gleich 55,5
Liter, siehe: „Pesos y medidas“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. III, S. 607611, hier S. 610. Als Flächenmaß entsprach die Fanega rund 6,5 ha oder 6,438,999 Quadratmetern.
408
Ebd.
406
407
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Exportprodukt, sondern für den inneren Verbrauch bestimmt und ging zum Teil
in den Schmuggel (Zuckerrohranbau wurde zur Grundlage lokaler
Rumproduktion).409 Der Hauptunterschied zwischen Kakao- und
Zuckerwirtschaft bestand darin, dass der Kakao zwar eine komplizierte Pflege
(auch des Standorts und der Bäume, diese trugen auch erst nach drei-vier
Jahren) sowie viele Kenntnisse und Erfahrung bei Ernte der Kakaofrüchte und
Verarbeitung der Bohnen verlangte, aber nicht einen solch hohen technischen
und technologischen Aufwand wie die „Fabrik im Zuckerrohrfeld“
(Zuckermühle).410 In Venezuela gab es nur relativ wenige Zuckerhaciendas mit
geringer technischer Ausstattung.411 Ein Paradebeispiel für die Entwicklung der
Hacienda zu einem spezialisierten Agrarbetrieb mit Zuckerproduktion ist die
Hacienda y Trapiche „Nuestra Señora de la Guía“ im Valle der Guatire
(Barlovento) unter Leitung der Jesuiten von Caracas. Die Jesuiten hatten auch
hier ein Pionierfunktion, ohne dass diese Hacienda y Trapiche der
Zuckerproduktion jemals den Spezialisierungs- und Technisierungsgrad wie ein
Ingenio de nueva planta auf Kuba erreichte, obwohl sich die Jesuiten sehr um
Effizienz, Organisation und Technisierung von Agrarwirtschaft und
Sklavereinach dem patrón tecnológico de ingenio (Antrieb der Mühle, eiserne
Walzen und der gesamte Manufakturprozeß unter einem Dach – eben dem des
eigentlichen Ingenio) bemühten.412
Im 16. Jahrhundert war zunächst aber neben Zucker der Tabak eines der
Produkte gewesen, das die Dynamik des atlantischen Zeitalters (1440-1900)
vorantrieb. Tabak war auch das erste große Exportprodukt Venezuelas (von
Perlen und Sklaven abgesehen). Ähnlich wie bei Salz und Kakao nutzten die
Spanier die Kenntnisse, Zuchterfolge und die Handelskultur der Indios – von
409
Rodríguez, Los paisajes geohistóricos cañeros en Venezuela, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1986;
Rodríguez, Historia de la caña, Caracas: Alfadil Editores, 2005.
410
Tamaro, A New World Plantation Region in Colonial Venezuela …, passim.
411
Torres Sánchez, “El cultivo del azúcar”, in: Torres Sánchez, Haciendas y posesiones de la Compañía de Jesús en
Venezuela ..., S. 49-74.
412
Torres Sánchez, “La Hacienda y Trapiche „Nuestra Señora de la Guía“ del Valle der Guatire (1753-1772”, in:
Ebd., S. 77-101; Torres Sánchez, “El punto de partida: de un patrón tecnológico de trapiche tradicional y uno
mejorado”, in: Ebd., S. 133-150; Torres Sánchez, “Transformación productiva: un patrón tecnológico de ingenio”,
in: Ebd., S. 151-170.
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den Kanus und Lanchas des indianischen Transportsystems gar nicht zu reden.
Tabak wurde in familiären Wirtschaften in der Nähe ländlicher Bohios auf
gutbewässertem Boden, meist in der Nähe von Flüssen angebaut. Früher
Exportschlager aus dem Innern Venezuelas war bereits seit Ende des 16.
Jahrhunderts Barinas-„Knaster“413 aus Guanare und Barinas an der Südseite der
Kordillere von Barquisimeto. Die Tabakrollen in Körben wurden vor allem über
Gibraltar und den Maracaibosee nach Maracaibo gebracht und dort auf Boote
verladen, die die begehrte Ware über die Sandbarre zu den Schiffen brachten
(oder gleich in der Karibik verteilten). Aus Maracaibo wurden um 1600 1000
arrobas (Zeichen: @, eine spanische Arroba waren damals rund 25 Libras, heute
meist mit rund 11,5-14 kg gleichgesetzt414) Barinas-Tabak exportiert; über
Caracas-La Guaira wurden 1606 bereits 15500 Libras Tabak exportiert. Der
Barinas-Tabak, wie überhaupt der Tabak aus dem frühen Venezuela, stand in
der Gunst der Raucher und Schnupfer höher als der frühe Tabak von Kuba (wo
die Vueltabajo noch nicht produzierte). Allerdings förderte die Krone die TabakExportwirtschaft in Venezuela aus Furcht vor den Holländern nicht besonders
intensiv. Tabak ist ein Schmuggelgut par excellence. Der venezolanische Tabak
wurde, wie viele erfolgreiche Kolonialprodukte, zu einem Monopol erklärt
(estanco del tabaco, 1779), in diesem Falle sogar zu einem Staatsmonopol (nicht
zu einem Kompaniemonopol wie der Kakao).415 Kronfunktionäre bekamen das
Recht, die Ernte aufzukaufen. Für das Recht, Tabak anzubauen, mussten
Abgaben geleistet werden, wie auch für das Recht, die Überschüsse (über der
vom Staat vorgegebenen Erntemenge) frei zu verkaufen. Die Einkünfte aus der
Tabakproduktion (renta del tabaco) waren so wichtig, dass noch Bolívar bei
seinem Versuch, die Staatsfinanzen neu zu ordnen, die Tabakeinküfte zur
Grundlage der Staatseinkünfte zu machen.416
413
Vom spanischen Wort canasta, eine Art großer Korb, in dem die Tabakrollen transportiert wurden.
„Pesos y medidas“, in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. III, S. 607-611.
415
Arcila Farías, Eduardo, Historia de un Monopolio. El Estanco del Tabaco en Venezuela 1779-1833, Caracas:
Universidad Central de Venezuela, 1977.
416
La Hacienda Pública de Venezuela en 1828-1830. Misión de José Rafael Revenga como ministro de Hacienda,
Caracas : 1935.
414
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Die Ernährung sowie der Konsum der frühen Siedler und ihrer Sklaven
aus interner Subsistenzproduktion (Yuca, Bananen, Mais, Fleisch) und internem
Handel (Tabak, Wein, Salz, Handwerksgüter) waren ziemlich gut; besser als
vergleichbare Lebensweisen europäischer Bauern, Küstenbevölkerungen und
armer Stadtbewohner. Wegen der starken Nachfrage nach blauer Farbe wurde
seit 1770, meist auf kleineren Haciendas mit wenig Sklaven in den Gebieten
zwischen Aragua, Valenciasee und Barquisimeto, auch die Farbpflanze Añil
(Indigo; indigoferea tintorea) angebaut.417
Die städtischen Oligarchien formierte sich aus den Gründerfamilien der
ersten Siedler, die als Conquistadoren die Stadtherrschaft im Cabildo
monopolisierten und sich gegenseitig mercedes (Landbesitz in Form von
Privilegien) zuschanzten. Diese Landgüter, haciendas genannt, waren die
soziale und territoriale Grundlage ihrer Macht. Mit dem Erfolg des
venezolanischen Criollo-Kakaos in der Kolonialmetropole Neu-Spanien wurden
auf den Haciendas Kakaowirtschaften angelegt, auch Gärtchen oder Wäldchen
für Sklaven, in denen sie auch einige Kakaobäume pflegten (arboledas). Die
Haciendas bildeten nach einigen Generationen haciendas comuneras,
gemeinsamen Landbesitz und soziale Grundlage für Eliten und Oligarchien,
oder gar mayorazgos, unteilbare und unverkaufbare Familienerbschaften der
Overschichtenfamilien. Der Landbesitz begründete zwar sozialen Status, die
Besitzform des Quasi-Gemeineigentums von Oligarchiefamilien verhinderte
aber oft eine professionelle Bewirtschaftung, da Haciendas eine Art kolonialer
Grundherrschaft darstellten, formell der König das Obereigentum hatte und die
Haciendas nicht, wie auf Kuba, aufgeteilt (separiert) wurden. Deshalb
verpachteten viele Familien infomell an Sklaven oder ehemalige Sklaven und
liessen sich in Arbeit oder Ernten (Kakao) bezahlen.418
Langue, “El añil en la Venezuela ilustrada. Una historia inconclusa”, in: Revista de Indias Vol. LVIII, Nr. 214
(enero-abril 1998), S. 637-653.
418
Arcaya, Carlos I., “Introducción”, in: Arcaya, Pedro M., Población de origen europeo de Coro en la época
colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1972 (Fuentes para la historia colonial de Venezuela;
Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 114), S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXV.
417
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Das Problem von Schmuggel, Effizienz der Sklavenwirtschaft und
Unmöglichkeit der Kontrolle ging aber weit tiefer. Bischof Mariano Martí, der
die Tuy-Region 1784 besuchte, berichtet, dass nicht „der dritte Teil“ des
angebauten und durch Sklaven geernteten Kakaos wirklich die Lager der
Haciendas füllte419 – der Rest wurde geschmuggelt. Manchmal von den Sklaven
selbst, meist aber von „armen“ Weißen oder sogar recht reputierlichen
kreolischen Vecinos.420 Schmuggel gehört in Venezuela in gewisser Weise noch
heute zum Volkssport.
Plünderungen und Beutezüge, sozusagen eine karibische Wirtschaftsform,
die eng mit Sklavenfang, Schmuggel, Piraterie, Korsarentum und temporärer
Jagd auf wildes Vieh sowie der Herstellung von Häuten und Trockenfleisch (auf
dem karibischen boucan, einer Art Grill, deshalb Boucanier) verbunden war,
plagten das Land auch nach der Conquista noch bis weit in das 19. Jahrhundert.
Städte und Häfen Venezuelas waren oft Opfer von Piraten- und
Korsarenüberfällen. Ein typischer „karibischer“ Pirat war Bretone Jean David
Nau (Les Sables de Olonne, 1630 – Isla Barú bei Cartagena, 1670), genannt El
Olonés. Mit den adligen (oder später geadelten) „Korsaren der Königin“
Raleigh, Hawkins oder Drake hatten Männer wie El Olonés nichts zu tun. Nau
war als engagé, als Dienstknecht in die Karibik gekommen. Als er seine drei
Dienstjahre absolviert hatte, schloß er sich den Bukaniern von La Española an.
Von der Insel Tortuga im Norden des heutigen Haiti aus betrieben die Bukaniern
und Flibustier Seeraub auf kleinen Schiffen gegen spanische Siedlungen und
Schiffe. Im Norden Kubas war es dem mutigen Nau gelungen, eine spanische
Korvette mit 10 Kanonen zu kapern. Schon unter seinem nom de guerre „El
Olonés“ schlossen sich Nau und seine Leute den Kaper-Kapitänen Michel Le
Basque, Antoine Dupuys und Pedro El Picardo zusammen; sie überfuhren im
419
Martí, Mariano, Documentos relativos a su visita pastoral de la diócesis de Caracas, 1771-1784, 7 Bde., Caracas:
Academia Nacional de la Historia, 1969, Bd. II, S. 609f.; siehe auch: Waldron, Kathy, “The Sinners and the Bishop
in Colonial Venezuela: The Visita of Bishop Mariano Martí 1771-1784”, in: Lavrin, Asunción, Sexuality and
Marriage in Colonial Latin America, Lincoln and London: University of Nebraska Press, 1989, S. 156-177.
420
Ferry, „Leon’s Rebellion“, in: Ferry, The colonial elite of early Caracas …, S. 139-176, hier S. 139.
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August 1666 die Sandbarre des Maracaibosees und plünderten Maracaibo und
San Antonio de Gibraltar. Die Beute war riesig: Silber, Tabak, Kakao, Häute
und Schätze der Siedler. Die Korsaren kehrten zur Isla de la Vaca (Kuhinsel,
heute Isle de la Vache, im Süden Haitis) zurück, wo sie sich über der Aufteilung
der Beute und einen neuen Korsarenzug gegen Guatemala verstritten. Nau
segelte allein zur Isla Barú (heute Cartagena in Kolumbien), wo er von
Indianern angegriffen, besiegt und in einer Opferzeremonie wohl verspeist
worden ist.421 Als Korsaren galten anfänglich Monopolbrecher, die sich nicht an
die von den Kronen vergebene Handelsprivilegien hielten; in Venezuela, wie in
anderen karibischen Territorien waren sie gesuchte Schmuggelpartner der
lokalen Bevölkerung. Später waren Korsaren Kapitäne, die ein Korsarenpatent
einer europäischen Krone hatten, mit dem sie Kaperkrieg führten. Venezuela
gehört zu den Territorien, die bis weit in das 19. Jahrhundert immer wieder von
Piraten, Korsaren und Flibustiern heimgesucht wurden – auch weil sie eben den
weitverbreiteten Schmuggel, auch von illegal gefangenen Indios, Maultieren und
den Schwarzhandel mit Negersklaven, ermöglichten.422
Die Krone mag Schmuggel nicht leiden: bourbonische Reformen (17501800) und imperiale Nation
Reformen in Amerika und Venezuela
421
Exquemelin, A.O., Die amerikanischen Seeräuber. Ein Flibustierbuch aus dem XVII. Jahrhundert. Aus dem
Holländischen übertragen, eingeleitet und herausgegeben von Hans Kauders, Erlangen: Verlag der Philosophischen
Akademie, 1936 (Erste deutsche Ausgabe: Die Americanische See=Raeuber/Entdeckt/in gegenwärtiger
Beschreibung der groessesten/durch die Franzoesisch=und Englische Meer-Beuter/wider die Spanier in
America/veruebten Rauberey und Grausamkeit: Vermittelst dreyfaeltiger Erzehlung/ Erstlich/ der Franzoesischen
Ankunft in Hispaniola (oder S. Domingo) und selbiger Insel Beschaffenheit; Zweytens/ dieser Rauber
Ankunft/Regeln/ Wandels/und verschiedener Raub-Haendel; Drittens/ der Stadt Panama Uber= und
Untergangs/wie auch andere merkwuerdiger Faelle: Nebst einem kurzen Bericht / Von der Cron Spanien Macht
und Reichthum in America / wie auch von allen vornehmsten Christlichen Plaetzen daselbst ; aufgesetzt / durch
A.O. Esquemeling, Nuernberg / In Verlegung Christoph Riegels / 1679 [1684]).
422
Courier, Marcos, Piratas en Venezuela, Caracas: El Diario de Caracas, 1979; Exquemelin, Alexander Olivier,
Piratas de la América, Barcelona: Los Libros de Plon, 1982; Uslar Pietri, Morgan y los piratas …, passim; Georget,
Henry; Rivero, Eduardo, Herejes en el Paraíso: corsarios y navegantes ingleses en las costas de Venezuela durante
la segunda mitad del siglo XVI, Caracas: Editorial Arte, 1993; Lucena Salmoral, Manuel, Piratas, bucaneros,
filibusteros y corsarios en América: perros, mendigos y otros malditos del mar, Caracas: Grijalbo, 1994.
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Schon im 17. Jahrhundert, aber vor allem im 18. Jahrhundert, entstand aus
den lose verbundenen Städten der Provinzen Barinas, Cumaná und Caracas so
etwas wie ein Netzwerk unter der de-facto-Führung der Städte Caracas. Mérida
und Maracaibo in der Provinz Mérida de Maracaibo befanden sich, ebenso wie
Guayana, am Rande dieses auf Caracas fokussierten kolonialen Raumes, der vor
allem von außen mehr und mehr als Ganzes Venezuela genannt wurde. Die
Eliten von Caracas reklamierten schon seit 1670 den ersten Platz in diesem
Reigen der Kolonialstädte. Caracas war 1680 die größte Siedlung des Landes.
Städte im Bistum Caracas waren auch Barquisimeto und Guanare, größere
städtische Zentren Trujillo, Valencia, San Carlos und La Victoria. Aber keines
dieser städtischen Zentren konnte in Bezug auf Funktionen und Bevölkerung mit
Caracas konkurrieren. Caracas war letztlich immer zweimal größer als das
nächstfolgende Subzentrum.423 In Caracas sammelten sich Eliten und
Institutionen des Imperiums, der Kirche und des transatlantischen Handels, hier
lebten die mächstigsten Familien der „großen Kakaos“ und mantuanos, einer
städtischen Elite, die auf ihre lokale Macht stolz war. Die ursprünglichen und
ersten Konstrukteure, wenn man so will, der neuen Netzwerke und Räume um
Caracas herum waren zunächst Missionare, die im 18. Jahrhundert in ihren
Berichten, Büchern, Karten, Lebens- und Sprachstudien424 so etwa wie die
Umrisse der Karte des Venezuela außerhalb der Städte zeichneten, mit der
Orinoko-Flusswelt als Skelett, die noch heute in Atlanten zu sehen sind (nach
Osten und Süden - Essequibo, Llanos und Guayana, im Süden und unter
Einschluss der Halbinsel Guajira war dieses Venezuela aber größer als heute).425
Seit dem frühen 18. Jahrhundert kamen königliche und vizekönigliche Beamte
Lombardi, “Hamlets, Villages, Towns, and Cities”, in: Lombardi, People and Places in Colonial Venezuela.
Maps and Figures by Lombardi, Cathryn L., Bloomington & London: Indiana University Press, 1976, S. 47-66, hier
S. 62.
424
“Lingüística”, in: Rodríguez Campos, Manuel (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, 4 Bde., Caracas:
Fundación Polar, 1997, Bd. II, S. 962-971.
425
Lombardi, Venezuela ..., S. 84.
423
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dazu, die den Schmuggel bekämpften, das Land erkunden und Steuern einziehen
sollten.426
Internationale Allianzen Spaniens und Expeditionen zur Klärung von
Grenzfragen zwischen Spanien und Portugal im Amazonasgebiet und in
Guayana (José de Iturriaga, José Solano) ermöglichten es nichtspanischen
Wissenschaftlern – wie dem berühmten Schweden und Linné-Schüler Peter
Loefling (Gastrikelano, 31. Januar 1729 – San Antonio del Caroní, 22. Februar
1756) – botanische Forschungen im Lande zu betreiben, unterstützt vom
spanischen Franziskaner Antonio Caulín (Bujalance (Spa.), 17. April 1719 –
Bujalance, 19. Oktober 1802).427 Die Expedition des überraschend gestorbenen
Loefling stellte den ersten Versuch der spanischen Krone dar, lokale Inventare
der Ressourcen des gigantischen amerikanischen Imperiums in den Konzepten
Linnés zu machen.428
Im Vertrag von San Ildefonso (1777) wurden als Grenzen zwischen
portugiesischen und spanischen Gebieten der Río Yapura (oder Caquetá), ein
nordwestlicher Zufluss des Amazonas, bis zum Río Negro fest gelegt. Das
bedeutet, dass das ganze Einzugsgebiet des Río Blanco zu Venezuela gehörte,
und damit ein Direktzugang zur Amazonía; erst zwischen 1859 und 1973
anerkannte Venezuela schrittweise, das zwar die Einzugsgebiete des Essequibo,
Cuyuní und Caroní zu seinem Staatsterritorium gehörten, nicht aber das
Einzugsgebiet (cuenca) des Rio Branco und Roraima.429
Briceño Perozo, “El Informe de Olavarriaga”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado
presente de la Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 135-152.
427
Caulín, Historia de la Nueva Andalucía ..., passim; Ryden, Stig, Pedro Loefling en Venezuela (1754-1756),
Madrid: Ínsula, 1957; Pelayo, Francisco; Puig Samper, Miguel José, La obra científica de Loefling en Venezuela,
Caracas: Lagoven, 1992; Puig Samper, “Malaspina y las expediciones científicas españolas en la Ilustración”, in:
Opatrný, Josef, La expedición de Alejandro Malaspina y Tadeo Haenke, Praga: Universidad Carolina de Praga,
Editorial Karolinum, 2005 (=Ibero-Americana Pragensia, Supplementum 14/2005), S. 13-40.
428
Puig-Samper Mulero; Rebok, Sandra, „Pehr Löfling en España y su viaje al Orinoco“, in: Puig-Samper Mulero;
Rebok, Sentir y medir. Alexander von Humboldt en España, Aranjuez (Madrid): DOCE CALLES, 2007 (Theatrum
Naturae. Colección de Historia Natural), S. 24-25.
429
Ireland, Gordon, „Brazil-Venezuela. Amazonas“, in: Ireland, Boundaries, Possessions, and Conflicts in South
America, Cambridge: Harvard University Press, 1938, S. 138-144; Hemming, John, Amazon Frontier. The Defeat
of the Brazilian Indians, London: Papermac, 1995; Hemming, “How Brazil acquired Roraima”, in: Hispanic
American Historical Review 70 (1990), S. 295-325; Mendible Zurita, Alejandro, Venezuela y sus fronteras con el
Brasil : desde el tratado de Tordesillas hasta la incursión de los garimpeiros, Caracas : Centro Abreu e Lima de
Estudios Brasileños, 1993; Mendible Zurita, La familia Río Branco y la fijación de las fronteras entre Venezuela y
426
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Innere Handels- und Marktstrukturen brachten an den Küsten und in den
Kordilleren des Nordens und Westens aber auch so etwas wie das Skelett eines
protonationalen Infrastruktur-Netzwerkes hervor (Wege, Häfen, Brücken sowie
Fluss- und Küstenverbindungen), wie der camino real zwischen Caracas und La
Guaira und die Maultierwege sowie Viehtriften zwischen Caracas und den
wichtigsten Plantagenregionen (Valles de Aragua, Villa de Cura, Valles del Tuy,
Valencia, Maracay) und Viehgebieten (Llanos de Barinas, Llanos de
Calabozo)430, mit Nord-Südstichverbindungen in die Llanos und zum Apure und
zum Orinoko (San Fernando de Apure).431 Mehrere aktive und robuste innere
Handelsysteme um und zwischen den größeren Städte, wie Maracaibo432, von
den Andenstädten433 nach Barinas über Gibraltar (Maracaibo) zu den Llanos434,
Caracas und Cumaná435 waren entstanden, mit Viehtrieb sowie Nahrungsmittel-,
Salz-, Kakao-, Fleisch- und Fischtransporten, Wasser- und Energieversorgung.
Schiffstransport überwog, aber auch Maultiertransporte nahmen zu. Guayana
lebte von Schiffen, Kanus und Cuiaras. Alltägliche Nahrungsmittel (Mais,
Bananen, Bohnen, Weizen, Tasajo und Käse, zum Teil auch Yuca) sowie
Rohstoffe für Handwerk (Leder, Hüte, Stiefel, Gürtel, grobe Stoffe, Eisenwaren,
Holz, Baumaterialien, Kalk) entstanden in Subsistenzproduktion rings um
Städte, Siedlungen und Dörfer. In Caracas und anderen Städten konzentrierte
sich auch die Gewerbe und Handwerke (oficios) der Tischler, Töpfer,
Brasil : dos momentos definitorios en las relaciones entre Venezuela y Brasil : El Tratado de Límites de 1859 y la
gestión del barón de Río Branco (1902-1912), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1995 (Fuentes para la
Historia Republicana de Venezuela; 64); Fonseca Adelha, Regina Maria A., “Conquista e ocupação de Amazônia: a
fronteira Norte do Brasil”, in: Estudos Avançados 16 (45) (2002), S. 63-80.
430
Marón, Agustín, “Relación. Histórico-Geográfica de la Provincia de Venezuela. 1775”, in: Documentos para la
historia económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 411-474; Arcila Farías, Historia de la ingeniería
en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Colegio de Ingenieros de Venezuela, 1961; Valery, Rafael, Los caminos de
Venezuela, Caracas: lagoven, 1978; Paredes Huggins, Nelson; Vialidad y comercio en el occidente venezolano:
principios del siglo XX, Caracas: Fondo Editorial Tropykos, 1984.
431
„Viaje de Caracas a La Angostura del Orinoco” (1764), in: Documentos para la historia económica en la época
colonial. Viajes e informes …, S. 393-399.
432
“La Real Hacienda de Maracaibo en 1754”, in: Ebd., S. 175-227; Soublette, Antonio, “Noticias sobre la
agricultura, comercio y precios corrientes en Maracaibo para el año de 1796”, in: Ebd., S. 511-530.
433
„Informe de don José Sánchez Cosar, referente a la Villa de San Cristóbal. Mayo 16 de 1782”, in: Ebd., S. 483487.
434
Oviedo, Basilio Vicente de, “Pensamientos y noticias para utilidad de Curas del Nuevo Reino de Granada …”,
in: Ebd., S. 363-391.
435
„Informe de 1776 relativo a la carta y mapa que en 1773 remitió a España el Gobernador Pedro José de Urrutia
sobre las Provincias de Nueva Andalucía y Barcelona”, in : Ebd., S. 475-481.
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Stellmacher, Zimmerleute, Schiffsbauer, Möbelmacher, Fischer, Segelmacher,
Lotsen, Mayorales, Gastwirte (pulperos), Hotelbetreiber (posadas),
Kleinkaufleute, Kerzenmacher, Weber und Flechter, Drogisten, Schnitzer,
Schneider, Schuster, Bäcker, Friseure, Bauleute, Transporteure, Schmiede,
Kunstschmiede, Silber- und Goldschmiede, Ledermacher, Zahnärzte, Bader,
Barbiere, Chirurgen und Feldscher sowie der Hebammen, Modistinnen und
Putzmacherinnen. Oft wurden Handwerke auch von ärmeren Spaniern und
Isleños sowie ihren mestizischen oder farbigen Nachkommen betrieben; nur die
reicheren Handwerke der Silber- und Goldschmiede oder der Schreiber und
Notare wurden von Kreolen kontrolliert. Die innere Struktur der Handwerke und
Gewerbe, die sich in Meister, Gesellen und Lehrlinge untergliederte, war durch
munizipale Ordenanzas geregelt. Die Städte hatten einen munizipalen
Baumeister (alarife).436 In viele Handwerken, etwa dem der Hafenarbeiter und –
transporteure, Bauunternehmer, Begräbnisanstaltenbesitzer und Sargmachereien
oder in allen Transportunternehmen (Ruderer, Maultiertreiber) wurden
Tagelöhner, Sklaven, Indios und Lehrlinge beschäftigt. Grundsätzlich galt, dass
kein Angehöriger der Elite, sofern er sich zur Hidalguía zählte, seinen
Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit in profanen Handwerken verdienen
durfte. Arbeit war schwarz oder farbig – je schwerer und schlechter bezahlt,
desto dunkler; die schwersten Arbeiten machten schwarze Sklaven. Die armen
„Weißen“, meist spät eingewanderte Isleños, waren zwar privilegiert durch ihre
Hautfarbe, litten aber an Arbeitslosigkeit und Mangel an Boden, wie Berichte
schon am Beginn des 18. Jahrhunderts hervorhoben.437
Die einzelnen Gewerbe bildeten Gremien und cofradías, Bruderschaften,
die einem bestimmten Heiligen gewidmet waren. Einige Handwerksprodukte,
wie feinere Stoffe, Leinenprodukte, katholische Heiligenfiguren, Glaswaren,
Iribarren, Mariana, “Historiar oficios. El oficio de alarife en la provincia de Caracas”, in: Rodríguez (comp.),
Visiones del oficio. Historiadores venezolanos en el siglo XXI, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 2000,
S. 195-210.
437
Olavarriaga, „Isleños sin trabajo“, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la
Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 213-215.
436
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Waffen, eine Reihe von Nahrungsmitteln, Marmor und Grabsteine, Kerzen,
Seife, Duftwässer (wie Eau de Cologne), feine Weine und Liköre, Branntweine,
Musikinstrumente, optische Instrumente (Brillen), Quincaillerie (Kleineisenteile
wie Messer, Macheten, Scheren, Wasserhähne), Tafelgeschirre, Uhren, Töpfe,
Porzellane und Hüte kamen aus anderen kolonialspanischen Provinzen (etwa aus
Neu-Spanien) oder aus Spanien und Europa. In den Küstenstädten kamen
größere Mengen europäischer Manufakturwaren oder billige Fälschungen
europäischer oder chinesischer Waren (pacotille) als Schmuggelgut über Saint
Thomas438, Curaçao439, die französischen Antillen, Jamaika oder Trinidad ins
Land. Gerade die Konzentration dieser Handwerke und die zunehmende
Vernetzung mit anderen Zentren machte Caracas zu einem wirklichen sozialen
Anziehungspunkt im Lande. Caracas wurde nicht nur zum Zentrum der Provinz
Venezuela und anderer Provinzen, sondern die Stadt kontrollierte mehr und
mehr die meisten imperialen Ressourcen, Bildung und Religion; in der
Entwicklung von Caracas fokussierte sich auch in gewisser Weise die
Geschichte des Landes.440
In den Städten entstand, zusammen mit den freien Berufen, eine wirklich
amerikanische Mittelklasse aus gesuchten Spezialisten. Nach den gängigen
Normen der Kastengesellschaft waren die meisten Handwerker Pardos. Ein
potentieller Teil dieser „Mittelklasse“ war im Dienstleistungsgewerbe allerdings
versklavt, was in gewissem Sinne auch für Tagelöhner und Lehrlinge galt.441
Viele der übergreifenden Infrastrukturen liefen je länger, desto deutlicher
über die Zentralregion des Landes zwischen Caracas, Valencia und La Guaira.
Vogt, Annette Christine, „Die Warenpalette im Karibikhandel des 19. Jahrhunderts“, in: Vogt, Ein Hamburger
Beitrag zur Entwicklung des Welthandels im 19. Jahrhundert. Die Kaufmannsreederei Wappäus im internationalen
Handel Venezuelas und der dänischen sowie niederländischen Antillen, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 2003
(Beiträge zur Unternehmensgeschichte, ed. Pohl, Hans, Bd. 17), S. 83-110, hier S. 105f.
439
Aizpurua, “Coro y Curazao en el siglo XVIII”, in: Tierra Firme 14 (1986), S. 229-240.
440
Waldron, Kathleen, A Social History of a Primate City. The Case of Caracas, 1750-1810, Ann Arbor: Xerox
University Microfilms, 1977.
441
Duarte, Carlos F., Muebles Venezolanos, siglos XVI, XVII, XVIII, Caracas: Grupo Editor 4, 1967; Duarte,
Materiales para la Historia de las Artes Decorativas en Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1971 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 104); Duarte, Historia del traje durante la época colonial
venezolana, Caracas: Fundación Pampero, 1984; Pérez Vila, Manuel, El artesanado: la formación de una clase
media propiamente americana, 1500-1800, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986; Ramírez Méndez,
Luis, La artesanía colonial de Mérida, 1623-1678, Mérida: Universidad de Los Andes, 1980.
438
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In Caracas selbst sammelten sich immer mehr zentrale Institutionen an. Der von
wenigen Elitefamilien kontrollierte Kakaohandel und der Schiffstransport des
Kakaos nach Mexiko brachte das nötige Silber in die ewig
zahlungsmittelunterversorgten internen Produktions- und Handelssysteme; viel
Silber floss sofort wieder über die Häfen in den Schmuggel mit ausländischen
Manufaktur- und Luxuswaren ab oder ging nach Spanien.
1751 wurde eine Postverbindung zwischen Maracaibo und Bogotá
etabliert; seit 1761 existierte auch eine Postverbindung zwischen Caracas und
Maracaibo (19 Tage), die chasquis (Läufer) kamen auch durch Coro und Puerto
Cabello; von Mérida auf der Strecke Maracaibo-Bogotá ging eine Linie nach
Barinas ab und die meist in Cumaná aus Europa oder von karibischen Inseln
eingehende Post wurden ebenfalls von Läufern über Land (wegen der Piraten)
nach Caracas transportiert. Als Gründungsdatum der Post in Venezuela gilt ein
Dekret des Generalkapitäns Pedro Carbonell vom 6. Oktober 1795 – angesichts
der Aufstände und Unruhen in der Karibik und der Angst vor fremden
Anlandungen an venezolanischen Küsten wurde die regelmäßige und schnelle
Informationsübermittlung immer wichtiger.442
Unter diesen Bedingungen vernetzten sich auch die Eliten des Landes
immer stärker, vor allem seitdem in Caracas 1725 das Seminario de Caracas in
die Real y Pontífica Universidad de Caracas umgewandelt worden war –
kreolische Rechtsanwälte und Kleriker verbrachten seitdem ihr Studiums sowie
einen Teil ihrer Zeit in der mittlerweile größten Stadt des Landes.443 Und
schließlich sorgten die imperialen Eliten und die vom Mutterland übertragenen
Institutionen für stärkere innere Vernetzungen der Gebiete an der atlantischen
Küstenfassade Südamerikas. Daran hatte nicht nur das Verteidigungs- und
Herrschaftsinteresse einen hohen Anteil, sondern auch die Passion des 18.
442
Vélez Salas, Francisco, Orígenes postales de Venezuela, Caracas: Imprenta Nacional, ²1949; Herrera,
Bernardino, “El correo”, in: Herrera, La expansión telegráfica en Venezuela 1856-1936, Caracas: Universidad
Central de Venezuela, 2001, S. 55-63.
443
Cuenca, Humberto, La universidad colonial, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1967; Leal, Ildefonso,
Historia de la Universidad Central de Venezuela, 1721-1981, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1981.
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Jahrhunderts für nützliches und nutzbares Wissen. Eine Reihe von Expeditionen
kam ins Land, auch Reisende, wie François Depons (1751-1812), Alexander von
Humboldt (1769-1859) und Aimée Bonpland.
Ganz im Sinne der Zeit begab sich der Bischof von Caracas, Mariano
Martí (1791-1792) zwischen 1771 und 1784 mit dem ganzen Enthusiasmus der
Aufklärung auf Inspektionsreisen durch die riesige Kirchenprovinz Caracas. Der
energische Bischof besuchte jeden Ort und erstellte einen Zensus; die
informationsgesättigte Darstellung seiner Reisen gibt Auskunft über alle Details
des Alltagslebens – sogar über die Sünden und Verbrechen.444
Das spanische Reich litt seit 1600 an einem Gebrechen aller Imperien, der
Überdehnung. Wie alle großen Reiche war auch das spanische Imperium in
Europa, in Amerika und sogar Asien (Philippinen) auf Information und
Kontrolle angewiesen und hatte dafür eine imperiale Elite sowie eine
Dienstanweisung, die Recopilación de las Leyes de Las Indias (1681)
geschaffen. Für das 16. und notdürftig auch für das 17. Jahrhundert erfüllten
imperiale Eliten, Anweisungen und Gesetze im Namen des Königs ihre
Funktionen – zumal es langsame, aber recht wirksame Kontrollmechanismen in
diesem Apparat gab (unter anderem die Inquisition).
Das 18. Jahrhundert mit seinem dynamischen sozialen und
wirtschaftlichen Wandel im Nordatlantik brachte für Amerika Verwicklungen in
eine ganze Kette internationaler Fast-Weltkriege in monarchischer Form (nur
die wichtigsten: Spanischer Erbfolgekrieg 1700-1713; Österreichische
Erbfolgekriege 1739-1748, auch als „Asiento-Krieg“ bekannt; Siebenjähriger
Krieg 1756-1763; Krieg um die Revolution der britischen Kolonien in
Nordamerika 1779-1783; Revolutions- und Napoleonische Kriege 1792-1815).
Die Kriege enthüllten deutlich die Ineffizienz des imperialen Regierungs-,
Kontroll- und Informationssystem sowie der unelastischen Schutzmechanismen
Waldron, “The Sinners and the Bishop in Colonial Venezuela: The Visita of Bishop Mariano Martí 1771-1784”,
in: Lavrin, Asunción, Sexuality and Marriage in Colonial Latin America, Lincoln/London, 1989, S. 156-177;
Rodríguez, Babilonia de pecados -- : norma y transgresión en Venezuela, siglo XVIII, Caracas, Venezuela : Alfadil
Ediciones, 1998 (Colección Trópicos ; 60).
444
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mit ihrer personalistischen Fixierung auf den fernen König. Der Zwang zu
inneren Reformen wegen äußerer Konflikte stieg an, die traditionellen Mühlen
der imperialen Staatsmaschine mit ihren gigantischen Schriftverkehr und ihrer
bürokratischen, rituellen Steifheit waren zu langsam geworden (auch in ihren
durchaus vorhandenen Fähigkeiten zur Selbstüberprüfung und Korrektur). Nach
dem Chaos des Spanischen Erbfolgekrieges 1700-1713 entstand nach und nach
eine moderne Elite im spanischen Imperium. Während des gesamten 18.
Jahrhunderts für das spanische Imperium aber vor allem Kriege und Reformen
wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden.445 Die wichtigsten
Reformer waren Militärs – was dem Ganzen einen fatalen Zug übertriebenen
Zentralismus gab.
Zunächst kam es nach dem Spanischen Erbfolgekrieg zum Vollzug des
Dynastiewechsels auf dem Thron in Madrid (zugleich Symbol für eine
Dynamisierung, die in Spanien schon 1670 begonnen hatte) – von Habsburgern
zu Bourbonen. Grosso modo gesagt, ging es bei den seit 1717 deutlich
sichtbaren zentralistischen Reformtendenzen der Bourbonen um eine
absolutistische Modernisierung des Imperiums, verbunden mit einer „zweiten
Conquista“ bürokratischen und wirtschaftlichen Charakters, eine Art gesteuerter
„Revolution von oben“, vielleicht sogar um eine „wirtschaftliche Reconquista“
(Wiedereroberung) Amerikas. Gerade in der Karibik, auf den im Vergleich zu
den riesigen Flächenkolonien Spaniens kleinen Inseln Jamaika und SaintDomingue zeigte sich, was dezentraler Wirtschaftsliberalismus und Sklaverei
für Reichtum schaffen konnten. Jamaika und Saint-Domingue versorgten die
halbe Welt mit Zucker und Kaffee.
Spanien bedurfte einer intellektuellen und institutionellen
Neubegründung. Das Imperium wurde immer öfter als Ort der “spanischen
Nation zu beiden Seiten des Atlantiks“ bezeichnet. Allerdings war Amerika in
Cayuela Fernández, José ; Pozuelo Reina, Ángel, „Un necesario prefacio histórico“, in: Cayuela Fernández;
Pozuelo Reina, Trafalgar. Hombres y naves entre dos épocas, Barcelona : Editorial Ariel, 2004, S. 15-43 (darunter
Rivalität zwischen Spanien, Frankreich und Großbritannien (ab 1708) auf dem Meer und um Amerika, Konflikte
des 18. Jahrhunderts, Familienpakt, Borbonen, der König „der zwei mal regierte“ (Philipp V.) u.v.a.m.
445
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der von den Reformeliten angestrebten gemeinsamen nationalen Monarchie
längst in vielen Belangen wichtiger geworden als das so genannte Mutterland.
Der Metropole ging es deshalb vor allem um eine höhere Beteiligung Spaniens
und der spanischen Großhändler am atlantischen Handel, das heißt, um die
Zurückdrängung des kreolisch-englisch-französisch-dänisch-niederländischen
Schmuggelhandels bzw. des Fremdhandels überhaupt. Die englischen
Privilegien aus dem Erbfolgekrieg waren den Bourbonen beiderseits der
Pyrenäen ein Dorn im Auge.
Die Reformen sollten die Aufbringung und direkte Abschöpfung höherer
Steuern und Zölle sowie Monopolgewinne (Tabak, Kakao) in Amerika und ihre
Abführung nach Spanien ermöglichen, mindestens aber ihre Verwendung für die
Verteidigung Amerikas durch Festungen, in Amerika unterhaltene Truppen und
Milizen, das heißt, wir haben hier eine Variante des empire on the cheap.446
Dafür bedurfte es neuer und effizienter Institutionen. Schließlich ging es
auch um die Zurückdrängung des politischen Einflusses der Kreolen im lokalen
Bereich und um den Versuch, den kreolischen Oligarchien einen höheren Anteil
an den imperialen Kosten aufzubürden, was in gewisser Weise konträre Ziele
waren. Mit den in Caracas 1766 von Generalkapitän und Gouverneur
gegründeten milicias disciplinadas (batallones de blancos, pardos und morenos)
bekamen die Kreolen mehr Einfluss. Die kreolischen Eliten Venezuelas, vor
allem die von Caracas, Valencia, Cumaná und Maracaibo hielten sich längst für
die besseren Spanier als die europäischen Spanier selbst – ihr ganzes Denken
war hispanistisch, obwohl die Provinzen Venezuelas voll von Indios und
Sklaven aus Afrika sowie ihren Nachkommen war; einige davon auch Frucht der
illegitimen Verbindungen mit den kreolischen Eliten selbst - von der Masse der
446
Suárez, Santiago Gerardo, Las milicias. Instituciones militares hispanoamericanas, Caracas, Academia Nacional
de la Historia, 1984; Kuethe, Allan J., “Las milicias disciplinadas en América”, in: Kuethe; Marchena Fernández,
Juan (eds.), Soldados del Rey. El ejército borbónico en América colonial en vísperas de la Independencia, Castelló
de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I, 2005, S. 101-126. Zu den Risiken der Bewaffnung von Teilen
der Kolonialbevölkerung (auch ehemaligen Sklaven) aus spanischer Sicht, siehe auch: Kuethe, “Carlos III,
absolutismo ilustrado e imperio americano”, in: Ebd., S. 17-30.
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Ortsbezeichnungen des Landes ganz abgesehen, die waren und sind alle
indianisch.
Was waren die allgemeinen Folgen dieser intendierten Ziele? Die Utopie
der Reformer war ein modernes „nationales“ Imperium, eine neue Monarchie
der „Spanien zu beiden Ufern des Atlantiks“. Allerdings bergen vom Zentrum
ausgehende Reformen immer das Risiko, dass lokale Eliten, die alter Privilegien
verlustig gehen oder das auch nur fürchten, sich zur Wehr setzen und ihre intime
Kenntnis von Herrschaft, Macht und Klientelbeziehungen ausnutzen, um selbst
die Herrschaft zu erringen.
In diesem Sinne bargen das erste (höhere Beteiligung Spaniens am
Atlantikhandel) und vierte Ziel (Zurückdrängung der lokalen Eliten aus der
höheren Kolonialadministration) überall dort, wo es nicht gelang, die lokalen
kreolischen Oligarchien zur aktiven Partizipation zu bewegen, die Möglichkeit
politisch ausgetragener Interessenkonflikte zwischen Oligarchien und einzelnen
Vertretern der spanisch dominierten oberen Kolonialverwaltung oder des
Großhandels (Monopole) oder gar zwischen regionalen Oligarchien und
Metropole generell. Letzteres vor allem, wenn es gelang, eine andere territoriale
Grundlage für das politische Modell der „Nation“ zu konstruieren (etwa eine
Provinz oder irgend ein anderes Territorium) und die Souveränitätskonflikte
zwischen regionalen Oberschichten und metropolitaner Elite „national“ (was in
diesem Sinne bedeutete, sich als „bessere“ Spanier zu deklarieren und EuropaSpanier als „Ausländer“ zu stigmatisieren und damit die Gewalt gegen sie zu
legitimieren) aufzuladen. Aufklärungsschriften, Literatur, kreolische Mentalität,
politische Rhetorik, neue Staatsmodelle, Ideen und Publizistik der USARevolution und der französischen Revolution boten zur positiven Konstruktion
einer „nationalen“ Wir-Gemeinschaft vielerlei Mittel und Instrumente. Bei
genauerem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass diese „national-hispanistischen“
Diskurse geführt wurden von Angehörigen der Eliten der einzelnen
venezolanischen Städte, und dass sie in auch ein starkes konservatives Element
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hatten – nämlich die Bewahrung der alten Autonomie der Cabildos gegen die
zentralistischen Zumutungen, die aus Spanien gekommen waren und die noch
kommen konnten.447 Was Wunder, daß die spanischen Behörden zunächst eine
Nachrichtenabschottungspolitik zu treiben suchten und gerade die Engländer
etwa von Jamaica oder Barbados oder (seit 1797) von Trinidad aus Uhren mit
der Aufschrift „Freiheit für Amerika“ oder den Text des Contrat Social von
Rousseau in den spanischen Kolonialbereich einschmuggelten?
Diese Interessenkonflikte bargen auch immer die Gefahr der Verbindung
von Kreolen zu inneren und äußeren Gegenmächten in sich. Die seit der zweiten
Jahrhunderthälfte neugeschaffenen - und durch kreolische Pflanzer-Offiziere
dominierten - Milizen stellten dabei immer die potentielle Möglichkeit dar, als
Instrumente für die Austragung der Interessenkonflikte genutzt zu werden. Der
Widerstand gegen die Maßnahmen der Zentrale mußte auch die Aufnahme
oppositioneller Ideen befördern, Verschwörungen waren zu befürchten. Nicht
von ungefähr ist die Kolonialgeschichte voll von Beispielen über hochrangige
Kreolen als Drahtzieher von Tumulten, Straßenaufläufen (riots) sowie
regelrechten Aufständen des Stadtpöbels gegen Reformmaßnahmen. Gerade die
Kreolen der Provinzstädte an entlegenen Küsten oder im Innern Guayanas ließen
sich ihre Schmuggelgeschäfte nicht gern verderben, zumal Spanien nicht in der
Lage oder willens war - und schon gar nicht zu Preisen wie die Holländer oder
Engländer - ihnen die gesuchten Waren zu beschaffen.
Die Opposition konnte auch bis zur Verbindungsaufnahme mit
Engländern oder Holländern bzw. Franzosen in der Karibik selbst führen. Solche
geflohenen Kreolen waren extrem nützlich bei der Planung von Invasionen
dieser Mächte gegen das spanische Imperium. Das Paradebeispiel ist Francisco
de Miranda, der nicht umsonst der Spionage für die Briten in Havanna angeklagt
war, wo er eine zeitlang als Offizier gedient hatte (in Wirklichkeit hat er bis
Hébrard, Véronique, „Le Venezuela au siècle des réformes (1739-1808)“, in : Hébrard, Le Venezuela
indépendant. Une nation par le discours – 1808-1830. Préface de François-Xavier Guerra, Paris, Montréal :
L’Harmattan, 1996, S. 17-34.
447
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1784 keine Spionage für Engländer, sondern für Spanier in Jamaika
betrieben).448
Das zweite Ziel (Verdrängung des ausländischen Schmuggels) wurde
einerseits zum Grund kreolischer Unzufriedenheit überall dort, wo der
Schmuggel weit verbreitet war, andererseits - und das stellte zunächst die
deutlichere Hauptgefahr für das imperiale Spanien dar - wurde es zum Grund für
äußere Kolonialkriege und Großmächtekonflikte. Die „protestantischen
Seemächte“ England und Niederlande ließen sich nicht so einfach verdrängen.
Die Geschichte besonders der Karibik ab 1739-1748 (guerra del asiento =
Asiento-Krieg; in England auch: War of Capt’n Jenkins’ Ear) bis 1825 (Ende
der Unabhängigkeitskämpfe) zeigt neben den offiziellen Kriegen eine
ununterbrochene Kette von Konflikten, Rebellionen, Revolutionen,
Vertreibungen und Kleinkriegen (Korsaren, Piraten). In diesem Zusammenhang
stellte die kreolische Parole nach „Freihandel“ eine eminent politische
Forderung dar.
Das dritte Ziel (höhere Steuereinnahmen des Staates) führte nach dem
verstärkten Ausbau des Steuereinziehungssystems der Territorialverwaltungen
zur Belastung der kleineren Binnenhändler und freier Bauern bzw. von
ehemaligen Sklaven, die sich zu Pächtern, Kneipenbesitzern (pulperos) oder
kleinen Transportunternehmern (arrieros; Besitzer von Lanchas, Kanus und
Bongos) emporgearbeitet hatten - also vor allem der Unterschichten. Oftmals lag
das Problem ganz einfach darin, daß kein oder nicht genügend Bargeld
vorhanden war und lokale Wirtschaften oft mit verschiedenen Typen von
Ersatzgeld oder Tausch Ware gegen Ware beziehungensweise Sklavengegen
Waren operierten. Grundsätzlich aber gilt, dass es in Venezuela wegen der
massiven Kakaoexporte nach Mexiko immer ausreichend mexikanisches Silber
448
Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas. Eine Biographie, Münster/Hamburg: LIT Verlag,
1995 (Hamburger Ibero-Amerika Studien, 5); Hernández González, Manuel, La ruptura de Miranda ….
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gab, meist in Form einer inoffiziellen Münze ohne fixierten Wert, genannt
macuquina.449
Die Venezolaner wehrten sich gegen höhere Steuern. In direkter Folge
kam es zu Rebellionen und Aufständen antifiskalischen Charakters, die sich sehr
schnell politisierten. Die von Spaniern kontrollierten
Monopolhandelsgesellschaften verprellten auch viele Kreolen, wie etwa im
Falle des Kakaos von Venezuela, wo einige ihrer Vertreter zwar an den
Gewinnen der Guipuzcoana partizipierten, aber die Masse der kleineren und
mittleren Kakaoanbauer durch die niedrigen Aufkaufpreise ausgeschlossen blieb
und durch die Verfolgung des Schmuggels belästigt wurde.
Besonders prekär war das Verhältnis zu Großbritannien. Unter dem
Aspekt innere Reformziele-äußere Kriege kann das Verhältnis zwischen
Großbritannien und Spanien im 18. Jahrhundert als das von Aktion und
Reaktion beschrieben werden. Das umso mehr, als eine der Grundstrategien der
thalassokratischen Briten darin bestand, immer die neuralgischen Schnittpunkte,
die die Beherrschung von Seeräumen und Zugängen zu Imperien sicherten, zu
erobern. Für Venezuela bedeutete diese Strategie vor allem – wie sollten die
wenig besiedelten Insel vor den Küsten (wie Margarita und Trinidad) gegen
Angriffe gesichert werden? Spanien verfügte über katastrophalen Erfahrungen
aus Siebenjährigen Krieg (1756-1762) als Havanna auf Kuba durch die Briten
erobert worden war.
Die Versuche Spaniens, den englischen Handel und Schmuggel
einzudämmen, führten ab 1739 zur Guerra del Asiento. Bald nach dem
Friedensschluß und dem Vertrag von Utrecht 1713 neue Probleme zwischen
Spanien und England ergeben, die vor allem im Versuch mündeten, das
spanische Monopol über Amerika durch ein System der Küstenwachen und des
offiziell geförderten Korsarentums, die guarda-costas und corsarios
durchzusetzen. Dabei wurde der endemische Schmuggel der Holländer, der
449
Stohr, Tomás, Monedas de Venezuela, Caracas: Petróleos de Venezuela, 1980; Stohr, Macuquinas de
Venezuela, Caracas: Armitano Editores, 1992.
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Franzosen, der Dänen und der Nordamerikaner zum Vorwand genommen, um
spanischerseits die Bestimmungen des Vertrages von Utrecht zu unterlaufen was sich vor allem gegen England richten mußte. Die spanische Krone hatte es
im Falle der South Sea Company mit deren offizieller Konzession, ihren großen
Warenlagern und Sklavenfaktoreien (etwa in Buenos Aires) und
Niederlassungen relativ einfach. Die Company war einfach vom guten Willen
der Spanier abhängig, weil sich ihre Niederlassungen und Installationen im
spanischen Machtbereich befanden. Die Direktoren der Kompanie bevorzugten
deshalb zunächst, obwohl ihnen der Schutz durch britische Kriegsschiffe
durchaus zustand, die Angelegenheiten durch Druck auf den britischen
Botschafter in Madrid zu regeln. Als das nichts fruchtete, kam es von englischer
Seite zunehmend zu ernsten Klagen über Behinderungen des „freien“ Handels.
Für die spanischen Behörden sah die Sache ganz anders aus. Die preiswerten
und guten englischen Waren, und vor allem der Schmuggel, untergruben die
spanischen Monopole.
Mit dem Schmuggel war auch die Furcht vor illegalen Landungen der
Engländer (und Schmuggler anderer Nationen) in verschiedenen schwer
zugänglichen Gebieten verbunden (wie in den Guayanas, der großen Insel
Trinidad und den ABC-Inseln). Immerhin waren - nach heutigen Maßen – mehr
als 3000 km Küstenlinien zu bewachen, und die Unzahl der verlorenen Buchten,
Flussarme, Inselchen und Cayos war überhaupt nicht zu kontrollieren.
Der spanischen Krone gingen Gewinne verloren durch den aus ihrer Sicht
illegalen Farbholzeinschlag der Briten vor allem in Yucatán, am Golf von
Campeche, aber auch durch Schmuggel an den Karibikküsten von Honduras,
Nicaragua, Guajira und im Guayanagebiet. Dieses Holz- und
Schmuggelproblem verband sich mit dem Problem der mit den Spaniern
verfeindeten Indios bravos auf der Halbinsel Goajira, den Kuna-Indios des
Darién, den Miskito-Indios an der Mosquitoküste und den Kariben der Guayana.
Dort hatte sich die spanische Herrschaft nie ganz durchsetzen können, weil sich
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indianische Widerstands- und Fluchtkulturen mit Niederländern, Engländern
oder Franzosen verbündeten. Die mit nichtspanischen Mächten verbündeten
Kariben fingen indianische Sklaven aus dem spanischen Kolonialbereich.
Generell untergrub ihr erfolgreicher Widerstand die spanische Kolonialordnung;
auch Niederländer, Franzosen und Engländer hatten einige Schwierigkeiten
damit.
Die Spannungen zwischen Großbritannien und Spanien wuchsen, die
South Sea Company und englische Kaufleute reichten wegen spanischer
Beschlagnahmungen immer längere Listen finanzieller Forderungen an den
Board of Trade. Lord Walpole war zunächst Gegner eines Krieges. Er mußte
unter dem Druck der englischen Opposition450 - hier zeichnete sich unter
anderen der junge William Pitt, später der „Ältere“ genannt, aus - und großer
Teile der Londoner Kaufmannschaft mehrere Geschwader gegen das spanische
Imperium aussenden. Erstmals nach einer langen Friedenszeit von 26 Jahren
erklärte Großbritannien im Oktober 1739 Spanien wieder den Krieg. Mindestens
drei große und viele kleine Konflikte sollten im weiteren Verlauf des 18.
Jahrhunderts folgen. Dieser Krieg von 1739 wurde ausschließlich aus
handelspolitischen Interessen451 begonnen. Der Asiento-Krieg verquickte sich
auf dem europäischen Kontinent schnell mit den österreichischen
Erbfolgekriegen (in borussischer Tradition: „Schlesische Kriege“).
Eines der wichtigsten Ziele Spaniens in der Zeit der frühen Bourbonen
war der weitere Ausbau einer kriegstüchtigen Flotte, um die atlantischen
Verbindung sowie den Schutz und die Kontrolle der amerikanischen Koloniene
zu sichern. Zugleich aber versuchte die Krone im Krieg 1739-1748 eine direkte
Konfrontation auf See mit den stärkeren Engländern zu vermeiden, deren extrem
gedrillte Mannschaften dreimal schneller schossen als spanische Artilleristen.
Um die Aufhebung des Asientos für die englische South Sea Company und aller
450
Die Opposition nahm besonders den registro en alta mar (Kontrollrecht gegenüber vermeintlichen
Schmugglern auf hoher See) bzw. seine Übertreibungen aufs Korn.
451
Potthast, Die Mosquitoküste..., S.121.
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anderen Handelsbestimmungen und die Unterdrückung des mit dem Asiento
verbundenen englischen Schmuggels im spanischen Amerika zu erreichen,
setzte die politische Führung des Imperiums stärker auf lokale Kräfte, worin sich
auch eine der Reformintentionen manifestierte – die Kreolen in Amerika sollten
einen Teil der Verteidigungsaufgaben und –lasten übernehmen.
Jedenfalls sollten im Asiento-Krieg die Briten in der Karibik gebunden
werden, damit Gibraltar und Menorca in Europa zurückerobert werden konnten.
Dabei stützte sich die spanische Militär- und Marineführung in der Karibik vor
allem auf das recht starke Defensivverteidigungssystem der Festungen und
regionalen Marineeinheiten sowie lokale Korsaren und Küstenwachen.452
Die Briten setzen auf Schnelligkeit, Drill und neue taktische Verbände
sowie Strategien, die man am besten als Amphibien-Kriegführung mit
Infanterieverbänden bezeichnen kann (Marineinfanterie). Die Geschwader ihrer
Majestät brachen im Juli 1740 aus England auf, „um Spanien auf dem Umweg
über Westindien anzugreifen“, wie es schon Jonathan Swift 1710 gefordert
hatte.453 Der Hauptschlag sollte sich gegen Cartagena454 richten, die zentrale
Sicherungsfestung der nördlichen Fassade Südamerikas (siehe die Karte bei
Marchena, S. 56). Admiral Chaloner-Ogle und Kommodore Anson nahmen den
Weg über das Kap Horn, um Angriffe gegen Panamá und Portobelo zu führen,
um die Südroute der Silberflotte zu stören und um britische Präsenz im Pazifik
zu demonstrieren.
Das Geschwader unter Admiral Vernon dagegen richtete seinen Kurs
direkt auf die Karibik, um den Angriff gegen Cartagena de Indias zu führen.
Zunächst ging man in London davon aus, daß Kreolen und Indianer im
spanischen Amerika nur auf die Befreiung durch die Engländer warteten und
hatte eine Strategie des Angriffs gegen die Nervenzentren Panamá/Portobelo,
452
Zapatero, Juan M., La Guerra del Caribe en el siglo XVIII, San Juan de Puerto Rico: Instituto de Cultura
Puertorriquena, 1964, figura 1: Las llaves de los dominios de España en el Caribe, S. 8f.
453
Pares, Richard, War and Trade in the West Indies, 1739-1763, London/Edinburgh 1963, S. 395.
454
Kuethe, La batalla de Cartagena de 1741: Nuevas perspectivas, in: Historiografía y bibliografía americanistas,
18 (1974), S. 23ff; Marchena Fernández, “Sin temor de rey ni de dios. Violencia, corrupción y crisis de autoridad
en la Cartagena colonial”, in : Kuethe; Marchena Fernández (eds.), Soldados del Rey ..., S. 31-100.
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Cartagena und Havanna entworfen, verbunden mit einer Reihe von
Überraschungsschlägen gegen die südamerikanische Pazifikküste und Santiago
de Cuba. Die britische Flotte richtete mehrere Angriffe auf Cartagena de Indias,
um den erwarteten Aufstand schnell auf ganz Südamerika übergreifen zu lassen.
Kommodore Anson, ein ehemaliger Korsar, griff von Süden her Panamá an; er
hatte freie Hand zur Unterstützung von Aufständen.455 Später galten die Angriffe
auch Kuba, weil eben die Region La Habana und Matanzas ein strategisches
Nervenzentrum des amerikanisch-spanischen Imperiums darstellte und auf den
Werften die besten Schiffe der spanischen Marine gebaut wurden.
Britische Marineeinheiten unter Vernon, unterstützt durch den
Gouverneur von Jamaika, Wentworth, trugen Attacken großen Stils auf
Cartagena de las Indias vor. Besonders der dritte Angriff vom 13. März bis zum
20. Mai 1741 war ohne Vorbild in der Kriegsgeschichte: 140 Kriegschiffe, 1112000 Mann Truppen, darunter 3600 Nordamerikaner, waren am Unternehmen
gegen die schwerbefestigte Stadt beteiligt. Der Angriff aber scheiterte. Am Ende
stand einer der gloriosen spanischen Siege. Für die spanische Krone und ihre
Militärfachleute bestätigte sich das imperiale Defensivkonzept.
Der Frieden von Aachen (1748) beendete die Feindseligkeiten. Besonders
die schwere Niederlage der gutausgerüsteten und zahlenmäßig überlegenen
Briten vor Cartagena bewies die Funktionsfähigkeit des amerikanischen
Defensivsystems. Die Küstenlinie Venezuelas von der Festung San Carlos bei
Maracaibo über Puerto Cabello bis zu den Festungen in Guayana, am Orinoco,
war Bestandteil des Verteidigungssystems von Cartagena. Dieses System hatte
im Großmachtkonflikt des 18. Jahrhunderts gewissermaßen seine Feuertaufe
überstanden. Der Angriff zeigte aber auch - und das übersah man in Spanien
weitgehend - die Fähigkeit der Briten, große Expeditionsflotten, die sich auf
eine gutorganisierte ökonomische und demographische Basis in Nordamerika
455
G. Anson, A Voyage around the World in the Years 1740-1744 ..., London 1776 (seit 1748 bereits die 15.
Auflage!); English Instructions to George Anson to aid the Spanish Colonists in Revolt, 1740, in: A.C. Wilgus,
Readings in Latin American Civilization, New York 1946, S. 163ff.
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sowie Jamaika stützen konnten, schnell und überraschend zu mobilisieren und
mit ihnen nach abgestimmten Plänen weltweit zu operieren. Im Grunde waren
die Briten trotz dieser Niederlage in einer günstigen Situation. Das wurde der im
Fall von Portobelo deutlich, den die Spanier aber im Taumel des Sieges von den
Spaniern ziemlich herunterspielten. Die Briten konnten große Flotten- und
Truppeneinheiten auf bestimmte Punkte des riesigen spanischen Kolonialreiches
- frei nach ihrem Willen - konzentrieren, während die Spanier ihre Kräfte auf
eine Reihe von Festungen und Marinestützpunkten verteilen mußten. War die
Generalprobe für die Briten mißlungen, so sollte die Premiere umso
überzeugender ausfallen.
Das spanische Defensivsystem dagegen war abhängig von viel Geld, den
Situados und Donativos, das man durch die Reformen erst eintreiben wollte und
das oft im bürokratischen Dschungel versickerte. Es wurde auch zunehmend
abhängiger von der Beteiligung der Kreolen an der aktiven Verteidigung. Die
Anlagen erforderten auch eine ständige Erhaltung und Modernisierung sowie
Erneuerung der stehenden Garnisonen des ejército de América. Das kostete
ebenfalls viel Geld und brachte eine Menge von organisatorischen, sozialen und
wirtschaftlichen Problemen mit sich. Eines der wichtigsten Probleme waren die
Milizen zur Verteidigung Amerikas.456
Nach dem Abschluß des Friedens von Aachen (1748) begann eine relativ
lange Friedenszeit (1748-1761) für das spanische Imperium und die vielleicht
beste Zeit für Wirtschaftsmaßnahmen der bourbonischen Reformer. Unter dem
nunmehr herrschenden Ferdinand VI. und seinem Kriegs-, Finanz-und
Indienminister, Marqués de la Ensenada, kam es zu Erfolgen auf vielen
Gebieten, vor allem durch eine einigermaßen ausgewogene Finanzpolitik.
Ensenada war auch Marineminister. Spanien führte ein Flottenbauprogramm auf
Kosten des spanischen Landheeres aus. In Amerika kam es zu einer
konsequenteren Personalpolitik und zur Abschaffung der Praxis des
456
Kuethe; Marchena Fernández (eds.), Soldados del Rey ..., passim.
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Ämterverkaufs (1750). Die Stellung der Vizekönige wurde gestärkt. Ein
umfangreicher Beamtenapparat der Fiskalverwaltung zwecks effektiverer
Einziehung der Steuern wurde aufgebaut, dazu kam eine Reihe von visitas, das
heißt administrative Kontrollreisen, die oft mit wissenschaftlichen Forschungen
und Datenerhebung verbunden waren.
Zugleich verfolgte Ferdinand eine andere Englandpolitik als sein
Vorgänger und berief immer wieder britenfreundliche Minister. Die Folgen
dieser Anglophilie in Kombination mit der Sparpolitik für das Landheer trafen
vor allem das Verteidigungssystem der Festungen. Auch die kombinierte
Verteidigung durch Veteranentruppen und städtisch-kreolische Milizen wurde
kaum weiterentwickelt. Einerseits weil man sich auf die Erfolge bei der
Verteidigung Cartagenas berufen konnte, andererseits weil gerade die
spanischen Reformer in Madrid durchaus die Gefahren erahnten, die sich für die
Kolonien aus einer Bewaffnung und militärischen Ausbildung der Kreolen
ergeben könnten. Zudem wollte die Krone die neuerbaute Flotte nicht in einem
Krieg gegen England riskieren. In dieser Zeit wurde endgültig die
unterschwellige Idiosynkrasie einer Trennung der imperialen Oberschichten in
„Kreolen“ und „Spanier“ soweit politisiert, daß sie sich als scharfe Gegensätze
verfestigten.
Nach dem Tode Ferdinands VI. bestieg 1759 Karl von Neapel als Karl
III.457 den Thron in Madrid. Der König hegte zunächst Hoffnungen, die Politik
seines Vorgängers zu können. Diese Hoffnung allerdings wurde durch die Siege
der Briten während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) in Nordamerika
(Louisbourg) und in der Karibik (Einnahme von Guadeloupe) zunichte gemacht.
Spanien geriet unter außenpolitischen Druck. Karl III. mußte eine totale
Überlegenheit Großbritanniens und Preußens befürchten. Spanien würde dann
dem mächtigen Feind in Amerika allein gegenüber stehen. Zumal sich der
457
Karl war der älteste Sohn von Elisabeth Farnese. Bis 1734 war er Erzherzog der Toskana und von 1734 bis 1758
König beider Sizilien, siehe: Pietschmann/Bernecker, Geschichte Spaniens ..., S. 180.
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englische Verbündete, Portugal, die Lage zunutze machte, und auf den Río de la
Plata vorstieß.
In dieser politischen Lage kam 1761 es zur Unterzeichnung des III.
Familienpaktes der französischen und spanischen Bourbonen. 1762 Spanien
wurde dadurch und wegen der Feindschaft Karls III. gegen England in einen
neuen, den Siebenjährigen Krieg, gezogen. Dieser Krieg war wieder ein FastWeltkrieg. Er währte von 1756-1763. Erst danach setzte der Prozeß der
intensivsten Reformen auch in Amerika ein, meist zusammengefasst unter dem
Begriff der karolinischen Reformen: Militärreformen, Verwaltungsreformen,
Handelsreformen und Territorialreformen.
Es hatte in Venezuela aber schon frühere einleitende Schritte gegeben, die
auch im Zusammenhang mit der Vernetzung des Territoriums und seiner
Bewohner unter der Führung des Zentrums Caracas standen. So zum Beispiel
die Schaffung des Vizekönigreiches Neu-Granada (Nuevo Reino de Granada)
1717, endgültig 1739.458 Die früheste interne Reform auf dem Gebiet des
heutigen Veezuelas stand ganz im Zeichen des hochgeschätzten Symbols der
Kolonie – des Caracas-Kakaos. Grundvoraussetzung war ein dynamischer
Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion vor allem der Peripherien des
spanischen Imperiums in Amerika im 18. Jahrhundert (Karibik, Atlantikküsten,
Río de la Plata, Nordmexiko). Venezuela-Kakao der Criollo-Sorte war wegen
seines Wohlgeschmacks, seiner Qualität und seiner Mildheit (die mexikanischen
Kakaotrinker brauchten deshalb weniger Zucker im Vergleich zum bittereren
Guayaquilkakao aus Ekuador) in Mexiko und Spanien ein sehr gefragtes und
relativ teures Exklusivprodukt. Die kreolischen Eliten der Küstenstädte und
Täler, aber auch viele einfache Menschen oder sogar Sklaven betrieben
Kakaoanbau (und Schmuggel). Die größten Kakaoproduzenten – die Mantuanos
oder grandes cacaos von Caracas (beziehungsweise dem Tuy-Tal in Barlovento
im Osten der Stadt, in Cumaná oder in Coro) und die großen Orden, wie Jesuiten
Briceño Perozo, “Visorrey Habemus”, in: Olavarriaga, Instrucción general y particular del estado presente de la
Provincia de Venezuelas en los años de 1720 y 1721 ..., S. 41-51.
458
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an den Südküsten des Maracaibosees, hatten eigenständig eine koloniale
Monopolwirtschaft geschaffen und karibische Infrastrukturen, die es ihnen
erlaubten, den Kakao in Mexiko, der damals reichsten Wirtschaft der Welt,
abzusetzen. Um diese koloniale Eigenleistung der Kreolen unter Kontrolle zu
bekommen, Steuern abzuschöpfen und einen Teil des Exportes nach Spanien
umzuleiten, schlugen Unternehmer aus dem Baskenland (Provinz Guipuzcoa)
der Krone die Gründung einer Handelskompanie mit Monopolcharakter vor.
Handelskompanien wurden in den merkantilistischen Wirtschaftslehren des
Absolutismus als vorsichtig dezentralisierendes Allheilmittel betrachtet, um die
Preise in der Kolonie zu drücken, beim Verkauf in Spanien Gewinne zu machen
(die Ausgaben der Krone zu mindern), die Produktion auszuweiten, den KakaoSchmuggel zu beenden, die Küsten zu schützen und auch noch Negersklaven
und europäische Waren und Güter nach Venezuela zu bringen, all dies in einer
quasi regierungsamtlichen und rechtlich durch königliche Dekrete verbrieften
Stellung. All dies, ohne neue Bürokratien bezahlen zu müssen. Theoretisch
sollte die Compañía Guipuzcoana, auch Caracas-Kompanie oder Baskische
Kompanie genannt, den Handel venezolanischen Kakaos nach Spanien
übernehmen und im Gegenzug spanische Waren sowie Sklaven nach Venezuela
bringen.459 An den lukrativen Mexikohandel der Eliten von Caracas und
Maracaibo getrauten sich die Reformer zunächst nicht. Als Gegenleistung für
diese Monopole verpflichtete sich die Kompanie, vor den Küsten zwischen
Araya und dem Golf von Venezuela, eigene Schiffe patrouillieren zu lassen, den
lebhaften Antillen-Schmuggel auszuschalten und die regionale Wirtschaft zu
entwickeln. 1728 wurde die Kompanie gegründet; ihr Sitz war Caracas/La
Guaira (was nicht zuletzt dazu beitrug, die zentrale Rolle von Caracas zu
unterstreichen). In einer ersten Phase, von den 1720ern bis Mitte der 1750er
Jahre, ging alles relativ gut; auch wenn bald deutlich wurde, dass die Kompanie
ihre Ziele der Versorgung Venezuelas mit europäischen Gütern sowie Sklaven
Aizpurua, Curazao y la costa de Caracas …, passim; Sonesson, Birgit, Vascos en la diáspora. La emigración de
La Guaira a Puerto Rico, 1799-1830, Sevilla: CSIC, 2008.
459
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nicht erfüllen konnte (weil die zu teuer waren und der Handel unter Kontrolle
von Engländern, Portugiesen, Niederländern, Dänen sowie allgemein
Schmugglern stand), die Einkaufspreise für Kakao dagegen immer mehr drückte
sowie mit den kreolischen Eliten, aber auch mit einfachen Angestellten vor Ort
in Konflikte geriet (mit dem weitverbreiteten Kakaoschmuggel sowieso). Aus
Sicht der Kakaoproduzenten in Venezuela war die Monopolkompanie eigentlich
von Anfang an eine zusätzliche Belastung für Kakaohacendados und Kaufleute
(sowie Transporteure). Im Grunde handelte es sich um eine zusätzliche Steuer,
mit der neben den Gewinnen der Kompanieteilhaber (die Guipuzcoana war eine
von den Krone kontrollierte Aktienkompanie, in der auch Krone, die königliche
Familie, spanisch-baskische Großkaufleute und eine Reihe von venezolanischen
Elitefamilien Anteile hielten) Verwaltungsaufgaben bezahlt wurden, deren
Erledigung eigentlich dem Staat zukam. Dazu kamen Organisations- und
Managementfehler sowie einfach Schlamperei. In jeder wichtigen Siedlung oder
Stadt der venezolanischen Kakaoproduktionsregionen wurden Kompanieagenten
als allgemeine Bevöllmächtige sowie eine Art Zollkontrolleure eingesetzt, um
den Schmuggel einzudämmen. Sie agierten oft selbstherrlich und wirtschafteten
in die eigene Tasche. Es ist eigentlich ein Wunder, dass es trotz einer Reihe von
Unruhen der Kakaoschmuggler (wie die Rebellionen des freien Zambo
Andresote 1733460, von San Felipe 1741 und von El Tocuyo 1744 – alle in einer
der wichtigsten Kakaogegenden um den Río Yaracuy und alle gegen die
Behinderung des Schmuggels gerichtet461) und kleinen Kakaohacendados erst zu
Beginn der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts zu ernsthaften Rebellionen gegen die
Kompanievorherrschaft kam.
Als die Kompanieverantwortlichen versuchten, den einzigen direkten
Zugang der venezolanischen Produzenten zu einem von ihnen kontrollierten
460
Felice Cardot, Carlos, La rebelión de Andresote, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1952.
Brito Figueroa, Federico, Las insurrecciones de los esclavos negros en la sociedad colonial venezolana, Caracas:
Editorial Cantaclaro, 1961; Felice Cardot, Carlos, Rebeliones, motines y movimientos de masas en el siglo XVIII
venezolano (1730-1781), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 31977; Magallanes, Manuel Vicente, Luchas
e insurrecciones en la Venezuela Colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 21983.
461
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Absatzmarkt, dem von Mexiko (Veracruz) an sich zu ziehen, die Verbindungen
ins niederländische Curaçao462 schärfer kontrollierten und dabei auch noch den
Niedergang der Kakaoflotille unter venezolanischer Kontrolle riskierten, kam es
zur Rebellion. Auslöser war die Ablösung des Siedlungsgründers von Panaquire
durch einen missliebigen Kompanievertreter in dem kleinen Ort am Fluss Tuy.
In Panaquire hatten sich seit 1730 Isleños niedergelassen, die als Pioniere mit
wenigen Sklaven Kakao- und Tabak anbauten. Der Ort war besonders für das
Kakao-Schmuggelgeschäft über das Tuytal in die Karibik geeignet. Juan
Francisco de León hatte die Ämter des teniente cabo de guerra und des juez de
comisos (politische und steuerliche Verwaltung) ausgeübt. León, ein weißer
Isleño aus der niedrigen Elite, zog 1749 und 1751 zwei Mal in Begleitung von
protestierenden Kakaohacendados und Kolonisten, die nicht der Oberschicht der
Mantuanos angehörten, aber eine ziemlich große Gruppe von kleinen und
mittleren Pflanzern vertraten, nach Caracas. Er verlangte ein cabildo abierto
(eine Art offener Einwohnerversammlung) und liess seine klar definierten Ziele
gegen die Allmacht der Kompanie vor Kolonialbeamten und den versammelten
Bürgern verlesen, notariell protokollieren und zog (das erste Mal) mit seinen
Anhängern nur gegen schriftliche Versprechen ab. Als sich nichts änderte,
rückte er 1751 wieder an, diesmal mit viel mehr Anhängern und offensichtlich
mit Unterstützung eines Teils der Elite von Caracas. León besetzte die Stadt. Die
Krone konnte der Rebellion nur mit Hilfe von 1500 Mann Veteranentruppen aus
Spanien Herr werden. Die Aufrührer wurden bestraft. Juan Francisco de León
starb im Gefängnis in Spanien. Die Kompanie blieb formal in ihren Rechten,
aber diese wurden auf das Mass der Anfangsjahre zurückgeschnitten und ein
Preiskomitee (junta de precios) aus lokalen Pflanzern, Kompanieangestellten
und dem Gouverneur legte nach 1752 die Einkaufpreise für Kakao fest.463
Aizpurua, “Coro y Curazao en el siglo XVIII”, S. 229-240.
Morales Padrón, Francisco, Rebelión contra la Compañía de Caracas, Sevilla: Escuela de Estudios HispanoAmericanos; CSIC, 1955 (siehe die guten Karten zwischen S. 54 und 55: “Escenario de la rebelión ..., 1749-1752”
und zwischen S. 118 und 119: “Escenario de la segunda rebelión ... 1751-1752).
462
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Den endemischen Schmuggel konnten weder die Krone, noch die lokalen
beamten oder gar die Kompanie bremsen. Ganz im Gegenteil. Den engen
Zusammenhang zwischen formaler Kontrolle, informellem Schmuggel sowie
Korruption und Bereicherung im Kompaniedienst zeigt die Biographie von Juan
Vicente Bolívar, zukünftiger Vater von Simón Bolívar.464
Quantitativ lässt sich der Schmuggel auf den Schiffen der Compañía
Guipuzcoana leicht nachweisen: die Schiffe waren immer mit 10-15%
überladen. Sie havarierten deswegen sehr oft, einfach weil sie zu tief im Wasser
lagen und schwer manövrierbar waren. Das Problem bestand darin, den
Schmuggel formal nachzuweisen beziehungsweise diesen Nachweis durch
Bestechung zu verhindern. Ganz klar nachweisbar war die Überlast nur, wenn
die Schiffe vollständig entladen worden waren und die Ladung gewogen werden
konnte. Das geschah in Wirklichkeit nur, wenn Schiffe havarierten, wie zum
Beispiel dasSchiff Santa Ana, das 1765 havarierte und entladen wurde – es hatte
62 Tonnen Überlast bei einer Tragfähigkeit von rund 300 Tonnen. Der Befehl
zur völligen Entladung, theoretisch möglich, war aber ein schwerer Eingriff in
die Kompaniegeschäfte, kostete viel Zeit sowie Arbeit und die völlige Entladung
aller Schiffe war aus pragmatischen Gründen unmöglich. Aber die Gefahr
bestand. So bestachen die Kapitäne und Kaufleute die Zollbeamten. Wie lief das
ab? Die Schmuggelgüter wurden als rancho (Proviant der Mannschaft)
deklariert. Auf Produkte des Rancho waren keine Steuern abzuführen. So
führten die Schiffe zum Beispiel hunderte von ganzen BellotaSchweineschinken mit. Diese wurden auf den Zolllisten als „Rancho“ deklariert.
Die Matrosen der Schiffe bekamen aber nie auch nur ein Scheibchen des
Schinkens zu sehen. Sie verdienten 8 Pesos (64 Reales) im Monat. In Caracas
wurde Bellota-Schinken für 3 Reales die Libra (460 Gramm) verkauft. Ein
kleiner ganzer Schinken kostete in Caracas um die 33 Reales und ein großer um
die 52 Reales. Die Herstellungskosten in Spanien beliefen sich auf rund 20%
Vivas Pineda, Gerardo, “Los negocios de Juan Vicente Bolívar y Ponte”, in: Desafío de la Historia, Año 2, No.
11 (2009), S. 28-34.
464
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davon (?). Juan Vicente Bolívar war für 10 Jahre (1765-1775) oficial real in La
Guaira. Eine Art Zolloffizier. Wenn er nur 2 große Schinken pro Schiff – 72
Schiffe hatte er in den zehn Jahren Dienst fiskalisiert – als „Geschenk“ dafür
bekommen hat, dass er die Schiffe nicht entladen liess, hätte er insgesamt 936
Pesos verdient; die Heuer von 117 Matrosen. Er hat aber in Realität sicherlich
viel mehr Anteile am Schinken-Schmuggel bekommen, nehmen wir an, 10
Schinken pro Schiff, dann wären die Einnahmen schon 4680 Pesos pro Jahr
(Heuer von 585 Matrosen). Und dabei sind die anderen Waren, die für 150-180
Mann Besatzung der Guipuzcoana-Schiffe zum Rancho deklariert wurden, noch
gar nicht erwähnt. Nicht umsonst erklärte Juan Vicente Bolívar in seinem
Testament 258 000 Pesos sein eigen. Ein gigantisches Vermögen.465
Der Versuch der Krone, den Außenposten „Provinzen der Tierra firme“ zu
niedrigen Kosten, sozusagen durch Privatisierung, an die normale Struktur des
Imperiums anzugleichen, war am Widerstand der kolonialen Pflanzerelite, der
Kakaohacendados und der Küstenbevölkerung, die oft überhaupt nur vom
Schmuggel lebte (auch als offiziell beglaubigte corsarios – Korsaren oder
guarda-costas - Küstenwachen)466, gescheitert. Die durchaus vorhandenen
Leistungen der Caracas-Kompanie, Venezuela einen regelmäßigen und besser
organisierten Handel nach Spanien sowie eine Ausweitung der
Produktionsflächen für Kakao (vor allem im Yaracuy- und Araguatal im Westen
von Caracas, bei der Stadt Valencia) verschafft zu haben, wurden von den
Kolonisten als zu teuer betrachtet.467 Außerdem war die Krone aus ihrer Sicht
nicht bereit, ihnen die gleichen Interessenvertretungen (Handelskonsulat) wie
465
Ebd., S. 34; siehe auch: Vivas Pineda, La aventura naval de la Compañía Guipuzcoana de Caracas, Caracas:
Fundación Polar, 1998.
466
AGI, Audiencia de Caracas, Secretaria de Hacienda de Indias, expedientes del ramo del resguardo en Caracas,
años 1781-1792, Leg. 784: “Al Intendente de Caracas. Remitesele la carta de Holanda sobre el contrabando de las
Costas de Caracas” (El Pardo, 27. Januar 1779); Ebd., No. 9: “El Intendente Saavedra. Remito en cumplimiento de
la Real orden del asunto fecha 1º de Agosto último [1786], el estado general de número, nombre, fuerza, tripulación
y costo anual de las embarcaciones corsarias que componen el resguardo marítimo de aquellas provincias”
(Caracas, 23. November 1787); Ebd.: “Del comercio clandestino que se hace en las provincias de la Intendencia de
Caracas, y del estado de su resguardo de mar y tierra” (Año de 1789).
467
Lombardi, Venezuela ..., S. 95-105; Ebd., Leg. 787: Confidenciales de Saavedra. Caracas, años 1784 y 1785,
No. 11: “Oficio de D. José Pizarro, en que tacha de contrabandistas a los individuos del corso y a los empleados de
la Real Compañía Guipuzcoana”.
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den Eliten der zentralen Territorien (Veracruz, Cartagena und Lima)
zuzugestehen, das Symbol für diese Herabsetzung war in ihren Augen eben die
Compañía Guipuzcoana. Ihrerseits war die Krone wohl wegen des hinhaltenden
Widerstands der kreolischen Eliten gegen die Kompanie deutlich verunsichert.
Nach und nach wurden der Kompanie bis 1789 die wichtigsten Rechte
und Privilegien entzogen; sie ging später in der Philippinen-Kompanie auf.
Von all den Handels-, Militär-, Finanz-, Rechts- und
Verwaltungsreformen des spanischen Imperiums begannen in den
venezolanischen Provinzen vier besonders wichtige Reformen (Intendantur,
Consulado, Generalkapitanie und Audiencia) erst zwanzig Jahre nach der
Rebellion des Juan Francisco de León, in der Mitte der 70er Jahre des 18.
Jahrhunderts. Das stand vor allem mit dem Problem der Kriege, der
komplizierten Territorialstruktur, der Konkurrenz der Eliten und dem Druck im
Zusammenhang, der für Reformen nötig ist, die viel Wandel bewirken sollen,
ohne die hergebrachte Herrschaft in Frage zu stellen, nun einmal verbunden ist.
Es bedurfte einerseits erst der Niederlage Spaniens im Siebenjährigen Krieg
1759-1762 (mit dem Menetekel der Eroberung Havannas durch die Briten).
Andererseits bekam Spanien mit den Schwierigkeiten der Briten in der
Revolution der Kolonisten in Nordamerika bald wieder Oberwasser im
atlantischen Raum. Die Reformen begannen nun wirklich. 1776 wurde ein
Intendant für sechs Provinzen der Tierra firme ernannte (José de Abalos); zum
ersten Mal gab es eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzinstitution der
wichtigsten Provinzen der Tierra Firme östlich der Guajira mit Sitz in Caracas.
Der Intendant war zwar de jure nur für Militär- und Finanzfragen zuständig,
aber da der Finanzbereich alle anderen Bereiche berührte – im Grunde für alles.
Die Furcht vor den Angriffen fremder Mächte oder Piraten führte zu einer
vielleicht noch weitreichenderen Entscheidung, die den engeren Machtbreich
des Militärs betraf; aus den zwei Generalkapitanien (Cumaná und Caracas) und
dem Hin- und Her der militärischen Verantwortung für den venezolanischen
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Andenbereich (zwischen Bogotá und Caracas) formten die Reformer eine
Generalkapitanie aus den sechs Provinzen (Maracaibo, Barinas, Caracas,
Barcelona, Cumaná, Guayana; die siebte Provinz, Trinidad, befand sich seit
1797 unter britischer Kontrolle, ein Jahr vorher hatten die Briten auch Suriname
besetzt). Sitz des Generalkapitäns wurde ebenfalls Caracas (1777). Die
Generalkapitanie, wegen der militärischen Notwendigkeiten der
Kommunikation und Infrastruktur, war wohl die Reforminstitution, die am
meisten zur Zentralisierung aller Fäden der Netzwerke in Caracas beitrug. Von
1777 bis 1810 existierte an der Tierra firme eine Art kolonialer Staat (Estado
indiano), der mehr und mehr als Venezuela in der Welt bekannt wurde, aber sich
auch mehr und mehr im Bewusstsein der Bewohner verankerte.
Alle venezolanischen Verfassungen haben am Beginn des Textes einen
Bezug zum Territorium dieser Generalkapitanie. Venezuela hat also eine starke
zentralistisch-militärische Tradition. Nach den Finanz-, Wirtschafts- und
Militärbereich kam die Frage der Rechtsverwaltung auf. Es konnte nicht
angehen, dass Rechtsfragen und –konflikte, die schon lange anstanden, sich aber
auch aus den Reformen selbst ergaben, entweder in Bogotá oder in Santo
Domingo auf der Insel La Española geklärt werden mussten. 1786 verfügte die
Krone die Schaffung der Audiencia von Caracas (oberstes Verwaltungsgericht,
Gericht letzter Instanz mit eigener Verwaltungskompetenz, da der Gouverneur
von Caracas meist auch Präsident der Audiencia war; auch der Erzbischof
gehörte oft der Audiencia an). In den achtziger Jahren, nach langer
Überzeugungsarbeit der Intendanten Abalos und Saavedra wurde auch das Real
Consulado de Caracas gegründet, eine Bruderschaft der großen
Kakaoproduzenten und der spanischen Großkaufleute.468 Der Consulado
unterhielt Repräsentanten in den wichtigsten Häfen Venezuelas. Komplettiert
wurden die Reformen durch die Schaffung des Erzbistums von Caracas 1804,
dem die beiden Bistümer Mérida de Maracaibo und Cumaná unterstellt
468
Nunes Díaz, Manuel, El Real Consulado de Caracas (1793-1810), Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1971 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 106).
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wurden.469 Damit war das institutionelle Skelett des Territoriums geschaffen, das
später einmal den Staat Venezuela bildete.470 Und Caracas war bürokratisches
Zentrum dieses neuen Territoriums – alle Wege führten nun über die Stadt im
Schatten des Monte Ávila. Seit 1808 gab es auch die erste Druckerpresse
(Gallagher und Lamb), die erste Zeitung (Correo de Caracas) und seit 1810 den
ersten gedruckten Kalender in Caracas (Calendario Manual y Guia Universal de
Forasteros en Venezuela471). Neue Bürokratien mit allen ihren Bedürfnissen,
Organisationen und Strukturen entstanden – auch die Nachfrage nach Waren,
Handwerksgütern, Nahrungsmitteln, Haussklaven, Luxusgütern und Papier
stieg. Caracas wurde zum Zentrum der hispanischen Extraktionsmaschinen. In
Caracas hielten die großen Landbesitzer, auf deren haciendas oder hatos Kakao,
Indigo, Baumwolle, Kaffee, Zuckerrohr oder Fleisch und Häute produziert
wurden, ihre Stadtpalais. Sie kontrollierten die munizipale Macht und verhielten
sich zu anderen Gruppen der Kolonialgesellschaft „nach der Art Juden, die sich
nur innerhalb ihres Stammes verheiraten“.472 Auch die wichtigsten Institutionen,
die die Extraktionsmaschine in Gang hielten oder verteidigten und legitimierten
fanden sich in Caracas: Handelshäuser, Druckerei, Steuer- und Rechnungshof,
Steuereinziehungsbehörden, Universität, Intendantur, Generalkapitanie,
Gouverneur, Erzbistum, Armee-, Marine- und Milizkommandanturen sowie
Ausrüstungs- und Waffenkammern, Notariate, Schreibstuben,
Rechtsanwältsbüros, Gerichte sowie Audiencia.
Sichtbar wurden all die Reformprozesse in einem dramatischen
Anwachsen der Stadt Caracas zu einem für Kolonialverhältnisse großen
Zentrum mit rund 40000 Einwohnern und einem Ayuntamiento (Cabildo), das
schon seit 1700 das Recht beanspruchte, im Falle des Ausfalls eines
Gouverneurs als Führungsinstanz für die ganze Provinz von Caracas zu
469
Lombardi, Venezuela ..., S. 104-106.
Morón, El proceso de integración de Venezuela (1776-1793), Caracas: Acedemia Nacional de la Historia, 1977
(El libro menor; 3).
471
Calendario Manual y Guia Universal de Forasteros en Venezuela para el Año de 1810, Caracas: En la Imprenta
de Gallagher y Lamb, 1810.
472
Brief der Intendanten Saavedra vom 3. Mai 1793, zit. nach: Arcila Farías, Economía colonial …. Bd. II, S. 103.
470
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operieren.473 Die reichen Kakaopflanzer von Caracas, die Mantuanos, hatten
auch schon früher auf das Privileg gepocht, in Wirtschafts- und Handelsfragen
für alle Provinzen der Tierra firme zu sprechen. Der dafür notwendige
institutionelle Apparat, Habitus, Bildung und Kultur sowie Bedeutung im
Denken und Fühlen der aller Einwohner der Kolonie, waren aber erst im 18.
Jahrhundert entstanden und eigentlich erst mit den karolinischen Reformen
geschaffen worden. Die an der Universität von Caracas als Rechtsanwälte und
Theologen ausgebildeten Söhne der kreolischen Eliten hätten nun eigentlich
direkt auf die Stellen der Bürokratie von Caracas oder in die Repräsentanzen der
einzelnen Institutionen in anderen Städten Venezuelas arbeiten können. Hätte
dieser Zustand bis 1850 angehalten, wäre auf friedliche Weise eine Nation aus
den Kolonialterritorien der Costa Firme entstanden. Leider geht Geschichte
nicht so simpel. Die Reformen kamen zu spät; ihre Schaffung war von den
Konflikten um die Compañía Guipuzcoana überschattet und die Krone gestattete
den venezolanischen Eliten, die Kakao mit Sklaven produzierten, zu spät, an
dem für alle anderen Vizekönigreiche bereits 1778 erlaubten comercio libre
(„Freihandel“) – eben wegen der Konflikte um Kakao und Kompanie –
teilzuhaben. Erst 1789, parallel zur Freigabe des Sklavenhandels für die
spanischen Kolonien in Amerika, wurde auch Venezuela in das generelle
System des Freihandels integriert.474 Zu spät. Die Kakaowirtschaft war in Krise;
die Extraktionsmaschine stellte sich langsam auf neue (Kaffee, Baumwolle,
Zuckerrohr) und andere Produkte (Indigo, Weizen, Vieh, Häute, Tasajo, Leder).
Besonders der Kaffee in den höheren Lagen der Täler von Aragua und Caracas
schien eine große Zukunft zu haben; auch weil Kaffee in Lagen angebaut
werden konnten, die bis dahin nicht genutzt worden war und weil
Kaffeeproduktion rentabler war als Kakao.
473
Lombardi, Venezuela ..., S. 110.
„Informe sobre el Real Decreto de Comercio Libre del 28 de febrero de 1789”, in : Documentos para la historia
económica en la época colonial. Viajes e informes …, S. 489-510.
474
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In der ersten Phase der Reformen bis etwa 1788 versuchten die
zentralistischen Reformer in Spanien auch, die in ihren Augen „korrupten“ und
„unfähigen“ kreolischen Eliten von den Jobs in der Bürokratie von Caracas
fernzuhalten – es sollte erst eine „neue“ imperiale Elite durch in Spanien
erzogene und dort durch den Militärdienst gegangene Söhne der Kreolen
entstehen.
Um 1800 schien es den Eliten von Caracas, dass sie ein Territorium von
dominierten, das größer als Frankreich und Spanien war, und Teil der imperialen
Nation Spanien geworden waren. Trotz oder gerade wegen des doch recht
tiefgreifenden Reformen brachen nun aber internationale Ereignisse aus allen
Richtungen über das renovierte Imperium und die quasi neue Kolonie Venezuela
sowie sein Führungszentrum Caracas herein: in Spanien starb 1788 der
Reformkönig Carlos III., in Frankreich rebellierte der Dritte Stand (1789-1795)
und auf Saint-Domingue, Martinique und Guadeloupe475, zusagen im
Nachbarhaus, erhoben sich die Sklaven der Franzosen zur einzig erfolgreichen
Sklavenrevolution der Weltgeschichte (Venezuela nahm viele aus SaintDomingue Geflohene auf)476; im Frieden von Basel musste Spanien seinen Teil
der Insel La Española (heute DomRep) an Frankreich abtreten (wieder flohen
Menschen nach Venezuela477); im Barlovento und in Coro kam es 1794/1795 zu
Cimarronajes, Rebellionen sowie einem Aufstand von Sklaven478, freien
Dubois, Laurent, Les esclaves de la République: l’histoire oubliée de la première émancipation, Paris: CalmannLévy, 1998.
476
López Bohorquéz, “L’ambivalente présence d’Haïti dans l’indépendance du Venezuela”, in : Outre-mers RH,
nos 340-341 (2002), S. 236-237; Gómez, Alejandro E., “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in:
Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 5 (2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006)
(http://nuevomundo.revues.org/document211.html).
477
AGI, Estado, 58 (23-01-1791 – 23-06-1799), Caracas: “Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la
Audiencia de Caracas (Revolución de la Isla Margarita. Dotrina de franceses emigrados de Santo Domingo.
Sublevación en Caracas. Prisión y ejecución de implicados en la sublevación”.
478
Acuña, Guido, La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993; Coll y Prat,
Narciso, Memoriales sobre la independencia de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960;
Guerra Cedeño, Franklin, Esclavos negros, cimarroneras y cumbes en Barlovento, Caracas: LAGOVEN, 1984;
Magallanes, Luchas e insurrecciones en la Venezuela colonial, Caracas: Italgráfica, ³1983; Ponce Longa, José,
Tomás, Barlovento: de los orígenes a la independencia, s.l. [Los Teques]: Gobierno del Estado Miranda, s.a
[1994/1995]; Archivo General de la Nación, Caracas (AGN), Diversos Vol. LXIX: “Sobre insurrección de los
negros bandidos de la jurisdicción de Coro [Valle de Curimagua, 92/06/1795], f. 130r; Arcaya, Pedro Manuel,
Insurrección de los negros de la serranía de Coro en 1795, Caracas: Instituto Panamericano de Geografía e Historia,
1949; Aizpurúa A., Ramón, La insurrección de los negros de la serranía de Coro, 1795: revisión crítica, Caracas:
475
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Farbigen und Indios. Britische Marineinfanterie besetzte die Insel Trinidad
(1797); die vereinigte spanisch-französische Flotte unterlag in der Seeschlacht
von Trafalgar der britischen Flotte unter Admiral Nelson (1805). Spanien
forderte immer mehr Geld von seinen Untertanen in Las Indias. Schließlich
erschien der ehemalige spanische Offizier Francisco de Miranda, 1750 in
Caracas geboren, mit englischen, amerikanischen und haitianischen Abenteurern
vor den Küsten Venezuelas und besetzte 1806 für kurze Zeit Coro und seinen
Hafen La Vela. Zwar konnten die Milizen die das „Heer zur Befreiung
Colombias“ vertreiben – aber der Vorgang an sich war ungeheuerlich; zumal
Miranda nicht nur Interventionen mit englischer Hilfe durchführte, sondern auch
große Pläne für die Zukunft des ganzen Kontinents schmiedete, den er Colombia
(Kolumbien) nannte. Er begründete in doppelter Weise ein kontinentale
Staatsutopie in Amerika, erstens eine Mixtur seiner europäischen Erfahrungen
und zweitens, die Utopie im Quadrat, dass ein solcher Staat quasi
voraussetzungslos in den Dimensionen des spanischen Kolonialreiches möglich
sei, wo bislang koloniale Parastaatlichkeit und Parasouveränität herrschte, sehr
fragil, aber immerhin mit erstaunlich hohem Gewaltabschwächungspotential in
den Zentren.479 Mirandas (zum Glück für Spanien) schnell zurückgeschlagene
Universidad Central de Venezuela, 1980; Brito Figueroa, Federico, Las insurrecciones de los esclavos negros en la
sociedad colonial venezolana, Caracas: Editorial Cantaclaro, 1961; Castillo Lara, Lucas Guillermo, Apuntes para la
historia colonial de Barlovento, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981; García, Jesús Chucho, Contra el
cepo: Barlovento tiempo de cimarrones, Caracas: Editorial Luca y Trina, 1989; Röhrig Assunção, Matthias,
“L’adhésion populaire aux projets révolutionnaires dans les sociétés esclavagistes: le cas du Venezuela et du Brésil
(1780-1840)”, in: L’Amérique Latine face à la Révolution française, ed. Guerra, François-Xavier, Toulouse :
Presses Universitaires Le Mirail, 1990 (=Caravelle. Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 54), pp. 291313; Gil Rivas, Pedro; Dovale Bravo, Luis Osvaldo; Bello, Luzmila, Insurrección de los negros esclavos, libres e
indios en la serranía coreana, 10 de mayo de 1795. Mérida: s.n., 1991; Blanco, Jesús, Miguel Guacamaya. Capitán
de Cimarrones, Caracas: Asociación para la Investigación Cultural Mirandina; Editorial APIGUM, 1991;
Rodríguez, Luis Cipriano y otros, José Leonardo Chirino y la insurrección de la serranía de Coro de 1795:
Insurrección de libertad o rebelión de independencia. Memoria del Simposio realizado en Mérida los días 16 y 17
de noviembre de 1995, Mérida: Universidad de Los Andes; Universidad Central de Venezuela; Universidad del
Zulia; y Universidad Nacional Experimental Francisco de Miranda, 1996; Scott, Julius, “Crisscrossing Empires:
Ships, Sailors and Resistance in the Lesser Antilles in the Eighteenth Century”, in: The Lesser Antilles in the Age
of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L., Engerman, Stanley, Gainesville: Univ. of Florida Press, 1996,
S. 128-143; Geggus, David A., “Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815”, S. 1-50;
Gómez, Alejandro, “Haïti: entre la peur et le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens: relations et repères
avec Saint-Domingue et les ‘Îles du Vent’, 1790-1830”, in: Bonacci, Giulia et al. (sous la direction de), La
Révolution haïtienne au-delà de ses frontières, Paris : Karthala, 2006, S. 141-163.
479
Zum Gewaltbegriff siehe: Hanser, Peter; Trotha, Trutz von, „Zur Typologie von Odrnungsformen der Gewalt –
eine neo-hobbessche Perspektive“, in: Hanser; Trotha, Ordnungsformen der Gewalt. Reflexionen über die Grenzen
von Staat und Recht an einem einsamen Ort in Papua-Neu-Guinea, Köln: Rüdiger Köppe Verlag, 2002 (=Siegener
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Intervention an den offenen Küsten Venezuelas sollte nur den Anfang eines
kontinentweiten Krieges und von den Idealen der Gironde-Phase der
Französischen Revolution geprägten gegen „die Tyrannei Spaniens in Amerika“
markieren.480
Die Reformen und ihr durchaus protonationales Ergebnis - Caracas als
Zentrum einer relativ zentralisierten Kolonie mit Namen Venezuela (1777-1810)
- hatten historisch gesehen zu wenig Zeit, um sich wirklich zu konsolidieren.
Zumal im Gefolge der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege
die atlantischen Beziehungen total zusammen brachen und allenthalben
Konflikte, Kriege, Vertreibungen, Landbesetzungen, Rebellionen und
Revolutionen ausbrachen.481 Englische Flotteneinheiten und Piraten lauerten vor
den Küsten von Venezuela482, wie man sogar im fernen Berlin wusste (siehe
Anhang).483 Das Kriegsministerium im fernen Spanien bekam viel zu tun484,
konnte aber real kaum noch etwas in Amerika ausrichten – die
Atlantikverbindung war seit jeher die Achillesferse des Spanischen Imperiums
(spätestens seit dem Untergang der Großen Armada 1588). Aus Angst vor
britischen Eroberungen erlaubte Madrid 1776 französischen sowie schottischen
und irischen Katholiken erlaubt, auf der Insel Trinidad zu siedeln und ihre
Sklaven mitzubringen.485 In Guayana drangen schon seit Beginn der karibischen
Beiträge zur Soziologie, eds. Trotha; Geißler, Rainer; Neckel, Sighard; Bd. 3), S. 315-320, besonders S. 315, FN 9.
480
Carrera Damas, “De nuevo sobre nuestra Revolución francesa”, in: Caballero, Manuel (ed.), Miranda el
extrajero, Caracas: Monte Ávila Editores, 2003, S. 67-78.
481
Castillo Lara, “El Negro Miguel Guacamaya y su Cumbe”, in: Castillo Lara, Apuntes para la historia colonial de
Barlovento ..., S. 619-621; Sanz Tapia, Angel, “Refugiados de la Revolución Francesa en Venezuela (1793-1795)”,
in: Revista de Indias Vol. XLVII:3, núm. 181 (1987), S. 833-868.
482
AGI, Estado, S.1 (1729-1860) : Estado 1: Santo Domingo, Cuba, Puerto Rico, Luisiana y Florida:
“Documentación de la 1ª Secretaría de Estado relativa al ámbito geográfico de Santo Domingo, Cuba, Puerto Rico,
Luisiana y Florida. Contiene la correspondencia cruzada entre el Secretario de Estado y las autoridades de estas
provincias de América, en las que se dá cuenta de los primeros movimientos independentistas”1, N.5: “El
Gobernador [de la Habana]. Conde de Santa Clara: Da cuenta del apresamiento de una Goleta Correo, q.e de la
Guayra salió p.a Pto. Rico, por una Fragata Ynglesa, Havana 1º de Febrero de 1797”.
483
Bericht des Kaufmanns Heinrich Rötgers aus San Tomás über die Miranda-Expedition, in: Dahlem, Geheimes
Staatsarchiv (GstA), Rep.XI, 21b, 5, Central America (1806) (ohne Foliierung).
484
Archivo General de Simancas, Spanien (AGS), Secretaría Guerra, S. 114 (1771-1804) Venezuela: “Fechos,
empleos y retiros ; correspondencia con los capitanes generales y gobernadores ; arreglo de milicias ; emigrados
Franceses de Martinica y prisioneros de Santo Domingo ; gobierno y sublevación de Coro”.
485
Laurence, K.O., “Colonialism in Trinidad and Tobago”, in: Caribbean Quarterly (Mona) 9,3 (1963), S. 44-56;
Brereton, Bridget (1981): A History of modern Trinidad, 1783-1962, Port of Spain: 1981; González-Ripoll
Navarro, María Dolores, Trinidad: la otra llave de América, Caracas, 1992; John, A. Meredith, The Plantation
Slaves of Trinidad, 1783-1816, New York: Cambridge University Press, 1988; Laurence, Tobago in Wartime, 1793
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Krise 1791 wieder verstärkt Holländer, Kariben, Franzosen und Portugiesen vor.
Geflohene Negersklaven bildeten in Essequibo und Surinam, wie die Spanier
annahmen, eine „freie und unabhängige Republik“486; aber auch im Zentrum in
der Barlovento-Region entstanden Cumbes (wie das unter dem Negro Guillermo
um 1770).487 Im Westen lieferten Engländer und Schmuggler aus Jamaika und
Nikaragua Waffen an die Guajiro-Indianer.
Die Lage war gefährlich und instabil. Kreolen und Spanier in Amerika
mussten spätestens seit 1806 ihre Angelegenheiten unter sich regeln. Es gab aber
weitere, viel tiefer reichende Konflikte, die mit der extremen, aber unter
normalen Bedingungen unterdrückten Gewalt der Sozialbeziehungen in einer
äußerlich träge erscheinenden, aber im Innern sehr dynamischen urbanen
Kolonialgesellschaften zusammenhingen, die zudem durch kriegerische
Konflikte in ihrem Umfeld politisiert worden waren. Rassen- und
Kastenschranken für die Masse der mestizisierten Bevölkerung, die bislang die
Vorherrschaft der „weißen“ Elite der Abkömmlinge von Conquistadoren und
ersten Siedlern gesichert hatten, wurden zum Konfliktfeld erster Ordnung.
Kastenordnung, informelle Herrschaft, Grenzkriege und Revolution
Die imperialen Träume und Ängste der Eliten von Caracas und der
anderen Küstenstädte glichen in etwa denen, die auch andere Eliten des
atlantischen Raumes quälten. Wenn die Herren des großen Kakaos und ihre
Frauen in den sprichwörtlichen Mantas zur Kirche schritten, glaubten sie
- 1815. Kingston: 1995.
486
AGI, Estado, 63 (06-1750 – 26-01-1830), Estado, Caracas: „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a
la Audiencia de Caracas (Alborotos contra la Compañía de Caracas. Sublevaciones en las provincias de Caracas.
Miranda y el levantamiento de Caracas. Memorial de Francisco de Azpurua sobre los medios de recuperar las
Américas. Separación de Venezuela del gobierno de Bogotá)”, N.2,2: „Aranj.z 28 de Mayo de 1791, del Gobern.or
Cap.n Gener.l de Guayana“; in der Information, die am Hof zirkulierte, heisst es: „dando cuenta del estado
decadente de esa Provincia de su mando, informa Ud. de que van abanzando en su territorio las posesiones de los
Holandeses, Franceses y Portugueses y los Negros profugos de Esequibo, Demorari, Berbi, Surinam, y Cayena
establecidos en Republica libre e independiente”.
487
Brito Figueroa, „Las rebeliones de esclavos en Venezuela colonial“, in: Brito Figueroa, El problema tierra y
esclavos en la historia de Venezuela, Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1985, S. 205-250; Acuña, Guido,
La esclavitud: el negro Guillermo de Barlovento, Caracas: Editorial Pomaire, 1993.
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wenigsten in ihrem näheren Umfeld alles in bester Ordnung. Wenigstens schien
in den kolonialspanischen Städten an der Küste und in den Anden alles unter
Kontrolle zu sein. In der trügerischen Ruhe der späten Kolonialzeit in den
urbanen Zentren ignorierten sie aber, dass im Lande eine tiefgespaltete, extrem
ungleiche Gesellschaft und eine sehr ungerechte Ordnung existierte; in den
Llanos und in den Guayanas herrschten aus Sicht der städtischen Eliten
entweder Conquistazustände, Cimarrones oder Verhältnisse wie vor der Ankunft
der Spanier. Das war insofern nicht richtig, als die langanhaltenden Conquistas
gerade deswegen so lange anhielten, weil sich die Flucht- und
Widerstandsgesellschaften der Indígenas und Cimarrones vieler Waren, Waffen,
Tiere und Technologien sowie des Wissens bedienten, die mit den Europäern ins
Land gekommen waren – Pferde, Eisengeräte, Schusswaffen, christliche
Organisationsformen und Religion, Sprachen. Der Ausländer Humboldt hat die
politischen und mentalen Spannungen der Situation in Venezuela sofort nach
seiner Ankunft in Venezuela, in Cumaná, Mitte des Jahres 1799, regelrecht
gerochen. Er hat sie auch in allen Details beschrieben. Die Konflikte lagen in
der Luft. Humboldt wurde nach seiner Landung im Osten Venezuelas fast auf
einen Schlag von Nur-Naturforscher zum politischen Wissenschaftler im besten
Sinn dieses Wortes.488
Kunst, vor allem gute Kunst, ist neben guter Wissenschaft ein gutes
Barometer für soziale Konflikte und Prozesse. Im 18. Jahrhundert kann man die
soziale Prosperität, aber auch die Abgrenzung der reichen städtischen Familien
der kreolischen Oligarchien an einer neuen Kunstform ablesen: dem Porträt.489
Diese individuellen Bilder und die Tatsache, dass Künstler davon leben konnten
(dass es also eine Gruppe von Auftraggebern gab), zeigen gewisse soziale
Normen, Qualitäten und Attribute, die die Gruppe der kreolischen Oligarchie
sich in Form feiner und auch nicht ganz so feiner Unterschiede erarbeitet hatte
Langue, “Humboldt und der ‘Afrikanerstaat’ Venezuela : bürgerliche Zwiste und feindselige Leidenschaften”,
in: Humboldt in Amerika, ed. Zeuske, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2001 (=COMPARATIV. Leipziger
Beiträge zur Universalgeschichte und zur vergleichenden Gesellschaftsforschung, 11. Jg., Heft 2), S. 16-29.
489
Boulton, Alfredo, Historia de la pintura en Venezuela, 2 Bde., Caracas: 1968, Bd. I: Época colonial, S. 131.
488
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und ohne die man dieser Gruppe nicht zugehörig sein konnte. Die Bilder waren
auch Reflex des Reichtums der Provinz Venezuela und eines kulturellen
Aufschwungs, der es erst ermöglichte, überhaupt elitären „Geschmack“ zu
haben und den Habitus einer Kaste auszubilden. Das erste Merkmal diese
Gruppe, auf den Bilder der Porträtkunst klar sichtbar, ist die Farbe der Haut.
Dazu brauchten die Maler neue Farben und vor allem die Frauen der Elite ein
neues Modeprodukt europäischer Handwerkskunst, dass damals als
Statussymbol (wie heute die frühen Handys) – den Regenschirm, den sie als
Sonnenschirm benutzten, um keinesfall etwa Sonnenbräune auf ihren Körpern
zu dulden.490
Die Bewohner der kolonialspanischen Städte Venezuelas sahen sich seit
ihrer Ansiedlung in Venezuela als Spanier und Träger der spanischen
Lebensweise, Mentalität und Kultur – in einem Land, dass noch bis in das 19.
Jahrhundert vor allem von Indios und schwarzen Sklaven sowie deren
Nachkommen (darunter auch manches illegitime Kind der Siedlereliten)
bewohnt war. Kriterien der Zugehörigkeit zu den Oberschichten der Städte
waren genealogische Kontinuität von den ersten Conquistadoren und Siedlern
oder von den Herkunftsfamilien in Spanien bis zu den jeweiligen Trägern des
Familiennamens – symbolisiert wurde diese Kontinuität durch die Ehre der
Familie, die sich wiederum zusammensetzte aus limpieza de sangre (Reinheit
des Blutes) und hidalguía, Landbesitz (hacienda, hato), oft zusammengehalten
durch mayorazgos (rechtliche Untrennbarkeit des Besitzes), Stadtpalais (quinta)
sowie lokale Ämter (cabildos) sowie Offiziersposten in den Kolonialmilizen,
eventuell sogar einen der neuen Hochadelstitel des 18. Jahrhunderts (wie ihn der
Vater von Simón Bolívar lange anstrebt hatte).491 1792 wurden im zentralen
Stadtbezirk (Gemeinde) Catedral von Caracas 70 Elitehaushalte (mit rund 1800
Sklaven) in nächster Nähe der Plaza gezählt (siehe die Karte bei Waldron, S.
490
Benthien, Claudia, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbeck bei Hamburg 1999;
Finlay, Victoria, Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte, München: Claassen, 2002.
491
Calzadilla, Pedro E., Quimeras de amor, honor y pecado en siglo VXIII venezolano, Caracas: Editorial Planeta,
1994.
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53).492 In Caracas lebten mehr „Weiße“ als in jeder anderen Stadt der
Generalkapitanie.493
All die Statuskriterien der Kolonialelite wurden wiederum sichtbar und
für jeden erkennbar in einem äußeren Merkmal – der „weißen“ Hautfarbe, die
auch „arme Weiße“ hatten. Deshalb sagte Humboldt, dass die Hautfarbe so
etwas wie ein Adelsprädikat in den Kolonien darstellte. Im Volksmund
Venezuelas heissen Menschen mit solchen phänotypischen
Grundvoraussetzungen noch heute catire oder catira (mittlerweile auch in der
Bierwerbung genutzt); sie belegen die höchsten Ränge in der Skala
ungeschriebener Schönheitsnormen. Damit wurde Grundlagen gelegt für
koloniale Schönheitsideale, die auch die Unterschichten anerkannten, denn sie
bekamen sie ebenfalls mit der Muttermilch eingetrichtert. Aus den unsichtbaren
Stahlnetzen dieses Rassismus durch Schönheit, aus den Schlangen dieses
Laokoon-Komplexes (denn die „Schönheit“ wurde auch noch durch die
Wiedererfindung der europäische Antike legitimiert), konnten sie sich nie
wieder befreien – zumal die Rückseite dieses Ideals der „weißen“ Haut darin
besteht, alles eigene für häßlich und minderwertig, für frech, laut, unanständig
und gewaltsam zu halten (später: „Endo-Rassismus“).
Trotz der sozialen Exklusivität der Gruppe der kreolischen Oligarchien in
den einzelnen Städten waren Kreolisierung und Mestizisierung der
Unterschichten aber nicht aufzuhalten. Das schlug auch auf die Elitegruppen
durch; die allerdings kulturelle Strategien der formalen Verbergung
entwickelten, wie etwa die Einschreibung von Kindern mit farbigen Frauen in
Taufbüchern für „Weiße“. Vermischung und Überlagerung sind soziale
Grundprozesse von Eroberungsgesellschaften. „Vermischung“ wird in Amerika
mit den Konzepten von Mestizisierung oder Kreolisierung beschrieben. Wegen
der Dynamik und des Drucks der Mestizisierungprozesse mussten sich die
Oligarchien zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert den Begriff criollo 492
493
Waldron, A Social History of a Primate City …, S. 49f., S. 50-53.
Ebd., S. 65.
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„Kreole“ in einer Art Protestumkehr insofern aneigenen, weil die neu
zugereisten Spanier den zunächst den afrikanischen Sklaven reservierten Begriff
als Spottname für die einheimischen „Weißen“ benutzten. „Überlagerung“
besteht darin, dass der Kern einer herrschenden Eroberergruppe sich nach
bestimmten Normen definierte und von diesem ästhetischen Ideal eines Habitus
(„reines“ christliches Blut, hidalguía, was in Amerika bedeutete, Vorfahren
Spanier aus Spanien, möglichst Conquistadoren und erste Siedler) alle anderen
Gruppen nach bestimmten körperlichen, sozialen oder gar „biologischen“
Merkmalen als sozial unter ihm stehende Gruppe oder Gruppen definierte, die
fast immer an visiblen Kriterien der Physiognomie, des Körperbaus, der
Gesichtsformen (vor allem Lippen und Nase), der Haarfarbe und –qualität
festgemacht wurden. Die Unterworfenen, die Versklavten und in vielen Fällen
die später Hinzugekommenen (wie in Venezuela viele bitterarme Immigranten
von den Kanarischen Inseln, so genannte canarios oder isleños494) wurden also
auf keinen Fall (oder nur in sehr seltenen Fällen, wenn sie zu Reichtum und
Ansehen gelangt waren) integriert, sondern als „Untergruppen“, in denen
Männer das aktive Element darstellen (Patriarchalismus), der herrschenden
hispanischen Gruppe der „Weißen“ mit Stammbaum, Wappen und Titel sowie
Amt untergeordnet. So bildeten sich Kasten in einer Kastengesellschaft des
Kolonialismus. Das klingt sehr theoretisch. Es war aber sehr praktisch, denn in
der Kastenordnung und im Kastendenken waren in den ersten zweihundert
Jahren die Grundwerte von Schönheit und Hässlichkeit sowie gut und böse
entstanden und verfestigt worden. Diese Grundwerte entfalten bis heute die
vielleicht tiefste und fundamentalste Einwirkung der Geschichte auf die
Gegenwart. Moral und Ästhetik des Kastendenkens prägen seit der Kolonialzeit
Normen, die bis heute den Alltag jeder Venezolanerin und jedes Venezolaners
determinieren, sie zu bestimmten Produkten greifen lässt oder
Heiratspräferenzen diktiert. Schön war und ist „weiß“ und „spanisch“ (oder
494
Hernández González, Manuel, Los canarios en la Venezuela colonial (1670-1810), La Laguna: Centro de la
Cultura Popular Canaria, 1999.
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später „Amerikanisch“); hässlich war und ist „schwarz“ oder „gemischt“ und
indianisch oder afrikanisch; als besonders hässlich und auch noch hinterlistig
gilt die Mischung von Indianisch und Schwarz – der Zambo. Um sich über die
Nachwirkungen der Ästhetik des Kastendenkens klar zu werden, braucht man
nur eine der im heutigen Venezuela so beliebten Schönheitskonkurrenzen zu
beobachten oder etwa die Integration von Marisabel Rodríguez in Chávez’
Wahlkampagne von 1997-1998. Die zweite Ehefrau von Chávez weist alle
Stereotypen des venezolanischen Schönheitsideals auf - blanca, ojos azules,
rubia (=catira; eine blonde, weiße Frau mit blauen Augen), das „schönste
Gesicht Venezuelas“ in einer Konkurrenz von Revlon. Diese „Barbie“ an der
Seite des wilden Llanero diente in der Kampagne dazu, die Frauen der
Mittelklasse zu gewinnen.495
„Schwarze Herkunft“ gar wurde, weil besonders stigmatisiert, denn
irgendwo musste ein Sklave oder eine Sklavin in der Reihe der Vorfahren sein,
aus den Stammbäumen auch der Pardos möglichst entfernt und möglichst dem
Vergessen anheimgegeben – obwohl es in der Demographie eine klare
Dominanz etwa von dem gibt, was man heute afrodescendientes nennen würde.
In der Kolonialzeit hiessen diese Menschen Pardos.496 Es entstanden fraktale
Identitäten, die sich zu einer historischen Identitätskrise schürzten – deren
Folgen bis heute zu spüren sind.497
Die offizielle und sozial anerkannte Vermischung von Spaniern und
Europäern mit Indianerinnen in Form von informellen Bindungen und Heiraten,
495
Marcano, Cristina; Barrera Tyszka, Alberto, Hugo Chávez sin uniforme. Una historia personal. Prólogo Petkoff,
Teodoro, edición a cargo de Rodríguez, Cynthia, Caracas: Grupo Editorial Random House Mondatori, S.A., ²2006,
S. 46; zu den künftigen Schicksalen der Ehe siehe auch: Twickel, “Verheiratet mit der Revolution: Marisabel geht,
Fidel kommt”, in: Twickel, Christoph, Hugo Chávez. Eine Biographie, Hamburg : Edition Nautilus, 2006, S. 261264.
496
Historian Aline Helg finds evidence in her work on South America for the pivotal role of the size of the free
population of color in racial formation (or in what might be termed racial consciousness from a less constructionist
perspective, as suggested by some of Helg's formulations). She writes that "in Venezuela and Caribbean Colombia,
where most of the colonial population was free [and] of color, African ancestry and blackness have not been
acknowledged" in the national period. (Aline Helg, “The Limits of Equality: Free People of Colour and Slaves
during the First Independence of Cartagena, Colombia, 1810-15”, in: Slavery and Abolition 20, no. 2 (1999), S.
24.); Cohen, David; Greene, Jack (eds.), Neither Slave nor Free: The Freedmen of African Descent in the Slave
Societies of the New World, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1972.
497
Langue, “Les identités fractales. Honneur et couleur dans la société vénézuélienne du XVIIIe siècle”, in :
Caravelle 65 (1995), S. 23-37.
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wie es in der frühen Conquista und Kolonisation üblich gewesen war, hatte die
Krone bereits seit etwa 1570 gestoppt. Eine offizielle Verbindung, über Heirat,
zwischen Europäern und afrikanischen Sklaven oder deren freie Nachkommen,
war undenkbar für den Status eines „Weißen“ in Amerika und Venezuela. Die
Kreolen, vor allem die Oberschichten, hielten sich durch endogame
Heiratspolitik exklusiv. Deshalb auch die vielen Heiraten von Verwandten.
Auch Bolívar war mit einer Cousine verheiratet. Natürlich gab es inoffiziell
viele Liebschaften; Sexualität und Fortpflanzung der Menschen waren in
Gesellschaften vor der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft nicht
aufzuhalten. Deshalb bestand bereits im 18. Jahrhundert mindestens die Hälfte
der etwa 800000-900000 Einwohner Venezuelas aus so genannten pardos.
Freundlich ausgedrückt bedeutet dieser Begriff so etwas wie gemischtfarbiges
(„buntes“) Rind. Offiziell, in einem Sechs-Augen-Gespräch, im 18. Jahrhundert
hätte niemand gewagt, einem anderen Menschen ins Gesicht zu sagen: Du bist
Pardo (oder „Indio“, oder „Mulatte“) - weil es als schwere und nachgerade
blasphemische Beleidigung galt. Aber als noch schlimmer galt, jemanden als
„negro“ zu titulieren. Grundsätzlich wurde in informellen Schreiben oder
Gesprächen vor allem der Mantuano-Eliten, wenn von Menschen die Rede war,
die in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihnen standen, von las castas
gesprochen.
In den Kolonialstädten entstand bald zwar in Realität eine mestizisierte
Gesellschaft, deren Spitzen die mächtige Illusion der „Reinheit des Blutes“ und
des blanqueamiento (Erlangung oder Erhaltung des Status eines „Weißen“)
vertraten und aufrechterhielten. Das verlieh jeder politischen Bewegung gegen
die Vorherrschaft oder Wirtschaftsmonopole auch eine prärassistische
Komponente und zwang die wenigen „Weißen“ angesichts der numerischen
Vorherrschaft von „Nichtweißen“ fast um jeden Preis offene Konflikte zu
vermeiden. Die trügerische und träge erscheinende Ruhe der Kolonialzeit
beruhte auf mehreren Komplexen von Hass (die Humboldt meint, wenn er
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schreibt: „Die europäischen Regierungen haben so viel Erfolg in der Verbreitung
des Hasses und der Uneinigkeit in den Kolonien erzielt“498). Unterdrückter Hass
herrschte zwischen kreolischen lokalen Eliten und imperialen spanischen Eliten.
Zum Kastendenken der Kolonialgesellschaft und dem Hass zwischen Eroberern
und Unterworfenen kam der Hass der verschiedenen Indiovölker und -stämme
untereinander. Im Grunde betrachten Gartenbauern, wie Aruak und Kariben,
Wildbeuter und Sammler, wie Yanomami oder Warao, als eine Art räudige
Tiere („Affen“) unterhalb der Stufe des Menschseins.499
José Gil Fortoul (1861-1943), einer der ersten großen Historiker
Venezuelas, hat, aufbauend auf Humboldts Essay politique über Venezuela, ein
System der siete castas (sieben Kasten) erarbeitet (schon die Numerierung
drückt eine Bewertung von „oben-unten“ aus; ich zitiere alles, eben weil es auch
enthüllend ist):
1) Die in Europa geborene Spanier;
2) die in Amerika geborene Spanier, genannt „Kreolen“;
3) die Mestizen, Nachkommen von blanco [weißer Mann] und india
[Indianerin];
4) die Mulatten, Nachkommen von blanco [weißer Mann] und negro
[eigentlich Schwarzer, soll heissen „schwarze Frau“, in Realität also meist
Sklavin – M.Z.];
5) die zambos, Nachkommen von indio und negro;
6) die indios;
7) die negros, mit den Unterteilungen von: zambos prietos [dunkle
Zambos], Produkt von negro und zamba [Zambo-Frau – M.Z.]; cuarterones
[„Viertelblütler“, nach dem vorgestellten Anteil „weißen“ Blutes] von blanco
und mulata; quinterones [„Fünftelblütler“], von blanco und cuarterona, und
salto-atrás, die Mischung, in der die Farbe [color, damit ist die „Farbe“ der Haut
Humboldt, „Colonies“, in: Humboldt, Vorabend …, S. 63-67, hier S. 65f (Dokument Nr. 1).
Heinen; Pérez, “Zur Lage der indigenen Bevölkerung unter der neuen Verfassung Venezuelas”, in: Sevilla;
Boeckh (eds.), Venezuela …, S. 266-276, hier S. 269.
498
499
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gemeint – M.Z.]. In Venezuela nannte habituell man alle Personen, die nicht von
raza pura [reiner Rasse] waren, pardos, eine Kaste, die am Ende der Kolonie
[um 1800] die Hälfte der Gesamtbevölkerung umfasste. Zu Sonntagen und
Festen konnte man in den Kirchen von Caracas ein lebendiges Bild der Kasten
sehen. Zur Kathedrale gingen vorwiegend die Weißen; zur Iglesia de la
Candelaria, die isleños de Canarias [Kanarier]; nach Altagracia die Pardos und
zur Einsiedelei von San Mauricio die Neger“.500 In der Erwähnung der Kirchen
und Stadtbezirke zeigt sich die Verräumlichung des Rassendenkens, was auch
kompliziert klingt, aber ganz simpel darin sichtbar wird, dass „Weiße“, vor
allem reiche „Weiße“, in schönen Stadtgegenden wohnen und „Schwarze“ in
hässlichen, vom Stadtzentrum entfernten und ungesunden Barrios.
Jedes Aussprechen und Niederschreiben rassistischer Schemata ist
zugleich Prolongierung, aber auch Enthüllung von Praktiken der Exklusion und
ungesagten Unterdrückung von der Wiege bis zur Bahre. Kreolisierung ist
immer ambivalent. Deshalb wirkt vielleicht heute nicht so sehr irgendwelche
Rationalität von Programmen, die unter Hugo Chávez firmieren, sondern die
einfache Tatsache, dass der Präsident von „weißen“ Eliten mono (Affe) genannt
wird – ein Schimpfwort für „Neger“, von dem sich aber mehr als zwei Drittel
der Bevölkerung von Venezuela angesprochen und beleidigt fühlen kann.
Chávez nennt die „weißen“ Eliten im Gegenzug gerne Oligarcas oder
Mantuanos.
Das Schema von José Gil Fortoul, ein venezolanischer Mann der
Oberschicht, der viel auf die katalanische und „weiße“ Herkunft seiner
Vorfahren hielt, zeigt deutlich anschwellenden Rassismus ab Untergruppe „3)“
(wo wenigsten noch nach „weißem“ Mann und „india“ unterschieden wird; die
weiter unten aufgeführten Gruppen sind reine Objekte und reproduzieren ein
Schema, dass Ende des 18. Jahrhunderts von der Krone vorgegeben worden war
– Código Negro Español, 1789).
500
Zit. nach: Morón, Guillermo, Breve Historia de Venezuela. Prólogo de Demetrio Ramos, Madrid: Espasa Calpe,
1979, S. 145.
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Ein mächtiger Grundprozess dieser Gesellschaft war die
Mestizisierung501, ihr ideales Ziel aber die Einweißung (was eine Reihe von
regelrechten psychosozialen Spaltungen begründet); die Mischung der
Mischungen (pardos) machte um 1750 schon über 50% aus. Im 18. Jahrhundert
konnte kaum noch jemand in der Masse der Misch- und Rassentypen wirklich
auseinanderhalten (und auch nicht wollte - falls es nicht politische oder
wirtschaftliche Interessen gab). So unterschied man im Alltag in kultureller
Hinsicht vor allem zwischen Leuten, die sich der spanisch-amerikanischen
Wirtschafts- und Lebensweise in den Städten angeschlossen hatten.
Hispanisierte Mestizen und Mulatten, ziemlich egal mit welchen realen Anteil
indianischen oder schwarzen Blutes, wichtig waren Phänotyp und Hautfarbe
(nach Humboldt: „In den Kolonien ist die Hautfarbe der wahre Ausweis der
Stellung des Einzelnen“) waren in diesem Sinne im 18. Jahrhundert Leute,
zumindest zeitweilig in der Stadt lebten und sich an das kolonial-spanische
Wirtschaftsleben angepaßt hatten. Ein „Indianer“ mit indianischen Vorfahren
konnte in diesem Sinne durchaus als Mestize bezeichnet werden und war es in
sozialer Hinsicht auch; während der wirkliche Mestize, wenn er etwa mit seiner
indianischen Mutter vorzog in der „Welt“ der ländlichen Indios (in einem
Indianerdorf - reducción - oder gar bei den „wilden“ Indios – indios bravos - zu
leben) als Indio galt. Humboldt hat die Lebensweise und die Mentalität eines
solchen „sozialen Indio“, der sich zugleich mental für einen „Spanier“ hielt,
beschrieben (31. März 1800, am oberen Orinoco, Venezuela):
„Nachts am 31. Merz, und von nun an immer, unter freiem Himmel bei
Vuelta del Joval am rechten Ufer in Art Conuco eines Mata Tigers [502] D[o]n
Ignacio, ein Gemisch aller Kasten, erzkupferbraun, ganz nakd wie alle seine
Töchter, aber stets von nos otros Cavalleros blancos [wir weißen Herren], seiner
501
Allerdings kann auch die Betonung der Mestizisierung, wie in Brasilien, zeitweilig Kuba und Venezuela üblich,
ein „demokratisches“ Mittel der rhetorischen Verschleierung wahrer Machtverhältnisse sein. Noch heute gibt es
etwa in Kolumbien keinen Politiker mestizischen oder mulattischen Phänotyps und Hugo Chávez ist der erste
„Pardo“ als Präsident Venzuelas – ich betone nochmals die Ambivalenz „rassistischer“ Worte und Begriffe – ihre
Anwendung kann auch enthüllen.
502
Mata Tiger = Jaguarjäger.
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vornehmen Herkunft, der Doña Isabella, seiner Gemahlin, Doña Manuela, seiner
Tochter, alle naktarschig, sprechend. So sind die Menschen in diesem Lande.
Europ[äische] Laster, Span[ischer] Uebermuth unter allen Kasten verbreitet und
den Menschen bis in die Wildniß ((der S[eñor] Don Ignacio hatte nicht einmal
eine Palmenhütte, aber Platanus und Wildpret, das er mit Pfeilen erlegt (denn ein
Schuß Pulver kostet 1/14 duro) im Ueberfluß)). Unter den Weißen und
Indianern, die ihnen gleich sind, eine völlige Gleichheit“.503
Mit der stärkeren Abgrenzung der Oberschichten von den „armen
Weißen“ (kanarische Einwanderer und blancos de orilla, ebenfalls meist
kanarischer Abstammung) den Pardos und castas mixtas („Mischkasten“) und
Verschärfung der Kastennormen (color-lines) während der wirtschaftlichen
Prosperität des 18. Jahrhunderts einerseits, des Versuches der Krone,
wirtschaftlich erfolgreiche und dynamische Gruppen der Pardos zu integrieren,
vertiefte sich auch die sozio-kulturelle Auslese seitens der lokalen Machtgruppe
der Eliten „weißer“ Kreolen: diese Art von Auslese hat in den meisten Fällen natürlich auch über die soziokulturellen Wertigkeiten und ethnisch-soziale
Mentalitäten (Normen) - zu einer „Einweißung“ der Mischlinge und zur Bildung
neuer Kasten geführt. Das galt besonders für die „Mestizen“. Offiziell gab es
kaum legale Normen, die sie verfemten, aber sehr viele kulturelle Hindernisse
(Sprache, Traditionen, Physiognomie, Outfit (Habitus), Essen, Medizin,
Lebensumfeld, Wohngegend, Literalität). Seit der Conquista galten die ersten
Mestizen (Weiß-Indio) als „Blancos“, erst nach den ersten ein-zwei
Generationen wurden sie gewohnheitsrechtlich und kulturell mehr und mehr den
Pardos zugerechnet („las leyes consideraban al mestizo como blanco, aunque
las costumbres coloniales lo envolvían en la casta genérica de pardo“504).
Mestizinnen generell und auch Mestizinnen der zweiten oder dritten Generation,
sofern sie in den Städten lebten, bevorzugten unter dem Druck der
Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution …, S. 236f.
Morón, Breve Historia de Venezuela …, S. 359f. (Fall Dr. Juan Germán Roscio) (Morón, Guillermo, Breve
Historia de Venezuela. Prólogo de Demetrio Ramos, Madrid: Espasa Calpe, 1979, S. ?).
503
504
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Kastennormen die Ehe mit einem im zeitgenössischen Status höher stehenden
„weißen“ (oder „weißeren“) Mann, so dass deren Nachkommen nach und nach
wieder im Typ des amerikanischen Weißen aufgingen (oftmals schon in der
dritten Generation). Das alles stellte eine an politisch und kulturell definierten
Sozialnormen orientierte Auslese dar; es vollzog sich eine damals als
„Entbastardisierung der Mestizen“ genannte oder wie Max Weber schrieb, als
sozial-politische (durch Heiratsnormen gelenkte) „Reinzüchtung
anthropologischer Typen“, wobei die Merkmale der spanisch-europäischen
Ahnen fast rein wieder hervortraten (Halperin Donghi: „soziale Rassen“).
Generell galt die offizielle Ehe (die inoffizielle Ehe der barraganía sowieso
nicht!) etwa für einen Spanier mit einer Mestizin in erster Generation nicht als
gesellschaftlich diffamierend und beeinträchtigte juristisch nicht die limpieza de
sangre (selbst in Spanien erst zwischen 1835 und 1865 (Gesetz) sowie
Verfassung von 1869 endgültig beseitigt505) seiner Person oder seiner Kinder. In
der Realität des Alltagslebens und des täglichen Klatsches wurden Mestizen
aber durchaus als „Indios“ diffamiert, die sprichwörtlich als gente sin razón
(Leute ohne Verstand) galten. Das ist der Hintergrundkonflikt beim Aufstieg gut
gebildeter „Indios“, wie etwa die der Mestizen Benito Juárez in Mexiko, oder
Juan Germán Roscio in Venezuela – und heute der intellektuelle Hochmut
gegenüber Hugo Chávez. Roscio, einer der geistigen Mentoren der radikaleren
Unabhängigkeitsbewegung, musste sich gegen den Vorwurf wehren, er sei
Pardo und könne deswegen nicht als Rechtsanwalt tätig werden. Roscio stellte
zunächst fest (und in diesen Feststellungen spricht sich der Protorassimus der
Kastennormen deutlich aus): „meine Mutter hatte Reputation und wurde als
Quarteron-Mestizin angesehen, Tochter einer Mestizin und eines anständigen
Mannes von Wertschätzung, … Don Juan Pablo Nieves, und auch wenn ein
Bruder und eine ihrer Schwestern sich mit Pardos verheiratet hatten, hatte sie
Veracochea, Ermila de, „La ‚limpieza de sangre’ a través de la Real Audiencia de Caracas“, in: Academia
Nacional de la Historia, Memoria del segundo Congreso venezolano de historia del 18 al 23 de Noviembre de 1974,
3 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1975, Bd. III, S. 353-385, hier S. 355.
505
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nicht von dieser Rasse und auch nichts vom Neger“.506 Roscio argumentierte mit
dem „natürlichen“ Gleichheitskonzept der französischen Revolution und drückte
auch sein Mitgefühl mit den „durch Sklaverei erniedrigten“ Negros, Zambos
und Mulatos aus, die man seiner Meinung nach nicht „Neger“ nennen solle,
sondern Afrikaner, Äthiopier, Guineer, Luangos oder Congos.507
Demographisch gesehen, bestand die Bevölkerung der Generalkapitanie
um 1800 aus etwa 900000 Individuen (1800), davon 90000 Negersklaven; rund
160000 Indios (inklusive der indios bravos, der in Wirklichkeit ungezählten
„wilden“ Indios), 450000-500000 Pardos; rund 180000 „weißen“ Kreolen (rund
20%), zu denen auch die städtischen Oligarchien, der Cabildos und der großen
Landbesitzer zu rechnen sind sowie etwa 1500 Spanier (aus Spanien) und 10000
frisch eingewanderte Kanarier.
Ich habe in dieser Zusammenfassung (oben) die in der Literatur sehr
verbreitete Tabelle (nach Humboldts Schätzungen für die Generalkapitanie)
einmal umgedreht und die Negersklaven, Indios und Pardos zuerst genannt,
denn schon die andauernde Visualisierung solcher Tabellen hat dazu
beigetragen, dass dieses Schema im Grunde bis heute interiorisiert blieb und bis
heute ein Mittel sozialer Herrschaft „weißer“ und „lateinischer“ Eliten geblieben
ist. Die „normale“ (aber wissenschaftlich etwas elaborierte) Version dieses
Schemas der Bevölkerung Venezuelas um 1800 (Capitanía General de
Caracas)508 ist die folgende:
Kasten (sozialer (legaler) Status)
Anzahl
%
12.000
172.727
1,3
19,0
% von Gesamt
(nach „Kasten“)
Weiße („Spanier“)
Kreolen (z.T. auch „arme Weiße“ und
20,3
„Información de Calidad del Dr. Juan Germán Roscio, natural de San Francisco de Tiznados y vecino de
Caracas, para ser incorporado en el Colegio de Abogados, el cual le rechaza por ser hijo de la cuarterona Paula
Nieves, hija de Don Juan Pablo Nieves y la mestiza Francisca Prudencia Martínez, por más que su padre era Don
José Cristóbal Roscio, natural del Ducado de Milán, 1798-1799”, in: Cortés, Santos Rodulfo, El régimen de las
“Gracias al Sacar” en Venezuela durante el período hispánico, 2 Bde., Caracas : Italgráfica ; Academia Nacional de
la Historia, 1978 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 135-136), Bd. II (Documentos Anexos), S.
128-155, hier S. 129.
507
Ebd., S. 137.
508
Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela, 2 Bde., Caracas : Universidad Central de Venezuela,
1966, Bd. I, S. 160.
506
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Kanarier)
Pardos (freie Farbige)
Neger (frei/Manumisión)
Negersklaven
Cimarrones (Schwarze, Mulatten, Zambos)
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407.000
33.362
87.800
45,0
4,0
9,7
45,0
2,6
8,4
3,3
6,7
16,3
Indios (Tribut)
Indios (ohne Tribut)
Indios (“Wilde”)
24.000
75.564
25.590
60.000
Total
898.043
100,0
100,0
18,4
Lucena Salmoral kommt unter Nutzung der Daten von John V. Lombardi
zu folgender demographischer Struktur: 25% Weiße, ca. 13% Indios, ca. 38%
Pardos, ca. 8% Negros libres und ca. 15% schwarze Sklaven.509
Die moderste Demographie, die auch wirklich auch die
sozioökonomischen Trennlinien und die Status-Grenzen innerhalb der Gruppe
der Weißen berücksichtigt, geht auf John V. Lombardi zurück510:
 Soziale Gruppe
Zahl
% Bev.
 Spanier
1500
0,18
 Elite-Kreolen
2500
0,31
 Kanarier (Inmigr.)
10000
1,25
 Blancos de orilla
190000
23,75
 Pardos
400000
50,00
 Negros
70000
8,75
 Indios
120000
15,00
 Total
800000
rund 100.00511
Aber auch der entgegengesetzte Trend war möglich, wie schon unter dem
Punkt soziokulturelle Phänomene in Bezug auf die Kastengesellschaft skizziert:
Männliche Mestizen, die von ihren spanischen Vätern nicht legitimiert wurden,
fanden schwerlich eine weiße Ehepartnerin und gingen Verbindungen mit
509
Lucena Salmoral, Vísperas de la independencia americana ..., S. 24.
Nach: Lombardi, Peoples and Places in Colonial Venezuela …, S. 132; Izard, Series estadísticas para la historia
de Venezuela …, S. 9; Báez Gutiérrez, Historia popular de Venezuela: Período independentista ..., S. 3.
511
Nach: Lombardi, Peoples and Places in Colonial Venezuela …, S. 132; Izard, Series estadísticas para la historia
de Venezuela …, S. 9; Báez Gutiérrez, Historia popular de Venezuela: Período independentista ..., S. 3.
510
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Mestizinnen oder Indias ein und sanken somit in der sozial-ethnischen
Stufenleiter zurück. Die Kirche trug zur Bildung der Kastengesellschaft bei. Die
Gemeindepriester führten drei getrennte Register (Taufen, Heiraten und
Begräbnisse):
1) für „Spanier“ oder „Blancos“ (Weiße) 512;
2) für „Pardos“ (in Sklavereigesellschaften oftmals noch in „pardos“ und
„negros“ unterteilt);
3) für „Indios“ und „Mestizos“; sofern sie in Städten lebten wurde diese
Kategorie in Venezuela meist unter „Pardos“ subsumiert.513 Für „Indios“ in
Missionen und Resguardos sowie für die so genannten „wilden“ Indios galten
andere Normen, ebenso wie für die vielen geflohenen ehemaligen Sklaven
(cimarrones).
Im 18. Jahrhundert kam eine Vielzahl von Einzelbezeichnungen Kasten
und Unterkasten verstärkt auf. Auch sie wurden bildlich dargestellt.514 Diese
Visualisierung in zeitgenössischen Medien zeigt die volle Herausbildung der
Kastengesellschaft als strukturelle Antwort auf eine Reihe von komplexen
Problemen in der Entwicklung der Kolonialgesellschaften Amerikas. Längere
Zeit sind Kastengesellschaft und die Klagen über sie (die oftmals in
Begründungen für Aufstände und soziale Unruhen zu finden sind bzw. in
Forderungen) als Ausdruck einer stark hierarchisierten und festgefügten, ja
regelrecht versteinerten Gesellschaft angesehen worden. Die neuere Forschung
Im Sinne von Amerikaspanier, also „Kreolen“, denn in Europa geborene Spanier waren dort in die Taufbücher
eingetragen; für Rechtsfälle mussten sie Kopien dieser Tauf- oder Heiratszeugnisse beibringen.
513
Allerdings ist die entsprechende Eintragung in das Kirchenbuch nicht immer als Beweis für die tatsächliche
Zugehörigkeit einer Person zu betrachten, siehe: Konetzke, Süd- und Mittelamerika I, Frankfurt/Main 1964, S. 101.
Das bedeutet, dass Väter mit viel Macht und Einfluss etwa ihre „natürlichen“ Kinder in das Taufbuch für „Weiße“
einschreiben lassen konnten.
514
García Sáiz, María C., „Die Rassenmischung in Amerika und ihr Niederschlag in der Kunst“, in: Gold und
Macht. Spanien in der Neuen Welt (Ausstellungskatalog), Köln 1987, S. 132-136. Die Autorin stellt zu den
Mestizen-Bildern fest: Der „wirkliche Grund für diese Art von Bildern, die die Werteskala [weiß ist der absolut
höchste Wert] ... umdrehen und als Hauptperson unzähliger Gemälde Mestizen ... zeigen, [liegt] in einer
teifgreifenden Mentalitätsveränderung innerhalb der Menschen der Stadt und auch der Landbevölkerung“ (S.133).
Hier manifestiert sich in der Kunst (als soziales Barometer) die Tatsache, dass Mestizen der größte Teil der
Bevölkerung waren. Älteste bekannte Serie aus Schule um Juan Rodríguez Xuarez, von 1725. Die
„Rassenbilderserien“ umfaßten stets 16 Einheiten. Meist waren die ersten sieben oder acht Bilder dem Mestizen,
bei dem die „weiße Rasse“ einen mehr oder minder starken Einfluß hatte; das letzte Bild dieser ersten Achter-Serie
widmeten sie dem reinblütigen Indio; die restlichen acht Bilder den Verbindungen zwischen Neger und Indianer
und den verschiedenen Kasten dieser „Rassenmischung“ (S.135).
512
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dazu übergegangen, sie als dynamisches Element einzuordnen. Die Verhärtung
der Kastenstrukturen war in dieser Perspektive eine Gegenwehr der
amerikanischen Spanier, besonders der kreolischen Oligarchien515, die damit den
demographisch-sozialen Dynamik der Pardos (die auch noch von seiten der
absolutistischen Modernisierung der Krone gefördert werden sollte) aufhalten
oder zumindest nach ihren Interessen steuern wollten. Die festgefügten und
machtbewußten kreolischen Oligarchien der Städte antworteten mit der
Kastenordnung auf die Selbstorganisation einer Gesellschaft, die im biologischsozialen Sinne zu regional unterschiedlichen Formen der Mestizisierung
tendierte. Die Kastenordnung, für die einzelnen Städte mit ihren
unterschiedlichen konkreten Situationen müsste man eigentlich von
Kastenordnungen sprechen, dienten der Abwehr der wirtschaftliche Dynamik
der Pardos und Mestizen, freigelassenen Sklaven und freien Farbigen. Die
Oligarchien reagierten mit stärkerer Betonung lange vorhandener Unterschiede,
Farblinien und kultureller Differenzen. Die Instrumentalisierung des
Kastensystems zur Konstruktion und Bewahrung von Herrschaft zeigte sich auf
vielerlei Art und Weise (die cum grano salis auch heute noch üblich sind). Die
Masse der freien Farbigen und ein großer Teil der armen Weißen (die Masse der
Einwanderer, vor allem Kanarier, Isleños, wie Sebastián de Miranda Ravelo, der
Vater von Miranda) wurden als Pardos („Mischlinge“) stigmatisiert, was
gleichbedeutend war mit „Abkömmling von Negern“ und sehr nach gente sin
razón klang.516 Verbunden waren diese Herabsetzungen mit sehr subtilen
Formen sozialer Diskriminierung: Sprichwörter, Witze, Zerrbilder, Text- und
Denkfiguren, die den „Mischlingen“ vor allem die schlechten Eigenschaften der
Ursprungsrassen andichteten („Halbblut“). Oft tritt die rassistische
Kastenmentalität in Beobachtungen zu Tage, die anderen hauptthemen
Siehe das gute operationale Konzept von „oligarquía“, das auch die politische Dimension einschliesst: Prato
Barbosa, N.; Carvallo, Gastón, „La conformación del sistema de dominación oligarquico en Venezuela“, in: Boletín
de la Academia Nacional de la Historia (BANH) LXXI, Nr. 283, Caracas (julio-sept 1988), S. 695-705.
516
Miranda, Sebastián, Recuerdos y añoranzas: mi vida y mis amigos, Madrid: Editorial Prensa Española, 51973;
Fernández, David W., La familia de Miranda: historial genealógico de la familia del Precursor Miranda en Canarias
y en América, Caracas: Instituto de Estudios Históricos Mirandinos, 1972.
515
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gewidmet waren. So traf Humboldt auf dem Wege von Valencia nach San
Fernando de Apure einen alten kranken Spanier: „In Güigue wohnten wir bei
einem alten Sergenten, krank, aus Murcia, lange in Mallorca, sehr lästig gelehrt,
die Schöpfungsgeschichte auswendig wissend und zwar lateinisch … sehr stolz.
Er glaubt, ein Zambo, Pereida (ein Curioso in Valencia517), der als Arzt großen
Ruf hat, könnte seinen rheumat[ischen] Schmerz heilen, aber der Zambe, sagt er,
den Gott bestimmt geschaffen hat, eine humilde und niedrigere Kreatur zu sein,
verlangt viel Höflichkeit, und deshalb geh’ ich nicht zu ihm“.518
Das bürokratische Instrument des Nachweises der limpieza de sangre
(„Reinheit der Blutes“519) wurde verschärft angewandt, wie im Falle von Juan
Germán Roscio. Dazu konnten sich die kreolischen Oligarchien ihrer geistigkulturellen und bürokratischen (auf den unteren/lokalen Ebenen der
Kolonialadministration) Vorherrschaft in den Kolonialstädten bedienen.
Schließlich waren (vor allem) die zweiten Söhne Universitätslehrer,
Rechtsanwälte, Notare, Kleriker, Lokalrichter (tenientes de justicia, jueces),
Milizoffiziere, Angehörige der Stadträte oder im Vorstand von Kirchen, Schulen
oder Zünften.
Zudem unterhielten die kreolischen Eliten immer auch pressure groups
bei Hofe in Madrid, wo sie durch persönliche Beziehungen, aber auch
Bestechung versuchten, Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewinnen. Legendär
sind die Anlieferungen von ganzen Schiffladungen besten Kakaos für höchste
Beamte – so konnte der Conde de Aranda vor dem berühmten Aufklärer Abbé
Raynal mit seiner guten Schokolade aus Caracas prahlen. Der Consulado von
Caracas finanzierte sogar einen apoderado (Bevollmächtigten) bei Hofe in
Madrid520; 1796 war das Bernardo del Toro mit einem Jahresgehalt von 2000
Pesos. Bolívars erster Aufenthalt in Spanien 1799-1802 diente dem Zweck, den
517
Curioso=Curandero, Heiler.
Humboldt, Alexander von, „Durch die Llanos von Guacara bis San Fernando de Apure“ (6. März-27. April
1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela ..., S. 222-235, hier S. 222.
519
Veracochea, „La ‚limpieza de sangre’ a través de la Real Audiencia de Caracas“, S. 353-385
520
Rivero, Manuel Rafael, Tras las gracias del Rey. Un criollo en la corte de Carlos IV, Caracas: Monte Ávila
Editores Latinoamericanos, 1996.
518
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jungen Mann in die Kreise der Pressure-Group aus Caracas einzuführen (und
wurde wohl auch mit Kakaolieferungen finanziert); 1802 heiratete Bolívar die
Tochter del Toros, María Teresa del Toro y Alayza (Madrid, 15. Oktober 1781 –
Caracas, 22. Januar 1803), die ein Jahr danach an Gelbfieber starb.
Entre los privilegios de que gozaban los pertenecientes a los grupos
procedentes del viejo continente figuraba el poder llevar armas, vestir a la
europea, ocupar cargos de gobierno, y ocupar determinados lugares dentro de la
iglesia. Junto a estos privilegios sociales, los blancos recién llegados esperaban
mejorar su situación económica por vía matrimonial; la situación social de este
grupo no era pues, nada infausta si tenemos en cuenta los puestos a los que sus
integrantes podían aspirar. Por el contrario, los mulatos, catalogados
genéricamente como "pardos", pese a que podían ser propietarios y de una
situación económica desahogada, estaban socialmente discriminados por el color
de su piel, delator del dudoso y posiblemente pecaminoso cruce que les había
"blanqueado". Los pardos estaban excluidos de los organismos de gobierno
coloniales, como los cabildos, o la audiencia; además, de tanta trascendencia
como las limitaciones políticas eran las restricciones sociales a las que estaban
sometidos, tales como la prohibición de usar oro, prendas de seda, o llevar
espada. El control de los mestizo se llevaba a cabo en las parroquias, en las que
los curas cumplimentaban el "libro de pardos" en los que se anotaban los
bautizos de gentes de color. También otras instituciones, como las órdenes
religiosas y colegios profesionales, imponían limitaciones a este grupo racial.
La relevancia económica que llegaron a alcanzar los pardos junto con las
perennes necesidades de ingresos de la Real Hacienda fueron factores que
hicieron que la Corona dictaminase la Real Cédula de "Gracias al sacar",
originada en l773 pero dictaminada en l795, en la que se regulaba la posibilidad
de "blanquear" la sangre de los pardos previo pago de un canon estipulado. La
aplicación de esta ley provocó un profundo malestar entre los criollos, pues
rompía el inestable y ya de por sí delicado equilibrio entre los grupos sociales
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constituyentes de la colonia. Ante esta muestra, considerada de torpeza por parte
de los legisladores indianos, el Cabildo de Caracas alzó su voz de protesta en un
informe de 28 de noviembre de l796, aludiendo al hecho de que, con la
aplicación de la ley, se rompía la estructura socio-racial establecida desde la
conquista: "es espantoso a los vecinos y naturales de América, porque sólo
ellos conocen, desde que nacen o por el transcurso de muchos años de trato en
ella, la inmensa distancia que separa a Blancos y Pardos; la distancia y
superioridad de aquéllos, la bajeza y subordinación de éstos: como que nunca
se atreverán a creer como posible la igualdad que les pronostica la Real
Cédula, si no hubiera quien protegiendoles para depresión y ultraje de los
vecinos y naturales Blancos, los animase y fervorizase con la esperanza de una
igualdad absoluta con oposición a los honores que hasta ahora han sido
exclusivamente de los Blancos"521. Junto a esta desigualdad natural entre los
distintos grupos, el Cabildo de Caracas esgrimía otro argumento muy en boga en
la época; se trataba del "infame origen" de pardos, zambos y mulatos. Pero, no
obstante, había otro argumento de más peso que podía suponer la muerte del
sistema esclavista; según el Cabildo de Caracas era imposible la equiparación de
blancos y pardos porque el origen de los pardos no era otro que la esclavitud.
La Real Cédula equiparaba los derechos de los pardos y los blancos,
rompiendo la situación colonial y creando una tendencia a la igualdad entre los
dos grupos de suerte que, al tener los pardos su origen en los dos grupos de
suerte que, al llegar a perder el espíritu de sumisión, produciéndose la
desaparición del sistema esclavista por la pérdida del prestigio y la superioridad
por parte de los blancos. Los mantuanos caraqueños, por tanto, dejan ver
claramente el temor a los hombres de color y a la revolución social en la
Capitanía. Las necesidades defensivas de la colonia habían derivado en la
creación de batallones de milicias de pardos, con la misma estructura que los
formados por hombres blancos; en estos cuerpos auxiliares del ejército, los
521
BLANCO, J F, AZPURUA, J. Documentos para historia de la vida pública del libertador. Vol I P, 268.
Caracas 1975.
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hombres de color recibían instrucción militar. Esta decisión de incluir en los
planes de defensa militar a los pardos tampoco era bien vista por los caraqueños,
que desde la revolución de Haití observaban con recelo la evolución de este
grupo étnico. Si conseguían además obtener puestos de gobierno, al adquirir
condición de "blancos" por medio de la Cédula de "Gracia al sacar", la
revolución sería inevitable según los caraqueños, pues provocarían la
insurgencia general. El temor de los mantuanos a los pardos se hizo extensivo a
las autoridades coloniales, que veían en esos grupos el mejor caldo de cultivo
para la revolución; en el fondo se trataba de evitar la influencia de 450000
pardos y negros libres, frente a los l87000 blancos, que tampoco formaban un
grupo homogéneo.
Creemos que, con esta Real Orden, la Corona pretendía evitar una
situación tan tensa como la que podía derivarse de su aplicación. En este proceso
revolucionario de Haití los pardos "affranchis" habían jugado un papel decisivo;
en un principio, participaron junto a los republicanos que habían propuesto la
equiparación de derechos, pero la oposición de los plantadores dejó sin efecto la
orden. Posteriormente, radicalizaron sus posturas y se sumaron a la revolución
de los esclavos, llegando a jugar así un papel decisivo en los acontecimientos.
La Corona española pretendía colmar las aspiraciones de los pardos
enriquecidos equiparándoles en derechos a los blancos, y de esta forma
fortalecer su posición en la colonia, con ello intentaba evitar una radicalización
de aquellos que hiciera peligrar el orden colonial. La oposición mantuana a la
reordenación social es una muestra más de la resistencia de los criollos a las
reformas del sistema colonial propuesto por los Borbones, que pretendía un
mayor control sobre las colonias (Ecos de revolución – Javier L.).
Die Krone versuchte auf Basis der Konzepte der Aufklärer, vor allem
aber, um Unzufrriedenheit wirtschaftlich potenter Pardos zu kanalisieren, die
soziale Aufsteiger-Dynamik der Pardos, Mulatten und Mestizen zu nutzen. Sie
stellte in einer Real Cédula (Gracias al Sacar) gegen Geldzahlung Status und
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„Weiße“ in Aussicht: für den Titel „Don“ sollten soundsoviel Pesos gezahlt
werden, sogar der Status eines „blanco“ konnte gegen hohe Summen gekauft
werden (die Zulassung zu bestimmten Berufen – wie Rechtsanwalt oder Arzt –
sowieso).522 Mit ihrem bürokratischen und kulturell-politischen Widerstand
gelang es den kreolischen Oligarchien allerdings oft, den durch die
bourbonischen Reformer geöffneten Aufstiegskanal der „Dispensation auf dem
Gnadenwege“ (Gracias al sacar) schnell wieder zu verstopfen. In Venezuela
war der Widerstand der kreolischen Oligarchien besonders hart.523 Der Vater
von Francisco de Miranda, ein Isleño, wurde als „Mulatte, Kleinhändler und
unwürdig“ diffamiert. Einzelne Menschen aus den als Pardos und niedere castas
definierten Gruppen, in erster Linie Mestizen, versuchten sich durch
Selbstdarstellung und Entwicklung eines eigenen Selbstbewußtseins gegen die
Kasten-Herabdrückung zu wehren: in friedlicher Form innerhalb der Normen
der Kastengesellschaft und der kolonialen Ordnung des Imperiums - Ausdruck
waren cabildos (ständische Ratsversammlungen, auch nach Stadtvierteln
geordnet), gremios de pardos, cofradías (religiöse Bruderschaften), eigene
Milizeinheiten, die mit weißen Milizen in Konkurrenz traten und etwa die schon
erwähnten Mestizenbilder; Sebastián Miranda strengte einen Prozeß zur
Feststellung seiner hidalguía (niederer Adel) und eine Verleumdungsklage
gegen die Mantuanos Nicolás de Ponte und Martín Tovar Blanco an. Viele
Pardos reagierten aber auch in Form von Unruhen, Revolten und Aufständen;
Informationen aus Saint-Domingue/Haiti fielen bei ihnen auf fruchtbaren
Boden. Ein Schwachpunkt der Pardos war die Kastenmentalität selbst – also das,
wogegen sie sich eigentlich zur Wehr setzten. Nach „oben“ wurde das
Kastenprinzip nicht akzeptiert, nach „unten“ aber sehr wohl – so funktioniert
Unterdrückung (und Herrschaft) durch Diskurse, auch wenn diese Herrschaft
Cortés, El régimen de las “Gracias al Sacar” en Venezuela durante el período hispánico..., passim; das Dekret
wurde mehrfach wiederholt: “Real Cédula de 3 de agosto de 1801 de ‘Gracias al sacar’”, in: Blanco, José Félix;
Azpurúa, Ramón (eds.), Documentos para la historia de la vida pública del Libertador, 16 Bde., Caracas: Ediciones
de la Presidencia de la República, 1978, Bd. II, S. 44-51 (Dokument 287).
523
Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela ..., S. 41.
522
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immer instabil war.524 Lösbar war dieser Konflikt im Rahmen der
Kolonialgesellschaft nicht – zumindest in dieser politisch angespannten
Situation nicht. Im Grunde wurde um jeden einigermaßen einflußreichen Posten
- vor allem auf der lokalen Ebene (seien es Offiziersposten bei der Miliz, seien
es Richterposten oder Mitgliedschaften in einflußreichen Gremien (síndicos oder
procuradores)) - ein langanhaltender und zäher Kleinkrieg zwischen spanischer
Kolonialadministration (vor allem den Intendanten) und kreolischer Oligarchie
einerseits, zwischen kreolischen Oligarchien und Aufsteigern aus der Gruppe
der „armen“ Weißen oder der Pardo-Oberschicht sowie Mestizen andererseits
geführt. Nicht nur die kriegerischen Konflikte um Venezuela herum, in der
Karibik, stiegen an und wurden intensiver, auch die Konfliktivität innerhalb
dieser Gesellschaft stieg exponentiell an (auch durch häufigere Rebellionen und
Revolten) und wurde zudem noch dadurch multipliziert, dass es viele Konflikte
zwischen den Oligarchien der Städte und Provinzen stattfanden. Unter anderem
kam es 1781-1782 zur Erhebung der Comuneros von Mérida (und anderen
Andenorten) gegen Steuererhöhungen und gegen das Tabakmonopol; auch unter
den Sklaven, Indios sowie den Cimarrón-Llaneros des Casanare und Cunaviche
kam es zur Rebellionen.525 Seit dem Ausbruch der Revolution auf SaintDomingue brachen auch in Venezuela immer häufiger Rebellionen aus, die fast
alle das gleiche Muster zeigten – fast immer waren Pardos und Milizen der
Pardos sowie Korsaren verwickelt oder es kam zu Sklavenrevolten, oft im
Zusammenspiel mit Ideen der haitianischen und der französischen Revolution.
Die Zirkulation dieser Ideen war auch an Texte526, aber zuallererst natürlich an
Menschen, das heisst, an Seeleute, Migranten und Schiffe gebunden, so dass
Rodríguez, Manuel Alfredo, “Los pardos libres en la Colonia y la Independencia”, in : BANH, Nr. 299, Caracas
(julio-septiembre 1992), S. 33-62.
525
Academia Nacional de la Historia (ed.), Los comuneros de Mérida, 2 Bde., Edición conmemorativa del
bicentenario del movimiento comunero, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1981 (Biblioteca de la
Academia Nacional de la Historia; 152-153); Rausch, “Forgotten Comuneros: The 1781 revolt in the Llanos of
Casanare”, in: HAHR 61 (1981), S. 235-257; Álvarez M., Víctor, “La insurrección comunera en la provincia de
Antioquía”, in: III Congreso de Historia Colombiana. Memorias. Medellín, noviembre 17 al 21 de 1981, Medellín:
Universidad de Antioquia, 1983, S. 93-124.
526
Sosa Llanos, Pedro Vicente, “Influencia del Código Negrero de 1789 en la insurreción de los negros de Coro”,
in: Boletín de la Academia Nacional de Historia (BANH), Nr. 310, Caracas (abril-mayo-junio 1995), S. 111-116.
524
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„Karibik“ zu einer Chiffre für Revolution wurde.527 Die Chiffre „Karibik“
bedeutete - neben der großen Sklavenrevolution auf Haiti im Zentrum der
Karibik - an den Küsten Venezuelas die Rebellionen, Verschwörungen und
Insurrektionen der Cimarrones unter Miguel Guayamaya, capitán de
cimarrones, von Coro 1795 unter dem Anführer der negros, zambos und indios,
José Leonardo Chirino und José Caridad González, Chef der negros loangos von
Coro, die transatlantische Konspiration von Manuel Gual und José María
España 1797 sowie den Rebellionsversuch von Maracaibo 1799.528 In diesem
Sinne kontrollierten Pardos und Cimarrones die Karibik, natürlich nur dort, wo
nicht gerade die Fregatten und Linienschiffe der Großmächte auftauchten. Im
Zentrum dieser Karibik lag seit 1791 Saint Domingue/Haiti. Deshalb hob der
Teniente Justicia Mayor von Coro auch die Rolle der „Ley de los franceses“ als
Grund für die Rebellion von Coro hervor.529
Die kreolischen Eliten kontrollierten die Cabildos der Städte und die
Exportlandwirtschaften. Und sie stritten mit den Kolonialfunktionären um die
Kontrolle der Extraktionsmaschine – das heisst konkret um Steuern, Abgaben
und Zölle, aber auch um Bodeneigentum und Kontrolle der Ressourcen. Die
stärkere Instrumentalisierung der Kastennormen hatte auch ökonomische
Gründe: in den Städten konnten Pardos und arme Weißen kaum ausreichende
527
Zu paradigmatischen Sicherheitsmassnahmen bei Sklavenrevolten in der Karibik, besonders nach Coro 1795,
siehe: AGI, Estado 65, N. 30: Carta del Capitán General de Caracas, Pedro Carbonell, al Duque de Alcudia sobre
insurrección de esclavos en Curazao, Caracas, 5 de noviembre de 1795.
528
Brice, Ángel Francisco, La sublevación de Maracaibo en 1799: manifestación de su lucha por la independencia,
Caracas: Italgráfica, 1960; Díaz Ungría, Jesús, “El zambo precursor: perfil humano de José Leonardo Chirino”, in:
BANH, Nr. 170, Caracas (abril-junio 1970), S. 309-317; Blanco, Miguel Guacamaya ..., passim; Scott III, Julius
Sherrard, “Crisscrossing Empires: Ships, Sailors and Resistance in the Lesser Antilles in the Eighteenth Century”,
in: The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, ed. by Paquette, Robert L., Engerman, Stanley,
Gainesville: University Press of Florida, 1996, S. 128-143; Geggus, “Slavery, War, and Revolution in the Greater
Caribbean, 1789-1815”, in: Gaspar, Barry D.; Geggus, David A., A Turbulent Time. The French Revolution and
the Greater Caribbean, Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1997, S. 1-50; López Bohórquez,
Alí Enrique (comp.), Manuel Gual y José María España, valoración múltiple de la conspiración de la Guaira de
1797, Caracas: Editorial Latina, 1997; Geggus, “The Influence of the Haitian Revolution on Blacks in Latin
America and the Caribbean”, in : Naro, Nancy Priscilla (ed.), Blacks, Coloureds and National Identity in
Nineteenth-Century Latin America, London: Institute of Latin American Studies, 2003, S. 38-59; Zeuske,
“Alexander von Humboldt y la comparación de las esclavitudes en las Américas”, in: HiN, VI, 11, Potsdam (2005),
S. 65-89, in: www.unipotsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/hin11/inh_zeuske.htm; Gómez, “La Revolución
Haitiana y la Tierra Firme hispana”, passim.
529
Documentos para el estudio de los esclavos negros en Venezuela. Selección y estudio preliminar de Troconis de
Veracochea, Ermila, Caracas : Academia Nacional de la Historia, ²1987 (Fuentes para la Historia Colonial de
Venezuela ; Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, Vol. 103), S. 311.
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Beschäftigung finden (weil die verachtete Handarbeit von Sklaven und freien
Schwarzen ausgeübt wurde) - im Gegenzug fehlte es auf dem flachen Land den
großen Zucker-, Kakao- oder Indigoproduzenten an billigen
Saisonarbeitskräften. Bergbauunternehmer benötigten billige Arbeitskraft für
schwere Arbeiten. In den mißachteten Arbeiten des saisonalen
Zuckerrohrschneidens oder Kakaopflückens arbeitete aber nur, wer sich auch
sozial (und ethnisch) mit einem schwarzen Sklaven vergleichen liess - also
musste man (aus Sicht der großen Hacendados) die „faulen“ und
„arbeitsscheuen“ Pardos in eine möglichst niedrige ethnisch-soziale Kategorie
hinunterdrücken und diese Erniedrigung möglichst noch mit Gesetzen zum
Arbeitszwang absichern.
Bis um 1780, etwa parallel zu den territorialen und bürokratischen
Veränderungen der boubonischen Reformen, gelangt es den kreolischen
Oligarchien nahezu vollständig, ihre Konzepte von Sozialdisziplin und
„Ordnung“ durchzusetzen und all ihre Normen zu einem regelrechten inneren
Herrschaftssystem informeller Natur auszubauen. Faßbar, man könnte sogar
sagen sichtbar, wurde dieses innere informelle Herrschaftssystem in einer
äußeren Machtstruktur - der Beherrschung der lokalen Ebene durch die
Mantuanos in fast allen Dimensionen und Ämtern; symbolisiert wurde diese
Ebene im Cabildo, dem Stadtrat.
Neben dem Gesellschaftskonzept der Kasten, der Kastenmentalität und ästhetik sowie der Beherrschung der lokalen Machtkorporationen (Cabildos,
Universitäten, Milizen) spielten weitere Sozialtechniken eine wichtige Rolle bei
der Durchsetzung des informelles Herrschaftssystem: Korruption, Nepotismus,
Klientelismus, Heiratsstrategien, Erbschaftsregelungen, informelle
Pressionspolitik bei den hohen spanischen Beamten (Gouverneuren,
Generalkapitänen oder Vizekönigen) oder am Hof, das System von
Freundschaften und Patenschaften sowie die Interpretation, interessengeleitete
Anwendung oder Hintertreibung aller existierenden Gesetze. Und natürlich
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Verleumdung. Paradox ist, dass diesem ganzen infomellen System eben durch
seine Informalität auch ein Keim zur Auflösung inhärent war – nämlich die
farbigen Kinder, die die Herren vom großen Kakao mit farbigen oder schwarzen
Geliebten zeugten. Alles in allem läßt sich bis Ende des 18. Jahrhunderts von
einer De-facto-Unabhängigkeit der Kolonialeliten unter dem informellen
Deckmantel der Kastenordnung sprechen. Das Problem für die urbanen
Oligarchien war, dass jede Stadt ihr eigenes System entwickelte und die lokalen
Eliten oft gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften. Auch die Elite von
Coro war, ebenso, wie die von Caracas stolz auf ihre „alten Privilegien“. Sie
bezeichneten sich auch als Mantuanos (ebenso wie die von Cumaná), weil sie
ihre soziale Präeminenz durch den Habitus einer reichbestickten Manta für ihre
Frauen ausdrückten; den Frauen der „Kasten“ war das Tragen solcher Mantas
verboten.530 Wie im Falle von Caracas oder Cumaná handelte es sich auch in
Coro um Oligarchien, die sich gegen das Aufkommen von neuen sozialen
Gruppen oder Ideen, auch und vor allem Mestizen und Mulatten, mit Betonung
ihrer alten Privilegien verteidigten. Seit 1810-1813 wanderten große Teile dieser
Oligarchie nach Cuba, Spanien und Puerto Rico aus. 531
Die imperialen Reformer aus Spanien glaubten dieses System durch
verbesserte Bildung für alle, gerechteren Landbesitz, Anerkennung nützlicher
Arbeit und Verbreitung des Konzepts der imperialen Nation (in Summa:
ilustración – Aufklärung) aufbrechen zu können. Sie hatten aber nur dort
wirklich Erfolg, wo sie die kreolischen Eliten einbezogen. Aber der radikale
Zentralismus, die tiefe Überezeugung von der Notwendigkeit tiefgreifender
Reformen und das Geschick sowie die Klugheit einer Reihe von imperialen
Beamten (vor allem aus der Gruppe der Reformintellektuellen und Praktiker,
wie einige Intendanten und Militärs) stellte durchaus eine Bedrohung für die
Arcaya, Carlos I., “Introducción”, in: Arcaya, Pedro M., Población de origen europeo de Coro en la época
colonial, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1972 (Fuentes para la historia colonial de Venezuela;
Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 114), S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXVI.
531
Arcaya, “Introducción”, S. XXVII-XXXVI, hier S. XXXVI.
530
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informellen Herrschaftsysteme der Kreolen dar – ebenso wie die
Gleichheitsbestrebungen den Pardos.
Eigenartigerweise waren es genau diese Zeiten, die ihrem äußeren
Anschein nach in den Texten von vielen Reisenden (visitas, spanische
Forschungsexpeditionen) als eine Epoche der Anarchie, der Unordnung und der
Ineffizienz erscheint – auch bei Humboldt wird das oft deutlich. Gerade dieser
äußere Eindruck der kreolisierten Gesellschaften Spanisch-Amerikas veranlaßte
die Forscher und Reisende im Auftrag des spanischen Hofes, Jorge Juan und
Antonio de Ulloa532, in ihren berühmten Noticias secretas de América
(„Geheimnotizen von Amerika“, 1749) voller Abscheu über die allgemein
verbreitete Korruption und die generelle Nichterfüllung von Gesetzen unter den
Kreolen Spanisch-Amerikas zu sprechen. Vor allem die lokalen Institutionen
und die Provinzebene - die eigentlichen Wirkungsstätten des kreolischen
informellen Machtsystems - strotzten nach Juan und Ulloa nur so vor Korruption
und Mißwirtschaft. Die Beobachtungen von Juan und Ulloa waren Teil des
äußeren Eindruckes, den die kreolisierten Gesellschaften Amerikas vermittelten,
zugleich verraten sie aber totales Mißverständnis ihrer Bedeutung. Der Begriff
„Amerika“ im Titel der „Geheimnotizen von Amerika“ zeigt sehr schön, dass es
sich hier um eine dem offiziellen spanischen Konzept der Indias quasi fremde
Welt handelte. Die beiden Offiziere gingen von rationalen Prinzipien der
Beachtung der Gesetze aus, während das in Amerika vorherrschende Prinzip die
Manipulation von Gesetzen im Dienst der oligarchischen Interessen war. Das
Ganze funktionierte niemals nach irgendwelchen geschriebenen
Rechtserklärungen oder Gesetzen, sondern nach den informellen Regeln
geschlossener Gruppen, die die innere Machtpyramide wirklich beherrschten.
Sie versuchten, die spanischen Beamten in dieses System einzubeziehen, vor
allem über Heiratspolitik - was meist auch gelang. Die quantitative Dimensionen
532
Juan, José ; Ulloa, Antonio de, Relación histórica del viage a la América meridional hecho de orden de S.Mag.
para medir algunos grados de meridiano y venir por ellos en conocimiento de la verdadera figura y magnitud de la
tierra, 2 Teile in 4 Bden, Madrid 1748 (bekannt als “Noticias secretas de América” 1749).
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einer solchen Lokalgruppe (um 1800): die schon erwähnten Mantuanos
(abgeleitet von Manta oder Manto, einem Kleidungsstück als Reichtumssymbol)
bestand aus rund 658 Kernfamilien lokaler Oligarchien (rund 4050
Menschen=0,5% der Bevölkerung). Sie hatten sich im Laufe der etwa
zweihundertfünfzig Jahre Kolonialzeit vor allem im urbanen Netzwerk von
Caracas, in den Küstenstädten und in den Städten der Kordillere von Mérida
angesiedelt. In Caracas lebte die größte Teilgruppe. Die mantuanos (auch
grandes cacaos) von Caracas gruppierten sich um rund 100 Oberhäupter
kreolischer Familienclans. Zwölf der männlichen Familienoberhäupter dieser
Clans trugen spanische Adelstitel. Das war die Kolonialelite. Ihre Familien,
auch kreolische Elitefamilien verschiedener Städte, waren zum Teil miteinander
versippt und verschwägert.533 Und Bolívar mittendrin.
Wenigsten die Klugen und Gebildeten unter der imperialen Elite der
Kolonialfunktionäre erkannten die Explosivität dieser Situation. Einerseits
bezeichnete einer von ihnen die nepotischen Familienclans der kreolischen
Oligarchie von Caracas als einen „Stamm von Juden“.534 Auch wurde
hervorgehoben, dass besonders die Eliten von Caracas und anderer Städte
ethnisch-rassische Diskurse zur Begründung ihrer Herrschaft heranzogen.535
Andere fürchteten zu Recht, die „Ideen von Saint-Domingue“ könnten auf die
Pardos von Venezuela übergreifen und zu einer Pardo-Herrschaft (pardocracia)
führen – also eine Herrschaft der Farbigen; eine ideologisierte Furchtikone der
herrschenden Eliten Venezuelas.536 Als Auslöser vermutete man revolutionäre
Korsaren, auch Schmggler oder Kreolsklaven aus anderen Kolonien, die etwa
Papiamento sprachen und für Bozales gehalten wurden, die mit dem „Beispiel
Saint-Domingue“ unter den Pardos und Sklaven Rebellionsvorstellungen
verbreiten würden. Generalkapitän Pedro Carbonell entwarf nach der Rebellion
Langue, „Origenes y desarrollo de una élite regional. Aristocracia y cacao en la provincia de Caracas”, S. 46-93.
Langue, “El circulo de las alianzas familiares y estrategías económicas de la élite mantuana (siglo XVIII)”, in:
BANH LXXVIII, Nr. 309 (Enero-Marzo de 1995), S. 97-112.
535
Langue, “El caso de Venezuela”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión ..., S. 38-42, hier S. 41.
536
Langue, “La pardocratie ou l’itinéraire d’une ‘classe dangereuse’ dans la Venezuela des XVIIIe et XIXe
siècles”, in : Caravelle 67, Toulouse (1997), S. 57-72.
533
534
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von Coro einen Musterbrief: “podria [ser] conveniente la prohivicion [sic] de
que los Barcos de nuestro comercio pasen a ella [Curazao] expedí una orden
circular á los Governadores y Comandantes de los P.tos del Distrito de mi
mando [...] No crei suficientes esta precaucion, y la hice estenciva [sic] hasta no
admitir, ó permitir se introduzcan Negros aun quando sean verdaderamente
bozales, esto es procedentes de la Costa de Africa, y viniendo de Curazao, y que
no se hayan educado en las colonias vecinas, por que es de recelar que á la
sombra de estos [bozales? – M.Z.] procuren los Hacendados de Curazao
desprenderse de sus esclavos, y los compradores adquiriendoles á bajo precio no
reparen/[1v] en los daños que causaria su introducion en esta Prov.a para cuyo
fin [los esclavos introducidos – M.Z.] intimidarán à los esclavos para que no
hablen Papiamento (que es el Ydioma Provincial que se usa en Curazao) y sean
tenidos por vozales recien benido de Africa [alles sic]. Antes de tal novedad ha
sido mui rara la emvarcacion que ha traido negros de Curazao, y empiezan ya à
benir Buques con ellos, pues en los dias 10ɩɩ y 13ɩɩ llegaron 2 embarcaciones
conduciendo negros nacidos en Curazao, que aunque se dice son de permitida
introducion, esto es vozales, no lo he creido, y en mi concepto es un articificio
del conductor para introducirlos.
Ninguna precaucion en la materia es por demas, maxîme con el
reciente exemplar de Coro [se refiere al “ejemplo de Coro” – la insurrección de
Coro 1795 - M.Z.], cuyos sucesos, y las reflexîones, y meditaciones que he
hecho me han deliverado à estas providencias ...”. 537 Auch der Gouverneur von
Maracaibo, Francisco Miyares538, war in diesem Sinne 1804 sehr deutlich: “…
observar los movimientos de la Ysla de S.to Domingo, y con mucha mas
vigilancia en cuanto pueden ser transendentales [sic] de qualquier modo alos
dominios de S.M. es uno de mis maiores cuidados, celar la introducion [sic] de
papeles que contengan especies lisonjeras a la independencia delos negros de
537
AGI Sevilla, Estado 65, N. 30, 1r/v: Carta del Capitán General de Caracas, Pedro Carbonell, al Duque de
Alcudia sobre insurrección de esclavos en Curazao, Caracas, 5 de noviembre de 1795, f. 1r/v.
538
Berbesí de Salazar, Ligia, El Gobierno provincial de Maracaibo en la gestación de la Primera República, 17991810, Maracaibo: Ed. Sinamáica, 2000.
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aquella Colonia, por el mal ejemplo q.e influye en la gente de color de nuestras
posesiones y particularmente en los esclavos [die Nachrichten könnten vor allem
auf Schmuggelschiffen kommen] acia [hacia] á esta costa firma, q.e son los
Puertos mas proporcionados desde la Vela de Coro, hasta S.ta Marta, incluso los
que ocupan los Yndios Guagiros entre esta Provincia [de Maracaibo], y la de
Rio Hacha, y son mui faciles de ganar asu partido, con la ventaja de proveerse
de ganado de todas especies, y hacer con aquellos naturales un comercio ...”.539
In dieser konfliktiven Situation von Korruption, verdeckten
Machtkämpfen, Angst und Furcht schlug die Proklamation der Unabhängigkeit
von Haiti 1804 - unter dem Titel Liberté ou la mort. Armée indigène - wie eine
Bombe ein.540 Der Bericht von Gouverneur Miyares zeigt auch, wie er sich die
Auslösung von Revolutionen durch Korsaren und ehemalige Sklaven unter der
Ideologie des Haitianismus vorstellte: der Kapitän eines in Maracaibo
anlandenden französischen Schiffes mit dem schönen Namen Pez Volante
(Fliegender Fisch) sagte aus, er käme aus Havanna und habe viel Geld bei sich;
der Gouverneur schöpfte Verdacht, der Mann sei ein Korsar: “... me hizo temer
una conspiración semejante a la del 19 de Mayo de 1799 tramada por otros dos
Corsarios franceses, tripulados con negros, y gente de color”541 – Miyares bezog
sich auf den Rebellionsversuch von Maracaibo 1799.
Man mag sich in dieser Situation allgemeiner Nervosität vorstellen, wie
die Nachrichten über die Ankunft von Francisco de Miranda wirken musste, als
dessen Expedition, der Matrosen und Soldaten aus Haiti angehörten, 1806 vor
der Küste Venezuelas auftauchte und kurzzeitig die Städte Coro und La Vela de
539
Bericht von Francisco Miyares aus Maracaibo an Pedro Ceballos, 26. Juni 1804, in : AGI Sevilla, Estado, 68
(20-12-1803 – 01-01-1808), Caracas : „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas.
Apresamiento de bergantines españoles. Bloqueo Isla Curazao. Dominación Santo Domingo por los negros. Causa
seguida contra el francés Francisco Bouchet. Comercio de ganado con Isla Guadalupe. Informes sobre la
expedición de Miranda”, No. 17, 1.
540
Ebd., No.12, 2: “Liberté ou la Mort, armée indigène“ (4 Folios, handschriftlich : Unabhängigkeitproklamation
des neuen Staates „haïty“ (f.1r); datiert: quartier Géneral de Gonaïves, 1. Januar 1804; unterschrieben: u.a. von
Christophe und Magloire Ambroise.
541
„Goleta Francesa el Pez Volante armada en Corso y mercancía, su capitán Fran.co Bouchet”: Bericht von
Francisco Miyares aus Maracaibo an Pedro Ceballos, 26. Juni 1804 (5 fols., auf f.1v), in: Ebd., 68, No. 16, 1.
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Coro besetzte.542 Die Expedition bestand aus erfahrenen revolutionären
Schmugglern aus Nordamerika und aus karibischen Häfen, idealistischen
Offizieren, französischen Abenteurern mit Freimauererhintergrund sowie
ehemaligen Sklaven, die in den Armeen Toussaints Louvertures auf Haiti
gekämpft hatten.543 Miranda liess Proklamationen verbreiten, in denen er auch
die “edelmütigen Pardos” aufforderte, sich den Kämpfen gegen Spanien für ein
unabhängiges Amerika (Colombia) einzusetzen.544 Bei der Vorbereitung der
Expedition war Miranda längere Zeit auf Haiti gewesen und hatte unter anderem
mit General Magloire Ambroise - einem der Unterzeichner der
Unabhängigkeitsproklamation Haitis - ein legendäres Gespräch über die Art und
Weise von Revolutionen.545
Den Kolonialautoritäten Venezuelas gelang es zwar, die
Mirandaexpedition zu vertreiben. Aber die Sorgen der Kolonialbeamten wurden
nicht kleiner.546 Auch die Eliten der Städte wurden zunehmend nervöser. Denn
schon seit Ende des 18. Jahrhunderts hielten die Nachrichten über das
Vordringen fremder Mächte und von Cimarrones im Süden und Osten des
Landes die Autoritäten in Atem, wie ein Bericht von 1791 zeigt. Der Bericht
informiert über den choatischen Zustand der Provinz Guayana und hob hervor,
dass “van abanzando en su territorio las posesiones de los Holandeses, Franceses
y Portugueses y los Negros profugos de Esequibo, Demorari, Berbi, Surinam, y
Cayena establecidos en Republica libre e independiente [in ihrem Territorium
AGI Sevilla, Estado, 58 (23-01-1791 – 23-06-1799), Caracas: “Documentos de la Secretaría de Estado relativos
a la Audiencia de Caracas (Revolución de la Isla Margarita. Doctrina de franceses emigrados de Santo Domingo.
Sublevación en Caracas. Prisión y ejecución de implicados en la sublevación” ; Estado, 68 (20-12-1803 – 01-011808), Estado : Caracas : „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas.
Apresamiento de bergantines españoles. Bloqueo Isla Curazao. Dominación Santo Domingo por los negros. Causa
seguida contra el francés Francisco Bouchet. Comercio de ganado con Isla Guadalupe. Informes sobre la
expedición de Miranda”, No. 44, 1 (2 folios r/v): Bericht von Manuel Guevara Vasconcelos an Ministro de Estado,
aus Caracas, vom 3. Juni 1806 über Expedition Francisco de Miranda; Ebd., 2 spricht Guevara Vasconcelos an
Ministro de Estado, 3. Juni 1806, aus Caracas, von “incertidumbre en que se halla respecto al paradero de la
Expedicion de Miranda”.
543
Gómez, “Haïti entre la peur el le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens : relations et repères avec SaintDomingue el les ‘Îles du vent’, 1790-1830“, S. 141-163.
544
Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas …, S. 234.
545
Thibaud, Clément, “’Coupé têtes, brûlé cazes’ : Peurs et désirs d’Haïti dans l’Amérique de Bolivar”, in :
Annales. Histoire, Sciences sociales, 58e année, no 2 (mars-avril 2003), S. 305-331.
546
Bohórquez Morán, Carmen, Francisco de Miranda. Precursor de las independencias de la América Latina.
Prefacio de Marie-Cécile Bénassy, Caracas : Universidad Católica Andrés Bello ; Universidad del Zulia, 2001.
542
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die Besitzungen der Holländer, Franzosen und Portugiesen expandierten und die
der aus Essequibo, Demerara, Berbice, Surinam und Cayenne geflohenen Neger
zunähmen]“.547
Seit etwa 1780 war es zu Schwierigkeiten des Kakaoabsatzes gekommen.
Der Zuckerboom in der Karibik (Jamaika, Saint-Domingue, Kuba) dagegen
wurde immer hitziger. Eine Reihe von venezolanischen Eliten setzte verstärkt
auf den Export von lebendem Rindvieh, gesalzenen Viehhäuten, Leder,
Trockenfleisch (tasajo) sowie Maultieren in die Karibik. In den Llanos gab es
Hundertausende „wilde“ Rinder, Maultiere und Pferde – die nach Meinung der
Mantuanos keinem gehörten. Bei der Expansion in die Llanos stiessen sie
allerdings auf den Widerstand der dort lebenden Flucht- und
Widerstandskulturen der Cimarrón-Llaneros, die ihre Subsistenz und ihre
Lebensweise in den wilden Rinderherden begründeten. Die kreolischen Elten
waren vor allem darauf aus, das Eigentumsrecht, das hiess, ihr Eigentumsrecht,
sowohl über den Boden, wie auch das mobile Eigentum des wilden Viehs
(ganado cimarrón, orejanos) durchzusetzen. Sie übten durch juntas de
ganaderos (Viehhalterversammlung) Druck auf die Kolonialbehörden aus. Die
Mitgliedslisten der Juntas lesen sich wie ein Who is Who kreolischer Eliten aus
den großen Städten. Die Juntas schlugen die Schaffung eines Richteramtes für
die Llanos vor (juez de llanos), der die von bewaffneten Viehzüchterpatrouillen
(cuadrillas de ronda) gefangene „Viehdiebe“ - will sagen, die normalen
Llaneros - in Schellverfahren aburteilen sollte. Sie schlugen auch ein
Gesetzwerk unter den Titel Ordenanzas de llanos de la provincia de Caracas
vor. Die Kolonialbehörden weigerten sich; erst 1811 erklärte die „Erste
Republik“ die Ordenanzas zum Gesetz. Das lässt viel vom Charakter dieser
„Republik“ erkennen und erklärt, warum sich die freien Llaneros die
„Aranj.z 28 de Mayo de 1791, del Gobern.or Cap.n Gener.l de Guayana“, in: AGI, Estado, 63 (06-1750 – 26-011830), Estado, Caracas: „Documentos de la Secretaría de Estado relativos a la Audiencia de Caracas (Alborotos
contra la Compañía de Caracas. Sublevaciones en las provincias de Caracas. Miranda y el levantamiento de
Caracas. Memorial de Francisco de Azpurua sobre los medios de recuperar las Américas. Separación de Venezuela
del gobierno de Bogotá)”, N.2,2.
547
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Autonomiebestrebungen der Kreolen bekämpften. In den Llanos fern im Süden
gab es Herrschaftsrecht, das auch Verfügungsgewalt über Menschen
(Unterworfene, Kriegsgefangene, Sklaven) und natürlich Vieh beinhaltete; wie
in Afrika.548 Die Kreolen des Nordens hatten einen „römischen“
Eigentumsbegriff, der sich vor allem auf Landeigentum bezog. Das Töten von
Rindern wurde aus dieser Perspektive zu “Raub” und “Diebstahl” (abigeato)
erklärt, nachdem Elitenfamilien sich von den Kolonialverwaltungen das Recht
beschafft hatten, das wilde Cimarrón-Vieh (orejanos) mit ihren
Eigentumszeichen zu markieren (marca)549 und auf hatos
(Viehhaltungslatifundien) in Rodeos zusammenzutreiben.550 Die Menschen
außerhalb der kolonialgesellschaftlichen Kontrolle führten einen regelrechten
Grenzkrieg gegen die vordringende „Zivilisation” und die Milizen (rondas) der
großen Viehhalter aus dem Norden.551 Humboldts Texte über Sklavenrebellionen,
über den vielfältigen Widerstand der Indiostämme, über die „Räubereien und
Plündereien” der cuatreros und bandoleros sowie partidas und cuadrillas im
Thibaud, “Les Llanos, essai de géographie historique“, S. 131-160, hier S. 135.
Siehe die Brandzeichen in einer Besitzerliste von 1766 in : “Padrón de Hierros de San Carlos 1766“, in:
Rodríguez Mirabal, “Mecanismos de apropiación de tierras de sabana y ganados”, in: Rodríguez Mirabal, La
formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 240-273, hier S. 271-273.
550
Páez, Ramón, “El Rodeo”, in: Páez, Escenas rústicas en Sur-América o la vida de los llanos de Venezuela. Obra
escrita en inglés por Ramón Páez, hijo del General José Antonio Páez. Traducción del Dr. Rancisco Izquierdo,
Caracas: Fundación de Promoción Cultural de Venezuela, 1986 (Erstpublikation: New York, 1862), S. 167-178;
Acosta Saignes, Latifundio, México: Editorial Popular, 1938; Salas, Julio C., Civilización y barbarie, Caracas:
Centauro, 1977; Rodríguez, Adolfo, Los mitos del Llano y el llanero en la obra de Rómulo Gallegos, San Fernando:
Publicaciones del Cronista del Estado Apure, 1979; Rodríguez, El hato tradicional llanero, San Juan de los Morros:
Universidad Rómulo Gallegos, 1981; Rodríguez, “Trama y ámbito del comercio de cueros en Venezuela (Un aporte
al conocimiento de la ganadería llanera)”, in: Boletín Americanista 31, Barcelona (1981), S. 187-218; Rausch,
“Horsemen of the Tropics: A comparative view of the llaneros in the history of Venezuela and colombia”, in:
Boletín Americanista 31 (1981), S. 159-171; Izard, “Ni cuatreros no montoneros, llaneros”, in: Boletín
Americanista 31 (1981), S. 83-142; Izard, “Oligarcas temblad, viva la libertad. Los llaneros del Apure y la guerra
federal”, in: Boletín Americanista 32 (1982), S. 227-277; Izard, “Sin domicilio fijo, senda segura ni destino
conocido: los llaneros de Apure a finales del periódo colonial”, in: Boletín Americanista 33 (1983), S. 13-83;
Rausch, A tropical plains frontier. The llanos of Colombia, 1531-1931, Albuquerque: Unversity of New Mexico
Press, 1984 (Spanisch: Rausch, Una frontera de la sabana tropical: los llanos de Colombia 1531-1831, Bogotá:
Banco de la república, 1994); Carvallo, Gastón, El hato venezolano, 1900-1980, Caracas: Trophykos, 1985;
Méndez Echenique, Argenis, Historia de Apure, Caracas: Publicaciones del Cronista del Estado Apure, 1985;
Mantilla Trejos, Hugo, Diccionario llanero, Bogotá: Editorial El Guarracuco blanco, 1985; Izard, “Sin el menor
arraigo ni responsabilidad. Llaneros y ganadería a principios del siglo XIX”, in: Boletín Americanista 37, Barcelona
(1987), S. 109-142. Rodríguez Mirabal, “El hato: Unidad social de producción y explotación”, in: Rodríguez
Mirabal, La formación del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 277-320.
551
Izard, “Élites criollas y movilización popular”, in: Las revoluciones hispánicas: independencias americanas y
liberalismo español, dirigido por Guerra, François-Xavier, Madrid: Editorial Complutense, 1995, S. 89-106; Izard,
El rechazo a la civilización. Sobre quienes no se tragaron que las Indias fueron esa maravilla, Barcelona: Península,
2000 (Historia, Ciencia, Sociedad; 305).
548
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Llanogebiet zeigen aber auch, daß sich die Widerstände und Rebellionen vor
allem entlang rassisch-kultureller Linien formierten, entsprechend den Kategorien
der Kastengesellschaft. Humboldt hält in einem Text, der bei Calabozo (dem
Vieh- und Fleischversorgungszentrum von Caracas) im März 1800 entstanden
ist, über den Konflikt in den Llanos fest: „Von Villa de Cura aus gegen
Calabozo und den Orinoco hält man das unermeßliche Llano für sehr unsicher.
Ehemals raubte man bloß Rindvieh, man tötet (wie in Buenos Ayres), um dann
die Haut zu gewinnen... Jezt [sic] mit zunehmender Bildung und zunehmenden
Bedürfniß fängt man an, Reisende anzugreifen. Die Begierde ist besonders auf
Kleidungsstükke (Wollene Decken), eine schöne mula [Maultier-M.Z.] und
Sättel, ja selbst auf Geld gerichtet. Uhren läßt man meist dem Reisenden, der,
wenn er ein Weißer ist, an einen Chaparro [niedriger Baum-M.Z] gebunden und
tüchtig ausgepeitscht wird. Die Räuber sind Zamben, Mulatten [...]. Ein farbiger
Mensch (ombre de Color) glaubt gegen die Pflichten seiner Kaste zu sündigen,
wenn er eine Gelegenheit vorbei gehen läßt, einem Weißen einen Teil dessen
zurükzugeben, was die bunte Kaste in genere von der Tyrannei der weißen
Kaste leidet“.552 Humboldt legt dann die ökonomische Basis dieser
vermeintlichen „Räubereien“ offen: „So groß war die Wuth des Lederhandels.
In der Prov[inz] Varinas [Barinas-M.Z.] zwischen Río Apure, Pajare und Meta,
wo die angrenzenden Indianer Guajibos, Guamos und Jaruros vor sechs Jahren
nicht einmal Kuhfleisch aßen, haben aus den Gefängnissen entsprungene
Zambos und Mulatten (die sich unter sie gemischt) den Indianern solche Lust
nach dem Raube des gannado [Rindvieh] eingeflößt, daß die Attos [hatos =
Viehlatifundien - M.Z.] am Meta jezt nicht sicherer als die am Río Guárico sind.
Aber die Indianer töten und essen das Rindvieh, sie führen es nie in ihr Land
und pflegen es dort. Sie wärmen sich wie die Affen am Feuer, ohne es selbst zu
unterhalten [das ist traditionelle Subsistenz – M.Z.]. Die Ronda [die cuadrillas
de ronda – M.Z.], welche mit den Jueces de Llano im Jahre 1797 in der
552
Humboldt, Vorabend..., S. 262-264, hier S. 263 (Dokument Nr. 183).
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Prov[inz] Caraccas und Varinas (nicht in Cumaná und Barcellona troz der
Bemühungen des würdigen D[on] Vicente Emparán) eingeführt ward,
verminderte sehr das Uebel. Der Viehraub nahm sichtbar ab - aber schon ist das
Institut ausgeartet. Statt dass alle im Llano wohnenden und mit ihrem Gelde
contribuirenden Viehbesitzer an der Verwaltung des Ganzen und Wahl der
Directoren Theil nehmen sollen, haben die in Caraccas anwesenden allein die
Directoren gewählt.” 553
Nicht nur der Vieh-, Häute- und Sklavenschmuggel aus den Llanos (oft
über die niederländischen Besitzungen554) sowie der Kakao- und
Tabakschmuggel der Küstengebiete des Festlandes erlebten am Ende des 18.
Jahrhunderts einen Aufschwung. Einen nachgerade spektakulären Boom
verzeichnete auch die Schmuggler-Insel Trinidad vor der venezolanischen
Ostküste in den 1780er Jahren; besonders die Stadt Puerto España. Die Insel
Trinidad sollte sich, wie die Inseln Santo Domingo und Kuba (sowie seit 1815
auch Puerto Rico) zu einer Experimentalinsel der Karibik entwickeln. Situados
kamen aus Bogotá; eine Kommission unter Agusto Crame studierte die
Verteidigungsanlagen.555 Bezeichnend allerdings ist, dass auf der Insel vor allem
Französisch und Englisch gesprochen wurde. Spanien hatte französische und
irische Katholiken aus der Karibik zur Siedlung animiert. Aber die
Vorherrschaft von Nichtspaniern lag auch daran, dass englische und
niederländische Schmuggler ihren Geschäften auf der Insel mit großer
Selbstverständlichkeit nachgehen konnten. 1797 eroberte eine britische
Flotteneinheit mit Unterstützung der Marineinfanterie Trinidad. Die Truppen
fanden kaum Widerstand.556
553
Ebd.
Rodríguez Mirabal, “El hato: Unidad social de producción y explotación”, in: Rodríguez Mirabal, La formación
del latifundio ganadero en los llanos de Apure ..., S. 277-320, hier S. 314f.
555
The Lilly Library, Indiana University, Bloomington Indiana, Manuscript Department (LLIUB, MD), 1774,
Crame mss (darin finden sich 12 Hefter über die Kontrollreisen von Agustín Crame, Zeitraum 1774-1799, während
derer Crame auch Trinidad, den venezolanischen Osten, Guayana und Orinoco sowie La Guaira, Maracaibo, Santa
Marta und Cartagena besuchte).
556
Sevilla Soler, María Rosario, Inmigración y cambio socio-económico en Trinidad (1783-1797), Sevilla: Escuela
de Estudios Americanos, 1988.
554
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Der spanische König, die imperialen Eliten und die Krone in Spanien
schienen nicht mehr in der Lage, Amerika zu verteidigen. Spanien hatte im
Frieden von 557 Basel (22. Juli 1795) auch noch Santo Domingo an Frankreich
hatten abtreten müssen, das damit formal die ganze Insel La Española
kontrollierte. Seit dem Vertrag von San Ildefondo (18. August 1796) zwischen
Spanien und Frankreich stand das „Mutterland“ in der für viele spanische und
amerikanische Eliten „widernatürlichen Allianz“ mit Napoleon. Dazu kam, dass
die imperialen Feinde näher rückten: die Briten besetzten Trinidad (1797) und
zwischen 1800 und 1803 sowie 1807 bis 1815 auch Curaçao.
Am Vorabend des Ausbruchs der Unabhängigkeitsbewegung schien
Venezuela als nächster Dominostein entweder durch die Eroberung einer fremde
Macht oder einer Revolution der Pardos und Sklaven bedroht, die das Modell
„Saint-Domingue/Haiti“ aufnahmen.558 Das Land schien von Feinden umzingelt,
die Stücke aus ihm rissen (Guyana, Trinidad559) und schien für die Zukunft noch
größeren Schwierigkeiten entgegen zu gehen; nur im Süden war mit dem
Grenzvertrag (tratado de límites, 1777) zwischen den beiden iberischen
Monarchien Portugal und Spanien die Situation etwas entspannter, obwohl es
besonders über die Flüsse Rio Negro und Río Blanco, eine portugiesischbrasilianische Expansion nach Norden gab.560
Unter den bedrohlichen Aussichten und Informationen aus der Karibik
luden die Anführer der kreolischen Elite von Caracas, wie der Conde de Toro
oder der Intendant Francisco de León, immer häufiger zu tertulías in ihre
Stadtpaläste ein. Auf den Nachmittags- und Abendgesellschaften wurden immer
öfter und immer lauter die Themen und Ängste der Kreolen artikuliert. Nur einer
war nicht dabei - der junge Simón Bolívar befand sich bis 1806 auf
Kavalierstour in Europa.
557
Kahle, Günter, Lateinamerika in der Politik der europäischen Mächte 1492-1810, Köln, Weimar,Wien: Böhlau
Verlag, 1993, S. 77f.
558
Dubois; Garrigus
559
Carpio Castillo, Rubén, „Fronteras con Guyana“, in: Carpio Castillo, Geopolítica de Venezuela, Caracas:
Editorial Ariel – Seix Barral Venezolana, 1981, S. 193-220.
560
Carpio Castillo, „Fronteras con Brasil“, in: Ebd., S. 172-192.
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Alexander von Humboldt im kolonialen Venezuela, 1799-1800
Die beste Arbeit über Humboldt in Venezuela, die es bisher gibt, ist die
von José Angel Rodríguez.561 Kaum jemand, der über Humboldt und Venezuela
arbeitet sagt, dass Humboldt, als er in Venezuela war, das Land als Teil des
spanischen Imperiums aktzeptierte – ohne dass er jemals den Kolonialismus und
die mit ihm verbundene Sklaverei akzeptierte.
Humboldts Erkenntnisse in Venezuela beruhen auf eigenen Beobachtung,
Messungen, Experimenten und Sammlungen, auf kommunikativer Aufnahme
von lokalem Wissen, vor allem von Wissen der Indios, sowie auf der Nutzung
von bereits vorhandenen Wissensspeichern – den Missionen. In der historischen
Dimension, die Humboldt sozusagen als vierte Dimension seiner
naturkundlichen, geographischen und botanischen Studien immer beachtet hat,
studierte er auch die Cronistas de Indias, Dokumente der staatlichen Verwaltung
und vor allem die Werke von Missionsmönchen.
Mythos Independencia: Francisco de Miranda, Simón Bolívar und der
Kampf für eine Nation mit dem Vornamen Venezuela (1800-1859)
„Así Miranda, que conocía las colonias, tenía ideas de blanco”.562
Der Zusammenbruch des Imperiums und die Autonomie Venezuelas
Seit dem Aufstand in Saint-Domingue (August 1791), eigentlich schon
vorher (Revueltas de los Llanos, 1781-1789563), aber auch während die
Revolution auf Saint-Domingue, noch lief (1791-1803), kam es zu
Verschwörungen, Rebellionen und Aufständen an der Tierra Firme. Direkt
561
Urdaneta, Gloria (coord.), El asombro: viaje de Humboldt y Bonpland por Venezuela, Caracas: Fundación
Galeria de Arte Nacional, 1999.
562
Parra-Pérez, Caracciolo, Historia de la Primera República de Venezuela; estudio preliminar Mendoza, Cristóbal
L., cronología y bibliografía Rivas, Rafael Ángel, Caracas: Editorial Texto, 1992 (Biblioteca Ayacucho; 183), S.
533.
563
Magallanes, Luchas e insurrecciones en la Venezuela colonial ..., S. 178-180.
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gefährlich für Venezuela wurde von den Kolonialbehörden die Revolution von
Saint-Domingue eingeschätzt, als 1793 der Krieg begonnen hatte.564
Rebellen und Verschwörer in Venezuela waren vor allem Pardos und freie
Schwarze sowie einzelne Weiße, die vom Jakobinismus beeinflusst waren.565
Die Unruhe in der gesamten Karibik war mit den Händen greifbar; das
Tagebuch Alexander von Humboldts ist ein hervorragende Quelle über die
politische Unruhe: 1795 kam es zur Rebellion der Indios, der Pardo-Milizen und
des Cabildos der negros loangos im Schmuggelzentrum Coro, 1798/99 zur
Verschwörung von Gual y España in Caracas und La Guaira, 1806 kam Miranda
(mit Verstärkungen und Mannschaften aus Haiti), 1812 zum Aufstand der
Sklaven von Barlovento, 1811-1818 schließlich, ich greife etwas vor, um eine
völlig andere Dimension der Interpretation anzudeuten, zur Bildung von
Farbigen-Milizen vor allem im Oriente Venezuelas und in den Llanos.566
Um 1800 deutete nichts auf eine historische Heldenrolle für Simón
Bolívar oder gar auf eine offene Rebellion der Eliten hin. Ganz im Gegenteil
unter der Perspektive einer dezentralen karibischen Revolutionierung der
Sklaven und der Pardos ist alles, was seit 1795 in Venezuela passierte, eigentlich
als eine liberale Gegenreaktion der Spanier sowie der kreolischen Oligarchien
gegen eben diesen massiven und dezentralen Aufstand „von unten“ zu sehen. Im
Mythos der nationalen Geschichtsschreibung, das auch und gerade heute ihr
Unwesen in den Köpfen vieler Venezolaner und Venezolanerinnen treibt, ist der
Krieg um die Unabhängigkeit (Independencia) die Befreiung einer bereits
vorhandenen „Venezuela Nation“ von der Dominanz der Eliten Spaniens. In
Wirklichkeit handelte es sich einerseits um die „verborgene“ massive
Revolutionierung der Sklaven und Farbigen entlang der Konfliktlinien, die auf
Gómez, Alejandro E., “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos,
Número 5 (2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006), in :
http://nuevomundo.revues.org/document211.html.
565
Julius Scott über
566
Geggus, “Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815”, S. 1-50; Geggus, “The Influence
of the Haitian Revolution on Blacks in Latin America and the Caribbean”, S. 38-59
564
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Saint-Domingue vorgezeichnet worden waren567, sowie andererseits um die
Kulmination einer Reihe von schweren Konflikten und Problemlagen, die die
imperialen Eliten Spaniens und Amerikas mit den so genannten bourbonischen
Reformen zu lösen gedacht hatten. Verdeckt durch die Reformbemühungen,
Sklavenrevolution, transatlantische Kriege und allgemeine politische Unruhe
handelte es sich aber auch um Machtkämpfe der lokalen Oligarchien und sozialethnische Konflikte zwischen den Kasten. Reformen werden meist durch
Beamte von oben durchgesetzt, mit einem Politikstil, der eher weniger auf
Partizipation setzt, sondern Politik in Elitenkreisen berät oder einfach dekretiert.
Spätestens 1808 war der Impetus dieser Reformen verraucht. Da sich in der
Karibik moderne Formen der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft
entwickelten und die Eliten von Caracas glaubten, gegenüber der englischen,
französischen und antillianischen Konkurrenz zurück zubleiben, liessen sie sich
am ehesten davon überzeugen, dass Spanien und die imperialen Eliten nichts
mehr für sie tun konnten. Sie versuchten das koloniale Sammelsurium von
Küstenprovinzen und Guayana, das seit den 1780er Jahren notdürftig
zentralisiert worden war, zunächst in ein autonomes Territorium (in ihrem
Verständnis ein Gebiet unter ihrer Souveränität) umzuwandeln. Als das
europäische Spanien durch den Einmarsch napoleonischer Truppen 1808 (und
die nachfolgenden Kriege bis 1814) faktisch zusammenbrach, wollten die Eliten
von Caracas nur noch eines: den Primat ihrer Stadt und ihrer Provinz erhalten
sowie die inneren und äußeren Bedrohungen ihrer Quasi-Souveränität - nun
selbst, sozusagen als „Tyrannen im eigenen Haus“ - abwehren. Dazu war ein
neuer Politikstil nötig. Vor allem musste die neue Politik wenigstens
ansatzweise öffentlich werden, neue Räume, wie Marktplätze, Strassen oder die
in allen kolonialspanischen Städten zentralen Plazas, Akteure, wie Milizen, und
Medien, erste Zeitungen, öffentliche Reden, ansprechen, einbinden und nutzen.
Lasso, Marixa, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 1811-1830”, in: Summerhill, Thomas;
Scott, James (eds.), Transatlantic Rebels. Agrarian Radicalism in Comparative Context, East Lansing: Michigan
State University Press, 2004, S. 117-135; Helg, Liberty and Equality in Caribbean Colombia 1770-1835, Chapel
Hill; London: The University of North Carolina Press, 2004.
567
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Weil die Elite von Caracas so konservativ war, rebellierte sie als Erste, nach
beziehungsweise parallel zu den Eliten von Charcas im heutigen Bolivien und
Quito in Ekuador, die eventuell noch einen Tick konservativer war. Konservativ
sein bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie etwas (für sie selbst) Gutes
erhalten, konservieren, wollten – die Vorherrschaft eines Zentrums (ihre Stadt
und Provinz Caracas), die etwa seit einer Generation durch die Reformen
bestätigt worden war und die Offizialisierung des bereits lange vorhandenen
informellen Herrschaftssystem der Kastenordnung – symbolisiert in der
zentralen Rolle des Cabildos von Caracas. Und sie brauchten Freihandel. In
Caracas lebte die größte und einflussreichste Abteilung der venezolanischen
Elite, die Mantuanos. Alle wichtigen Wege und Institutionen, die wichtigsten
Erfahrungen und das meiste Wissen über die Verbindung zwischen Venezuela
und der atlantischen Welt und Europa hatten sich in der Stadt angesammelt.568
Dagegen gab es – ebenfalls konservativen – Widerstand von Mantuano-Eliten
der anderen großen (und einigen kleinen) Kolonialstädte Venezuelas, die den
Zustand von vor 1777 gerne wiederherstellen wollten – gegen die „Tyrannei von
Caracas“, wie es bei ihnen hiess. Der schärfste Widerstand kam von den Eliten
Coros, Cumanás und Maracaibos (zwischen denen es auch relativ wenig
Heiratsverbindungen nach Caracas gab, da sie so endogam waren, dass sie nicht
einmal Elite-Caraqueños als Schwiegersöhne und -töchter akzeptierten und
umgedreht).
Die wichtigsten Feinde aber erwuchsen den Mantuanos von Caracas in
der Gruppe der Pardos – nicht zuletzt, weil diese größte soziale Gruppe
Venezuelas durch die Privilegien der offiziellen Kolonialgesellschaft und durch
die ungeschriebenen Regeln der Kastengesellschaft am meisten behindert
worden war. Die Pardos hatten auch am klarsten die Nachricht aus SaintDomingue („Völker, hört die Signale“) aufgenommen – Gleichheit und Freiheit
Quintero, Inés, “Honor, riqueza y desigualdad en la provincia de Venezuela, siglo XVIII”, in: Schröter, Bernd;
Büschges, Christian (eds.), Beneméritos, aristócratas y empresarios, Frankfurt am Main: Vervuert, 1999 (ACTA
COLONIENSIA. Estudios Ibéricos y Latinoamericanos, eds. Prien, Hans-Jürgen; Zeuske, Michael; Vol. 4), S. 183198.
568
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für farbige Menschen. Unter ihnen bildete sich so etwas wie ein
Republikanismus von unten heraus.569 Es sollte bis um 1816-1820 dauern, ehe es
unter dem Druck der Konflikte zu partiellen Allianzen zwischen Pardos und
radikalen Kreolen kam. Dazu kamen die Isleños, spät gekommene spanische
Kolonisten von den kanarischen Inseln, die den kleinen Handel, die pulperías
(eine Mischung zwischen Gasthäusern, Post und Gemischtwarenläden)570, die
kleine Landwirtschaft (Tabak, Früchte und Gemüse) und den Maultiertransport
dominierten, sowie spanische Armeeangehörigen und Milizen. Auch diese
sozialen Gruppen waren von der Änderung des Politikstils betroffen. Sie
versuchten durch ihre wichtigsten Organisationsformen, wie Gremios und lokale
Cofradías beziehungsweise im Laufe der Konflikte durch Milizen und ganze
Armeen, Einfluß auf die Politik zu nehmen. Auch die freien Bewohner der
faktisch herrenlosen Orinokosavannen, die Cimarrón-Llaneros, die seit 1750
immer stärker Opfer der von der kreolischen Elite kontrollierten Expansion in
die Llanos geworden waren, waren eifrige Empfänger von Nachrichten über
Konflikte in den Städten des Nordens.
Sicherlich fügt sich die historische Etappe von 1808 bis 1821 in
Venezuela auch ein in Prozesse im Rahmen der weiterlaufenden Reformen des
Imperiums, die vor allem in Restspanien selbst und auf Kuba vorangetrieben
wurden, mit den berühmten Cortes von Cádiz, der einzigen wichtigen nicht von
Franzosen besetzten Stadt in Spanien, die 1812 zur ersten europäischen liberalen
Verfassung führte – „liberal“ galt damals fast so wie „kommunistisch“ um
1918.571 Innere Prozesse sind aber fast immer ausschlaggebend. Die Vorgänge in
Venezuela zwischen 1808-1812 stellten vor allem einen Präventivschlag der
Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”,
in: Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia: University of
South Carolina Press, 2001, S. 176-190; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 18111830”, S. 117-135; Gómez, “Haïti entre la peur el le besoin. Royalistes et républicains vénézuéliens : relations et
repères avec Saint-Domingue el les ‘Îles du vent’, 1790-1830“, in : Bonacci, Giulia ; Béchacq, Dimitri ; BerloquinChassany, Pascale ; Rey, Nicolas (sous la direction de), La Révolution haïtienne au-delà de ses frontières, Paris :
Éditions Karthala, 2006, S. 141-163.
570
Castellanos, Rafael Ramón, Historia de la pulpería de Venezuela, Caracas: Editorial Cabildo C.A., 1988.
571
Chust, Manuel, „De esclavos, encomenderos y mitayos. El anticolonialismo en las Cortes de Cádiz“, in:
Mexican Studies/Estudios Mexicanos 11 (2), Summer 1995, S. 179-202 ; Chust Calero (ed.), Revoluciones y
revolución en el mundo hispano, Castelló de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I, 2000.
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Mantuanos gegen das „Gespenst Haiti“ dar para no ser entregados a los
franceses, geführt aus Furcht vor den vielen Pardos, Isleños, Sklaven, Llaneros,
konkurrierenden Eliten. Zugleich war es ein Konflikt zur Erhaltung der für die
Elite von Caracas günstigen Ergebnisse des Kolonisationsprozesses und der
bourbonischen Reformen.
Unter diesen Bedingungen wirkte der Einfluss einer globalen – oder,
sagen wir, atlantischen – Ideologie, die sich in der amerikanischen Revolution
(1776-1783), der französischen Revolution (1789-1795) sowie der Revolution
der Sklaven und freien Farbigen von Saint-Domingue (1791-1803)
manifestierte, wie eine ideologische Bombe. Die Hauptideen dieser Ideologie,
des Liberalismus, waren Freiheit und Gleichheit. Von den originären Ideen der
Liberalismus wollten die Herren der größten Ländereien und der munizipalen
Macht nur den Freihandel und die Ideen der „Gleichheit“, ihrer Gleichheit mit
den imperialen Eliten, übernehmen. Vielleicht die eine oder andere technische
und kulturelle Neuerung. Liberalismus meinte um 1800 aber vor allem Freiheit
und Gleichheit für alle, auch für Sklaven. Unter der Sprengkraft der
revolutinären Ideen konnte sich sogar der abgrundtiefe Konservatismus der
kreolischen Eliten Amerikas erfolgreich verbergen, denn eigentlich war der
Gedanke an wirkliche Gleichheit den Mantuanos fremd. Auch ein Bolívar
brauchte bis 1815-1816, um seinen konservativen Aristokratismus in der
Realität abzulegen: als Habitus hat der ihn bis an sein Lebensende wie ein Halo
umgeben. Die Eliten des schmalen Stadtbürgertums, der freien Berufe, der
Bourgeoisie, der Plantagenbesitzer und Kaufleute verstanden unter Freiheit vor
allem Freihandel. Dieser Wirtschaftsliberalismus sollte allerdings in den
Kolonien nicht so weit gehen, den Pardos „Gleichheit“ und den versklavten
Arbeitskräften „Freiheit“ zuzugestehen oder den Menschen ohne Land gleichen
Zugriff auf den Boden – ganz im Gegenteil. Die Mantuanos forderten für sich,
für ihre Gruppe, Freiheit von metropolitaner oder absolutistischer
Bevormundung sowie Freihandel. Diese Ideologie, die Worte der Texte, halfen
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ihnen, ihren Konservatismus in rhetorische und politische Modernität zu hüllen.
Auch sie verlangten „Gleichheit“ – und meinten die Gleichheit der Elite von
Caracas mit den Eliten der Metropole, den Oberschichten anderer Länder und
den absolutistischen Kolonialfunktionären; letzteres vor allem wegen der
Zurücksetzung ihrer Söhne durch die zentralistischen Reformer. Sie wollten
auch gleiche politische Repräsentation, möglichst fixiert in geschriebenen
Verfassungen (wie die Verfassung der USA). In dieser politischen
Repräsentation sollte die gesamte Kolonialbevölkerung sozusagen passiv
mitgezählt werden (denn Amerika hatte schon weit mehr Einwohner als
Spanien); die aktive Vertretung aber wollten die kreolischen Eliten nur für ihre
Repräsentanten.
Die Grundideen waren revolutionär, der neue Politikstil auch; die
Interessen hinter den Worten oder vielleicht avant la lettre, die diese Ideen
repräsentierten - die Elite von Caracas selbst, war konservativ und
konterrevolutionär. Bis zur militärischen Radikalisierung 1813-1815 einer
kleinen Gruppe von Kreolen aus den Oberschichten unter Bolívar, Mariño,
Ribas und Bermúdez um 1815-1816 war die gesamte Oberschicht im sozialen
Sinne extrem konservativ. Erst unter dem Druck der Radikalisierung befreite
sich eine kleine Gruppe der so genannten Befreier, darunter Bolívar, aus diesem
Konservatismus; die Oligarchien insgesamt blieben konservativ und
konterrevolutionär.
Es gab aber auch andere Versuche, die die liberalen Grundideen
weitestgehend bei ihrem damals noch revolutionären Sinn nahmen. Radikale
Politiker wie Francisco de Miranda (1750 als Sohn eines Isleño in Caracas
geboren), suchten Spanisch-Amerika auf einen Schlag, möglichst mit einer
einzigen Militäroperation (Intervention) unter französischem oder britischem
Schutz, in einen eigenen Staat kontinentalen Ausmaßes zu verwandeln. Miranda
suchte damit das in seinen Augen zurückgebliebene spanische Reich in Amerika
die Höhe moderner Konzepte bringen, die er in Gebieten außerhalb Spaniens
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aufgenommen hatte, als er zwischen 1783 und 1789 durch das ganz Europa bis
nach Russland gereist war. Miranda plante zwar von Anfang, die freien Farbigen
in den Kampf einzubeziehen, aber gegenüber den Sklaven war er genauso
konservativ wie die Oberschichten. Unter Nutzung seiner historistischen
Bildung formulierte Miranda Grundideen eines kontinentalen Staatskonzept –
aus dem Spanischen Amerika sollte durch militärische Befreiung ein neuer
kontinentaler Staat werden. Zunächst plante Miranda ein Inkanat, das heisst ein
Imperium. Dann entwickelte er - vor allem im Londoner Exil - nach und nach
das Konzept einer kontinentalen Republik mit Namen Colombia.572 Miranda war
ein Beispiel dafür, wie junge, aufstrebende Menschen aus dem städtischen
Milieu unter den Kastenbegriffen Pardo und Isleño diffamiert worden waren –
unter anderem vom Vater von Simón Bolívar, Vicente Bolívar.573 Mirandas
Konzept eines kontinentalen Staates und einer militärischen Intervention
beeinflusste den jungen Simón Bolívar zutiefst - bis mindestens 1816. Zugleich
legte Miranda damit die Grundlage für eine bis heute sehr mächtige Utopie des
Staates in Lateinamerika, dessen Konzepte aus Europa importiert waren.
Die konservativen Eliten der Stadtoligarchien dagegen versuchten,
sozusagen durch eine präventive Modellnachahmung der Revolution in den
USA, ihre Macht ohne große öffentliche Unruhe in dem ihrer Meinung nach
zerfallenden Imperium zu sichern. Aus der Ansammlung kolonialer Provinzen
und unerschlossener Gebiete sollte ein Staat werden – möglichst eine föderative
Republik unter ihrer Führung. Intellektuelle aus ihren Reihen aktivierten die
europäische Denkfigur der Geburt einer Gruppe von Menschen auf gleichem
Territorium (natio): die „Nation“.
572
Bohórquez Morán, Carmen, Francisco de Miranda. Precursor de las independencias de la América Latina.
Prefacio de Marie-Cécile Bénassy, Caracas : Universidad Católica Andrés Bello ; Universidad del Zulia, 2001;
Zeuske (ed.), Francisco de Miranda y la modernidad en América, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Secretaría de
Cooperación Iberoaméricana, 2004 (Viejos documentos, Nuevas lecturas; Velhos Documentos, Novas Leituras).
573
AGI, Audiencia de Caracas, Secretaria de Hacienda de Indias, expedientes del ramo del resguardo en Caracas,
años 1781-1792, Leg. 784: “Expediente sobre el nombramiento de Comandante del resguardo del Río Yaracuy, en
D. Vicente Bolibar y en D. Juan de Ibarra, por muerte del primero, y solicitud de este [Ibarra] para que no se pueda
removersele del empleo” (1774).
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Bereits Ende 1808 begannen die Mantuanos Rebellionen gegen die
lokalen Kolonialautoritäten anzuzetteln, nicht weil sie Revolutionäre gewesen
wären, sondern aus Angst vor „französischen Einflüssen“, weil die neuen
Funktionäre oft von dem in Madrid herrschenden Napoleon eingesetzt worden
waren, und aus „Angst vor der Revolution“574 („von unten“) – Generalkapitän
Juan de Casas und der Abgesandte der Krone, Regente Visitador Joaquín
Mosquera y Figueroa (Verwandter der neugranadischen Bolívaranhängers
Tomás de Mosquera), musste schnell die Pardoregimenter aufmarschieren
lassen, um die Gelüste der Mantuanos auf eine eigene Junta zu stoppen.575
Ob sich aus dieser politischen Kultur die fatale Neigung, in
wirtschaftlichen und sozialen Krisenlagen politische Probleme durch Rückgriff
auf möglichst militärisch konfigurierte Gewalt zu lösen ergeben hat, zur
Tradition entwickelt hat, kann man zwar vermuten, muss es aber im Konkreten
nachweisen.
Die Eliten in Spanien, sahen sich angesichts der napoleonischen Invasion
1808 genötigt, entweder mit der Herrschaft der Franzosen in Spanien abzufinden
oder die Amerikaner, auf die sie ihrerseits bisher oft mit Hochmut herabgeblickt
hatten, um Hilfe anzurufen. Viele der spanischen Reformer schlossen sich in
diesem Dilemma wirklich den französischen Besetzern an – kein Wunder
angesichts des überwältigenden Sieges der Franzosen, vieler Fortschritte in
Frankreich seit 1789 und der Fixierung der spanischen Reformer auf Schriften
französischer Aufklärer, Wissenschaftler und Philosophen (Frankreich war das
Weltzentrum moderner Wissenschaften, siehe Humboldt, der von 1804 bis 1829
in Paris lebte). Spanien und mit Spanien die Generalkapitanie Venezuela
schienen, wie andere Kolonialterritorien und etwa die deutschen
Rheinbundstaaten, die Schweiz oder seit 1806-1807 auch Preussen, Teil der
napoleonischen Imperiums zu werden. Die Reformeliten Spanien schlossen sich
574
Izard, El miedo a la revolución. La lucha por la libertad en Venezuela (1777-1830), pról. Bagú, Sergio, Madrid:
Editorial Tecnos 1979.
575
Quintero, La Conjura de los Mantuanos. Último acto de fidelidad a la monarquía española. Caracas 1808,
Caracas: Universidad Católica Andrés Bello, 2002, S. 129ff.
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als afrancesados (etwa: „Französlinge“) den Franzosen an.576 Der Kaiser und
sein Stellvertreter in Madrid (der Napoleonbruder Josep Bonaparte bestieg als
José I. den Thron in Madrid) sandten Emissäre nach Amerika und forderten die
kreolischen Eliten auf, sich ebenfalls auch den Franzosen anzuschließen. Die
imperialen Kolonialeliten, zum Beispiel der Generalkapitän von Caracas, Las
Casas, waren verwirrt. Einige tendierten dazu, sich den lokalen Eliten annähern
(da bestand aber die Gefahr der Mantuano-Rebellionen), andere tendierten zur
„französischen“ Lösung (zumal einige schon vom neuen König in Madrid, José
I., ernannt worden waren). Andere wiederum neigten zu einer harten
militärischen Lösung der Erhaltung des Status quo (meist mit Hilfe spanischer
Militärs, Milizen und Kaufleute). Insgesamt wird deutlich, dass Napoleon weit
war und die lokalen Widersprüche wichtiger waren (unterhalb aller
ideologischen Erklärungen) – fast unisono lehnten alle amerikanischen Eliten
die „französische“ Lösung ab (mit sehr wenigen Ausnahmen). Vor allem
deshalb, weil „Frankreich“ in der Karibik „Saint-Domingue“ und seit 1804 Haiti
bedeutete. Im Grunde scheiterten alle Liberalismen – radikale wie konservative
– an einer Kernfrage: was sollte in einer Predigt der Freiheit und der
Partizipation mit den Sklaven werden?!577
Nachrichten aus Spanien brauchten etwa einen Monat, um nach Amerika
zu gelangen (und umgedreht). Aus Sicht der spanischen Kolonien, die durch den
Atlantik vom europäischen Mutterland getrennt waren, schien Spanien 1808 drei
Könige zu haben. So etwas kann selbst härteste Monarchisten verwirren.
Napoleon hatte die beiden spanischen Könige Karl IV. und seinen Nachfolger,
Ferdinand VII., ins französische Exil verbannt. In Madrid kam es am berühmten
2. Mai 1808 (Dos de Mayo – Bild von Goya) zu einem Volksaufstand578, dessen
576
Fuentes, Juan Francisco, La monarquía de los intelectuales: élites culturales y poder en la España josefina, in:
Alberto Gil Novales (ed.), Ciencia y independencia política, Madrid: Ediciones de Oro, 1996 (Colección: Anejos de
la Revista Trienio, Ilustración y Liberalismo, Nº 3), S. 213-222.
577
Marchena Fernández, Juan, “El día que los negros cantaron la marsellesa. El fracaso del liberalismo español en
América, 1790-1823”, in: Álvarez Cuartero, Izaskún; Sánchez Gómez, Julio (eds.), Visiones y revisiones de la
independencia americana, Salamanca: Ediciones de la Universidad de Salamanca, 2003, S. 145-181.
578
Landavazo Arias, Marco Antonio, „¿El pueblo o la plebe? La participación popular en la España de 1808 según
cutro testimonios contemporáneos”, in: Tzintzún. Revista de Estudios Históricos 39 (enero-junio de 2004), S. 39-
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einigendes Symbol der verbannte spanische König Ferdinand VII. wurde. Von
Ferdinana erwartete man, da er erst kurz geherrscht und Konflikte mit der
Kamarilla seines Vater gehabt hatte, neue Reformen – diese Hoffnungen hat der
bigotte Ferdinand in Wirklichkeit allerdings nie erfüllt. Die Franzosen schlugen
den Aufstand blutig nieder (Tres de Mayo – Goya).579 Aber überall im Lande
brachen Rebellionen und Guerrillakriege gegen die Franzosen aus, an deren
Spitze sich meist traditionellere Eliten, aber auch eine Reihe von Liberalen,
setzten. Sie begründeten eine antifranzösische Juntabewegung im Lande; die
führenden Juntas der großen Städte (wie Madrid) mussten sich allerdings vor
den vorrückenden Franzosen erst nach Sevilla und dann nach Cádiz im
äußersten Südwesten Spaniens zurückziehen. Cádiz liegt auf einer Insel vor der
Küste und ist nur durch eine lange, schmale Halbinsel mit dem Festland
verbunden. Als erstes schlossen die spanischen Juntas ein Friedens- und
Beistandsabkommen mit Großbritannien, dem alten Hauptfeind. Die Festungsund Inselstadt Cádiz konnte nun von der britischen Flotte gegen französische
Eroberungsversuche geschützt werden. In der Stadt fanden sich viele Liberale,
Rechtsanwälte und Kaufleute, die ein modernes politisches System für Spanien
anstrebten - gegen den alten Hofklüngel, gegen Absolutismus und
Privilegienmonopole, für eine neue, öffentliche Politik.
Die Krise von 1808 und der Fast-Untergang Spaniens zwangen die Eliten
des Zentrums und die Eliten der Peripherien Spaniens, die lokalen Eliten
Amerikas, um Hilfe anzurufen. Zweimal gingen Wahlaufrufe von Cádiz aus:
einmal zur Wahl einer Junta Central in Cádiz und einmal zur Wahl eines
Parlaments, der Cortes von Cádiz. Die Wahl an sich war eine spanische
Revolution im Lichte der französischen Revolution; bisher hatten die
Hofkamerillas solche Fragen unter sich entschieden. 1810 übernahm eine
fünfköpfige Regentschaft die Macht vom Kollektivorgan Junta (35 Mitglieder
58.
579
Im Gegensatz zur heroischen, so zu sagen „modernen“ Visualisierung bei Goya lautete der Befehl von Murat,
dass „Alle, die beim Aufstand gefangen genommen worden sind, sollen durch Armbrustpfeile hingerichtet
[arcabuceados] werden“, siehe: Quintero, La Conjura de los Mantuanos ..., S. 37.
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und endlose Debatte über Strategie), um den Krieg gegen die Franzosen besser
zu organisieren. Jedenfalls mussten die spanischen Eliten in Cádiz den Eliten in
Amerika Angebote machen und sie erklärten ihnen: „Amerika ist keine Kolonie
mehr“.
Die neuen politischen Prozesse begannen 1808 als eine neue Stufe
genereller imperialer Reformprozesse revolutionären Charakters.580
Kontrafaktisch gesprochen: hätte es nicht eine besondere Akkumulation von
Widersprüchen, etwa in der Karibik, wie die Gefahr eines Übergreifens der
Revolution von Saint-Domingue auf die freien Farbigen in Venezuela, und in
Venezuela selbst gegeben, wie die Konflikte zwischen urbanen Oligarchien
einerseits und Kolonialfunktionären sowie der Elite von Caracas andererseits,
die letztere fürchten liess, die Kolonialfunktionäre könnten die privilegierte
Stellung von Caracas zurückschneiden, wäre eine Entwicklung des spanischen
Imperiums zu einem Commonwealth nach britischem Muster möglich gewesen.
Eine ganze Reihe von Vertretern der regionalen und lokalen Eliten der
großen Städte Spanisch-Amerikas nahm an den Wahlprozessen teil, in
Venezuela vor allem Maracaibo.581 Es brachen aber auch viele politischsymbolische Widersprüche aus. Ein Hauptwiderspruch war der der politischen
und quantitativen Repräsentanz. Amerika hatte viel mehr Einwohner als Spanien
– wenn die „niederen Kasten“ mitzählt wurden. Die hispanoamerikanischen
Eliten forderten für sich diese Repräsentanz aller „Amerikaner“; americanos
wurde im Grunde zu einem politischen Fahnenwort, dass alle Bewohner
Spanisch-Amerikas erfassen sollte.582 Da sich die Juntas und politischen
Körperschaften eine Reihe von Titel gaben (zum Beispiel „Vuestra Señoría“ –
Chust, Manuel, “La Junta Central : Sendas revolucionarias en caminos independientes”, en : Chust, La cuestión
nacional americana en las Cortes de Cádiz, Valencia : Centro Francisco Tomás y Valiente UNED Alzira-Valencia
Fundación Instituto Historia Social, 1999 (Biblioteca Historia Social, 2), S. 32-33.
581
Cardozo Galué, Germán; Urdaneta de Cardozo, Arlene, “La élite de Maracaibo en la construcción de una
identidad regional (siglos XVII-XIX)”, in: Schröter, Bernd; Büschges, Christian (eds.), Beneméritos, aristócratas y
empresarios. Identidades y estructuras sociales de las capas altas urbanas en América hispánica, Frankfurt am Main:
Vervuert, 1999 (ACTA COLONIENSIA. Estudios Ibéricos y Latinoamericanos, eds. Prien, Hans Jürgen; Zeuske,
vol. 4), S. 157-182.
582
“Representación de los diputados americanos a las Cortes de España (1811)”, in: Pensamiento Político de la
Emancipación, prólogo de Romero, José Luis, selección, notas y cronología Romero, José Luis und Romero, Luis
Alberto, 2 Bde., Barcelona: Bodoni 1985 (Biblioteca Ayacucho, Bde. XXIII und XXIV), Bd. II, S. 63-77.
580
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Eure Herrschaft), kam es gerade mit Neuaufsteigern, wie dem Cabildo von
Caracas583, der Vertretung der urbanen Oligarchie, vor dem Hintergrund der
Widerprüche in Venezuela (Konkurrenz der Stadtoligarchien, Kastensystem,
Einflüsse der Revolution von Saint-Domingue), auch zu einer Reihe von
rituellen Konflikten, die als Auslöser (oder Stellvertreter, vulgo Bankettfrage)
für andere Konflikte und Prozesse wirkten. So lehnte der Cabildo von Caracas
zum Beispiel ab, sich der Junta einer anderen Stadt unterzuordnen, nämlich der
Junta von Sevilla, die sich zur Junta Central, sozusagen zur obersten Vertretung
des ganzen Imperiums erklärt hatte. Der Hintergrund dieser rituellen Konflikte
war, dass für Caracas die Konkurrenz mit anderen Städten (in Venezuela) die
Hauptkonfliktlinie darstellte. Der Cabildo von Caracas wollte in diesem Punkt
auf keinen Fall nachgeben. Humboldt hat die Spitzen der Oligarchie als „wahre
Munizipalaristokratie“ beschrieben: „ … der cavildo [Magistrat] der Städte
[besteht] keineswegs aus den Bürgern einer Stadt … Alle Handwerker, alle
Kaufleute, die öffentlich boutique und Läden halten [selbst in der Bodega oder
Pulpería arbeiten – M.Z.], sind vom Cavildo ausgeschlossen! Dieser besteht
bloß aus dem vornehmen, reichen und unthätigen Theile der Einw[ohner]. Diese
Aristokraten ergänzen sich selbst, wählen alcalden, corregidores…“. 584 Die
ersten Konflikte um Repräsentanz und Rituale wurden noch ganz im Rahmen
traditioneller Elitenpolitik gehalten – die Juntas verkehrten vor allem schriftlich
und im Innern von Amtsräumen miteinander. Zwischen 1808 und 1810 kam es
aber auch schon zu einer Reihe von offenen Konflikten und ersten
Verschwörungen.585 Das Fass lief über, als Informationen über neue Niederlagen
gegen die Franzosen in Spanien Venezuela erreichten und die
Kolonialfunktionäre wegen des Thron-Wechsels (von Bourbonen zu
Napoleoniden) in Spanien faktisch in der Luft hingen und keine wirkliche
Legitimität mehr hatten. Urbane Eliten sowie Milizoffiziere entschlossen sich im
Langue, “Actores económicos y escenarios políticos”, in: Langue, Aristocratas, honor y subversión ..., S. 95137.
584
Humboldt, Vorabend …, S. 265 (Dokument 185), Cumaná, Oktober bis November 1800.
585
Quintero, “Honor, riqueza y desigualdad en la provincia de Venezuela”, S. 183-198.
583
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April 1810 zum Handeln. Der neue Gouverneur von Caracas und
Generalkapitän von Venezuela, Vicente de Emparan y Orbe586, ein enger Freund
Humboldts; wie dieser auf die Erfolge der französischen Kultur und
Wissenschaft orientiert587, bot sich als Ziel nachgerade an. Der hochgebildete
Emparan war „von Murat ernannt“ worden - von den Franzosen. Anfang April
1810 gelangten die Nachrichten von der Auflösung der Junta und der Bildung
der Regentschaft in Spanien nach Caracas, überbracht unter anderem von Carlos
Montúfar, dem ehemaligen Reisegefährten Humboldts.588 Am Gründonnerstag
1810, dem 19. April, hatte eine der vielen Verschwörungen im Lande Erfolg.
Die Männer im Vordergrund der Osterverschwörung in Caracas waren José
Cortés Madariaga, ein Kanoniker, der Rechtsanwalt Juan Germán Roscio, sowie
die Milizoffiziere José Félix Ribas und Francisco Salias. Letztere waren die
entscheidenden Figuren. Sie repräsentierten die Verbindung von bewaffneter
Gewalt und Oligarchie. Die Oligarchie von Caracas zog in Gestalt von Martín
Tovar Ponte (Caracas, 1772 – Caracas, 1843), die Fäden. Martín Tovar war der
Sohn eines wichtigsten Chefs der Elitenclans von Caracas, des Grafen Tovar.
Neben ihm, zum Teil in Konkurrenz um Führungspositionen, spielte der ToroClan um den 4. Marquis von Toro, Francisco Rodríguez del Toro e Ibarra
(Caracas, 11. Dezember 1761 – Caracas, 7. Mai 1851)589 und seine Bruder
Fernando (Caracas, 29. Mai 1772 – Chacao, 25. Februar 1822), intimer Freund
Bolívars und Cousin von dessen Frau, eine wichtige Rolle. Wäre die Revolte
gescheitert, hätten nur die Männer im Vordergrund eine Strafe bekommen und
der ganze Vorgang wäre als einer der vielen Riots in die Geschichte des Landes
eingegangen. Die Gruppe der Eingeweihten der Verschwörung zählte etwa
dreißig Personen. Sie gehörten einer breiteren Gruppe an, die politische
Morón, Guillermo, „Vicente de Emparan y Orbe“, in: Morón, Gobernadores y Capitanes Generales de las
provincias venezolanas 1498-1810, Caracas: Planeta, 2003, S. 159-160.
587
Siehe den Brief Emparans an Humboldt aus Cumaná vom 10. Februar 1804 („Mein geliebter Baron“), in:
Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Moheit, Ulrike (ed.), Berlin: Akademie Verlag 1993 (Beiträge zur
Alexander-von-Humboldt-Forschung; 16), S. 273-275 (Brief 128).
588
Borchardt de Moreno, Christina, “Alexander von Humboldt y la familia Montúfar”, in : Holl, Frank (ed.), El
regreso de Humboldt. Exposición en el Museo Nacional de Colombia, Marzo-Mayo del 2001, Quito : Imprenta
Mariscal, 2001, S. 139-147.
589
Quintero, El último marqués. Francisco Rodríguez del Toro (1761-1851), Caracas: Fundación Bigott, 2005.
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Reformen im Sinne von mehr Autonomie anstrebten; zu dieser Gruppe gehörten
Männer, wie Vicente Salias590 oder der an der Universidad de Caracas studierte
Pardo, Findelkind, Feldscher und Mediziner, Historiker und Zeitungsmann José
Domingo Díaz (Caracas, 3. August 1772 – Madrid, c. 1834)591; die nach 1813 zu
den Gegnern werden sollten. Am besten lässt sich die Gruppe der Mantuanos,
die die politischen Prozesse zwischen 1810 und 1812 steuerte, durch Quellen
charakterisieren, die nach dieser Etappe von spanischen Funtionären
geschrieben worden sind, um sich darüber klar zu werden, was die Gründe der
„revoluciones“ vom 19. April 1810 und 5. Juli 1811 gewesen seien. So schreibt
der spanische Kavalleriehauptmann und Kolonialfunktionär Juan Bautista de
Arrillaga 1812: „Parte de los males que han infligido esta provincia traen una
antelación de fecha que no es fácil descubrir ahora aunque, sí que ha podido
tener mucha influencia en el progreso que tomó la Rebolución [sic] en poco
tiempo. En las inmediaciones de la Laguna de Valencia poseen entre seis, u
ocho poderosos de Caracas, como los Tobares, Toros, etc., cavezas de la
rebolución, una inmensidad de las mejores tierras de lavor, como de diez y ocho
á veinte leguas quadradadas adquiridas por sus antepasados del Real Patrimonio
[meist durch Okkupation und Composición - M.Z.] y cuando todo aquello eran
yermo, y países despoblados, por cualquiera pequeño servicio, ó por una
pequeña cantidad de dinero de treinta ó quarenta pesos á fávor del Erario, sin
medidad prefixada con linderos [das heisst, offen für weitere Okkupationen –
M.Z.] y títulos legítimos, donde además de tener los propietarios pingües
haciendas cultivadas con numerosas esclavitud y no encontrando los demás
590
Archivo Histórico Provincial de Santiago de Cuba (AHPStC), Fondo Protocolos, Escribanía Real de Manuel
Caminero Ferrer, Bd. 58 (1803), f. 124v-125r [ohne Titel und ohne Nummerierung der Escrituras], Santiago de
Cuba, 23 de Julio de 1803 [poder] “D.n Vicente Salias Natural de la Ciudad de Caracas, y vecino de la de
Maracaybo, y existente en esta, Cap.n y Dueño de la Goleta Francesa nombrada Santa Ana de porte de Setenta y
sinco thoneladas ... anclada en el sumidero de este Puerto [Santiago de Cuba] ...daba su poder cumplido amplio ... á
D.n. Juan Maria Garlud [¿] recidente en esta mencionada Ciudad ...” [poder amplio, nada especifico].
591
Barroeta Lara, Julio, Una tribuna para los godos: el periodismo contrarrevolucionario de Miguel José Sanz y
José Domingo Díaz, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1987; Fortique, José Rafael, Dos antagonistas,
Maracaibo: Editorial Universidad del Zulia, 1967; Navarro García, Jesús Raúl, “El proceso de la independencia
venezolana en ela trayectoria ideológica del Intendente José Domingo Díaz”, in: Navarro García, Puerto Rico a la
sombra de la independencia continental (Fronteras ideológicas y políticas en el Caribe, 1815-1840), Sevilla – San
Juan: Centro de Estudios Avanzados de Puerto Rico y El Caribe/CSIC, 1999, S. 103-124.
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vecinos que hay ahora, tierras donde establecerce, se ven precisados a tomarlas
en arriendo a aquellos señores de que resultan muchos males [...] Una posesión
de tierras tan dilatada en tan pocas manos después que el territorio está
regularmente poblado, trae consigo una agricultura mezquina y mercenaria y en
el orden civil otros perjuicios de grave conscuencia; los propietarios por un
terreno que a sus antepasados les costó treinta o quarenta pesos, alquilando a
diez o doce cada fanega, embolsan anualmente cinco o seis mil pesos.”592 Weiter
beschreibt der Kavalleriehauptmann die schwierigen Bedingungen der Pächter,
mit ihrer schweren Arbeit, den hohen Pachten und kurzen Pachtverträgen – im
Grunde die Ursache der so genannten „Konterrevolution“ von 1811 und 1812,
die sich vor allem auf arme weiße Späteinwanderer, Isleños, sowie freie Farbige
stützte, die die Masse der Pächter stellte.
Der von der kreolisch-patriotischen Historiographie vielbeschriebene
Vorgang des so genannten „19 de Abril“ bestand im Kern in der nicht vom
Generalkapitän abgesegneten Einberufung eines Cabildo und der mutigen Tat
von Salias, der den Generalkapitän am Eintritt in die Kathedrale hinderte, indem
er ihn inmitten einer Menschenmenge am Arm faßte und zurief: „Das Volk ruft
Euch zum Cabildo, Herr“. Die vorher instruierte Gruppe von Menschen, oft als
„Volk von Caracas“ bezeichnet, skandierte auf der Plaza „al cabildo, al cabildo“
[in den Stadtrat].593 Eigentlich ein klassischer Riot mit Elite im Hintergrund.
Aber die Unstände waren anders als sonst – das Imperium existierte de facto
nicht mehr. Erzbischof Narciso Coll y Pratt, der gerade aus Spanien zwecks
Amtsantritt nach Caracas gekommen war, schreibt: „La revolución del diez y
nueve de Abril no fue que en un momento causó el estrago, y hablando con
exactitud, no hizo más que alzar la compuerta a las aguas corrompidas“.594
Gabaldón Márquez, Joaquín, “Prólogo”, in: Opusculo histórico de la revolución desde el año 1858 a 1859.
Prólogo por Joaquín Gabaldón Márquez, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1983, S. 9-34, hier S. 30-32.
593
Pérez Vila, Aportes a la historia documental y crítica, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986.
594
Coll y Prat, Narciso, Memorias sobre la independencia de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la
Historia, 1960 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia; 23), S. 59
592
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José Félix Ribas (Caracas, 1775 – Tucupido, 1815), der sich als Jakobiner
gebärdete, war zum Repräsentanten der Pardos ernannt worden – offensichtlich
sahen radikalere Teilgruppen der Elite sich zu einer Art Allianzpolitik mit den
Anführern der Pardo-Milizen genötigt.595 Roscio war der geistige Mentor des
19. April, Madariaga forderte den Cabildo auf, keine Kompromisse mit
Emparan einzugehen, sondern seinen Rücktritt zu fordern, und gab bei der
nachfolgenden Ansprache des Generalkapitäns vom Balkon des Ayuntamientos
(Stadtrat), hinter diesem stehend, der versammelten Menge Zeichen, Emparan
zurückzuweisen. Emparan, der Ablehnung gewahr, sprach schließlich die
Worte: „Nun, so will ich auch nicht mehr“. Er dankte bald darauf ab. Der
Intendant V. Basadre folgte ihm bald darauf. Damit waren die Spitzen der
Kolonialverwaltung aus dem Land. Ähnliche Vorgänge wie am 19. April in
Caracas ereigneten sich in Cumaná (27. April 1810), Margarita (4. Mai), Barinas
(5. Mai) und bald darauf auch in Barcelona, Mérida und Trujillo. Coro und
Maracaibo erklärten sich für die Regencia und in Guayana kam es zwar zur
Bildung einer Junta, aber bald zu einem Gegenputsch.
Zunächst sprachen die Eliten der Junta-Städte überschwänglich von
„unserer glücklichen Revolution“ – und meinten damit, dass damit die
politischen Umwälzungen beendet seien; einige Eliten versuchten ihren eigenen
Staat zu gründen, wie die von Barcelona (República de Barcelona
Colombiana)596 und Trujillo. Mérida proklamierte die Umwandlung einer
kirchlichen Schule (Seminario de San Buenaventura) in eine Universität (die
spätere Universidad de los Andes); eine Angelegenheit, die schon über Jahre
anstand, aber von der Krone lange nicht entschieden worden war. Alle Eliten
hatten die Dynamik soziopolitischer Prozesse in Krisenzeiten gründlich
unterschätzt. Für die langen Linien politischer Kultur Venezuelas ist
595
González, Juan Vicente, Biografía del general José Félix Ribas. Primer teniente de Bolívar en 1813 y 1814
(época de la guerra á muerte), Madrid: Editorial América (Biblioteca Ayacucho, Bd. 24), o.J., S. 26ff.; Mudarra,
Miguel Ángel, José Félix Ribas 1775-1815, Caracas: Grijalbo, 1991.
596
Mudarra, Miguel Ángel, Integración y evolución político-territorial de Venezuela, Caracas: Publicaciones
Mudbell, 1974.
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festzuhalten, dass das, was heute als „Populismus“ in hehren Theorien
beschrieben wird, seit den Riots und Revolten gegen die Compañía de Caracas
zum alltäglichen Repertoire der Stadt-Oligarchien gehörte.
Die Oligarchie von Caracas erweiterte den Cabildo zu einer Junta de
Caracas, die im Namen von Ferdinand VII. sprach und sich der Junta Central
sowie der Regentschaft in Spanien wiedersetzte. Sie liess nach dem Vorbild der
USA einen Kongress wählen, der allerdings noch keine Unabhängigkeit
definierte, sondern eher darauf bedacht war, den Status quo zu wahren. Aber die
Konflikte liefen weiter, jetzt verstärkt durch neue Medien (Druckerpresse) und
neue politische Gruppen und Räume. Ausländer erschienen, wie der Kaufmann
William Watson, mit Niederlassungen in Caracas, Glasgow, Gibraltar und
Malta. So verlangten, zum Teil in Strassenprotesten, die kirchliche Prozessionen
zum Vorbild nahmen, die Pardos sozusagen eine „kastenfreie“ politische
Partizipation. Die Einfuhr von „Negern“ wurde verboten.597
Die Repräsentanten anderer venezolanischer Städte im Kongreß begannen
unter den Stichwort „Föderalismus wie in den USA“ die Aufspaltung der
Riesenprovinz Caracas zu diskutieren. Kaum jemand sprach von Nation und
wenn ja, dann meinte man eher seine Stadt (pueblo oder patria). Die
Regentschaft in Spanien erklärte die Junta von Caracas zum Feind und rief
spanische Militärverbände in Amerika und Königstreue zum Kampf gegen die
„Verräter“ auf. Auf Verrat - infidencia - stand im geltenden Recht Todesstrafe die selbsterklärte Junta Suprema von Caracas („Höchste Junta“) erklärte
daraufhin ebenfalls die Todesstrafe für Konspirateure.598 Die Konflikte waren so
dynamisch, dass selbst den konservativen Eliten, den Grafen und Marquis von
Caracas, nichts anderes übrig blieb, als am 5. Juli 1811 formal die
Unabhängigkeit zu proklamieren. Zu den Unterzeichnern der hehren Urkunde
“Decreto por el cual se prohibe la introducción de negros en estas provincias”, Caracas, 14. August 1810, in:
Acta del 19 de Abril. Documentos de la Suprema Junta de Caracas, Caracas: Litografía Tecnocolor, S.A., 1979, S.
193.
598
“Edicto Pena de Muerte. Contra los Conspiradores y los que propagan rumores sediciosos”, Caracas, 26. Juli
1810, in: Acta del 19 de Abril ..., S. 189-190.
597
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zählten auch Miranda und Francisco Isnardi, der venezolanische Turiner. Sieben
Provinzen schlossen sich zur Confederación Americana de Venezuela
zusammen (Caracas, Barcelona, Barinas, Cumaná, Margarita, Trujillo und
Mérida; der Cabildo von Angostura in Guayana unterzeichnete zwar, ging dann
aber schnell wieder auf die Seite des Königs über [Karte].599 Der 5. Juli 1811 ist
heute Nationalfeiertag. Damals meinten die Mantuanos von Caracas auch damit
eine Art Autonomie. Nur Miranda wusste, was Republik bedeuten konnte; er
war in gewissem Sinne der Macher der Unabhängigkeitserklärung. Republik
aber war nach der Jakobinerzeit ein Reizwort. Nach der Proklamation der
Unabhängigkeit kam es zu massiver und offener Gewalt, denn für alle Feinde
der Junta war nun die Maske gefallen.600 Der Krieg der Worte wurde zum Krieg
der Waffen. John Lynch bezeichnet den Krieg in Venezuela, der nun seinen
Lauf nahm, als „total war of uncontrolled violence“.601 Die Enthnisierung der
Konflikte in Form von Kasten-Rassen erfolgte fast explosionsartig. Eine Woche
später rebellierten die Isleños von Caracas sowie die Pardo-Regimenter von
Valencia gegen Caracas unter dem Zeichen der Virgen de Socorro und dem
Motto der Verteidigung von König Ferdinand VII.
Die Geschichte der „Unabhängigkeit“, independencia, ist tausende Male
erzählt und in venezolanischen Geschichtsbüchern beschrieben worden, meist
als ein in sich geschlossener und koheränter Raum-Zeit-Komplex, der mit den
römischen Zahlen in französischer Tradition verschiedener Republiken
durchnummeriert worden ist: I. Republik (1811-1812); II. Republik (1813-1814)
und III. Republik (1818-1819) sowie IV. Republik (1830-2000). Diese
Republiken mit ihren Ordnungszahlen spielen heute noch eine wichtige Rolle in
599
Parra-Pérez, Caracciolo, Historia de la Primera República de Venezuela; estudio preliminar Mendoza, Cristóbal
L., cronología y bibliografía Rivas, Rafael Ángel, Caracas: Editorial Texto, 1992 (Biblioteca Ayacucho; 183), nach
S. 624.
600
Rieu-Millan, Marie Laure, Los diputados americanos en las Cortes de Cádiz (Igualdad o Independencia),
Madrid : Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 1990; Guerra, François-Xavier, Modernidad e
Independencias. Ensayos sobre las revoluciones hispánicas, Madrid: Ed. Mapfre, 1992; Rodríguez, Jaime O., La
independencia de la América española, México : Fondo de Cultura Económica, 1996; Chust Calero, Manuel (ed.),
Revoluciones y revolución en el mundo hispano, Castelló de la Plana: Publicacions de la Universitat Jaume I,
2000 ; Guerra, “’Voces del Pueblo’. Redes de comunicación y orígenes de la opinión en el mundo hispánico (18081814)”, in : Revista de Indias Vol. LXII, núm. 225 (2002), S. 357-384.
601
Lynch, Spanish American Revolutions ..., 1986, 2. Auflage, S. 220.
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der politischen Symbolik Venezuelas und als Chiffren der Nation. Der Kampf
dieser Republiken, vor allem der ersten drei (I., II., und III. Republik 18111819) suggeriert, dass ganz „Venezuela“ sozusagen als eigenständiger Akteur in
einen heroischen Kampf gegen Spanien gegangen sei, der fast zwangsläufig auf
eine mythisches Ziel zugelaufen sei – die nationale Freiheit des Staates
Venezuela in Form einer Republik. Das ist historisch falsch. Die Territorien, die
die Republiken I-III jeweils beherrschten, umfassten im Falle der Republik Nr. I
die Provinzen Caracas, Cumaná, Barcelona, Mérida, La Grita sowie Barinas,
Margarita. Sie werden durch die sieben Sterne repräsentiert, die auf der Flagge
Venezuelas zu sehen sind, seit März 2006 sind es - wieder - acht Sterne – einer
für Bolívar. In Realität kontrollierte die I. Republik eigentlich nur einige der
großen Städte und befand sich auch hier in der Gefahr, diese Kontrolle an die
Pardo-Milizen zu verlieren. Maracaibo, Coro, später auch Valencia und
Guayana, erklärten ihre Treue zu Spanien (genauer: zum König, aber das
bedeutete Spanien) – eben aus Feindschaft vor einer Übermacht der Eliten von
Caracas. In all diesen Perioden entschieden in Wirklichkeit der Krieg, Anführer
von Truppen und Milizen, wer in welcher Form herrschen sollte.
Der offene Krieg in Venezuela begann Ende 1810 als Elitenkonflikt der
Stadtoligarchie von Caracas gegen die Oligarchie von Coro (campaña de Coro)
- Mantuanos gegen Mantuanos. Es war ein bewaffneter Konflikt urbaner
Oligarchien gegeneinander, die die Führungsposition ihrer jeweiligen Stadt und
ihres Territoriums entweder verteidigen (Caracas) oder gegen Caracas
verbessern wollten (Coro), bald auch unter Beteiligung spanischer Offiziere und
Truppenteile sowie einer Mobilisierung der Isleños, der Llaneros und der PardoMilizen sowie der Sklaven gegen „die Republikaner von Caracas“. Die
unfähigen Miliz-Offiziere aus der Elite von Caracas hatten - wie die Junta selbst
- von wirklichen Kriegen keine Ahnung; von genozidalen Bürgerkriegen schon
gar nicht.602 Es war, als würden alle Höllenschlünde geöffnet. Die Pardo-Milizen
602
Febres Cordero, Julio, El primer ejército republicano y la campaña de Coro, Caracas: Contraloría General de la
Nación, 1973; Quintero, “La primera derrota del marqués”, in: Quintero, El último marqués ..., S. 112-116.
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von Valencia gingen zu den Royalisten über, aus Feindschaft gegen die
hochnäsigen Mantuanos - auch und gerade gerade ihre eigenen. Es kam zu
ersten Massakern. Wegen der Niederlagen des Milizheeres von Caracas unter
dem Marqués del Toro musste Miranda zum Diktator auf Zeit ernannt werden.
Militärisch war der professionelle Militär ein sehr erfolgreicher Diktator. Aber
die Herren vom großen Kakao schauten mit Argwohn auf die Siege des
ehemaligen Revolutionärs. Miranda zehrte von seinem Ruhm als General der
französischen Revolutionsarmee. Er berief eine Reihe ausländischer Offiziere in
seinen Stab. In seinem Umfeld fand sich eine Reihe von Immigranten aus
Haiti.603 Aber Miranda konnte weder Massaker noch Massendesertationen
aufhalten und auch nicht die fehlende Disziplin ersetzen.604 Vor allem die PardoMilizionäre dachten gar nicht daran, ihre Haut auf Dauer für Eliten zu Markte zu
tragen, die in normalen Zeiten nicht einmal mit ihnen sprachen. Miranda
kapitulierte angesichts eines verheerenden Erdbebens, das Caracas in Schutt und
Asche legte (März 1812), und des Vormarsches unterschiedlicher Milizen, die
von dem spanisch-kanarischen Marineinfanterieoffizier Domingo de
Monteverde in Coro organisiert worden waren, unter anderem mit Hilfe des
Priester Andrés Torellas und Anführer von Indios und Indio-Mestizen Juan de
los Reyes Vargas (Siquisique, 1780 – Coro, 28. März 1823).605 Die Truppen
Monteverdes kamen von Westen, im Grunde auf der gleichen Route, die
Miranda 1806 hatte benutzen wollen, um Caracas einzunehmen. Im Rücken
Mirandas, im Osten, hatten spanische Priester und Offiziere die Sklaven des
Tuy-Tales von Barlovento sowie der Küstentäler von Naiguatá und La Guaira
zur Rebellion aufgestachelt.606
Gómez, “La Revolución Haitiana y la Tierra Firme hispana”, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos, Número 5
(2005), mis en ligne le 17 février 2006 (29. Juni 2006), in : http://nuevomundo.revues.org/document211.html.
604
Márquez, Walter E., La nación en armas, Venezuela y la defensa de la soberanía 1810-1812, Caracas : Graficas
Colson, 2005.
605
Rosales, Rafael María, Reyes Vargas: paladín del procerato mestizo, San Cristóbal: Centro de Historia del
táchira, 1950.
606
Coll y Prat, Memorias sobre la independencia de Venezuela ..., S. 59-64; Blanco, Bosquejo histórico de la
Revolución de Venezuela, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1960, S. 141; Urquinaona y Pardo, Pedro,
Memorias de Urquinaona (Comisionado de la regencia española para la pacificación del Nuevo Reino de Granada),
Madrid: Editorial – América, s.a. (Biblioteca Ayacucho; 14), vor allem S. 142ff.; Yépez Castillo, Aureo, “Los
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Die Angstwellen vor „Guarico“ (Haiti) zeitigten Erfolg. In seiner Furcht
vor rebellischen Sklaven nahm Miranda an, es handele sich den Beginn eines
Sklavenaufstandes wie auf Haiti. Wegen der Kapitulation kam es zu zwei
Anschlägen auf Miranda und er wurde schließlich in Caracas von Leuten um
Bolívar und den Madrilenen Manuel Cortés festgesetzt. Cortés hatte 15 Jahre
früher, zusammen mit dem Mallorquiner Picornell und unterstützt von Victor
Hugues, versucht, die Prinzipien der Gleichheit auch für die Pardos an den
Küsten Venezuelas einzuführen.607
Die anderen Städte sahen ihre Chance im Kampf gegen Caracas
gekommen. Maracaibo lieferte den royalistischen Truppen Unterstützung. Im
Hafen von Coro landeten Ersatztruppen aus Kuba und Puerto Rico. Die Stadt am
Maracaibosee erbat 1810 für ihre Treue zum König, zum Sitz einer neuen
Generalkapitanie „independiente de la de Caracas“ ernannt zu werden. Die
Krone kam diesem Wunsch ebenso wenig wie den Forderungen der Mantuanos
von Coro nach: weder Coro noch Maracaibo gewann die von den lokalen Eliten
so sehr erwünschte Autonomie unter derm Dach des Imperiums nicht; 1813
wurde wenigsten das Provinzterritorium unter Gouverneur Miyares erweitert.608
Republik Nr. II umfasste im Grunde einen Teil der Andenstädte und
Caracas sowie Cumaná; war aber zwischen Caracas und Cumaná quasi in ein
republikanisches Mittelvenezuela (Caracas) unter Simón Bolívar und ein
republikanisches Ostvenezuela (Cumaná) unter Santiago Mariño gespalten.609
Maracaibo, Coro und Guayana befanden sich weiterhin auf spanischer Seite –
waren im Grunde aber autonom. Schon die Darstellung der Geschichte des
Landes aus Perspektive von Caracas und Bolívar ist Ausduck einer
venezolanischen Zentrums-Mythe (Caracas im Zentrum aller
Geschichtserzählungen); ebensogut könnte man die Geschichte Venezuelas aus
esclavos negros en Venezuela en la segunda década del siglo XIX”, in: Boletín de la Academia Nacional de
Historia (BANH), Nr. 249, Caracas (Enero-Marzo 1980), S. 113-141, hier S. 124-126.
607
Parra-Pérez, Historia de la primera república de Venezuela ..., Bd. II. S. 436
608
Ojer, “El uti possidetis juris”, in : Ojer, El Golfo de Venezuela …, S. 9-41, hier S. 22f.
609
Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón
Bolívar”, in: Revista de las Américas. Historia y presente (RAs), Número 1 (primavera 2003), S. 39-58.
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Sicht von Cumaná erzählen oder Sicht von Maracaibo, einer der
einflussreichsten Konterdiskurse venezolanischer Geschichte bestand immer
darin, die Geschichte des Landes aus Perspektive der Llanos zu erzählen.
Als die Dämme einmal gebrochen waren, tauchten überall Milizen,
Grausamkeit und offene Gewalt auf. Viele Pardos, die bereits über Milizen
verfügten, verfolgten eigene Ziele und kämpften gegen die alten
Rassenhierarchien. Auch Isleños bewaffneten eigene Milizen. Die
Llanerobevölkerung erhob sich unter eigenen Anführern, caudillos und
spanischen Beratern, gegen die Republiken im Norden – im Grunde gegen alle
urbanen Eliten, egal ob republikanisch oder royalistisch.610 Sie bildeten den
Ejército Real de Barlovento (Königliches Heer von Barlovento). Das war darauf
zurückzuführen, dass die Republiken I und II nur die Eliten der Stadtoligarchien
in ihren Autonomieversuchen repräsentierten, aber nicht die „niederen Kasten“,
Pardos und schon gar nicht die egalitäre Kultur der Llaneros sowie Sklaven.
Jetzt schlug der präventive Bruch mit der geschwächten imperialen
Kolonialordnung voll auf die Eliten zurück. Die Regierung musste 1812 nach
Valencia fliehen. Es kam zu einem Sozial- und Rassenkrieg der Llaneros, der
„unteren Kasten“ (Pardomilizen), verbunden mit Sklavenrebellionen im
Tuygebiet611, gegen die diablocracia, wie die Eliten der Küstenstädte, vor allem
die Mantuanos von Caracas, genannt wurden.
Bolívar war zunächst nach Curaçao und Cartagena geflohen. Cartagena
wie das ganze Tal des oberen Magdalena von Honda nach Cartagena waren das
„Nest der Revolution“ im nördlichen Südamerika; die Hafenmetropole
Cartagena eine wahre „Republik der Pardos und Seeleute“, die in enger
Verbindung zum revolutionären Haiti stand. Der Hafen war 1812 den
Rodríguez Mirabal, “La ‘rebellión social’ en los llanos”, in: Rodríguez Mirabal, Latifundio ganadero y
conflictos sociales en los llanos de Apure (1700-1800), Caracas: Fondo Editorial Tropykos/Facultad de Ciencias
Económicas y Sociales, 1995, S. 139-193.
611
Blanchard, Peter, “The Language of Liberation: Slave Voices in the Wars of Independence”, in: Hispanic
American Historical Review (HAHR) Vol. 82:3 (August 2002), S. 499-523; Blanchard, “The Slave Soldiers of
Spanish South America: From Independence to Abolition”, in: Brown, Christopher Leslie; Morgan, Philipp D.
(eds.), Arming Slaves from Classical Times to Modern Age, New Haven & London: Yale University Press, 2006,
S. 255-273.
610
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karibischen Korsaren, unter denen sich viele Haitianer befanden, geöffnet
worden.612 Bolívar knüpfte hier viele der karibischen Kontakte, die ihm 18151818 und später bei der Gründung von „Groß“-Kolumbien zugute kommen
sollten. Vor allem aber begriff der bis dahin noch sehr aristokratische
Milizionär Bolívar, dass Kriegführung, zumal Kriegführung in einer Revolution,
eines jabobinischen Patriotismus bedurfte. Nicht die „Liebe für ihr Vaterland“613
der kreolischen Eliten, die schon alles hatten und Worte der amerikanischen
oder französischen Revolution wie eine neue Mode übernahmen, sondern des
Patriotismus von Menschen, die sich eine Patria, ein Land, das wirklich ihr Land
darstellte, erst schaffen wollten – und sei es mit Waffen.
Seit Ende 1812, Anfang 1813 übernahm Bolívar de facto die Führung
über nach Neu Granada geflohene kreolische Milizoffiziere und lokale Milizen
einerseits, andererseits über Schwarze, Mulatten und Ex-Sklaven aus dem
Magdalena-Gebiet (campaña admirable).614 Er sah sich angesichts der
Grausamkeiten und der Manipulation der Gleichheitsideale durch spanische
Offiziere (Versprechen der Freiheit für Sklaven, die sich gegen ihre kreolischen
Herren erhoben) gezwungen, die guerra a muerte (Krieg bis zur Ausrottung;
1813) zu erklären. Das war militärischer Jakobinismus. Damit schuf Bolívar und
die Offiziere seines Stabes, wie Anastasio Girardot und José Félix Ribas
(Bolívars Onkel), zumindest militärisch und diskursiv ein napoleonisches
Mikrofrankreich und eine Mikro-Haiti; „Mikro“ deshalb, weil die Truppen kaum
jemals eine größere Anzahl als 1000 Soldaten hatten.615 Die Gewalt gegen weiße
Eliten, wie Mantuanos und Spanier, aber hatte nun ein Textformat. Ob Bolívar
612
Múnera, Alfonso, El fracaso de la nación. Región, clase y raza en el Caribe colombiano (1717-1810), Santa Fe
de Bogotá: Banco de la República/El Áncora Editores, 1998; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism
in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, S. 176-190; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo
Republicanism in Colombia, 1811-1830”, S. 117-135.
613
Humboldt, Reise durch Venezuela …, S. 168.
614
Carrera Damas, “Algunos problemas relativos a la organización del Estado durante la segunda República
venezolana”, in: El pensamiento constitucional de Latinoamérica, 1810-1830, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional
de la Historia, Bd. II, S. 361-411.
615
Thibaud, “La culture de guerre napoléonique et l’Independance des pays bolivariens, 1810-1825”, La France et
les Amériques au temps de Jefferson et de Miranda, sous la direction de Marcel Dorigny et Marie-Jeanne
Rossignol, Paris : Société des études robespierristes, 2001, S. 107-124 ; Thibaud, “La ‘guerre à mort’”, in: Thibaud,
Républiques en armes …, S. 109-113, hier S. 113.
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damit die Kanalisierung der Gewalt für die Legitimierung der eigenen
Führungsposition nach dem in Venezuela sehr bekannten Motto: „der Radikalste
soll Anführer sein“ nutzen wollte oder ob er Gegengewalt legitimieren wollte,
um die furchtbaren Gräueltaten des Bürgerkrieges wenigsten lose unter
Kontrolle zu halten, ist umstritten. Zumindest unterstrich das gedruckte Dekret
seinen Führungsanspruch. Und es zeigt, dass Bolívar ein fähiger und
realistischer Anführer war. Mit der Rhetorik des Dokuments zur Proklamation
des „Krieges bis zur Ausrottung“ gab er auch eine ideologische und diskursive
Begründung von zwei „nationalen“ Lagern: „Españoles y Canarios, contad con
la muerte, aún siendo indiferentes, si no obrais activamente en obsequio de la
libertad de Venezuela. Americanos, contad con la vida, aún cuando seais
culpables“ (Spanier und Kanarier, rechnet mit dem Tode, auch wenn ihr [nur]
unentschieden seid, wenn ihr nicht aktiv für die Gewinnung der Freiheit
Venezuelas wirkt. Amerikaner, rechnet mit dem Leben, auch wenn ihr schuldig
seid).616 Americanos meint alle Oberschichten-Kreolen im Sinne von allen in
Amerika Geborenen, auch wenn sie auf Seiten des Königs standen; españoles
und canarios (isleños) konnten sich nach den Vorstellungen des Dokuments nur
vom Tode nur retten, wenn sie aktiv auf Seiten der Kreolen für die Ziele der
urbanen Oligarchie von Caracas mit kämpften – sozusagen eine ideale
Konstruktion einer Nation im Diskurs, die in Realität nicht existierte.617 Im
August 1813 zogen die Milizen Bolívars wieder in Caracas ein; Bolívar erliess
ein Statut, das ihn faktisch zum Diktator auf Zeit ernannte. Er lud Ausländer ein,
sich in Venezuela nieder zu lassen, ohne religiöse Vorgaben, und erliess ein
Dekret über Todesstrafe.618
Die Reiterbanden der Llaneros aber wollten sich unter dem Titel
Americanos nicht den Kreolen in irgendetwas so Fernstehendem und Idealem
Bolívar, “Decreto de Guerra a Muerte”, Trujillo, 15. Juni 1813, in: Comité Regional Bicentenario del Natalicio
del Libertador (Estado Miranda), Decretos del Libertador, 3 Bde., Los Teques, 1983 (Biblioteca de Autores y
Temas Mirandinos), Bd. I, S. 5-9, hier S. 9.
617
Hébrard, Le Venezuela indépendant. Une nation par le discours – 1808-1830. Préface de François-Xavier
Guerra, Paris, Montréal : L’Harmattan, 1996.
618
Bolívar, “Invitación a los extrajeros a residir en el país”, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 9-10; Bolívar,
“Resolución sobre la turbación del orden y la pena de muerte”, in: Ebd., S. 10-12.
616
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wie „Nation“ unterordnen. Sie fegten unter der Führung eines ehemaligen
asturischen Schmugglers, José Tomás Boves (Oviedo, 1782 – Urica, 1814)619,
die beiden II. Republiken weg. Boves wurde beraten von einem Krämer und
Milizoffizier, dem Kanarier Francisco Tomás Morales (Kanaren, 1781 oder
1783 – Las Palmas, 1845)620, „antiguo vendedor de pescado frito“621, und einem
spanischen Pfarrer, José Ambrosio Llamozas. Über die Offenheit von Llamozas’
„Memorial“622 war König Ferdinand VII. so erschreckt, dass er sich weigerte,
den Pfarrer zu empfangen.623
Die blutige Gewalt nahm ungeahnte Maße an – wie meist in
Bürgerkriegen. Nach einer Information von Francisco Tomás Morales soll
Boves rund 31000 Kämpfer befehligt haben, darunter viele ehemalige Sklaven,
freie Schwarze und Pardos – unter den quantitativen Verhältnissen Venezuelas,
in denen ein „Heer“ von 1000 Soldaten schon als „groß“ galt, handelte es sich
um die größte Armee des 19. Jahrhunderts.624 Gegen den Plünderungs- und
Vernichtungskrieg der wilden Lanzenreiter, vor allen der Llaneros aus dem
Casanare-Apure-Grenzgebiet zwischen Neu Granada und Venezuela, war den
wenigen verbliebenen kreolischen Milizen kein Kraut gewachsen. Zwischen
1812 und 1814 gab es eine regelrechte Volksrebellion, im Grunde ein
Übergreifen der Revolution der Karibik auf das kontinentale Venezuela (über
die Wege Cartagena, Río Magdalena, Anden, Caracas sowie Antillen, Trinidad,
Paría, Cumaná und von dort in die Llanos), sowie eine Reihe von Scharmützeln
und schweren Gefechten mit hohen Todeszahlen, die mit Blankwaffen
(Macheten und Säbeln, sicher auch Knüppeln und Söcken, garrote und palos)
Thibaud, “Boves”, in: Thibaud, Républiques en armes ..., S. 148-154.
Pérez Tenreiro, Tomás, Para acercarnos a don Francisco Tomás Morales mariscal de campo, último capitán
general en la tierra firme y a José Tomás Boves coronel, primera lanza del Rey, Caracas: Academia Nacional de la
Historia, 1994.
621
Parra-Pérez, Historia de la Primera República de Venezuela ..., S. 499.
622
Llamozas, Pbro. Jose Ambrosio, “Memorial presentado al rey en Madrid”, in: BANH V, Caracas (1921), S.
515-529; Gómez, José Mercedes, La guerra de independencia en el Oriente: el conflicto entre los libertadores,
Cumaná: Corporiente, 1991.
623
Armas Chitty, “El tremendo Memorial”, in: Armas Chitty, Historia del Guarico ..., Bd. II, S. 19.
624
Brito Figueroa, Federico, “La contribución de Laureano Vallenilla Lanz a la comprensión histórica de
Venezuela”, in: Vallenilla Lanz, Laureano, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Universidad Santa María, 19831988, Bd. I, S. III-XXIV, hier S. XVII.
619
620
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sowie Lanzen (garrocha, púa) ausgefochten wurden. Die kreolischen Milizen
waren also nicht feige. Säbel und Musketen der tapferen, aber relativ ungeübten
Milizen konnten aber gegen massierte Reiterangriffe mit Lanzen nichts
ausrichten. Noch heute wird diskutiert, ob es sich um eine soziale Revolution
oder nur um Beutezüge sin contenido alguno protopopulistischer Art, unter
Nutzung der vielfältigen Brüche in der herrschenden Elite der Küste (Mantuanos
gegen spanische Kolonialbeamte; Mantuanos gegen Mantuanos; spanische
Offiziere gegen kreolische Milizoffiziere; kreolische Milizoffiziere gegen
Offiziere der Pardo- und Morenomilizen) gehandelt habe. Auch die Spaltung der
lokalistischen Eliten machte sich sogar noch in dieser verzeifelten militärischen
Lage deutlich: es kam erst nach vielen Niederlagen zu einem gemeinsamen
Handels der Milizen des Zentrums unter Bolívar und der Milizen des Osten
unter Mariño und Bermúdez – gemeinsame Strukturen gsb es angesichts des tief
verwurzelten Lokalismus vor 1817 nicht.625 In langen Linien am plausiblesten
ist das Konzept von Miquel Izard, der bereits in den 1970er Jahren von der
„Chronik der angekündigten Gewalt“ – vor allem wegen der Expansion der
kreolischen Eliten gegen die subsistenzbasierten Flucht- und
Widerstandskulturen der Llaneros (1750 – 1870)626 gesprochen hat. Llaneros
ohne Pferd waren undenkbar. Los Llaneros waren aber nicht nur Lanzenreiter,
lanzas coloradas (rote oder blutige Lanzen627), Cowboys, Viehtreiber, Jäger und
Krieger auf Beutezug, sondern hatten auch eine eigenständige Kultur entwickelt,
die in ihrer musikalischen Dimension, die immer auch die Dimensionen der
Informationsübermittlung, Bewertung und politischem Kommentar einschloss,
auf Harfe (harpa), vierseitiger Gitarre (cuatro) und Maracas sowie Gesang in
Gómez, José M., “Bolívar en Cumaná: La verdad sobre el asunto Bianchi”, in: Boletín de la Academía Nacional
de Historia (BANH), Tomo LXXI (Julio-Septiembre de 1988), S. 629-644
626
Cajigal, Juan Manuel de, Memorias del mariscal de campo Don Juan Manuel de Cajigal sobre la rebelión de
Venezuela, Caracas: Archivo General de la Nación, 1960; Uslar Pietri, Juan, Historia de la rebelión popular de
1814, Caracas: Editorial Edime, 1962; Izard, El miedo a la revolución. La lucha por la libertad en Venezuela (17771830), pról. Bagú, Sergio, Madrid: Editorial Tecnos 1979; Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona:
Sendai Ediciones, 1988; Izard, “Élites criollas y movilización popular”, in: Las revoluciones hispánicas:
independencias americanas y liberalismo español, dirigido por Guerra, François-Xavier, Madrid: Editorial
Complutense, 1995, S. 89-106.
627
Uslar Pietri, Arturo, Las lanzas coloradas, ed. Miliani, Domingo, Madrid: Ediciones Cátedra, 1993 (Erstausgabe:
Madrid 1931; Deutsch: Die roten Lanzen, Berlin: Verlag der Bücherkreis, 1932).
625
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hoher Kehlkopfstimme beruhte.628 Die Aufstände, Kriegführung und Wildheit
der Llaneros sind seit damals Legende – und von der immer und immer wieder
konstruierten Lebendigkeit dieser Llanero-Tradition in Bezug auf Gesang
können sich alle Venezolanerinnen und Venezolaner sowie Ausländer (die sich
freilich etwas wundern werden, denn sie kennen kaum noch singende
Präsidenten) überzeugen, wenn sie politischen Reden von Hugo Chávez mit
ihren Gesangseinlagen beiwohnen oder sein TV-Programm aló presidente
sehen.629
Humboldt hat 1803 eine Prognose niedergeschrieben, die besser als alle
nachträglichen Freiheitsreden die allgemeine politische Tendenz der kreolischen
Unabhängigkeitsbewegungen zum Ausdruck bringt. Humboldt schreibt: „Die
europäischen Regierungen haben so viel Erfolg in der Verbreitung des Hasses und
der Uneinigkeit in den Kolonien erzielt, dass man in diesen die Freuden eines
geselligen Lebens kaum kennt; wenigsten ist jede dauerhafte Geselligkeit
unmöglich, zu der viele Familien zusammenkommen müssen. Aus dieser Lage
entsteht eine Verwirrung von Ideen und unbegreiflichen Meinungen, eine
allgemeine revolutionäre Tendenz. Aber dieser Wunsch beschränkt sich darauf,
628
Vowell, Richard L., Campañas y cruceros, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1973; Vowell, Las
sabanas de Barinas, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1973
(www.mindefensa.gov.ve/Pensamiento%20militar/Libros/Las%20Sabanas%20de%20Barinas.pdf (14. Juni 2010));
Aretz, Isabel, Instrumentos musicales de Venezuela, Cumaná: Universidad de Oriente, 1967; Paéz, Ramón, Escenas
rústicas en Sur América; o la vida en los Llanos de Venezuela, Caracas: Centauro, 1980; Izard, “Arpa, cuatro y
maracas”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 45-51; Sachs, Karl, De los Llanos; descripción de un
viaje de ciencias naturales a Venezuela, Caracas: Edime, 1955; Acosta Saignes, El llanero en su copla, Caracas:
Corpoimpre, 1979; Ramón y Rivera, Luis Felipe, Cantos de trabajo del pueblo venezolano, Caracas: Fundación
Eugenio Mendoza, 1955; Ramón y Rivera, La canción venezolana, Maracaibo: Universidad del Zulia, 1972;
Ramón y Rivera, La música afrovenezolana, Caracas: Imprenta Universitaria, 1971; Calzavara, Alberto, Historia de
la música en Venezuela, Caracas: Fundación Pampero, 1987; Humboldt hatte übrigens eine zeimlich abfällige
Meinung zu den iberischen und kreolischen Volkskulturen, nicht nur was die Musik betraf (auch in Bezug auf
Malerei): “Kein Pöbel schreit zur Gitarre so rabenartig durchdringend [das bezieht sich auf die FalsettKopfstimmen – M.Z.] und kläglich als [der] span[ische] und creol[ische] Pöbel, und doch zieht eine Schar
Menschen, dieser Töne lüstern, den Singenden nach. Zamben, Mestizen und Mulatten, alle Halbgeschlechter,
zeichnen sich in Süd-Amerika durch eine bessere Musik und Poesie aus”. Letzteres dürfte sich auch auf die Kultur
der Llanos beziehen, siehe: Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von
Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S.
311-389, hier vor allem S. 348.
629
Carrera Damas, Germán, Boves: aspectos socioeconómicos de la guerra de Independencia, Caracas: Universidad
Central de Venezuela, 31972; Carrera Damas, Sobre el significado socioeconómico de la acción de Boves, Caracas:
Imprenta Universal, 1964; Armas Chitty, José Antonio de, Boves a través de sus biógrafos, Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1992.
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die Europäer zu vertreiben und sich danach gegenseitig zu bekriegen“.630 Im
Grunde erahnte Humboldt damit die reale Entwicklung der politischen Kultur in
Venezuela. Mit Beginn der Kampfhandlungen 1811 wurden Gewaltspiralen in
Gang gesetzt, die im Grunde das Land bis 1908 zerrissen, mit den Höhepunkten
1811 bis 1823 (Independencia) und 1859-1863 (Guerra Federal) auf Basis einer
starken allgemeinen Gewalttätigkeit sowie Kriminalität im Lande (violencia) – das
hat bis heute Tiefe Auswirkungen auf politische Kultur und Mentalität der
Venezolanerinnen und Venezolaner; es existiert so etwas wie eine historische
Gewöhnung an Gewalt, die in der individuellen Erinnerung, der politischen Kultur
und der kollektiven Memoria der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt.
Zwischen 1813 und 1815 wurden viele Kreolen der Städte von den Llaneros
massakriert und Llaneros fielen kreolischen Milizen zum Opfer. Es gab aber auch
Llaneros auf Seiten der Patrioten, zunächst meist bei den Orientales unter Führung
von Santiago Mariño (Margarita, 1788 – La Victoria, 1854)631, wie Francisco de
Carvajal, genannt „der aufgerichtete Tiger“ – er soll mit Lanzen (garrochas, das
Arbeitsgerät der Llaneros) in jeder Hand gekämpft und die Zügel seines Pferdes
mit Zähnen gehalten haben, oder der junge José Antonio Páez. Die Kriegführung
der Steppenreiter - sie machten meist keine Gefangenen - verbreitete solchen
Schrecken, dass viele Menschen aus den Städten auf Inseln in der Karibik flohen.
Auch die Truppen unter Bolívar mussten fliehen. Für die politische Kultur des
Landes in ihrer historischen Dimension ergibt sich aus diesem nach Conquista,
Sklaverei und Sklavenrazzien gegen Indiovölker vierten großen Gewaltkapitel der
venezolanischen Geschichte (es folgten noch mehrere), dass die historische
Erinnerung daran aus Traumata und Leid, aber auch – aus Faszination besteht, vor
allem deshalb, weil die einzelnen Aktionen immer und immer wieder als
Heldengeschichten, Legenden und Abenteuer erzählt (oder gesungen) worden sind
630
631
Humboldt, „Colonies“, in: Humboldt, Vorabend …, S. 63-67, hier S. 65f (Dokument Nr. 1).
Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957.
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und seit 1870 auch Eingang in die venezolanische Literatur und Schulbildung
gefunden haben.632
Die spanische Krone sah sich angesichts des Sozialkrieges der Llaneros
veranlasst, die liberalen Truppen des eben beendeten Krieges gegen Frankreich
unter der Führung des konservativen Generals Pablo Morillo nach Venezuela zu
schicken.633 Offiziell, um die Ordnung wieder herzustellen; inoffiziell, um die
unbequemen verbündeten Llaneros und ihre radikalen Anführer zur Räson zu
bringen. Die Büchse der Gewalt-Pandora sollte wieder verschlossen werden. Im
April 1815 erreichten die Truppen auf Margarita venezolanisches Territorium. In
La Asunción wurde der gefangene kreolische Anführer Juan Bautista Arismendi
(La Asunción, 1770 – Caracas, 1841)634 vor Morillo geführt. Arismendi hatte unter
anderem Hunderte von spanischen Kriegsgefangenen einfach erschlagen lassen. Er
bat um Vergebung – Morillo gewährte sie und entzweite sich deswegen mit dem
Chef der irregulären Llanerotruppen Tomás Morales. Die Llaneros wurden in die
spanischen Truppen eingegliedert, ohne das Morillo ihre oft selbst vergebenen
militärischen Ränge anerkannt hätte. Die Llaneros waren gute Reiter, aber sie
dienten nicht gerne in regulären Truppen. Viele der einfachen Llaneromilizionäre
wandten sich daraufhin von den Royalisten ab oder kehrten einfach in die Llanos
zurück. Kurze Zeit später besetzte Morillo Caracas; Ende 1816 waren Cartagena
(schon 1815) und wenig später auch Bogotá erobert. Das rebellische
Vizekönigreich und die Generalkapitanie Venezuela schienen wieder vollständig
unter spanischer Kontrolle. In Europa hatte gab es 1816 ein „Jahr ohne Sommer“
gegeben - wegen eines Vulkanausbruchs in Indonesien im August 1815. Die
Nachfrage nach Kolonialprodukten stieg.
632
Siwka, Colette, Historia, biografía y literatura, (Venezuela Siglo XIX), Caracas: UCV, 1982; Harwich
Vallenilla, „Construcción de una identidad nacional. El discurso historiográfico de Venezuela en el siglo XIX“, S.
637-653.
633
Quintero Saravia, Gonzalo M., Pablo Morillo. General de dos mundos, Bogotá : Editorial Planeta Colombiana,
S.A., 2005.
634
Erminy Arismendi, Santos, Arismendi y la Guerra a Muerte, Caracas: Impresores Unidos, 1941; Salazar Franco,
José Joaquín, El general Juan Bautista Arismendi, historia y leyendas, Tacarigua: Fondo Editorial Gabriel Bracho
Montiel, 1991.
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Morillo liess ziemlich schnell und deutlich seine kulturelle Ablehnung der
irregulären Milizen und der Sitten des Landes erkennen. Sogar das kreolische
Essen blieb ihm fremd; er bekannte in einem berühmten Bonmot, das nicht
dokumentarisch nachgewiesen ist, das aber si non vero e ben trovato, dass “todo lo
puedo pasar en esta tierra, menos esas perrísimas tortas de maíz que llaman arepas,
que sólo se han hecho para estómagos de negros y avestruces [alles könne er
aushalten in diesem Land, nur diese hündischen Maistorten nicht, die sie Arepas
nennen, die man nur für die Mägen von Negern und Straußenvögeln gemacht
hat]“.635 Arepas sind noch heute eine extrem wichtiger Teil der transkulturellen
venezolanischen Nationalküche.636 Morillo als kolonialer Rückeroberer
verabscheute aus Perspektive der herrschaftlichen Kultur des Weizens den Mais
als minderwertiges Nahrungsmittel.637
Die kreolischen Eliten der venezolanischen Städte, so sie den Guerrillakrieg
überlebt hatten und nicht von den Llaneros umgebracht worden waren, empfingen
Morillo mit offenen Armen. Besonders imposant gestaltete sich der triumphale
Einzug der Morillo-Truppen am 8. Mai 1815 in Caracas.638 Für die Oligarchien
war jegliche Rebellion beendet. Morillo sprach ihnen die Vergebung des Königs
aus und liess zugleich ungehorsame Llaneros, Guerillas, Pardos und Indios
entweder in das Heer eingliedern oder erschiessen und auf andere Weise
umbringen. Um Munition und Pulver zu sparen, hatte sich in Venezuela eine
Tötungsart durchgesetzt, die man pasar por las armas nannte: eigentlich müsste es
pasar las armas por heissen, denn Aufrührer, Verbrecher oder Gefangene wurden
mit Macheten zerhackt, mit Lanzen erstochen, mit Knüppeln erschlagen oder
Quintero Saravia, Pablo Morillo …, S. 318.
Lovera, José Rafael, Historia de la alimentación en Venezuela : con textos para su estudio, Caracas, Venezuela :
Monte Avila Editores, 1988; Lovera, Gastronomía caribeña: historia, recetas y bibliografía, Caracas: CEGA, 1991;
Lovera, Food culture in South America; translated by Ainoa Larrauri, Westport: Greenwood Press, 2005; Cartay,
Historia de la alimentación del Nuevo Mundo, 2 Bde., San Cristobal: Ed. auspiciada por la Fundación Polar y la
Universidad de los Andes, 1991; Cartay, Historia de la alimentación del Nuevo Mundo, Mérida: R. Cartay; San
Cristóbal: Editorial Futuro, 1992; Cartay, La región alimentaria andina, San Cristóbal (Venezuela) : Biblioteca de
Autores y Temas Tachirenses, 1997 (Biblioteca de autores y temas tachirenses ; 138); Cartay, El pan nuestro de
cada día. Crónica de la sensibilidad gastronómica venezolana, Caracas: Fundación Bigott, 42003.
637
Kaller-Dietrich, Martina, “Kolonialherren ignorieren Alltagskultur“, in: http://www.lateinamerikastudien.at/content/geschichtepolitik/mais/mais-103.html (08. Januar 2007).
638
Sevilla, Rafael, Memorias de un oficial del Ejército Español, campañas contra Bolívar y los separatistas de
América, Bogotá: Editorial Incunables, 1983 (Facsimile der ersten Ausgabe San Juan de Puerto Rico, 1877), S. 46.
635
636
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ertränkt. Meist werden diese blutigen und schmutzigen Grausamkeiten in Texten
über die Unabhängigkeitskriege unter barocken Worten verborgen.639
In Cartagena und Bogotá arbeitete Morillo längst nicht mehr mit
Vergebungsdekreten, sondern mit Erschiessungskommandos, denen die
Verteidiger Cartagenas und die geistige Elite des Landes zum Opfer fielen.640 Der
General verbot auch die Benutzung des Wortes „Patriot“ und liess es durch
„Unloyale, … Insurgenten, Rebellen und Fraktionäre“ 641 ersetzen – alles
Kriminaltatbestände. Umfangreiche Säuberungen und Enteignungen begannen,
auch und gerade unter den Eliten Bogotás. Morillo setzte als de-facto Diktator eine
konterrevolutionäre Reform im Norden Südamerikas in Gang.642 Die Härte der
Säuberungen, Erschiessungen und Konfiskationen (die auch vor Missionaren und
Pfarrern nicht Halt machte) brachte einige Gruppen von Elite-Kreolen Neu
Granadas dazu, sich wirklich einer Revolution zu zuwenden.
Die Eliten der Städte Venezuelas dagegen liessen als soziale Gruppe jeden
Gedanken an Revolution oder Rebellion gegen Spanien wie heisse Kartoffeln
fallen – für immer und ewig. Bis 1821 (Caracas) oder 1823 (Maracaibo, Coro,
Puerto Cabello) befanden sich alle wichtigen Städte der Küste, der
Küstenkordilleren und der Anden unter Kontrolle der spanischen Truppen, zu
denen sich bald kreolisch-spanische Einheiten sowie von den Spaniern
zusammengestellte Milizen von Pardos, Morenos, Zambos und sogar schwarze
Sklaven gesellten. Die Eliten von Venezuela befanden sich, man kann sagen, fast
zu 100%, seit 1814 wieder auf spanischer Seite und schworen dem
absolutistischen König Ferdinand VII. die Treue oder baten um Vergebung
(darunter eine Reihe von persönlichen Freunden Bolívar, etwa aus dem Clan der
del Toro). Auch die Masse der Stadtbevölkerung war kriegsmüde und Gegner der
Cuño Bonito, Justo, “Tristes Tópicos. Ideologías, discursos y violencia en la independencia de la Nueva Granada
1810-1821”, in: Memorias, Año 2, Núm. 2, Uninorte, Barranquilla (2004)
(www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias_4/articulos (08. April 2006)).
640
Stoan, Stephen K., Pablo Morillo and Venezuela, 1815-1820, Ohio: Ohio State University Press, 1974; Quintero
Saravia, “El pacificador en Bogotá: seis meses de terror (Mayo a noviembre de 1816), in: Quinterno Saravia, Pablo
Morillo …, S. 313-337.
641
Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 298.
642
Quintero Saravia, “El pacificador en Bogotá: seis meses de terror”, in: Ebd., S. 313-337.
639
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selbsternannten Patrioten – der schlimmste Frieden war ihnen lieber als der beste
Krieg. Ein Teil der Independentisten-Milizen verschwand im Hinterland, in
Gegenden, die von den Küsteneliten als Indioland, Frontier oder als Territorien der
gefürchteten Flucht- und Widerstandskulturen der Llaneros angesehen wurden. Sie
galten offiziell als Verbrecher. Ihr Schicksal bei Gefangennahme wären Strick,
Machete oder Würgeeisen (garrote vil) gewesen.
Die Masse der berittenen Krieger der Savannen hatte sich nach dem Tod
ihres wichtigsten Anführers, Tomás Boves (Dezember 1814, wahrscheinlich von
den eigenen Leuten durch einen Lanzenstich von hinten ermordet), und nach den
Versuchen von Morillo, sie seinen Truppen als Rekruten einzuverleiben, in die
Llanos zurück gezogen. Die Episode „Republik“ in Venezuela schien Geschichte
– ich wiederhole, sieben lange Jahre, bis 1821. Bolívar und seine engsten
Vertrauten mussten mit dem Blutgerüst rechnen; sie konnten nicht einmal auf dem
Territorium der wiederetablierten Generalkapitanie bleiben. Bolívar floh zunächst
nach Neu-Granada und operierte zeitweilig als General im Auftrag des Kongresses
von Tunja (Präsident: Camilo Torres). Er eroberte (noch vor Morillo) die
konservative Hochburg Bogotá, konnte sich aber später nicht gegen
konkurrierende Offiziere in Cartagena durchsetzen. Dort bekriegten sich zwei
Fraktionen der Patrioten vor dem Hintergrund einer Machtübernahme durch
farbige Handwerker und Volksklassen der Stadt (eines der am besten gehüteten
Geheimnisse der traditionellen kreolischen Historiographie).643
Bolívar sah sich genötigt, mit revolutionären Piraten der Karibik zu
paktieren. Aber es kam noch schlimmer. Kurz bevor die Truppen Morillos
Cartagena belagerten, gelang Bolívar und weiteren Venezolanern die Flucht nach
Jamaika. Als Bolívar im Mai 1815 in Kingston ankam, musste er zunächst an
Freunde schreiben: „Ich habe nicht einen Peso“644 - was bei seinem Kredit als
Múnera, “Las clases populares en la historiografía de la Independencia de Cartagena, 1810-1812”, in: Múnera,
Fronteras imaginadas. La construcción de las razas y de la geografía en el siglo XIX colombiano, Bogotá: Editorial
Planeta Colombiana S.A., 2005, S. 175-192; Cuño Bonito, “Tristes Tópicos. Ideologías, discursos y violencia en la
independencia de la Nueva Granada 1810-1821”, in: (www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias_4/articulos
(08. April 2006)).
644
Bolívar, Cartas del Libertador corregidas conforme a los originales, ed. Lecuna, Vicente, 10 Bde., Caracas:
643
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einer der reichsten Mantuanos nicht viel bedeutete. Bolívar erfuhr vom Sieg der
Allierten in Waterloo und von der Besetzung von Paris. Die englischen
Kolonialbehörden waren offensichtlich wie Morillo und die konservativen Kreolen
davon überzeugt, dass der Kampf für die Unabhängigkeit in Südamerika und
Venezuela zu Ende sei. Sie waren von den Volksrebellionen tief traumatisiert.
Unterstützung für Cartagena oder gar Waffen waren nicht zu bekommen, obwohl
Bolívar sogar davon sprach, im freien Amerika „in wenigen Jahren ein anderes
Europa“645 zu schaffen. Privatleute dagegen, vor allem unter den Großkaufleuten
und Schmugglern, unterstützten ihn gegen das Versprechen von Handelsvorteilen.
Bolívar schrieb in der Öde des Emigrantendaseins einen visionären Text,
die Carta de Jamaica.646 Am Tiefpunkt der Independencia sagte er darin die
Unabhängigkeit voraus, prognostizierte eine Reihe neuer Republiken und nahm
Abschied vom Kontinentalmodell Mirandas, um auf bescheidenerer Ebene die
Vereinigung Venezuelas und Neu-Granadas unter dem Namen Colombia
(Kolumbien) vorzuschlagen – das war immer noch gigantisch. Eine Reihe seiner
Freunde hielt ihn für verrückt. Bolívar beschrieb die Schwächen der bisherigen
Unabhängigkeitsbewegung (Föderalismus) und plädierte für unbedingten
Zentralismus (militärischer Jakobinismus). Der wichtige strategische Gedanke der
Carta de Jamaica findet sich in einem Nebensatz über Demographie: „ …los
tributos que pagan los indígenas; las penalidades de los esclavos; las primicias,
diezmos y derechos que pesan sobre los labradores, y otros accidentes, alejan de
sus hogares a los pobres americanos [die Tribute, die die Indígenas bezahlen; die
Pein der Sklaven; die Vorrechte, Zehnten und Steuern, die auf den Landleuten
lasten und andere Umstände, die die armen Amerikaner von ihren Häusern
fernhalten]“.647 Der Krieg hatte Bolívars Erkenntnisse stark erweitert, vor allem
Litografía y Tipografía del Comercio, 1929-1939, Bd. I, S. 222.
645
Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, s.a [1982], Bd. I: Cartas del Libertador
comprendidas en el período de 20 de marzo de 1799 a 8 de Mayo de 1824, S. 131-135, hier S. 134 (Brief vom 19.
Mai 1815 aus Kingston an Maxwell Hyslop).
646
Bolívar, “Contestación de un americano meridional a un caballero de esta isla” [“Carta de Jamaica”], 6 de
septiembre de 1815, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador, Cuatricentenario de la Ciudad
de Caracas, Caracas, 1972, Bd. VIII, S. 98-222 (Doc. 1302).
647
Ebd., S. 107.
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indem er ihn aus den Gespinsten aristokratischer Kreise und Diskurse
herausgerissen hatte, der um Worte, Utopien und Stile kreiste, aber nicht etwa
wirklich revolutionär war. Für Bolívar wurde das Wort americanos zu einem
politischen Instrument. Der Text der Carta ist bis 1833 nicht gedruckt worden.
Vorher zirkulierten Versionen in Englisch und handkopierte spanische Versionen,
aber Vielen wird die Carta de Jamaica, das wichtigste Dokument von Hand Simón
Bolívars, nicht in schriftlicher Form bekannt gewesen sein. Die oben zitierte Stelle
aber ist deshalb so wichtig, weil sie verdeutlicht, dass der Mann, den sie El
Libertador nannten, die Sklaven- und Bauernfrage sowie das Problem antifeudaler
und antikolonialer Freiheitsrechte für alle Männer Südamerikas zu einem seiner
inneren Programmpunkte gemacht hatte. Das war sehr viel für einen Angehörigen
der konservativen Mantuanos von Caracas. Aber es war in der Situation von 1815
auf Jamaika noch nicht genug. Bolívars Briefe 1815 zeigen, dass er ganz genau
wusste, worum es in Bezug auf die Sklaverei und die interessengeleiteten
Verschleierungen, die sonst die Sprache seiner Klasse mit ihren gemeinsamen
Erfahrungen (die Sklavenhalter der Karibik) dominierte. An den revolutionären
Kaufmann und Korsaren Louis Brion schreibt Bolívar: „Yo mismo no voy a esa
isla, porque no quiero perder la confianza que hacen de mi estos señores, pues,
como Vd. sabe, las manía aristocráticas son terribles [Ich selbst fahre nicht zu
dieser Insel [Haiti], weil ich das Vertrauen, das jene Herren [die Sklavenhalter der
Karibik, die Engländer – M.Z.] in mich setzen, nicht verlieren will, wie Sie wissen
sind die aristokratischen Manien schrecklich]“.648 Bolívar war sich wohl im Klaren
darüber, dass der Kampf um die Republik und die republikanischen Diskurse den
Sinn (meaning) von Freiheit unter den Sklaven und ehemaligen Sklaven radikal
ändern musste. In der monarchischen Sklavereigesellschaft der Kolonialzeit war
„Freiheit“ für Sklaven ein fast unerreichbarer, aber selbst wenn er erreicht wurde,
instabiler Zusand, der von der Gnade vieler abhing (durch eine besonderen Dienst
648
Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, s.a [1982], Bd. I: Cartas del Libertador
comprendidas en el período de 20 de marzo de 1799 a 8 de Mayo de 1824, S. 150-152, hier S. 151 (Brief vom 15.
Juli 1815 aus Kingston an Louis Brion).
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erworben) oder illegal war (wenn er durch Flucht geschaffen). Mit der Vorstellung
einer Republik verband sich die allgemeine Vorstellung, dass sie mit Sklaverei
unvereinbar und Freiheit der „natürliche Zustand aller Menschen“ sei.649
Bolívar überlegt, bittet die Engländer erneut um Hilfe – und änderte nach
der erneuten Ablehnung seiner Pläne seine Strategie auf fundamentale Weise. Er
verbündete sich nach dem Muster der Republik der Pardos und Seeleute in
Cartagena (1811-1815) nun nicht nur mit revolutionären Piraten650, sondern auch
mit den revolutionären Schmugglern von Margarita, den Kaufleute von Trinidad,
den Kaufleuten-Korsaren von Curaçao (1804 bis 1816 von den Briten besetzt) und
den Revolutionären von Haiti.651 Eine sozialrevolutionäre Wende innerhalb der
Unabhängigkeitsbewegung, eine wirkliche Revolution in der Revolution in dem
Sinne, dass sich ein elitärer Aristokrat auf die Insel der Sklavenrevolution begab
und dort Allianzen schloß. In gewissem Sinne auch eine antienglische Wende.652
Diese Wende bedeutete völlig neue Allianzen – vor allem Allianzen mit der
revolutionären Karibik sowohl in der haitianischen Dimension (Revolution der
Sklaven und freien Farbigen), wie auch in der maritimen Dimension (Schmuggler,
Korsaren und Piraten, amerikanischer Freihandel) – also mit all dem, was die
Sklavenhalter und Sklavenhändler Amerikas, Großbritanniens, Frankreichs,
Spaniens, Dänemarks und vieler anderer Gebiete und Imperien sowie die
Kolonialbeamten fürchteten wie der Teufel das Weihwasser (obwohl durchaus
auch die revolutionären Kaufleute und Schmuggler Sklaven besaßen).653
Am 27. Dezember 1815 kam Bolívar in Aux Cayes, Haiti, an. Haiti war zu
dieser Zeit in zwei Staaten zerfallen: im Norden herrschte in einer Art
Mustermonarchie Henri Christophe (1767 als freier Schwarzer auf Grenada
Jaramillo, Uribe, Jaime, “La controversia jrídica y filosófica librada en la Nueva Granada en torno a la liberación
de los esclavos y la importancia económica y social de la esclavitud en el siglo XIX”, in: Anuario de Historia Social
y de la Cultura, Nr. 4 (1969), S. 63-86; Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism in Colombia, 18111830”, S. 117-135; hier vor allem S. 122.
650
Lucas de Grummond, Jane, Renato Beluche. Smuggler, Privateer and Patriot, 1780-1860, Baton Rouge and
London: Louisiana State University Press, 1983.
651
Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia: University of
South Carolina Press, 2001.
649
652
653
Verna, Paul, Petion y Bolívar. Una etapa decisiva en la emancipación de Hispanoamérica (1790-1830), Caracas:
Ediciones de la Presidencia de la República/Comité Ejecutivo del Bicentenario de Simón Bolívar, ³1980, S. 150.
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geboren; General unter Toussaint Louverture) als König Henri I.654; im Süden
hatte sich 1806 nach einem Bürgerkrieg die Republik Haiti gebildet, unter dem
ehemaligen französischen General Alexandre Pétion, Sohn eines französischen
Sklavenhalters und einer Sklavin (siehe Bild655), deren politische Elite sich aus
mulattischen Offizieren, Kaufleuten und Großgrundbesitzern zusammensetzte.656
Pétion hatte unter Druck des Widerstandes gegen Toussaints Versuch, die große
Plantagenwirtschaft nach der Revolution auf Saint-Domingue wieder einzuführen,
die größte Bodenreform durchgesetzt, die es in den Amerikas im 19. Jahrhundert
gab.657 Bolívar ging nicht in den Norden. Er setzte auf Pétion. In Port-au-Prince
trafen Pétion und Bolívar am 2. Januar 1816 zusammen. Pétion gab Bolívar
Mannschaften, Lebensmittel, eine Druckerpresse, Geld, Waffen, Munition und ein
Schiff. Bolívar sollte im Gegenzug zusagen, die Sklaven zu befreien. Bolívar gab
wohl das Versprechen. Wir wissen es nicht genau, weil die haitianische
Aussenpolitik darin bestand, auf Druck der anderen Mächte zwar zugesagt zu
haben, dass Haiti nicht aktiv auf Sklavenbefreiung in anderen Staaten hinarbeiten
wolle, aber inoffiziell natürlich alles dafür tat, die umliegenden
Sklavereigesellschaften zu schwächen.658
In Haiti trafen sich zu dieser Zeit Revolutionäre und Spione aller Länder,
unter anderem der Jakobiner Jean-Nicolas Billaud-Varennes (1762-1819), der
spanische Guerrillaführer Javier Mina659 auf dem Weg nach Mexiko. Unter den
Gefährten Bolívars – quasi eine Truppe kreolischer Miliz-Offiziere (Hauptleute) in
der Diaspora – befanden sich unter anderen der mulattische Offizier Manuel
Menzel, „Das Musterkönigreich Henri Christophes 1806-1820“, in: Menzel, Der schwarze Traum vom Glück.
Haiti seit 1804, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 2001 (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, Bd. 11), S.
42-56.
655
Comité de Homenaje a Pétion, Homenaje al General Alejandro Pétion. Presidente de Haití en el Bicentenario de
su Nacimiento, Caracas: Editorial Texto, 1971, S. 5 und S. 24.
656
Menzel, „Pétion oder die Diktatur des Laissez-faire 1808-1818“, in: Ebd., S. 57-69.
657
LaCerte, Robert, “The Evolution of Land and Labor in the Haitian Revolution, 1791-1820”, in: Beckles, Hilary;
Shepherd, Verene (eds.), Caribbean Freedom: Society and Economy from Emancipation to the Present, Kingston:
Ian Randle, 1993, S. 42-47; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena
Province (1811-1828)”, in: Geggus, David P. (ed.), The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World,
Columbia: University of South Carolina Press, 2001, S. 176-190.
658
Verna, „Espías y notas diplomáticas contra Bolívar y Petion”, in: Verna, Petion y Bolívar ..., S. 336-344.
659
Lewis, William F., “Simón Bolívar and Xavier Mina. A Rendezvous in Haiti”, in: Journal of Inter-American
Studies and World Affairs 11 (1969), S. 458-465.
654
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Carlos Piar, ehemaliger Militärchef des venezolanischen Osten, nachdem Bolívar
wegen der Niederlage 1814 abgesetzt worden war und Santiago Mariño, der alte
Gegner Bolívars (aus Cumaná). Dazu kam eine Reihe von kreolischen
Milizoffizieren (Pedro María Freites, Bartolomé Salom, Mariano Montilla, José
Antonio Anzoátegui, Pedro León Torres, José Francisco Bermúdez, der eben aus
dem dänischen San Tomás angekommen war, Carlos Soublette, Pedro Briceño
Méndez, langjähriger Sekretär Bolívars, Manuel Valdés, Diego Ibarra, Sohn von
Vicente Ibarra und Ana Teresa Toro (eventuell auch sein Bruder Andrés Ibarra),
ein Mann aus der alten Mantuanoelite und Verwandter der Toros (wie Bolívar).
Auch eine Gruppe liberaler Internationalisten - Liberale waren zu dieser Zeit meist
Radikale – wie Gregor MacGregor, ein schottischer Abenteurer und Revolutionär
(der kurze Zeit darauf versuchte, eine „Republik der Floridas“ zu gründen660),
Felipe Mauricio Martín (Filip Maurycy Marcinkowski)661, Teilnehmer der
Mirandaexpeditionen, Freimaurer, Emigrant aus Polen und Mitkämpfer der
Schlacht von Trafalgar (auf britischer Seite), Henri Ducoudray-Holstein (17631839)662, ein Abenteurer und (später) Verleumder Bolívars663, auf den auch noch
ein Karl Marx664 hereinfiel, der neogranadinische Wissenschaftler, paisá und
Afrancesado Francisco Antonio Zea (Medellín, 1766 – Bath 1822). Unter den
Mitstreitern Mariños befanden sich die farbigen Seeleute, Kapitäne und
Schmuggler Juan Bautista Bideau (Santa Lucia, 1789 – 1817)665 und José
660
Arends, Tulio, La República de las Floridas (1817-1818), Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1986.
Sońta-Jaroszewicz, Teresa, “Militares polacos al servicio de Miranda y Bolívar en la guerra de Independencia”,
in: Tiempos de América. Revista de Historia, Cultura y Territorio, No. 16 (2009), S. 25-38.
662
Acosta, Ursula, “Ducoudray Holstein: Hombre al margen de la historia”, in: Revista de Historia I, No. 2, San
Juan de Puerto Rico (1985), S. 63-89; Baralt, Guillermo A., “Ducoudray Holstein y la Noche de San Miguel”, in:
Baralt, Esclavos rebeldes: Conspiraciones y sublevaciones de esclavos en Puerto Rico (1795-1873), Río Piedras:
Ediciones Huracán, 1985, S. 47-49. Geboren als Pierre Villaume, Sohn eines hugenottischen Pfarrers in
Brandenburg oder Schwedt, gestorben 1839 in Frankreich. Eine enigmatische Person.
663
Ducoudray Holstein, Henri La Fayette Villaume, Bolivar’s Denkwürdigkeiten, hrsg. von seinem GeneralAdjutanten Ducoudray-Holstein; die Charakterschilderung und Thaten des Süd-Amerikanischen Helden, die
geheime Geschichte der Revolution in Colombia und ein Sittengemälde des Colombischen Volkes enthaltend,
deutsch bearb. von Carl N. Röding, Phil. Dr., 2 Bde., Hamburg: Hoffmann und Campe, 1830.
664
Marx, Karl, “Bolivar y Ponte”, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich, Werke, 34 Bde., Berlin: Dietz Verlag, 1961,
Bd. XIV, S. 217-231.
665
Verna, Monsieur Bideau, el mulato francés que fue el segundo organizador de la Expedición de Chacachacare,
Caracas: Fundación John Boulton, 1968; Verna, Tres franceses en la historia de Venezuela, Caracas: Monte Ávila,
1973.
661
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Prudencio Padilla (Río Hacha, 1788 – Bogotá, 1828)666, der niederländischcurazolenische Kaufmann, Schmuggler, Revolutionär und Kapitän Louis Brion,
Sohn eines wallonischen Agenten der Augsburger Textilfirma der Obwexer (der
ein Handels- und Schmuggelnetzwerk zwischen Saint-Domingue, Puerto Rico,
Jamaika, Curaçao und venezolanischen Küstenplätzen geschaffen hatte)667, der
Acadien und Korsar Renato Beluche (New Orleans, 28. Dezember 1773 – Puerto
Cabello, 4. Oktober 1860)668, der britische Offizier von Jamaika und Adjuntant
Bolívars, William Carlos (Charles) Chamberlain (Jamaika, 1790 – Barcelona,
1817)669 sowie eine Reihe von Korsaren670, die zum Teil in letzter Minute aus dem
spanischen Blockadering um Cartagena entwischt waren.671
Eine marginalisierte, transnational-atlantische Elite, die sich von Aux Cayes
daran machte, ein Weltreich zu zerstören – sie hatten die explosive Mischung der
Ideen der Revolutionen von Saint-Domingue, Haiti und die Sprengkraft der
Gleichheitsforderungen (Freimaurertum, Menschenrechte) der französischen
Revolution von 1792 begriffen, auch die föderalen und antikolonialen Ideen der
amerikanischen Revolutionen und sie werteten die Erfahrungen der Gewalt und
des Sozialkrieges aus, denn die Spanier hatten ihnen vorgemacht, mit welchen
Versprechungen man Sklaven, städtische Unterschichten der Pardos und Llaneros
gegen Eliten mobilisiert.672 Heute gelten (fast) alle als Helden. Ein englischer
666
Torres Almeyda, Jesús C., El almirante José Padilla: epopeya y martirio, Bogotá: Ediciones El Tiempo, 1983.
Häberlein, Mark; Schmölz-Häberlein, Michaela, „Zwischen zwei Kriegen“, in: Häberlein; Schmölz-Häberlein,
Die Erben der Welser. Der Karibikhandel der Augsburger Firma Obwexer im Zeitalter der Revolutionen,
Augsburg: Wissner, 1995, S. 83-100, sowie: Häberlein; Schmölz-Häberlein, „Der Ausgang, 1794-1817“, in: Ebd.,
S. 101-122; Schmölz-Häberlein, „’Voll Feuerdrang nach ausgezeichneter Wirksamkeit’ – die Gebrüder von
Obwexer, Johann Heinrich von Schüle und die Handelsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert“, in: Burkhardt,
Johannes (ed.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils, Berlin: Akademie Verlag, 1996, S.
130-146; Díaz Ugueto, Manuel, Luis Brion, almirante de la libertad, Caracas: Editorial CEC, SA., s.a.
668
Lucas de Grummond, Jane, Renato Beluche, smuggler; privateer and patriot, Baton Rouge: State University
Press, 1983.
669
Lambert, Eric, Voluntarios británicos e irlandeses en la gesta bolivariana, Caracas : Corporación Venezolana de
Guayana, 1981.
670
Gámez Duarte, Feliciano, “Corsarios en las guerras de independencia de Hispanoamérica: entre el patriotismo y
la delincuencia”, in: Ramos Santana, Alberto (ed.), La Ilusión Constitucional: Pueblo, Patria, Nación: De la
Ilustración al Romanticismo. Cádiz, América y Europa ante la modernidad 1750-1850, Cádiz: Publicaciones de la
Universidad de Cádiz, 2004, S. 251-262.
671
Verna, Bolívar y los emigrados patriotas en el Caribe (Trinidad, Curazao, San Thomas, Jamaica, Haití).
Caracas: Instituto Nacional de Cooperación Educativa, 1983.
672
Ramos, “La nueva estrategía desde el asilo de Haiti”, in : Ramos, Bolívar y su experiencia antillana. Una etapa
decisiva para su linés política, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1990, S. 31-54; Dubois, Laurent,
“’Citoyens et amis !’ Esclavage, citoyenneté et République dans les Antilles françaises á l’époque révolutionnaire”,
667
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Kapitän drückte völlig richtig die Meinung der zeitgenössischen karibischen
Oligarchien, Sklavenhändler und Kolonialbeamten aus, die um die Sprengwirkung
wussten, die „Haiti“ als Realität, Symbol und Ikone besaß: „Diese Allianz
[zwischen Pétion und Bolívar, M.Z.] hat die Augen des Landes geöffnet über die
wahren Absichten der Führer der Insurgenten und hat das Wesen der Sache
essentiell geändert. Es befehlen die gleichen Leute, aber es ist schon nicht mehr
die gleiche Partei“.673
Als Bolívar Brion vorschlagen ließ, ihn als obersten Befehlshaber zu
wählen, kam es in der Offiziersversammlung der Emigranten zum Eklat. Die
Korsaren Luis Aury (Paris 1781 – 1821) und Renato Beluche, in den USA zur
Piraterie gekommen, schlugen vor, nicht eine Person, sondern eine Junta mit der
obersten Führung zu beauftragen. Das war angesichts der schwierigen
militärischen Lage Unfug, zeigt aber, dass Bolívar keinesweg unumstritten als
oberster Anführer war. Und es zeigt, dass es einen Konflikt zwischen eher föderal
orientierten Militärs (was damals vor allem bedeutete, dass sie nicht aus Caracas
stammten) und Zentralisten gab. Erst die Intervention Brions - der viel Geld auf
den Libertador gesetzt hatte - sicherte die Wahl Bolívars, der wohl auch über
weitere Geldmittel von Kaufleuten (z. B. Robert Sutherland) verfügte.674 Die
Expedition unter der nominellen Führung Bolívars verfügte über sieben Schooner
(Bolívar, General Mariño, General Piar, Constitució, Brión, Félix und Conill).
Der Kaufmann Robert Sutherland schickte eines seiner Schiffe, La Fortune, mit
der Expedition.
Unterdessen glaubte Morillo Mitte 1816 die „Befriedung Amerikas“
beendet zu haben. Besonders die venezolanischen Städte der Zentralsregion um
Caracas sowie den nördlichen Llanos, um Cumaná und in den Anden hatten
in : Annales. Histoire, Sciences sociales, 58e année, no 2 (mars-avril 2003), S. 281-303; Dubois, Avengers of the
New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge, Mass.; London, England: The Belknap Press of
Harvard University Press, 2004; Dubois, A Colony of Citizens. Revolution & Slave Emancipation in the French
Caribbean, 1787-1804, Chapel Hill and London: The University of North Carolina Press, 2004.
673
Kapitän Stirling an den Konteradmiral Harvey, Februar 1817, zit. nach: Parra-Pérez, Mariño y la independencia
de Venezuela …, Bd. II, S. 301-308, hier S. 307.
674
Verna, Paul, Robert Sutherland – Un amigo de Bolívar en Haiti : contribución al estudio de los destierros del
libertador en Haití, y de sus expediciones de Los Cayos y de Jacmel Caracas: Fundación John Boulton, 1966.
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schwer unter den Kriegen gelitten. Für San Carlos de Austria, einer Llano-Stadt
zwischen den Llanos de Cojedes und den Llanos de Carabobo mit rund 10000
Menschen Bevölkerung, zugleich Hauptort des heutigen Staates Cojedes, hat John
V. Lombardi ein Profil erstellt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich in den
Kriegen bis zum Ende der 2. Republik 1815 die männliche und die weiße
Bevölkerung, vor allem aber die Eliten, verringerten, es aber zu einem Anstieg von
Frauen und Pardos kam.675
Morillo hatte nicht mit dem Oriente Venezuelas, Arismendi, Piar, Mariño,
karibischen Schmugglern und den Llaneros gerechnet. Im Mai 1816 landeten die
Expeditionäre von Aux Cayes auf der Insel Margarita [Karte in: Quintero Saravia,
Pablo Morillo, S. 358]. Die Inselbevölkerung hatte unter Juan Bautista Arismendi
einen neuen Aufstand gegen Morillo begonnen und die spanischen Truppen –
sogar unter Morillo höchstselbst, ich greife etwas vor – Mitte 1817
zurückgeschlagen.676 Bolívar liess sich auf Margarita nochmals im Oberbefehl
bestätigen – vor allem, weil er die Insel als Schnittpunkt zwischen Karibik und
Venezuela benötigte. Der gesamte Osten Venezuela wies eine Besonderheit auf,
die einmalig war in den damaligen Welten des Atlantiks: hier überlappten sich
breitflächig „schwarze“ und transkulturelle karibische Kulturen (Sklaverei von
Schwarzen, Cimarronaje, Schmuggel, Piraterie, Missionare, Rodeo- und
Plantagenwirtschaft) sowie die mestizischen Kulturen der Llanos – am dichtesten
und direktesten im Umland von Barcelona, aber auch im Maturín sowie im
Umfeld von Cumaná.
Kaum angekommen, in Villa del Norte auf Margarita, liess Bolívar eine
Proklamation an die habitantes de la Costa Firme (Bewohner der Costa Firme)
verbreiten, in der er die Befreiung der Sklaven verkündete. In Carupanó, einem
extrem wichtigen Ort der Unabhängigkeitskriege, proklamierte Bolívar am 2. Juni
nochmals 1816 die Freiheit der Sklaven (die sich bereit erklärten, in seinem Heer
Lombardi, “A City in the Midst of War: San Carlos de Austria”, in: Lombardi, Peoples and Places …, S. 89-108.
Quintero Saravia, “Los Llanos y la obsesión por la isla Margarita (Enero a agosto de 1817), in: Quintero Saravia,
Pablo Morillo. General de dos mundos ..., S. 349-367.
675
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zu kämpfen) unter dem Titel A los habitantes de Río Caribe, Carúpano y Cariaco,
Salud (An die Einwohner von Río Caribe, Carupanó und Cariaco. Salut).677 In dem
Dekret, dass sich an die Einwohner - was in diesem Falle genauer die
Sklavenbesitzer bedeutet - einer der wichtigsten Plantagenregionen Venezuelas
richtet, heisst es: „In Anbetracht, dass die Gerechtigkeit, die Politik und das
Vaterland in mächtiger Form die unüberschreibbaren Rechte der Natur fordern …,
dekretiere ich die absolute Freiheit der Sklaven, die in den vergangenen
dreihundert Jahren unter dem Joch der Spanier gelitten haben“.678 Das ist eine
ziemliche Verdrehung der Realität verkleidet in die Sprache der Aufklärung. Die
Sklaven hatten möglicherweise unter Spaniern gelitten. Vor allem aber litten sie
unter ihren kreolischen Herren und Aufsehern. Und noch eines kommt hinzu – die
„absolute“ Freiheit wird sofort eingeschränkt, denn nur die Sklaven zwischen
vierzehn und sechzig Jahren, die sich binnen 24 Stunden bei den Truppen Bolívars
zum Militärdienst melden (sowie ihre Familien und Verwandten), kommen in den
Genuss der Freiheit. Alle anderen bleiben Sklaven. Es meldeten sich zunächst
kaum Freiwillige.679
Die spanischen Truppen sollten an verschiedenen Stellen angegriffen
werden. Santiago Mariño, Manuel Piar, José Francisco Bermúdez marschierten
von Carupanó ins Llano-Hinterland. Bolívar liess Segel hissen und landete bei
Ocumare de la Costa, um direkt auf Caracas zu marschieren. Spanische Truppen
erwarteten ihn und seine Truppen. Die Patrioten erlitten eine schwere Niederlage.
Bolívar und die Reste seiner Truppen flüchteten übers Meer. Gregor MacGregor
und Carlos Soublette konnten ins Inland fliehen. Sie versuchten, den Kampf um
die Unabhängigkeit auch in den Valles de Aragua, dem großen Plantagengebiet
westlich von Caracas, zu entfachen.
“Decreto de Simón Bolívar sobre Libertad de los esclavos fechado en Carupanó el 2 de Junio de 1816”, in:
Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador ..., Bd. VIII, S. 185-187.
678
Ebd., S. 185.
679
Yépez Castillo, “Los esclavos negros en Venezuela en la segunda década del siglo XIX”, in: Boletín de la
Academia Nacional de Historia (BANH), Nr. 249, Caracas (Enero-Marzo 1980), S. 113-141, hier S. 138-139 (die
zehn Dokumentenstellen, in denen Bolívar von der Abolition der Sklaverei spricht); Röhrig Assunção, Matthias,
“L’adhésion populaire aux projets révolutionnaires dans les sociétés esclavagistes: le cas du Venezuela et du Brésil
(1780-1840)”, in: L’Amérique Latine face à la Révolution française, ed. Guerra, François-Xavier, Toulouse :
Presses Universitaires Le Mirail, 1990 (=Caravelle. Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 54), S. 291-313.
677
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Vicente Lecuna, der Bolívarbiograph aus den Zeiten von Juan Vicente
Gómez, hat die richtigen Worte zur so genannten Expedición del los Cayos (ein
Euphemismus, um den Verweis auf „Haiti“ zu vermeiden) gefunden: „sie öffnete
die Türen des Landes zum Ausland [zur revolutionären Karibik – M.Z.] und
sichert die Marinebasis der Korsaren“.680
Die im Osten Venezuelas verbliebenen Offiziere der Expedition von Aux
Cayes verteidigten mit ihren Truppen (darunter eine Reihe von Haitianern) unter
hohen Opfern Carúpano. Bolívar gelangte nach der Katastrophe von Ocumare
nochmals nach Haiti. Er kehrte mit Carlos Chamberlain und vielen anderen
während der so genannten Expedition von Jacqmel (September bis Dezember
1816) nach Haiti zurück. Pétion gewährte ihm nochmals Hilfe. Ende 1816 kam die
neue Expedition in Margarita an, um danach Orte auf der Paria-Halbinsel und
Barcelona einzunehmen. Bolívar plante von dort aus, über die Llanos gegen
Caracas vorzurücken. Doch seine Caracas-Strategie, deren Niederlagen ihm viel
Hohn seiner erfolgreicheren Kameraden und den bösartigen Beinamen „Napoleon
des Rückzugs“ einbringen, resultierten aus einer fatalen Fehleinschätzung seiner
eigenen Klasse, der urbanen Eliten der venezolanischen Küstenstädte (die auch in
Bolívars Korrespondenz an seine alten Freude unter den Mantuanos deutlich
wird). Die Mantuanos wollen an keiner causa (Sache), sprich Revolution, mehr
teilnehmen. Deshalb hatten die spanisch-kreolischen Truppen Morillos, trotz einer
Reihe von Konflikten, immer noch die Unterstützung der Eliten und der
Bevölkerung der Küstenstädte. Bolívar opfert dieser falschen Strategie eine Menge
Menschenleben. Morillo war bei seiner Rückeroberung des Oriente (1816-1817,
Ausnahme: Margarita) so stark, dass es sich erlauben konnte, Bolívar zu
verfolgen; er liess bei der Suche nach dem Libertador die Taktik der verbrannten
Erde und der verbrannten Orte anwenden (Zerstörung von Cumanacoa bei
Cumaná).681 Die Patrioten holten sich bei verschiedenen Gefechten gegen die
680
Lecuna, Expedición de Los Cayos, 2 Bde., Caracas: Litografía y Tipografía Mercantil, 1928 und 1937, Bd. I, S.
234.
681
Qintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 374.
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Veteranen der Spanier blutige Köpfe. Bei der Verteidigung Barcelonas fallen
Chamberlain, der sich vor seinem Tode noch in eine Kreolin verliebt hatte, und
Bideau – und viele der haitianischen Soldaten. Die patriotischen Offiziere, die die
Stimmung der Bevölkerung besser kannten und von den Mantuanos nie etwas
erwartet hatten, konnten bessere Erfolge erzielen. Mariño konnte sich im Maturín
festsetzen, unterstützt von einer Reihe autonomer Guerrillaführer.
Der erfolgreichste Truppenführer unter den Patrioten aber war Manuel Piar
(Willemstad, 1774 – erschossen 1817 in Angostura), ein aus eigener Kraft
aufgestiegener General, Sohn einer mulata holandesa von Curaçao und eines
kanarischen Kaufmannes.682 Piar, der die Sprachen der Unterschichten perfekt
beherrschte, konnte sich die Unterstützung der vielen autonomen Guerrillas im
Osten sichern. Zwischen 1815 und 1819 war die Hauptform der Kriegführung
seitens der Republikaner die guerra de guerrillas (Guerillakrieg). Ribas war ein
Meister dieser Kriegführung. Nach schweren Kämpfen gegen spanische Marine
und Landtruppen besetzten die Milizen Piars und Manuel Cedeños Angostura, São
Tomé de Guayana und die Missionen am Caroní (Caruachí und Upata; mit 200000
Rindern sowie 80000 Pferden und Maultieren sowie Gold) mit ihren fast
unbegrenzten Ressourcen an Rindern, Pferden und Maultieren.683 Dabei
unterstützten ihn sogar Kariben mit Pfeil und Bögen sowie Kanus. Das ist eine der
wenigen positiven Erwähnungen von Indios in der Heldengeschichte der
Independencia684; es gibt allerdings auch viele negative Erwähnungen, wie die im
Operationstagebuch Santanders bei seinem Marsch 1818 von Guayana nach
Casanare über „indios guahíbos y chiricoas, de que están llenas las costas del
Meta: estos indios hacen guerra a muerte a todo ser viviente“.685
682
Brada, Willibrordus O.P., Brion 1782-1821, Willemstad [Curaçao]: Scherpenheuvel, 1954.
Armas Chitty, Guayana: su tierra y su historia, 2 Bde., Caracas: Corporación Venezolana de Guayana;
Ministerio de Obras Públicas, 1964-1968; Ugalde, Luis, Mentalidad económica y proyectos de colonización en
Guayana en los siglos XVIII y XIX: el caso de la compañía Manoa del Orinoco, 2 Bde., Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1994.
684
Neben Páez und den Llanos wird nur für den Oriente unter José Gregorio Monagas darauf hingewiesen, dass
Allianzen mit Indios sehr wichtig waren: Castillo Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“,
in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 17-23, hier S. 19.
685
González, Vicente, “Diario de operaciones del cuerpo de ejército confiado al general Francisco de Paula
Santander. De Guayana, 1818 (25/6), en marcha hacia Casanare. 1818 (12/11)”, in: Santander, Francisco de Paula,
683
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Als Bolívar von diesen brillanten Erfolgen Piars hörte, verliess er die
Truppen, die Barcelona verteidigten, und richtete seine Schritte nach Guayana. Die
patriotischen Verteidiger des Convento de San Francisco in Barcelona fielen der
spanischen Gegenattacke zum Opfer. Alle Gefangenen wurden getötet – die
Regeln der Guerra a muerte galten noch. Die Sieger verschleppten den
kommandierenden General der Patrioten, Pedro María Freites nach Caracas, wo er
am 17. April 1817 auf der Plaza Mayor vor großem Publikum standrechtlich
erschossen wurde.
Damit begann eine neue Phase der Independencia – die der
Hinterlandrevolution zwischen Karibik, Llanos und Guayana.686 Humboldt hatte
noch 1800 unter dem Stichwort „Militär“ über die Zustände des königlichen
Heeres in Guayana geschrieben: „In der Prov[inz] Guayana Militär gehaßt, alle
Soldaten unzufireden, jeder sucht sich dem Stande zu entziehen, weil fast alle
Truppen dort in aura, Río Negro, Caroní, Grior, Guayana vieja auf estacamento
[Garnisonsdienst] stehen, und fast Hungers sterben. Commendanten (meist
Sergenten oder Alférez) halten wie Padres pulpería von allen möglichen
Lebensbedürfnisse, die sie den Soldaten aufdringen [687] mit 150-200 p.C.
[Prozent] Gewinn [Anmerkung von Humboldt im Tagebuch: „Sie sagen, der
Soldat brauche hier nicht Geld und wolle es nur zum Verspielen haben! –
Gobernador de Angostura hat vom König 3000 pesos.“] … weiter“.688
Aus Sicht Piars und seiner Pardo-Milizen tauchte Bolívar plötzlich in
Guayana am Orinoko auf und forderte seinen Status als Oberbefehlshaber ein. Ein
General, ein Kreole aus Caracas, der aus Sicht Piars und seiner Pardo-Offiziere
seit 1814 nur Verluste aufzuweisen, viele Menschen für eine falsche Strategie und
eine Menge Ressourcen geopfert hatte, die von den Haitianern stammten. Zu
Diario de campaña, libro de órdenes y reglamentos militares 1818-1834, Bogotá: Biblioteca de la Presidencia de la
República, 1988, S. 8-14, hier S. 13.
686
Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón
Bolívar”, S. 39-58.
687
Auch unter dem Namen „Repartimiento-Handel“ bekannt.
688
Humboldt, Alexander von, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare,
Río Orinoco bis Esmeralda“ (30.3.- 23.5. 1800), in: Humboldt, Reise durch Venezuela. Auswahl aus den
amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg. u. eingel. v. Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur
Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 12), S. 236-310, hier S. 298.
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diesen Konflikten zwischen Piar und Bolívar kam der Versuch, einer weiteren
alternativen Staatsgründung der karibisch-ostvenezolanischen Patrioten um
Mariño689, Fernando Rodríguez del Toro, Francisco Javier Yanes, Louis Brion und
Cortés Madariaga, die die Stunde für gekommen hielten, nun die föderative
Führung unter der Fahne mit sieben Sternen in einem Kongress (Congreso de
Cariaco, 8.-9. Mai 1817) durchzusetzen – gegen den zentralistisch-jakobinischen
Bolívar und die Kreolen aus Caracas. Bolívar aktivierte seine Netzwerke und sein
Charisma, er verkündete Kriegsgesetze (ley marcial, mehrmals), aktivierte den
1813 gegründeten Orden der Befreier, um sich als primus inter pares darzustellen
(Orden de los Libertadores de Venezuela).690 Der Libertador proklamierte auch
Enteignungen der loyalistischen Eliten (Konfiskation; Sequester691), die mit den
Spaniern kooperierten. Es handelte sich nicht um den verkappten Ansatz einer
Agrarreform. Die konfiszierten Besitzungen der Spanier und royalistischen
Kreolen692 sollten an Offiziere und Soldaten nach Rang vergeben werden. Die
Patrioten besetzten die Kapuzinermissionen, töteten die Mönche (bis auf einen)
und nutzten die Ressourcen für sich.693 Dazu kamen Verbesserungen für Handel,
Kontrolle der Schmuggler und Korsaren (Prisenordnung) sowie Organisation der
Kirche und der Finanzen. Bolívar war unermütlich. Er gründete ein
689
Mariño verteidigte immer die Gleichheit, vor allem auch die der Pardos, als Mann aus dem Oriente war er
stärker von den Ideen Haitis beeinflusst; er verteidigte auch das Wahlrecht der Soldaten, siehe: Mariño, Santiago,
Derecho del soldado colombiano a votar en las elecciones, Caracas: Imprenta de José Núñez de Cáceres, 1825.
690
Planas Suáez, Simón, Historia de la Orden del Libertador: algunas advertencias sobre órdenes de caballería, La
Orden del Libertador y la Orden Miranda, Caracas: Tipografía Garrido, 1955.
691
Bolívar, “Sobre confiscación y secuestro de bienes”, Antigua Guayana, 3. September 1817, in: Ebd., S. 74-77.
692
Bolívar, “Repartición de bienes como recompensa a los Oficiales y soldados”, Santo Tomás de Guayana, 10.
Oktober 1817, in: Ebd., S. 89-92. Bolívar hielt die Konfiskationen unter enger Kontrolle, wie eine Reihe von
Dekreten über das Sequestertribunal zeigen (das zudem unter die Leitung von Fernando Peñalver gestellt wurde).
Schon am 18. Oktober 1818 erliess Bolívar in Angostura ein Dekret, dass den Frauen der Royalisten sowie ihren
Familien ihre Erbschaften und Mitgiften sicherte sowie ein Drittel der ertragbringenden Besitzungen – damit war
eine Reform, die das große Latifundieneigentum hätte zerschlagen können, im Ansatz abgewehrt, siehe: Bolívar,
„Regúlase el secuestro de bienes de la familias realistas de América“, in: Bolívar, Decretos …, Bd. I, S. 98f. Kurz
nach dem Sieg bei Bogotá dekretierte Bolívar, dass die vom Sequester Betroffenen gegen Geldzahlung ihr
Eigentum behalten durften, siehe: Bolívar, “Disposiciones para restituir los bienes secuestrados”, Santafé, 9.
September 1819, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 155f.; Bruni Celli, Blas, Los secuestros en la guerra de
independencia, trabajo de incorporación del Dr. Blas Bruni Celli como individuo de número de la Academia
Nacional de la Historia; discurso de contestación del individuo de numero Carlos Felice Cardot, Imprenta Nacional,
Caracas, 1965; Rangel Prada, Egilda, “Los secuestros y la confiscación de bienes en la provincia de Caracas”, en
Anuario de Estudios Bolivarianos. Bolivarum, año IV, núm. 4, Caracas (1995), S. 217-259.
693
Sanoja, Mario; Vargas Arenas, Iraida, “Las Misiones capuchinas de Guayana y la guerra de Independencia”, in:
Las edades de Guayana. Arqueología de una quimera. Santo Tomé y las misiones capuchinas catalanas 1595-1817,
Caracas: Monte Ávila Editores Latinoamericana, 2005, S. 328-335.
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Handelskonsulat, dessen Chef Martín Tovar Ponte sein sollte (der sich im Exil in
Trinidad befand)694, ernannte Louis Brion zum Admiral, und organisierte den
Maultier- und Rinderexport sowie den Austausch Rinder und Maultiere gegen
Waffen mit Hilfe seiner Freunde unter den Kaufleuten von Jamaika und Trinidad
(sowie ausländischen Kaufleuten, vor allem aus den USA und eventuell
Hamburg). Ein Generalstab und ein Staatsrat aus Offizieren und Korsaren sowie
Munizipalgesetze (mit ersten Wahlbestimmungen)695 schufen eine Art de-facto
Staatlichkeit aus der Mitte der Armee, die nicht zuletzt dazu diente, den Patrioten
die Anerkennung anderer Mächte zu sichern. Und Bolívar spielte seine
Fähigkeiten, die vor allem in der diplomatischen Verbindung aller Kulturen und
Ebenen des Konflikts bestanden (vor allem die Verbindung zu dem Schmuggler,
Kaufleuten und Korsaren unter Luis Brion und Renato Beluche).
Tomás Cipriano de Mosquera, ein neogranadinischer Offizier aus einem der
großen Sklavenhalterclans von Popayan, sagt in seinen Memoiren, der Kongress
von Cariaco mit seinem demokratisch-karibischen Impetus habe Piar stark
beeinflusst. Piar habe 1817 danach gestrebt, „die oberste Führung des Krieges
einem Generalsrat zu übertragen … Man rief das ausschließlich Recht der
mestizischen Rassen auf die Regierung des venezolanischen Landes aus, denn weil
sie die Mehrheit im Land waren, zählten sie mit unbestreitbaren (Rechts-) Titeln,
und in diesem Sinne appellierte man an die Gefühle der mulattischen und
Quarteronenoffiziere”.696
Piar versuchte die Pardos, die Schwarzen, Indios und Llaneros in den
Truppen und Guerrillas gegen die „vier Mantuanos“, wie er sagte, zu mobilisieren.
Er nahm Kontakt zu José Antonio Páez auf. Der Pardo-General betonte “die
Notwendigkeit, die Waffen zu ergreifen, in die uns vier Mantuanos versetzen
durch die Ambition, alles zu befehligen und uns von den heiligsten und
Bolívar, “Creación del Consulado”, Angostura, 7. November 1817, in: Ebd., S. 107f.
Bolívar, “Creación de la Municipalidad de Angostura”, Angostura, 6. Oktober 1817, in: Ebd., S. 87-89.
696
Mosquera, Tomás Cipriano de, Memoria sobre la vida del general Simón Bolívar, Libertador de Colombia, Perú
y Bolivia, Bogotá: Instituto Colombiano de Cultura, 1977, S. 225f.
694
695
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natürlichsten Rechten fernzuhalten”.697 Piar habe die sozialethnische Kategorie der
Pardos, vor allem “die Kavalleriekommandanten und viele subalterne Offiziere”,
aber auch die farbigen Offiziere der Flotte angesprochen, und diese seien von
seinen Argumenten “nicht unbeeindruckt”698 geblieben. Piar artikulierte die
antikreolischen und antizentralistische Gefühle vieler Pardos (und einiger Kreolen,
wie Mariño) und versuchte, dem sozialethnischen Protest der Pardos in ihrem
Kampf um Gleichheit und gegen die alten Rassenhierarchien eine Stimme zu
geben und seine Führung damit zu legitimieren: “es sei notwendig, daß sich alle
Pardos sammelten und alle Weißen töteten”.699 Vor allem zielte Piars
Argumentation gegen die Mantuanos und gegen Bolívar. “Bolívar habe sich zum
König proklamiert”700, obwohl er selbst vorgebe, gegen die Könige zu kämpfen.
Selbst in diesen Zeugenprotokollen wird deutlich, daß Piar durchaus die politische
Terminologie der Karibik sowie Haitis, wie auch die vom Aufklärungsdenken
geprägte Sprache seiner Zeit beherrschte. “Die Republik könne niemals glücklich
sein, während Bolívar an ihrer Spitze stehe, der an seiner Seite eine Portion von
Spitzbuben habe, die nur danach trachteten, die Gesetze zu erlassen und die uns
alle Arten von Schlechtigkeiten kosten würden; es sei nötig, das zu verhindern, da
die Klasse der Pardos zahlreicher als die der Weißen sei, sollten sie sich vereinigen
und mit ihnen aufräumen, besonders mit den Mantuanos von Caracas ... , da er
Pardo sei (spricht der General Piar) (und) dem Vaterland so viele Dienste geleistet
habe und so viele Proben seines Mutes und seiner übrigen militärischen Qualitäten
gegeben habe, müßte er der sein, der sich an die Spitze der Truppen und der
Republik setzen solle ... die Pardos würden, während die Weißen regierten,
niemals Einfluß noch Repräsentation haben”.701 Aus Briefen Piars, die von den
Spaniern abgefangen worden waren, soll sich ergeben haben, dass Piar mit Hilfe
697
Dieses Zitat wie die nachfolgenden stammen alle aus Aussagen im Piar-Prozeß. Diese Aussagen sind kritisch zu
betrachten, da sie unter Gefahr der Todesstrafe gemacht wurden, siehe: “Proceso de Piar” (Doc. 233), in: Memorias
del General O’Leary, edición facsimilar del original de la primera edición, con motivo de la celebración del
Sequicentenario de la Muerte de Simón Bolívar, Padre de la Patria, 34 Bde., Caracas: Ministerio de la Defensa,
1981, Bd. XV, S. 351-422, hier S. 351f.
698
Ebd., S. 357.
699
Ebd., S. 366.
700
Ebd., S. 360.
701
Ebd., S. 368.
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Pétions eine „schwarze Republik“ am Orinoko gründen wolle.702 Da mag viel
antipatriotische Propaganda Morillos dabei sein. Auf jeden stellte Piar in einer
offenen Situation, in der verschiedene Entwicklungen möglich waren, die
Alternative einer Sozial- und Gleichheitsrevolution gegen die Versuche Bolívars
und der liberalen Elite dar, den Unabhängigkeitskrieg in das Korsett eines
konstitutionellen, von kreolischen Eliten dominierten liberalen Staatswesens zu
spannen. Bei den Spaniern, die eine Liste der „Hauptrebellen“ hatten aufstellen
lassen, figurierte Piar auch noch als „Pirat“. Darin werden seine Verbindungen zur
Karibik deutlich.
José Francisco Bermúdez (San José de Areocuar, 23. Januar 1782 –
Cumaná, 15. Dezember 1831), früher ein Gegner Bolívars, verriet Piar. Bolívar
isolierte den mulattischen General und liess ihn absetzen. Piar wurde verhaftet und
vor ein Kriegsgericht unter seinen persönlichen Feinden Louis Brion und Carlos
Soublette y Piar (La Guaira, 1789 – Caracas, 1870) gestellt.703 Zum Tode
verurteilt, starb Piar unter den Schüssen eines patriotischen Pelotons am 16.
Oktober 1817 in Angostura [ Bild: Bellermann, „Blick von Soledad auf
Angostura“].704
Die Gegner Bolívars, vor allem die Caudillos, waren verschreckt; die
Truppen, vor allem die Pardos und farbigen Llaneros durch die Verteilung von
Besitz sowie die Aufhebung der Sklaverei beruhigt und durch Rhetorik sowie
Charisma Bolívars auf die Seite derer gezogen, die sich als Patrioten definierten.
Aber immerhin zeigen beide Dekrete Bolívar als einen sehr kreativen
Revolutionsführer – er hatte in einem Krisenmoment die beiden, wenn man so
González, Asdrubal, Manuel Piar, Caracas: Vadell Hermanos Editores, 1979, S. 185; Lasso, “Haiti as an Image
of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena Province (1811-1828)”, S. 176-190.
703
“Proceso de Piar” (Doc. 233), in: Memorias del General O’Leary ..., Bd. XV, S. 351-422; Armas Chitty, José
Antonio de, Vida del general Carlos Soublette, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1991.
704
Cobos, Eduardo, “Piar en la historiografía venezolana”, in: Yépez Colmenares, Germán (comp.), Temas de
Historia Contemporánea de Venezuela, Caracas: Fondo Editorial de Humanidades y Educación Universidad
Central de Venezuela, 2005, S. 57-77; Röhrig-Assunção; Phaf, Ineke, “'History is Bunk!’ Recovering the meaning
of independence in Venezuela, Colombia, and Curaçao: A cross-cultural image of Manuel Piar“, in: Arnold, James
A. (ed.), A History of Literature in the Caribbean, Vol. III. Amsterdam and Philadelphia: John Benjamins
Publishing Company, 1997, S. 161-174. Zum Bild von Ferdinand Bellermann (Katalognummer SdZ 150), in:
Staatliche Museen zu Berlin (ed.), Ferdinand Bellermann : 1814-1889 : ein Berliner Maler aus der Ära Alexander
von Humboldts : [Ausstellung] Kupferstichkabinett und Nationalgalerie, Berlin, 13. August - 25. Oktober 1987,
Berlin (Ost): Staatliche Museen, 1987, S. 44 (sowie als Vorsatzblatt zu: Bolívar, Escritos del Libertador …, Bd. XI.
702
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will, Achsen der kolonialen Extraktionsmaschine - Bodeneigentum und Sklaverei nicht etwa beseitigt, aber rhetorisch angegriffen und stärker unter politische
Kontrolle genommen. Die Ansprüche auf Bodenbesitz wurden allerdings von
einem Tribunal unter Leitung von Fernando Peñalver (Píritu, 1765 – Valencia, 7.
Mai 1837)705, den Humboldt für einen Rassisten hielt, kontrolliert und als vales
ausgegeben - Berechtigungsscheine mit nominalem Geldwert - ausgegeben. Die
Berechtigung auf Vales wurde bald auch auf die Zivilbeamten sowie Ausländer
mit zweijähriger Dienstzeit im patriotischen Heer ausgedehnt.706
Berechtigungsscheine kann man nicht essen. Soldaten verkauften sie oft zu einem
Bruchteil ihres nominellen Wertes – eine Spekulationswelle machte reiche
Landbesitzer und hohe Offiziere der Patrioten reicher. Arme Soldaten verloren
dabei schnell ihre Ansprüche auf Land.707
Mit dem Tod Piars hatte Bolívar zugleich eine klare Grenze gegen das
gezogen, was er die Gefahr der pardocracia (Herrschaft der Pardos)708 nannte.
Zugleich befreite er sich in gewisser Weise vom Einfluss Haitis und Pétions, der
Piar sehr schätzte.709 Der Piar-Prozeß zeigte aber auch den zahlreichen GuerillaMilizen, die sich als autonome Einheiten immer mehr an den Krieg als
Lebensweise gewöhnten, dass Bolívar gewillt war, dem Krieg ein klares
politisches Ziel zu setzen, nämlich einen Staat nach den Reglen konstitutionellen
Liberalismus, und nicht nur Krieg um des Krieges wegen zu führen.710 Die
Guerrillas unter José Francisco Bermúdez, Francisco Vicente Parejo, Francisco
Mejía und Andrés Rojas (Cumaná; Maturín), José Tadeo Monagas und Pedro
Zaraza (Barcelona), Manuel Cedeño (Caicara del Orinoco), José Antonio Páez
705
Briceño Iragorry, Mario, La tragedia de Peñalver, Bogotá: Editorial Iqueima, 1949; Gómez, Alarico, Fernando
Penalver, 1761-1837, Caracas: Ministerio de Educación, 1973.
706
Bolívar, “Modificación a la Ley del 10 de octubre”, in: Bolivar, Decretos ..., Bd. I, S. 97f.
707
Bolívar wusste von der Spekulationswelle und liess einfach die koloniale Mehrwertsteuer (Alcabala)
darauflegen, siehe: „Oficio de Bolívar para el director general de rentas, fechado en Angostura el 2 de octubre de
1818, contesta una consulta que le formularon los ministros de las cajas de Angostura sobre derechos por ventas de
bienes“, in: Sociedad Bolivariana de Venezuela, Escritos del Libertador ..., Bd. XIV, S. 344 (Doc. 3316).
708
Langue, “La pardocratie ou l’itinéraire d’une ‘classe dangereuse’ dans la Venezuela des XVIIIe et XIXe siècles”,
S. 57-72 ; Rodríguez, Manuel Alfredo, “Los pardos libres en la Colonia y la Independencia”, S. 33-62.
709
Verna, Petion y Bolívar …, S. 346.
710
Lynch, John, “Bolívar and the Caudillos” in: Hispanic American Historical Review (HAHR), Vol 63:1 (1983),
S. 3-35.
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(Apure und Barinas) sowie viele Guerrilla-Milizen am Casanare, ordneten sich
zwar nicht alle, aber die meisten, nach und nach liberalen Republikanern unter.
Oftmals erst durch Aufmarsch von Truppen unter Oberschichten-Offizieren, die es
gelernt hatten, mit den rüden Männern der Milizen umzugehen. Einige Guerrillas
aber hielten sich autonom, wie die Milizen von Dionisio Cisneros, Juan Celestino
Centeno und José Antonio Arizábalo, die den Guerrillakrieg bis in die dreißiger
Jahre am Leben hielten.711 Es ist ein Grundproblem von Sozial- und
Bürgerkriegen, die zu Subsistenzkriegen werden (das sind Kriege, in denen
Bauern sich daran gewöhnen von dem Krieg zu leben, der ihre Landwirtschaften
zerstört). Die Autonomie vieler Guerrillas konnte er damit noch nicht abschaffen;
wie etwa die unter den Brüdern Monagas im Gebiet von Barcelona und Maturín.
Deshalb diktierte Bolívar Ende 1817 ein Reglament der Guerrillas.712 Da Morillo
allerdings noch härter als Bolívar gegen die irregulären Milizen vorging, zogen
diese es meist vor, weiter in losen Allianzen mit den Patrioten
zusammenzuarbeiten. Anfang 1818 wiederholte Bolívar das Dekret über die
Freiheit der Sklaven für die wichtigen Regionen der Valles de Aragua, La Victoria
und des Valle del Tuy, zusammen mit der Gegend um Cariaco die wichtigsten
Kakaoanbaugebiete.713
Mit Angostura gewann Bolívar die Kontrolle über einen strategischen
Schnittpunkt zwischen Kontinent, Flusswelt, venezolanischem Hinterland, der
englischen Insel Trinidad und dem Atlantik (unter anderem deshalb, weil
Segelschiffe mit dem Passat den Orinoko gegen die Strömung hoch segeln und mit
der Strömung wieder herunter fahren konnten). Von Angostura aus war auch
Europa schnell zu erreichen, wie Humboldt 1800 notierte: „In keinem
Span[ischen] Hafen ist [die] Communication mit Europa so schnell. Man gelangt
hieher in 18-20 Tagen und kehrt in 30-35 Tagen zurück. Daher [der] Haß in
711
Pérez O., Eduardo, La guerra irregular en la independencia de la Nueva Granada y Venezuela, 1810-1830,
Tunja: Publicaciones de la Universidad Pedagógica y Tecnológica de Colombia, 1982.
712
Lynch, “Bolívar and the Caudillos”, S. 3-35; Thibaud, Repúblicas en armas …, S. 325.
713
Bolívar, “Llamamiento a los antiguos esclavos a defender su libertad y otras medidas”, 11. März 1818 aus Villa
de Cura, in: Decretos del Libertador …, Bd. I, S. 125-126; Bolívar, “Llámanse a filas todos los ciudadanos útiles
comprendiendo en ellos los antiguos esclavos”, 13. März 1818 aus La Victoria, in: Ebd., S. 126; sowie: Bolívar, “A
los habitantes de los valles del Tuy”, 14. März 1818 im Generalstab, in: Ebd., S. 127.
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Caracas (Neid) gegen diese Provinz“.714 In Angostura erlebte die Republik ihre
Wiedergeburt – es war die III. Republik (offiziell am 20. November 1818 per
Dekret Bolívars gegründet715). Bolívar sprach von einer „dritten Etappe der
Republik“; im Grunde ein erneuter Versuch, einen Staat zu gründen, eine
periphere Republik des Hinterlandes – ohne die Beteiligung der anderen Provinzen
und Städte (von Margarita abgesehen) und zunächst auch fast völlig ohne
Beteiligung der kreolischen Eliten. Ein Staat der Schmuggler, Milizhauptleute,
Caudillos, renitenten Wissenschaftler, geflohenen Sklaven und Llanero-Anführer.
Bolívar war sich der Schäche dieser Konstruktion von der Peripherie her durchaus
bewusst; er versuchte, so viel wie möglich Informationen, das heisst
handgeschriebene und roh gedruckte Texte, auf denen die Worte „República de
Venezuela“ zu lesen sowie so etwas wie ein Wappen zu sehen waren, mit seinen
Schmuggler-, Korsaren- und Kaufleutefreunden in die Welt zu setzen, um den
Eindruck zu erwecken, die Republik von Angostura sei ein wirklicher Staat. Aus
heutiger Sicht wäre der damalige Bolívar ein war-lord irgendwo in einem
Urwaldhinterland mit unaussprechlichen Namen außerhalb der zivilisierten Welt.
Morillo ging in einer auf Englisch verbreiteten Proklamation genau auf diesen
Punkt ein: „It is represented by those revolutionary agents that there exists a well
established Republican Government, laws, armies, and populations who have
submitted to such Republic and in fact all that may constitute a nation“.716 Aus der
Perspektive der Küstenstädte, aus der Perspektive der Eliten von Caracas, oder gar
der Zentren Bogotá oder Madrid, schien das, was da in Angostura geschah, eine
peinliche und lächerliche Petitesse – Guayana an sich hatte für die traditionellen
Oligarchien der Küste und Kolonialbeamten noch nie zur „Zivilisation“ gezählt.
Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem
Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná“ (7. Mai – 26. August 1800), S. 311-389, hier vor
allem S. 334.
715
Bolívar, “Declaración de la República de Venezuela”, Angostura, 20. November 1819, in: Decretos del
Libertador ..., Bd. I, S. 135-139.
716
“Proclama dirijida en idioma inglés”, Acaguas, 26. März 1819, in: Blanco; Azpurúa (eds.), Documentos, Bd. VI,
S. 631 (Dokument 1499); zum Verhalten Spaniens und anderer Mächte siehe: Gleijeses, Piero, “The Limits of
Sympathy: The United States and the Independence of Spanish America”, in: Journal of Latin American Studies,
24:3 (October of 1992), S. 481-505; Delgado, Josep M., “La desintegración del Imperio español. Un caso de
descolonización frustrada”, in: Illes i Imperis. Estudis d’història de les societats en el món colonial i postcolonial,
núm 8 (primavera 2006), S. 5-44.
714
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Bolívar nahm Guayana so ernst, dass er schon im November 1817 der neuen
Nationalfahne einen achten Stern – für Guayana – hinzufügen liess, betonte aber –
was zeigt, dass die Provinz Guayana als eine Art autonomen Grenzterritoriums
angesehen worden war – im Artikel 1 einer Verordnung über die Grenzen, dass die
„Provinz von Guayana, in ihrer gesamten Ausdehnung, dem Territorium von
Venezuela beigefügt wird und ab heute einen integralen Teil der Republik
bildet“.717 Morillo und seine Offiziere nahmen Angostura und die III. Republik
auch ernst. Sie wussten, dass das ressourcenreiche Gebiet (vor allem die
Missionen am Caroní) ein sicheres „befreites Territorium“ für den Aufbau einer
patriotischen Armee war. Einen neuen Staat traute Bolívar damals aber noch
niemand wirklich zu. Morillo wusste aber auch, das Bolívar über den Orinoko
Kontakt zu den Llaneros vom Apure aufnahm, den ehemaligen Soldaten von
Yáñez und Boves, die in José Antonio Páez einen neuen Anführer gefunden
hatten.718
Anfang 1818 zeigte die politische Geographie Venezuelas in gewisser
Weise die Situation von 1813-1814 - nur besetzten jetzt die Patrioten Regionen in
den Llanos und in Guayana, die früher royalistische Kräfte hielten und umgekehrt.
Morillo wartete auf Fehler Bolívars oder Eigenmächtigkeiten der GuerrillaMilizen. Bolívar musste ein neues Heer aufbauen, aus Guerillas und RekrutenMilizen, aus Llaneros und kreolischen Milizoffizieren. Armeen werden selten mit
guten Worten, sondern vor allem mit Gewalt aufgebaut; viele der einfachen
Rekruten (bisoños) mussten nachts gefesselt werden, damit sie nicht desertierten.
Seit Ende 1817 kamen auch die ersten ausländischen Offiziere (neben den
wenigen, die schon in Aux Cayes dabei gewesen waren), meist britische, irische
und deutsche Veteranen der napoleonischen Kriege nach Angostura oder
Margarita.719 Bolívar musste immer wieder Zwangsrekrutierungen für das
Bolívar, “Sobre el pabellón nacional”, Angostura, 20. November 1817, in: Decretos del Libertador …, Bd. I, S.
115; Bolívar, “Señálanse límites a la Provincia de Guayana al ser incorporada al territorio libre de Venezuela”,
Angostura, 15. Oktober 1817, in: Ebd., S. 96-97, hier S. 96.
718
Gómez Picón, Aliriro, „Páez a través de la historia”, in: Boletín cultural y bibliográfico Vol. XIV, No. 6 (1979),
S. 31-53.
719
Hasbrouck, Alfred, Foreign legionaries in the liberation of Spanish America, New York: Octagon Books/Farrar,
717
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patriotische Heer anordnen – durch Kriegsgesetze mit Zwangsaushebungen. Und
er nahm in Briefen auf ein wichtiges Problem Bezug – das der Desertionen. Dieses
Problem ist eng verknüpft mit dem wirklichen Denken der Venezolaner der
Unabhängigkeitszeit über solch abstrakte Ideale wie „Nation“. In einem Brief an
Bermúdez schrieb Bolívar über den vermeintlichen Lokalismus: “Die
fortwährende Desertion von Soldaten aus ihren Divisionen zu anderen unter dem
Vorwand, aus der Provinz zu stammen, in der jene (Division) operiert, die sie sich
auswählten, ist ein Grund der Unordnung und militärischen Insubordination, die
den Provinzgeist stärkt, um dessen Zerstörung wir uns so sehr bemüht haben. Die
Venezolaner müssen mit gleichem Interesse das Territorium der Republikaner
verteidigen, wo sie geboren wurden, wie das ihrer Brüder; denn Venezuela ist
nichts als eine einzige Familie, zusammengesetzt aus vielen Individuen, die
untereinander mit unlösbaren Banden und durch gleiche Interessen verbunden
sind”.720 Im Grunde beschrieb Bolívar in diesem Text den Unterschied zwischen
seiner eigenen Utopie von einer „Nation aller Venezolaner“ und der Realität im
Lande. Eine Nation mit dem Vornamen Venezuela existierte vorerst vor allem in
seinem Kopf und in seinen Reden und Schriften. Der im Diskurs gegründete Staat
„Venezuela“, im Mythos der Unabhängigkeit die so genannte III. Republik, erwies
sich aber als so peripher, dass selbst Bolívar, sicherlich auf einer seiner Blitzreisen
auf dem Orinoko zwischen Angostura und den Llanos am Apure oder Casanare,
auf die Idee gekommen sein muss, lieber doch nicht weiter an der Idee eines
Staates mit dem Namen „República de Venezuela“ zu hängen. Bei allen, die er
„Venezolaner“ nannte, bezeichnete das Wort Venezuela eher die Landschaft um
Caracas. Und dort herrschten 1818 Spanier und kreolische Oligarchien – und das
weckte schlechte Gefühle bei den Patrioten. Bolívar nahm sich irgendwann in
dieser Zeit vor, lieber ernst zu machen mit der sozusagen verkleinerten Idee
Mirandas von der „República de Colombia“ und einer Übernahme der
Straus & Giroux, 1969; Kahle, “Die deutschen Legionäre in der Armee Simón Bolívars”, in: Kahle, Simón Bolívar
und die Deutschen, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1980, S. 51-71.
720
Memorias del General O’Leary ..., Bd. XV, S. 449f.
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Staatsutopie, die mit diesem Import aus Europa verbunden war. Um die zu
verwirklichen, brauchten Bolívar und seine engsten Vertrauten Siege. Die
Staatsutopie des europäischen Imports benötigte Bolívar, um Definitionsmacht
über drei Gruppen mit eigenen politischen Vorstellungen zu gewinnen: seiner
eignen Klasse, die eher einem kleinflächigen Federalismus der Cabildos unter
Führung von Caracas anhingen (sofern sie aus Caracas und den Zentralgebieten
des Landes stammten), den Eliten anderer Städte, die eher einer autonomistischen
Föderalismus der anderen großen Städte (wie Maracaibo und Cumaná) zuneigten
(Mariño). Vor allem aber, um den aus seiner Sicht anarchistischen Llaneros
überhaupt mit der Idee des Staates anzufreunden, in dem er sich mit seinem
Modell als das verbindende und übergeordnete Glied zur atlantischen Welt
darstellte. Von Anfang an war seiner Kopie europäischer Staatsutopie aber zwei
genuin „amerikanische Elemente“ eingeschrieben. Bei seiner Wahl als oberster
Anführer musste sich Bolívar vor den Männern durch Charisma,
Beutebeschaffung und gute Verbindungen zu Kaufleuten und Schmugglern der
Karibik auszeichnen. Zudem musste er sich in eine enge, fast verwandtschaftliche
Beziehung zum Caudillo begeben, der sich ihm unterstellte – aber zugleich dessen
Befehlshoheit über seine Klientel stillschweigend anerkennen. Páez behielt das
Kommando über „seine“ Llaneros. Diese drei Elemente: europäische Staatsutopie
in Form einer Verfassung, die theoretisch das Gewaltmonopol über ein
Territorium (Republik) und seine Menschen (Nation) beaspruchte, komplizierte
informelle Kandidatur des obersten Anführers und Anerkennung klientelistischer
Unterstrukturen im theoretischen Gewaltmonopol, markierten seither die
Traditionen in der Geschichte von Macht und Herrschaft in Venezuela.
Llaneros und Unabhängigkeit
„Páez sí lo deseaba, que al oir, ya cano y viejo, renovarse la lucha de la América en la isla [de
Cuba], ¡volvió a pedir su caballo y su lanza! ¡Oh, llanero famoso! Tú erraste luego, como yerra
el militar que se despoja, por el lauro venenoso del poder civil ... tú te dejaste seducir por el
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poder ... pero jamás fuiste cruel, ni derramaste para tu provecho la sangre de los tuyos, ni
deprimiste ... el carácter de los tuyos”! 721
Ein patriotisches Heer unter kreolischer Kontrolle war nicht aus dem Boden
zu stampfen. Seit Anfang 1818 musste Bolívar vor allem quasi-autonome
Guerrilla-Milizen in sein Konzept der Verteidigung der Hinterlandsrepublik und
des Angriffs auf die Truppen Morillos einbinden. Das machte seine Pläne in
gewissem Sinne von den Milizen abhängig, ein Problem, das Bolívar, weltläufiger
und kosmopolitischer Aristokrat, nicht gefiel, aber er meisterte die schwierige
Diplomatie besser als etwa Morillo, der selber aus einer armen spanischen
Bauernfamilie stammte. Mit José Tadeo Monagas, dem Anführer von Llaneround Indioguerrillas im Oriente, nahm er die traditionellen Beziehungen von
padrino und ahijado (Gevatterschaft) auf – so wie es auch Páez mit seinen
Llaneroanführern machte.722
Bolívar bevorzugte die Offensive. Das zeigt, dass er Angostura wirklich nur
als Provisorium sah. So unternahm Bolívar Eilmärsche, um Anfang 1818 zum
Apure zu gelangen und seine Truppen mit den Llanero-Milizen zu vereinen, als
dessen Anführer sich seit 1816 José Antonio Páez gegen Offiziere aus der
kreolischen Elite durchgesetzt hatte.723
Die Llaneros wählten ihre Anführer; Páez nannten sie bald tata – eine
Statusbezeichnung für Älterer, Vater oder Priester mit Wurzeln in der BantuKultur; seine Leibgarde nannte ihn tío (Onkel), auch weil die Beziehungen
zwischen Caudillo und Klientel auf individuellen Patenschaftsbeziehungen
(compadrazgo) beruhten.724 Bei den Llaneros zählte kein aristokratisches Prestige
und kein Kosmopolitismus (und „Staat“ schon gar nicht) – nur die rauen
Kraftproben der Männer und das Charisma des persönlichen Beispiels. Bolívar
war sich nicht zu schade, die harten Wettkämpfe der Llaneros mitzuspielen – eben
Martí, José, “Prólogo”, in: Páez, José Antonio, Autobiografía del general José Antonio Páez, 2 Bde., Bogotá:
Editorial Bedout S.A., o.J. (Facsimile des Originals), Bd. I, S. 5-10, hier S. 10.
722
Castillo Blomquist, „Antecedentes de Monagas y su ascendencia local“, S. 17-23, hier S. 20.
723
Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 79.
724
Ebd., Bd. I, S. 145.
721
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um sich als fähiger und charismatischer Anführer zu präsentieren. Er schwamm
mit gefesselten Händen über einen Fluss. Damals konnte außer den Llaneros, die
das für ihr Überleben brauchten, in Venezuela kaum jemand schwimmen. Bolívar
ritt wilde Pferde. Er zeigte auch, dass er über drei Pferde springen konnte. Ob
Bolívar auch gesungen hat, wissen wir nicht. Es ist aber anzunehmen. Abends
tanzte er – Bolívar war bekannt als unermüdlicher Tänzer und Unterhalter.
Páez stellt sich in seiner Autobiographie als „Obersten Chef“ an der Spitze
eines „Heeres unbesiegbarer Männer“ dar, dessen wirtschaftliche Basis eine
Million Rinder und 500 000 Pferde, davon 40 000 in Korrälen725, bildete. Páez
verfügte auch über eine Flotte von bongos726 (sehr leichte Boote aus Rinderhäuten
über einem Holzgestell) und eine Hilfstruppe von 300 Indios mit Pfeil und Bogen
– im Grunde eine Truppe zur Amphibienkriegführung in den Llanos mit
eingeborenen Scouts; Bolívar nannte die Llaneros caballería de agua
(Wasserkavallerie).727
Über das Problem des Eigentums schreibt Páez nur: „Dort am Apure kam
ich auch dazu, alle Güter jener Provinz zu besitzen, die ihre Einwohner auf
generöse Weise zu meiner Disposition gestellt hatten“.728 Zu dem Eigentum, dass
die Bewohner der Llanos unter Páez Kontrolle gestellt hatten „gehörten auch ihre
Sklaven, die ich [Páez] für frei erklärte“.729 Unter diesen Worten verbergen sich
grundsätzliche Eigentumsformen und -auffassungen; die der gemeinsamen
Nutzung des Viehs durch die freien Llaneros und die des geschriebenen
Privateigentums in „römischer“ Tradition, vor allem des Eigentums der kleinen
und großen Viehhalter. Páez’ Stärke gegenüber diesen Privateigentümern im Sinne
des römischen Rechts ergab sich aus der Bedrohung, die er an der Spitze der freien
Llaneros ausüben konnte. Gleichzeitig bestand für ihn die Möglichkeit, seine
Kämpfer, Unterführer der Guerrilla oder etwa Leute aus seiner Leibwache, in den
725
Ebd., S. 135.
Ebd., S. 131.
727
Ebd., S. 141.
728
Ebd., S. 131.
729
Ebd., S. 130.
726
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Rang von legitimen Eigentümern zu erheben. Deshalb auch das starke Interesse
des Llanerochefs an der Sicherung seiner Stellung eines „obersten Verteilers“
durch das „Gesetz über die Verteilungen“. Zu den ehemaligen Sklaven, die befreit
worden waren, gehörte auch Pedro Camejo (San Juan de Payara, 1790 –
Carabobo, 1821), genannt el negro primero, einer der besten Reiter und
Lanzenkämpfer.730 Bolívar und der schwarze Llanero sollen 1818 ein legendäres
Gespräch geführt haben. Der ehemalige Sklave aus der Leibwache von Páez
erzählte Bolívar, warum er zunächst bei den Royalisten gekämpft habe: „Ich hatte
gemerkt ..., dass alle Welt ohne Hemd und ohne eine Peseta in den Krieg ging und
danach mit einer sehr hübschen Uniform bekleidet und mit Geld in der Tasche
zurückkehrte. Da wollte ich auch gehen, um das Glück zu suchen und vor allem
drei Sattelzeuge aus Silber ... Die erste Schlacht, die wir mit den Patrioten führten,
war die von Araure: sie hatten mehr als 1 000 Männer ... wir hatten viel mehr
Leute und ich rief, man sollte mir irgendeine Waffe geben, mit der ich kämpfen
könne, denn ich war sicher, dass wir siegen würden. Als ich glaubte, dass der
Kampf zu Ende sei, stieg ich von meinem Pferd und ging, um einem
ausgestreckten und toten Weißen einen sehr hübschen Kasak auszuziehen.” Der
Neger gehörte zu den Truppen des gefürchteten Anführers einer royalistischen
Guerrilla Yáñez (? Kanarische Inseln – Osorio, Portuguesa, 1814)731, genannt
Ñaña. Als ihn einer der Royalisten mit „schlechten Augen” ansah, erschien es
Pedro Camejo „besser zu fliehen und an den Apure zu gehen”. Bolívar fuhr fort:
„Man sagt, daß sie dort die Kühe töteten, die ihnen nicht gehörten”. „Aber
natürlich”, antwortete der Neger, „und wenn nicht, was sollte ich essen? Zu guter
Letzt kam der Mayordomo [„Verwalter“, das ist Páez; jegliche Chefs wurden von
den Sklaven so genannt - M.Z.] zum Apure und zeigte uns, was das Vaterland war
und das die Diablocracia [wörtlich Teufelsherrschaft – für Mantuanos – M.Z.]
730
Rojas, Arístides, El Negro I., Caracas: Tipografía de La Opinión Nacional, 1891; Solorzano, Carlos F., El Negro
Primero, Caracas: Ediciones Sesquicentenario de la Batalla de Carabobo, 1971.
731
José Yáñez gehörte zu einer Gruppe aus den Milizen oder aus dem Zivilleben aufgestiegener monarchistischer
Offiziere meist kanarischer Abstammung, die den Krieg seit 1812 in der Art eines Bürgerkrieges - sehr grausam führten; zur Gruppe gehörten u.a.: Boves, Francisco Javier Cervériz, Francisco Rosete, Eusebio Antoñazas, Antonio
Zuazola, Antonio Puig, genannt Puy, sowie Pascual Martínez. Diese Art von Kriegführung veranlasste Bolívar zur
Erklärung der Guerra a Muerte.
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keine schlechte Sache ist und von da an diene ich den Patrioten”.732 Das Gespräch
zwischen Pedro Camejo und Bolívar reflektiert nicht nur die konkreten Interessen
ungebundener (männlicher) Sklaven und das Aufnehmen der Patria-Idee durch
Teile der Llaneros, sondern auch die spezifische Mentalität der ehemaligen
Negersklaven. Camejo fiel 1821 in der Entscheidungsschlacht von Carabobo –
heute gehört er als el Negro Primero zu den legendären Helden der Volkskultur
und findet sich sogar auf den Hausaltären der Volksreligion (wie auch Bolívar,
allerdings ein sehr „farbiger“ Bolívar) – el negro primero ist Teil der Folklore, in
der auch ein Hugo Chávez aufwuchs.733 Der Bezug auf die kindliche Sprache des
Ersten Negers gehört zur rassistischen Folklore des venezolanischen Bolívarkults.
Pedro Camejo sei, kurz bevor er auf dem Schlachtfeld von Carabobo starb, zu Tata
Páez gekommen sein und habe sich mit den Worten verabschiedet: „Mi general,
vengo a decirle adiós porque estoy muerto [Mein General, ich komme, um Ihnen
Adieu zu sagen, denn ich bin [gerade mal] tot]“734 – das Sprachspiel mit
kastilischer Grammatik soll die „liebenswürdige“ Primitivität unterstreichen.
Páez fährt fort, dass ihn „seine Leute“ wie einen „Vater liebten“ und er eine
„allgewaltige Autorität“ ausübte. Diese war ihm durch die „Revolte von Trinidad
de Arichuna“ (1816), einer spontanen Erhebung von Llanero- und Pardooffizieren,
die sich gegen eine kreolische Führungsgruppe richtete, verliehen worden. Die
Llaneros hoben Páez auf den Schild. Der in den Worten der Autobiographie
deutlich werdende Legitimierungsdrang des Llanerochefs ergab sich nicht zuletzt
aus dem Bemühen, diese „Revolte“ zu rechtfertigen, wie auch aus der Tatsache,
daß er in der militärischen Demokratie der Llaneros durchaus ebenso „abgewählt“
werden konnte und sich außerdem gegen andere Guerrillachefs durchsetzen
mußte. So ist die Darlegung von Páez zu verstehen, er hätte 1818 „ohne einen
Moment zu zögern“ Bolívar als Oberste Autorität anerkannt. Die starken
Tendenzen unter den Llaneros, sich als autonome Milizen zu konstituieren, konnte
Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 213-215.
Pollak-Eltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, in: Anales del
Caribe: Centro de Estudios del Caribe 19-20, La Habana (1999-2000), S. 187-191.
734
Blanco, Eduardo, Venezuela heroica, Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1981, S.;
732
733
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Páez aber nicht völlig außer Acht lassen: „Sie zeigten große Zufriedenheit, dass
sich dieser [ Bolívar – M.Z.] in Guayana befand; aber als ich ihnen davon sprach,
dass ich ihn als Chef anerkennen würde, machte mir der größte Teil des Heeres
und der Emigrierten die Beobachtung, dass, als man mir in Trinidad de Arichuna
den obersten Befehl übergab, man mich nicht ermächtigt habe, ihn an eine andere
Person zu delegieren, sie glaubten mich nicht zu diesem Schritt autorisiert.“735
Páez unterstellte sich Bolívar – formal. Er gibt drei Gründe an: die militärischen
Fähigkeiten Bolívars, das „Prestige seines Namens“, „schon bis ins Ausland
bekannt“ und seine Überzeugung, dass es eine höchste Autorität und ein Zentrum,
das die verschiedenen Caudillos lenken könne, geben müsse.736 Das Verhalten von
Páez 1818 und die Interessen des Llaneroführers lassen allerdings den Schluß zu,
dass es ihm wohl um Prestige und Autorität Bolívars ging - soweit es seinen
Interessen entsprach. Daniel Florencio O’Leary hatte ein klares Urteil über die
Autonomie von Páez: „ … las tropas de Apure eran más bien un contingente de un
estado confederado que una división de su ejército […] Páez, acostumbrado á
ejercer su voluntad despótica y enemigo de toda subordinación [die Truppen vom
Apure waren eher ein Kontingent eines verbündeten Staates als eine Division der
Heeres ... Páez, gewöhnt an die Ausübung seines despotischen Willens und Feind
jeder Unterordnung]”.737 Am Text von Páez’ Autobiographie ist nachzuvollziehen,
wie sich Páez bei der Artikulation seiner Interessen wohl schon damals
„Fahnenworte“ der Unabhängigkeitsbewegung vor allem des Begriffs patria
(Vaterland) bediente: „Ich organisierte am Apure ein Kavallerieheer“, schreibt er,
welches „in großen Teilen aus jenen grausamen und mutigen Zambos, Mulatten
und Schwarzen zusammengesetzt war, die die Armee von Boves bildeten“.738 „Sie
waren einst die Geisel der Patrioten ... Wer glaubte jemals, daß diese Männer,
durch einige Schreiber als Wilde qualifiziert, die gewohnt waren, den Namen des
735
Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 136.
Ebd., S. 136f.
737
O’Leary, Memorias …, Bd. XXVII (O’Leary, Narración Bd. I), S. 453.
738
Díaz, José Domingo, Recuerdos sobre la rebelión de Caracas, Madrid: D. León Amarita, 1829, S. 324;
Solorzano Márquez, Carlos F., El Negro Primero, Caracas: Ediciones Sesquicentenario de la Batalla de Carabobo,
1971.
736
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Königs wie den einer Gottheit zu verehren, jemals die Sache, die sie heilig
nannten, hätten verlassen können, um der des Vaterlandes zu folgen, ein Name,
der für sie keinerlei Bedeutung hatte“.739 In Wirklichkeit befehligte Páez zu
diesem Zeitpunkt etwa 1000 Reiter und 300 Fussknechte; Bolívar rund 3500
Mann, davon etwa 750 Mann Leibgarde. Wichtig für die politische Kultur
Venezuelas ist das Zitat der Beobachtungen eines englischen Offiziers, das Páez in
seine Autobiographie aufgenommen hat: „No tienen ningún respeto por sus
oficiales superiores; para ellos todos son iguales; pero no por eso dejan de
obedecer aus órdenes en el campo de batalla cuando saben quepuede costarles la
vida el mirarlas con indiferencia. En esto consiste, á mi ver, toda su disciplina;
pues fuéra del campo son sucios, desordenados, ladrones, y tratan á los oficiales,
que en verdad no son mejores que ellos, con la misma libertad con que se tratan
los unos á los otros. Era muy comun ver á unos de estos bribones acercarse al
general Páez, llamarle tio ó compadre y pedirle lo que necesitaba, seguro de que el
buen corazon de este no se negaria á concederle lo que pedia [...] Cuando hay algo
que les interesa muy particulamente y sobre todo cuando estan enamorados, los
llaneros se expresan en coplas improvisadas [Sie haben keinen Respekt vor ihren
höheren Offizieren; für sie sind alle gleich, aber deswegen folgen sie nicht etwa
ihren Befehlen auf dem Schlachtfeld nicht, wenn sie wissen, dass es ihnen das
Leben kosten kann, wenn sie sie [die Befehle] nicht befolgen. Darin besteht
meiner Meinung nach all ihre Disziplin; denn außerhalb des Feldes sind sie
schmutzig, ungeordnet, Räuber und behandeln ihre Offiziere, die in Wahrheit nicht
besser sind als sie selbst, mit der gleichen Freiheit mit der sie sich gegenseitig
behandeln. Es war durchaus normal, zu sehen, wie sich einer dieser bribones
[Landstreicher] dem General Páez näherte, ihn tio oder compadre [Gevatter]
nannte und ihn um etwas bat, was er brauchte, sicher dass das gute Herz dieses
sich nicht weigern würde ihm das zuzugestehen, um was er gebeten hatte […]
Wenn es etwas gibt, was sie besonders interessiert und vor allem, wenn sie verliebt
739
Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 135.
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sind, drücken sich die Llaneros in improvisierten Coplas aus, die Verse sind
normalerweise sehr opportun und in ihrer Bedeutung der Situation sehr
angepasst]“.740 Ein schottischer Freiwilliger schrieb, dass die Wildheit, die man
Páez im Kampf nachsagte, von „schweren epileptischen Anfällen“ herrührte.741
Nach einer gelungenen Miniatur über die Person und das Aussehen des
„Stadtmenschen“ Bolívars, die erkennen lassen, dass der Llaneroführer seine
Fähigkeiten der genauen Beobachtung und der erzählenden Darstellung nie
verloren hat, gibt Páez eine idyllisierende, aber in ihrer typologisierenden Art
stimmige, Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kreolen und Llaneros. Darin
mangelt es nicht an Selbstbewußtsein, das die in Europa verbreitete hierarchische
Perspektive des „oben – unten“ völlig vermissen läßt. Viel stärker aber tritt der
Kulturunterschied hervor: „Man kann sagen, daß sich dort zwei zur Kriegsführung
unbedingt notwendige Elemente vereinigt sahen: die intellektuelle Kraft, die leitet
und die Pläne organisiert und die materielle, die sie zu dem vollendeten Ergebnis
führt, Elemente, die sich gegenseitig helfen und von denen eine nichts kann ohne
die andere. Bolívar brachte die Taktik mit sich, die man in den Büchern lernt und
die er schon auf den Schlachtfeldern in Praxis gesetzt hatte: wir für unseren Teil
machten uns daran, die Erfahrung zu verleihen, an Orten erlangt, wo es sich nötig
macht, auf jeden Schritt die vorher konzipierten Pläne zu ändern nach den
Modifikationen des Terrains, in dem man operierte“.742 Mit Textstellen dieser Art
erweist sich die „Autobiographie“ als hochinteressantes document humain, aus
dem das ungebrochene Selbstbewußtsein einer eigenständigen Kultur spricht,
allerdings zunächst verdeckt durch den nach 1830 konstruierten PáezPersönlichkeitskult der kreolisch-patriotischen Historiographie (und den
Bolívarkult).
740
Ebd., S. 148.
Alexander, Alexander, The Life of Alexander Alexander; Written by himself and ed. by Howell, John, 2 Bde.,
Edinburgh: Blackwood, 1830, Bd. II, S. 78f.; zu Alexander Alexander siehe: Brown, Matthew, “The Life of
Alexander Alexander and the Spanish Atlantic, 1799-1822”, in: Williams, Caroline A. (ed.), Bridging the Early
Modern Atlantic World. People, Products, and Practices on the Move, Surrey/ Burlington: Ashgate, 2009, S. 203222.
742
Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 141.
741
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Im Grunde ist diese Einschätzung der politische Kultur und des Politikstils
(vor allem die „Respektlosigkeit“) heute noch gültig, nicht etwa, weil alle
Venezolaner wirklich Llaneros oder, wie Chávez, in der Region geboren sowie mit
den Erzählungen, Memorien und Coplas aufgewachsen wären oder weil sie alle
die Páez-Autobiographie gelesen hätten (viele haben es), sondern weil die orale
Kultur der Llanos zu einem Teil des Mythos der Volksreligion im Lande
geworden ist und weil die venezolanischen Eliten sich der rüden und zugleich
egalitären Militärs aus den Reihen der Llaneros bedienten, wie Bolívar 1818-1821,
um die bäuerliche Bevölkerung des Landes unter Kontrolle zu halten. Zugleich
war der Bezug auf das Gleichheitsdenken der Llaneros ein tief in den Erzählungen
der Bewohner des Landes verwurzelter Kontradiskurs gegen unpopuläre Eliten
aller Art.743 Die orale Folklore befand sich auch immer in Wechselwirkung mit der
so genannten Hochkultur.744 Ich greife etwa vor, um zu zeigen, dass Bolívar sich
der Sprengkraft des karibisch-venezolanischen Gleichheitsdenkens der Llaneros
voll und ganz bewusst war und deshalb möglicherweise schon 1821 aus Venezuela
verschwand. An Pedro Gual schreibt er 1821: „Das [die Llaneros – M.Z.] sind
nicht die Männer, die Sie kennen, es sind die Männer, die Sie nicht kennen:
Männer, die lange Zeit gekämpft haben, die sich sehr verdienstvoll, erniedrigt und
elend und ohne Hoffnung glauben, die Frucht [das Ergebnis – M.Z.] der
Eroberungen ihrer Lanze zu erlangen. Es sind entschlossene Llaneros, unwissend,
die sich niemals den anderen Menschen gleich glauben, die mehr wissen und
besser erscheinen. Ich selbst, der ich immer an ihrer Seite gewesen bin, weiß noch
nicht wozu sie fähig sind. Ich behandele sie mit höchster Bewunderung; und nicht
einmal diese Bewunderung reicht aus, um ich ihnen das Vertrauen und die
Freizügigkeit, die unter Waffengefährten und Mitbürgern herrschen sollte, zu
inspirieren. Überzeugen Sie sich, Gual, dass wir uns über einem Abgrund
Hier ist auch „Hugo Chávez als kulturelles Phänomen“ in historischer Tiefendimension einzuordnen, siehe:
Acosta Saignes, El llanero en su copla, Caracas: Corpoimpre, 1979; Pollak-Eltz, „The Worship of Historical
Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, S. 187-191; Diehl, Oliver, „Hugo Chávez – Charisma als
soziokulturelles Phänomen“, in: Diehl, Oliver; Muno, Wolfgang (eds.), Venezuela unter Chávez – Aufbruch oder
Niedergang?, Frankfurt am Main: Vervuert Verlag, 2005, S. 57-83.
744
Almoina de Carrera, Pilar, El héroe en el relato venezolano, Caracas: Monte Ávila, 1990.
743
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befinden, oder besser, auf einem Vulkan kurz vor der Explosion. Ich fürchte den
Frieden mehr als den Krieg und damit gebe ich Ihnen die Vorstellung von all dem,
was ich nicht sage, was man nicht sagen kann“.745 Im Grunde eine Prophetie,
geboren aus der Erfahrung, die in groben Linien die Funktion der Llaneros und des
Apure als „soziales Pulverfass“ für die nächsten hundert Jahre umschreibt.746 Die
Eliten mussten dagegen einen ihnen sehr schwer fallenden Populismus gegenüber
einzelnen Führern der Llaneros einerseits und andererseits eine mächtige Kulturund Ideologieformation entwickeln, die sich am besten mit „Zivilisation“ (der
Städte) gegen „Barbarei“ (des Landes) umschreiben lässt. Der Gott dieser
Zivilisation wurde Bolívar; in den riesigen Lücken zwischen den rationalen
Kalkülen des Kartesianismus und den unteren Volksschichten breiteten sich
prophetische Besessenheitskulte aus, die auch historische Persönlichkeiten in ihre
Pantheone aufnahm.747
Als Bolívar und Páez sich im Januar 1818 am Hato von Canafístola trafen,
nutzte der Llanerochef die Möglichkeit, dem Aristokraten den militärischen Wert
seiner Reiter-Truppen und ihre Kampfesweise vorzuführen. Die hungrigen
Männer aus den Truppen Bolívars konnten nicht schwimmen. So waren sie nicht
in der Lage, den Apure zu überqueren, an dessen anderem Ufer Rinder weideten.
Die Spanier hielten flecheras (bewaffnete Boote) auf dem Fluß. Páez gab seiner
Ehrengarde ein Zeichen und wies sie mit den Worten ein: „wir müssen uns dieser
Flecheras bemächtigen oder sterben. Folgen diejenigen ihrem Onkel, die
wollen“.748 Eine deutliche Demonstration des informellen Systems von Gehorsam
sowie der Mentalität und der bedingungslosen Unterordnung der Llaneros unter
ihren Besten im Kampf. Die Llaneros schwammen hinter Páez her, die Lanze
zwischen den Zähnen und eine Hand an der Mähne des Pferdes, mit dem anderen
Arm ruderten sie. Dabei stießen sie Schreie aus, um die Kaimane zu vertreiben.
745
Bolívar, Brief an Pedro Gual aus Guanare, 24. Mai 1821, in: Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas:
Publicaciones Reunidas, S.A., 1982, Bd. I, S. 559f.
746
Izard, “El polvorín apureño”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 97-101.
747
Pollak-Eltz, „The Worship of Historical Personalities in the Cult of María Lionza in Venezuela”, S. 187-191.
748
Páez, Autobiografía ..., Bd. I, S. 145.
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Als sie die Boote erreicht hatten, erkletterten sie die Rücken ihrer Pferde und
sprangen von dort aus an Bord der feindlichen Boote. Nach kurzem Kampf waren
die Boote in ihrer Hand.
Wie aus vielen Quellen hervorgeht, hielten Ausländer die Llaneros für einen
„Stamm von Eingeborenen” und beschrieben ihre irreguläre Guerrillakampfweise,
die Reiter-Überfälle und die „große Metzelei”, die sie unter den Feinden
anrichteten. Auf die militärischen Traditionen des Kampfes gegen den Norden
weisen auch die Äußerungen von Páez zur Rekrutierung und zum Sold hin: „Sie
tragen sich als Milizionäre in die Rolle ein, aber erhalten keine andere Bezahlung
als den Teil der Beute, der ihnen in der Schlacht zukommt”.749 Ideologie und
Werte der Patrioten spielten unter den Llaneros bis 1816 keine oder eine
verschwindend geringe Rolle.
Páez präsentierte sich 1818 als ein Praktiker des Guerrillakrieges, der wegen
der sozialen Interessen der Llaneros, aber auch wegen der eigenen Ambitionen, die
„napoleonische” Vernichtungsstrategie Bolívars gar nicht mittragen konnte. Aber
er wollte es auch nicht. Páez mußte mit dem Grundinteresse seiner Leute an
diesem Krieg rechnen, der ihrer Lebensweise und ihren spezifischen Kulturen
weite Freiräume bot. Die Llaneroführer hielten sich der kreolischen Offizierselite
1818 für überlegen. Páez beanspruchte den Oberbefehl über alle Llanero-Einheiten
für sich (hatte ihn aber auch nicht effektiv), nicht nur, weil er Bolívars Plan, seiner
Campaña del Centro (im Grunde ein Vorstoß aus den Llanos am Apure direkt von
Süden auf Caracas) Morillo in Calabozo einzuschließen und sofort weiter nach
Caracas zu marschieren, zu Recht für einen Kapitalfehler hielt.
Ein Glückscoup gelang 1818 nicht, trotz einiger erstaunlicher Erfolge der
Patrioten. Die spanischen Truppen, fast alles Veteranen der napoleonischen
Kriege, vereinigten sich unter Morillo im Bergland bei den bizarren Klippen von
San Juan de los Morros und Villa de Cura, das „Tor der Llanos“ nördlich von
Calabozo die Hauptstadt Caracas gegen die Ebenen schützte.750 Bolívar, der
749
750
Ebd., S. 147.
Páez, “Los Morros”, in: Páez, Escenas rústicas ..., S. 33-38.
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ungeduldig war, Caracas zu erobern, entschloss sich, den Spanier nach Norden
entgegenzuziehen. Nach mehreren Gefechten kam es bei El Semen, einem kleinen
Ort, am 16. März 1818 zur Schlacht (batalla de la Puerta). Die Schlacht endete
nach verlustreichen Kämpfen mit einer Katastrophe für die Patrioten. Eine
schwere Verletzung Morillos, dem eine púa (Lanzenspitze, Lanze=garrocha), der
Legende nach geführt von José Gregorio Monagas, den Leib durchbohrt hatte und
hohe Verluste auch der royalistischen Seite hinderten die Spanier an einer
Verfolgung. Die Niederlage und Flucht sowie die Desertionen seiner Leute waren
eine Katastrophe für Bolívar; er verlor auch sein gesamtes Archiv, das dann vom
persönlichen Sekretär Morillos, José Domingo Díaz, für seine Schriften (vor
allem für die Recuerdos sobre la rebelión de Caracas – „Erinnerungen an die
Rebellion von Caracas“) benutzt wurde. Einige hohe patriotische Offiziere hatten
sich ergeben und wurden von den Royalisten zur Abschreckung sofort
erschossen.751
In Caracas kam es unter dem Eindruck der Nachrichten über Bolívars
Vormarsch zunächst zu einer Panik unter der Stadtbevölkerung. Viele sahen
Bolívar als einen neuen Boves an der Spitze der Llaneros in die Stadt einrücken.
Erst Siegesmeldungen Morillos beruhigten die Lage, was ein Urteil über den
Bewußtseinsstand der Mantuanos von Caracas, aber auch über die Wirkung der
Erfahrungen von 1814, zuläßt. Ferdinand VII. ernannte Morillo, den vom
einfachen Marineinfanteristen aufgestiegenen General, zum Marqués de la Puerta.
Das Gelände von La Puerta war Bolívar bereits 1814 zum Verhängnis geworden.
Die Spanier glaubten ernsthaft, die Laufbahn des Rebellenchefs sei endgültig
beendet. Dieser Lesart schlossen sich die Krone, die öffentliche Meinung in
Spanien und die internationale Öffentlichkeit an.
Morillos wie Bolívars Einschätzungen der Schlacht von El Semen (so
nannten die Patrioten die Schlacht) lassen erkennen, dass die militärische
Erfahrung, Disziplin, Routine und Qualität der royalistischen Infanterietruppen
751
Quintero Saravia, “Batalla de La Puerta”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 384-404.
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über Mut und Ungeduld der patriotischen Milizen sowie der Llanero-Reiter
gesiegt hatten. Es war aber mehr – die Llaneros hatten sich geweigert, Bolívar in
das ihnen unbekannte Berggelände hinter El Sombrero, San Juan de los Morros,
dem Tal von La Puerta und Villa de Cura, dem Tor zwischen Llanos und Valles de
Aragua, zu folgen. Páez hatte nichts gegen die Disziplinlosigkeiten und
Desertionen seiner Leute getan. Wohl auch, weil er, wie alle weitgehend
autonomen Guerilla-Anführer ahnte, dass Bolívar mit einem Sieg über Morillo und
Caracas die militärische Oberhoheit über die Guerillas und die Milizen
beanspruchen würde. Die Regenzeit setzte im Mai 1818 dem Feldzug ein Ende.
1818 wurde zu einem Jahr des Patts zwischen Morillo und Bolívar.
Bolívar organisierte, nun mit Hilfe ziemlich vieler Ausländer (wie dem
irisch-katholischen Militärchirurgen Richard Murphy oder dem Brasilianer Abreu
y Lima752), sowohl eine neue Armee, wie auch einen Staat. Er hatte begriffen, dass
die Caracas-Strategie gescheitert war. Bolívar musste ernst machen mit dem
Armee-Staat im Hinterland von Guayana. Vor allem bedurfte der ambulante Staat
einer neuen Legitimation; den Bolívar wohl schon Ende 1818/Anfang 1819 darin
sah, mit den alten kolonialen Bezeichnungen (wie Venezuela oder Neu Granada)
zu brechen und dem neuen Staat auch wirklich einen neuen Namen zu geben –
Colombia, die alte Idee Mirandas. Ein verfassungsgebender Kongreß wurde nach
Angostura einberufen. In der Idee des Kongresses und eines durch ihn
begründeten Staates wird die Tradition des iberischen und europäischen
Liberalismus deutlich. Eine Reihe von Kreolen kam aus der Emigration nach
Angostura. Zwischen Trinidad und der Pariaküste fuhr 1818 das erste steamboat,
wohl ein nordamerikanisches Dampfschiff.753 Wahlen, Vorbereitungen und
Ausbau des Heeres sowie die Begründung einer neuen politischen Medienkultur
(Zeitung: Correo del Orinoco) dauerten bis Anfang 1819; Bolívar und viele
Nucete-Sardi, José, “El brasileño Abreu y Lima, de los “Libertadores de Venezuela”, en las armas y las letras”,
in: BANH Nr. 207, Caracas (Julio-septiembre 1969), S. 511-514.
753
Ugueto, “El primer buque a vapor y la fortuna del almirante”, in: Díaz Ugueto, Manuel, Luis Brion, almirante de
la libertad …, S. 69-72.
752
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patriotische Militärs erhielten vor allem aus Großbritannien Kredite, um Waffen
kaufen und Sold an ausländische Offiziere zahlen zu können.754
Der Kongreß von Angostura, die Andenüberquerung und die Gründung GroßKolumbiens
„La Esclavitud es la hija de las tinieblas [Sklaverei ist die Tochter der Finsternis]“. 755
Am 15. Februar 1819 trat der in den Gebieten unter patriotischer
Militärkontrolle gewählte Kongreß von Angostura zusammen. Die Wahlregeln
hatte Bolívar im Munizipalgesetz sowie in einem Wahlreglement von Ende 1818
festgelegt.756 Der Kongress sollte die bisherigen Dekrete und Taten Bolívars
beurteilen und eine Verfassung verabschieden. Damit nahm Bolívar, der als
militärischer Jakobiner zur Not auch sehr gut ohne breitere Legitimation auskam,
die demokratischen und föderalen Bestrebungen seiner kreolischen
Kampfgefährten auf. Aus den militärischen Erfahrungen und aus den
Lokaltraditionen der pueblos sollte politische Praxis werden – geregelt durch eine
Verfassung liberalen Zuschnitts.757 Es war aber mehr: als ob sich ein
Wiedergänger der Geschichte in die Worte und Ideen der Aufklärung verkleidet
hätten, wurde auf dem Kongreß die alte Ideen der Gobernación de El Dorado y
de los Llanos mit Anbindung an Neu Granada einerseits, an die Karibik und den
Atlantik (Trinidad, Haiti, Margarita) andererseits wiederbelebt – was gleichzeitig
Kellenbenz, Hermann, “La región del Caribe en la primera fase de la Independencia 1815-1830”, in: Liehr,
Reinhard (ed.), América Latina en la época de Simón Bolívar. La formación de las economías nacionales y los
intereses económicos europeos 1800-1850 (Biblioteca Ibero-Americana, ed. Briesemeister, Dietrich, vol. 33),
Berlin : Colloquium Verlag, 1989, S. 453-464 ; Liehr, “La deuda exterior de la Gran colomia frente a Gran Bretaña
1820-1860”, in: Ebd., S. 465-488; Walter, Rolf, “German and U.S. American Commercial Relations with
Venezuela, 1810-1830”, in: Ebd., S. 439-452.
755
Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], 15. Februar 1819, in
deutscher Übersetzung: König, Hans-Joachim (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften zu Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Belisario Betancourt; Hamburg: Institut für Iberoamerika-Kunde, 1984, S.
47-59, hier S. 49.
756
Bolívar, “Reglamento para la segunda convocación del congreso de Venezuela”, in: Sociedad Bolivariana de
Venezuela, Escritos del Libertador, Cuatricentenario de la Ciudad de Caracas, Caracas, 1981, Bd. XIV, S. 438-455
(Doc. 3406).
757
Hébrard, “La constitution d’Angostura: mise en pratique politique de l’experience militare”, in: Hébrard, Le
Venezuela Indépendant …, S. 168-213.
754
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die abgrundtiefe Spaltung des Landes zwischen Küste (und Anden) sowie Llanos
(und Guayana) symbolisierte und vertiefte. Bolívar war gewillt, die
Kontinantalidee Mirandas in abgewandelter Form (wie er es in der Carta de
Jamaica enwickelt hatte) in Form des Staates Colombia (Kolumbien, von
Historikern, um es vom heutigen Kolumbien zu unterscheiden „Groß“-Kolumbien
– la Gran Colombia – genannt) vom Kongreß beschließen zu lassen.758
Die sechsundzwanzig Abgeordneten des Kongresses stammten aus den
Kreisen ziviler Intellektueller und Rechtsanwälte, die sich den Patrioten seit 1817
angeschlossen hatten. Aber es nahmen auch höhere Militärs teil, meist aus
oligarchischen Familien. Soldaten übten also Wahlrecht aus.759 Bolívars Rede zur
Eröffnung des Kongresses ist das wichtigste Dokument revolutionärer Rhetorik
der Independencia.760 Die politische Symbolhandlung war hervorragend
inszeniert; Bolívar lagen solche rituellen Auftritte. Seine Rede von Angostura Bolívar hatte sie im Kanu oder im Sattel auf dem Marsch zwischen Apure und
Angostura seinen Schreibern diktiert - stellte eine charismatische Botschaft an die
Generation der Revolutionäre dar, die auf die Vermittlung von Identität zielte.
O’Leary berichtet: „Das Auditorium, zutiefst berührt, vergoß bei einigen Passagen
Tränen“.761 Francisco A. Zea wurde, nachdem Bolívar mit gezogenem Säbel
symbolisch die nationale Souveränität an den Kongreß zurückgegeben hatte, zum
provisorischen Staatspräsidenten gewählt. Der Staatspräsident nahm auf dem
Präsidentensessel unter der Nationalflagge mit den acht Sternen Platz, auf dem
zuvor Bolívar gesessen hatte, während dieser zu den anwesenden Militär sprach:
„Meine Herren Generale, Chefs und Offiziere, meine Waffengefährten: wir sind
Perazzo, Nicolás, “La Colombia del Libertador: su origen, función y desintegración”, in: Boletín de la Academia
Nacional de la Historia Vol. LXIII, No. 251 (1980), S. 573-581.
759
Grases, Pedro (ed.), Actas del Congreso de Angostura (Febrero 15, 1819 - Julio 31, 1821), prólogo Brice, Angel
Francisco, Caracas: Publicaciones del Instituto de Derecho Público, Universidad Central de Venezuela, 1969 (im
Folgenden; Actas).
760
Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], Angostura, 15. Februar
1819, in: König (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften …, S. 47-59 (Spanisch: in: Blanco; Azpurúa,
Documentos, Bd. VI, S. 585-598 (Dok. 1483, II)); Harwich Vallenilla, Nikita, „Introducción“, in: Simón Bolívar,
Estado ilustrado, nación inconclusa: la contradicción bolivariana/Simón Bolívar, Estado ilustrado, nação inacabada:
a contradição bolivariana. Estudio/ Estudo de Harwich Vallenilla, Madrid: Fundación Mapfre Tavera; Ediciones
Doce Calles, S.L., 2004, S. 1-61 und S. 83-112 (Dok. Nr. III).
761
O’Leary, Memorias, Bd. XXVII (O’Leary, Narración Bd. I), S. 493-516, hier S. 516.
758
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nichts anderes als einfache Citoyens bis auf das der Souveräne Kongreß geruhe,
uns in der Klasse und den Graden einzustellen, die er für gut hält. Da ich mit Eurer
Unterwerfung rechne, werde ich in meinem und eurem Namen die klarste Probe
unseres Gehorsams geben, indem ich ihm den Befehl übertrage, mit dem ich
beauftragt war“. Daraufhin präsentierte Bolívar Zea seinen Befehlsstab mit den
Worten: „Ich gebe der Republik den Generalstab zurück, den sie mir anvertraut
hat. Um ihr zu dienen ist jedwelcher Grad oder Klasse ehrenhaft, zu deren der
Kongreß mich bestimmt: darin gebe ich ein Beispiel der Unterordnung und des
blinden Gehorsams, die jeden Soldaten der Republik auszeichnen sollten“. Der
Präsident wandte sich daraufhin an den Kongreß: „Es scheint, daß die Bestätigung
aller Grade und Anstellungen, die von Seiner Exzellenz, dem General Simón
Bolívar, während seiner Regierung verliehen worden sind, keiner Diskussion
bedarf“. Trotzdem verlangte der Präsident eine offene Akklamation und
Bestätigung, die in feierlicher Form gewährt wurde. Der Präsident endete also:
„Der Souveräne Kongreß bestätigt in der Person Seiner Exzellenz, dem
Generalkapitän Simón Bolívar alle Grade und Anstellungen, die durch ihn
während seiner Regierung verliehen wurden“. Daraufhin übergab er Bolívar den
Befehlsstab und ließ ihn zu seiner Rechten Platz nehmen. Damit erhielt Bolívar die
volle Befehlsgewalt über die Armee zurück und alle seine Maßnahmen sowie die
„Verdienste“ der von ihm geführten Armee, aber auch der Angestellten des
bisherige politischen Apparates, d.h., auch der Aufstieg der einzelnen
Angehörigen der Armee und des Apparates, ihren dem zeitgenössischen
Wertsystem entsprechende soziale Positionsänderung, fand die symbolische
Anerkennung des Kongresses.
In einer Eröffnungsadresse stellte Zea Bolívar in den antik drapierten
Denkraum der anbrechenden Moderne: „es verschwinden die Jahrhunderte und
Distanzen und wir selbst glauben uns Zeitgenossen der Aristides […], der
Kamillus und der Epaminondas. Die gleiche Philanthropie und die gleichen
liberalen Prinzipien, die die Chefs des hohen Altertums mit jenen wohltätigen
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Imperatoren Vespasian, Titus, Trajan [und] Marcus Aurelius vereinigt haben,
setzen heute diesen bescheidenen General zwischen sie“.762
Der begnadete Redner Bolívar stellte danach sein Projekt einer Verfassung
vor, dass auf Wahl, Teilung der Gewalten, präsidialem Zentralismus, Senat mit
Senatoren auf Lebenszeit (Bolívar hatte einen Erbsenat vorgeschlagen; gewählt
durch den Kongreß unter den Libertadores) und bürgerlichen Freiheiten beruhte.
Bolívar hatte die normalen drei Gewalten Montesquieus auf vier erweitert – die
vierte Gewalt sollte die „moralische Gewalt“763 sein, eine Art Wählerplebiszit;
diese vierte Gewalt findet sich auch in der neuen bolivarianischen Verfassung von
2000. Bolívar lehnte die Verfassung der USA ab und orientierte sich grob an der
Struktur des englischen politischen Systems sowie an der kurzen napoleonischen
Verfassung. Der Libertador berief sich auf antike Vorbilder, die Geschichte
Spaniens und Amerikas sowie die englische (1640-1649) und französische
Revolution (1789-1795). Ziel des Regierungssystems sollte „die größte Summe
möglicher Glückseligkeit, die größte Summe sozialer Sicherheit und die größte
Summe politischer Stabilität“ sein. Es sollte sich gegen die „undefinierte Freiheit“
und „die Anarchie“ sowie „die absolute Demokratie“ richten und die
republikanische Form beibehalten. Zu den Grundlagen der Republik bestimmte
Bolívar auch die „Proskription der Sklaverei“. Als seine wichtigsten Maßnahmen
in der Zeit seit 1816 bezeichnete Bolívar in Reihenfolge die Aufhebung der
Sklaverei, die Schaffung des Ordens der Befreier Venezuelas, die Verteilung von
Nationalgütern, die Deklaration der (III.) Republik Venezuela. Er beschwor die
Abgeordneten, die Schulden als eine Nationalschuld anzuerkennen, die sich aus
Bezahlung, Unterhalt und Ausrüstung des Befreiungsheeres ergab, und die
Vereinigung von Neu-Granada und Venezuela zu „einem großen Staat“ zu
„Discurso de Zea, Presidente del Congreso“, Angostura, 15. Februar 1819, in: Blanco; Azpurúa, Documentos ...,
Bd. VI, S. 599-600 (Dok. 1483, IV).
763
Der “Poder Moral” (eine Art Wählerentscheid) wurde nicht in die Verfassung von Angostura aufgenommen,
aber als Anhang zur Verfassung publiziert, um sie bekannt zu machen, siehe: Las constituciones de Venezuela,
recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 163-194,
hier S. 191-194; siehe auch: Grases, Pedro (comp.), El Libertador y la Constitución de Angostura de 1819, Caracas:
Banco Hipotecario de Crédito Urbano, 1970, sowie: Las constituciones de Venezuela, comp. y estudio preliminar
de Brewer-Carias, Allan R., Caracas: Academia de Ciencias Políticas y Sociales, 1997.
762
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vollziehen. Bolívar bezeichnete ausdrücklich die Ausarbeitung der Gesetze über
Sklavenbefreiung und Bodenverteilung als seine Ehrenschuld, obwohl er dem
Kongreß keine Vorschriften machen könne und wolle.
Auf diese Rede von Angostura gründeten sich ideologische Leitlinien, die
die Geschichte Venezuelas und Amerikas geprägt haben und prägen. Aber es ist
nochmals zu unterstreichen, wichtiger für die konkrete Situation waren die
autoritäts- und loyalitätsfördernde Symbolkraft der rituellen Gesamthandlung und
der Festkern sozialpolitischer Interessen der kreolischen Oligarchien, vor allem in
der Funktion des Kongresses – gegen die „Anarchie“ einer Revolution der
Llaneros und Pardos sowie Sklaven (wie es Bolívar ausdrückte). Während aber
Bolívar die strategischen Interessen der kreolischen Hegemonie in Form des
Kontinentalismus vertrat, verkörperte der Kongreß einen Ausgleich der konkreten,
regionalen und lokalen Interessen der Oligarchien und der sich neu formierenden
Teile der herrschenden Militäreliten (bolivarianos, militares). 764 Bolívar selbst
war sich darüber klar, dass die „römischen Tugenden“ der Schriftgebildeten eine
Dimension der heroische Illusion war, wenn er über Juan Germán Roscio an
Santander schreibt: „Roscio es un Catón prematuro en una república en que no hay
leyes ni costumbres romanas“.
Die Szenen im Kongreß machten tiefen Eindruck auf die kreolischen
Zeitgenossen; Llaneros waren nicht anwesend. Am folgenden Tag wählte der
Kongreß Bolívar zum Präsidenten der Republik; Zea wurde Vizepräsident, Palacio
Fajardo Wirtschafts- und Außenminister (Secretario de Estado de los Despachos
de Hacienda y Relaciones Exteriores). Da Krieg herrschte, verlieh der Kongreß
dem Präsidenten und dem Oberbefehlshaber außerordentliche Vollmachten. Damit
verfügte Bolívar über eine deutlich verbesserte staatsrechtliche Legitimation
gegenüber den anderen Militärführern, seinen kreolischen Rivalen und in den
Augen der Welt. Diese höhere Wertschätzung seiner Person übertrug sich in
vielfältiger Weise (oral, schriftlich, Symboldenken) auf breitere Kreise der
764
Zit. nach: Armas Chitty, Historia del Guárico ..., Bd. II (1807-1974), S. 13.
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Patrioten. Was die Interessen der kreolischen Oligarchien, vor allem die der
Provinz Caracas betraf, so kam der Kongreß bereits am 2. März 1819 auf einen der
zentralen Punkte. Der Intendant des Heeres, Deputierter der Provinz Guayana und
Duzfreund Bolívars, Fernando Peñalver, beantragte die Überprüfung aller
„Gesetze“, die Bolívar in der kongreßlosen Zeit erlassen habe – da er das Tribunal
der Konfiskationen und Sequester selbst kontrollierte, meinte er vor allem die
Überprüfung der Proklamationen Bolívars über die Aufhebung der Sklaverei.
Bolívar überliess die konkrete Arbeit Kommissionen. Er plante einen
militärischen Geniestreich, der die Patrioten aus dem Patt - und ihn selbst aus der
Abhängigkeit von den anderen Milizführern, Guerrillas und von Páez herausführen sollte. Der einzige wirkliche militärisch-soziale Vorteil, über den die
Patrioten unter Bolívar gegenüber Morillo mit seinen spanisch-kreolischen
Truppen und seiner Basis in den Küsten- und Andenstädten verfügten, waren
Schnelligkeit der Bewegung (Reiterei, Orinokoschifffahrt) von Ost nach West.
Aus den Zentralgebieten Neu Granadas, vor allem aus Cundinamarca und Bogotá,
kamen Nachrichten, die Bolívar wegen des Terrorregimes von Morillo und dem
von ihm eingesetzten Vizekönig Sámano als für die Patrioten günstige
Nachrichten interpretierte.
Am 23. Mai 1819 befand sich Bolívar mit seinen besten Truppen bereits am
Ufer des Apure; er wich dem Nord-Süd-Stoß Morillos aus, traf sich am Casanare
mit den Llanero-Truppen unter Befehl des Neogranadiners Santander und
verkündete seinen erstaunten Mitstreitern seinen Plan, durch Llanos und über die
Anden auf Bogotá vorzustoßen. Páez und die Llaneros hatten sich, wie viele
Milizen- und Guerrillaführer, an einen längeren Krieg gewöhnt. Allerdings
kontrollierte Páez die geflohenen Neogranadiner und Llaneros am Casanare nicht
mehr; die hatten sich Santander untergeordnet.765 Páez lehnte den Zug der
Llaneros über die Anden ab, brauchte aber Bolívar, um seine eigene Stellung zu
González, Vicente, “Diario de operaciones del cuerpo de ejército confiado al general Francisco de Paula
Santander ...”, S. 8-14; Matus Caile, Miguel, Historia de Arauca 1818-1819: consagración de Santander en la
epopeya de los llanos, Bogotá: Tercer Mundo Editores, 1992; Thibaut, Repúblicas en armas ..., S. 411-415.
765
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sichern (Nachschub, Waffen). Bolívar hatte ihm deshalb von Anfang an die
Aufgabe, Morillo hinzuhalten, zugedacht; von den Casanare-Llaneros, die
trotzdem mit den Truppen Bolívars über die auch im Sommer kalten Anden zogen,
desertierten viele [Karte766].
In Angostura gingen Gerüchte, der „verrückte“ Bolívar sei endgültig
gefallen. Nach schweren Anstrengungen und Entbehrungen beim paso de los
Andes blieb den erschöpften und halberfrorenen Truppen Bolívars keine Wahl –
sie mussten siegen oder sterben. Die spanischen Einheiten gerieten in Panik, als
die geisterhaften Gestalten von den Bergen in die Hochebene von Bogotá stiegen;
die spanisch-kreolischen Truppen liefen nach einigen Gefechten auseinander.
Auch in Bogotá kam es zur Massenpanik. Am 10. August 1819 zogen Bolívar und
seine siegreichen Truppen in der Hauptstadt des Vizekönigreiches ein. Das Datum
markiert ein klares Vorher und Nachher in der Geschichte der
Unabhängigkeitskriege. Bolívar verfügte nun über die Ressourcen Cundinamarcas,
eines der reichsten Kernterritorien spanischer Macht im Norden Südamerikas.767
Seit dem 10. August 1819 war Großkolumbien eine Realität – und die
oligarchische Provinz Venezuela im Norden quasi von den Karten der Modernität
verschwunden, auch wenn die Spanier und königstreue Kreolen die Gebiete noch
bis 1821-1823 halten konnten.
Bolívar eilte nach Angostura zurück. Die „Constitución de 1819“768, eine
Verfassung nur für Venezuela, war hinfällig. Bolívar hatte die Regie in Bogotá
seinem Stellvertreter Santander überlassen, der erst einmal eine Gruppe
kriegsgefangener spanischer Militärs öffentlich erschiessen liess - aus
symbolischer Rache für die Grausamkeiten Morillos.
“Bolívar Kampagne 1819” (Kolonialbilder Karten), aus: Bushnell, David, Simón Bolívar. Liberation and
Disappointment, New York [etc.]: Pearson; Longman, 2004, S. 105.
767
Quintero Saravia, “Bolívar y la Campaña de Nueva Granada (1819)”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S.
405-415.
768
“Constitución de 1819”, in: Las constituciones de Venezuela, recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas
Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 163-194.
766
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Am 17. Dezember 1819 nahm der Kongreß von Angostura auf Bitte
Bolívars das Grundgesetz Kolumbiens (ley fundamental) an.769 Das war nur
möglich, weil der Libertador in der Gloriole des Siegers von Boyacá in Angostura
erschienen war. Damit existierte der neue Staat Kolumbien (Groß-Kolumbien)
auch staatsrechtlich. Die Patrioten beherrschten 1819 real das Hinterland
Venezuelas (nach Provinzen: Margarita, Teile des Maturín, Guayana, Barinas),
ebenso das Llanohinterland Neu-Granadas (Casanare) und die Zentralprovinz
Cundinamarca mit Bogotá. Das Grundgesetz Großkolumbiens sollte aber gelten
für das gesamte ehemalige Vizekönigreich Neu-Granada, inclusive Panamas, der
Presidencia Quito und die ehemalige Generalkapitanie Venezuela oder Caracas; es
beinhaltete also eine Verpflichtung zur Befreiung der anderen Territorien.
Die staatsrechtliche Formel war der Anschluß: “El soberano congreso de
Venezuela, á cuya autoridad han querido voluntariamente sujetarse los pueblos de
la Nueva Granada”.770 Die Kriegsschulden, die die einzelnen Republiken oder
Militärführer vorher aufgenommen hatten, wurden in solidum als eine einzige
Staatsschuld anerkannt, was vor allem die Briten sehr von diesem Staat einnahm
(und die Offiziere noch verschwenderischer machte). Deshalb wurde auch José
Antonio Zea nach London gesandt, um über Anerkennung und finanzielle Fragen
zu verhandeln. Es handelte sich ja vor allem um Schulden, die Bolívar
aufgenommen hatte.
Administrativ sollte dieses Kolumbien in französischer politischer Sprache
in Departements (departamentos) unterteilt sein: Cundinamarca mit der
Departementshauptstadt Bogotá (Der Vorsatz „Santa Fé de“ sollte wegfallen),
Venezuela mit Caracas und die Präsidentschaft Quito mit der gleichnamigen
Hauptstadt. Schon dieser Anklang an die französische politische Kultur des
Zentralismus bereitete den lokalen Eliten Kopfschmerzen.
“Ley Fundamental de la Unión de los pueblos de Colombia”, Angostura, 17. Dezember 1819, in: Blanco;
Azpurúa (eds.), Documentos …, Bd. VII, S. 144-146 (Dokument 1611); Las constituciones de Venezuela,
recopilación y estudio preliminar Luis Mariñas Otero, Madrid: Ediciones de Cultura Hispánica 1965, S. 195-197.
770
(noch mal nach schauen) Memorias del General O’Leary, edición facsimilar del original de la primera edición,
con motivo de la celebración del Sequicentenario de la Muerte de Simón Bolívar, Padre de la Patria, Ministerio de
la Defensa, Caracas, 1981, 34 Bde., Bd. XV, Bd. II (Bd. XVI?), S. 19.
769
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Bolívar wurde zum Präsidenten und Francisco de Paula Santander771 sowie
Juan Germán Roscio (der bald starb, ebenso wie sein Nachfolger Azuola, so daß
für kurze Zeit Santiago Mariño Vizepräsident Venezuelas wurde) zu VizePräsidenten mit Sitz in den jeweiligen Departements-Hauptstädten bestimmt - im
Falle von Caracas (dessen Munizipalität die Verfassung erst am 1., 2. und 3.
Januar 1822 beschwor) und Quito (Quito beschwor die Verfassung von Cúcuta am
21. August 1822; Guayaquil bereits am 11. und 12. Juni 1822772), sobald diese
befreit seien - bestimmt.
Die Hauptstadt Kolumbiens, für die Bolívar in der Carta de Jamaica noch
den Namen Las Casas in Bahia Honda im heutigen Kolumbien oder Maracaibo
ins Auge gefasst hatte773, sollte jetzt ihm zu Ehren Libertador Bolívar (wie die
Hauptstadt „Washington“ in den USA) genannt werden – der Bolívarkult setzte
ein. Realhistorisch ist dieser Ehrenname nur auf das heutige Bolivien angewandt
worden; im Überschwang des Neuen wurde Bolívar auch sein Ehrentitel
Libertador bestätigt (in römischen Majuskeln): „BOLIVAR; LIBERTADOR DE
COLOMBIA; PADRE DE LA PATRIA; TERROR DEL DESPOTISMO“.774 Als
provisorische Staatsflagge war die venezolanische vorgesehen, die sich an der von
Miranda orientierte (rot - blau - gelb). Als provisorische Hauptstadt diente das
Städtchen Cúcuta im Andengrenzgebiet zwischen Venezuela und Neu Granada.
Um all die Provisorien nach dem erwartenden militärischen Siegen
endgültig klären zu können, sollte das Grundgesetz von Angostura775 bis 1821
gelten. Dann sollte in Cúcuta ein neugewählter Kongreß (congreso general)
zusammentreten und endgültig eine Verfassung erarbeiten. Der Kongreß von
Angostura löste sich am 15. Januar 1820 auf, nicht ohne beschlossen zu haben,
sich in dem zentral zwischen Neu Granada und Venezuela gelegenen Cúcuta zur
Beratung einer „endgültigen“ (so glaubten die Abgeordneten) Verfassung wieder
Zu Santander siehe den guten Überblick von Bushnell, David, “Santanderismo y Bolivarismo: dos matices en
pugna”, in: Desarrollo económico, Vol. 8, 30/31 Buenos Aires (1968), S. 243-261.
772
Blanco, José Félix; Azpurúa, Ramón (eds.), Documentos para la historia de la vida pública del Libertador, 16
Bde., Caracas: Ediciones de la Presidencia de la República, 1978, Bd. VIII, S. 430-432.
773
König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 38.
774
Dekret des Kongresses von Angostura vom 14. Januar 1820, in: Ebd., S. 48.
775
Bolívar, Decretos del Libertador ..., Bd. I, S. 173-176.
771
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zu treffen. Angostura hinterliess ein großes Provisorium, genannt Colombia, in
dem das alte Kolonial-Venezuela auf ein kleines Departement im Norden
zusammengeschrumpft war, das zunächst aber nur theoretisch zu Colombia
gehörte, denn bis 1821 oder gar 1823 herrschten in den großen Städten der Küste
noch spanische Offiziere. Die Guerrilla-Milizen im Hinterland aber verstanden das
Signal – viele von ihnen, paradigmatisch Juan der los Reyes Vargas (der
zwischenzeitlich von Ferdinand VII. die Auszeichnung cruz de Carlos III
bekommen hatte), Anführer von Indios und Llaneros, traten auf patriotische Seite
über. Es bestand aber immer die Gefahr, dass Spanien oder die Heilige Allianz in
Unterstützung Spaniens, noch einmal Truppen nach Maracaibo, Coro oder Caracas
sandten, die karibischen Brückenköpfe waren Kuba und Puerto Rico, wohin auch
viele royalistische Kreolen aus Venezuela flohen, wie auch viele Offiziere und
Soldaten der spanischen Truppen und der royalistischen Milizen.
Der Verfassungsgebende Kongreß hatte in einer militärisch schwierigen
Situation ein recht stabiles Provisorium geschaffen. Politisch allerdings war die
Verfassung vom Angostura ein zentralistisches Regelwerk, vor allem ein
schwieriger Kompromiß mit den regionalen Kräften (worunter in den Köpfen der
Abgeordneten auch die kreolischen Oligarchien der Cabildos der Küstenstädte
rechneten, obwohl deren Vertreter auf dem Kongress gar nicht anwesend waren),
den karibischen Demokraten, den kreolischen Föderalisten, das die Probleme mit
den lokalen Basisstrukturen der Macht nur in die Zukunft verlagerte. Der Krieg
ermöglichte das Kompromiß.
Die Utopie, die Bolívar am Ende seiner Rede vor den Abgeordneten von
Angostura ausgebreitete, lautet: „Im Fluge durch die nächsten Zeitalter hält meine
Vorstellung in den künftigen Jahrhunderten inne, und während ich dort starr vor
Staunen und Bewunderung Wohlstand, Glanz und Leben, welche dieses weite
Gebiet [Kolumbien] empfangen hat, betrachte, fühle ich mich mitgerissen und es
scheint mir, als sähe ich es schon im Herzen des Universums, sich über seine
langgezogenen Küsten hin ausbreitend, zwischen jenen Ozeanen, die die Natur
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geteilt hatte, und die unser Vaterland mit langen und sehr breiten Kanälen
vereinigt [Bezug zum Panamakanal – M.Z.]. Ich sehe es schon als Band, als
Zentrum, als Handelsplatz der menschlichen Familie dienen; ich sehe schon, wie
es in alle Winkel der Erde die Schätze an Gold und Silber sendet, die seine
Gebirge bergen; ich sehe schon, wie es durch seine göttlichen Pflanzen den
leidenden Menschen der alten Welt Gesundheit und Leben bringt […] und der
alten Welt die Majestät der neuen Welt zeigt“.776 Im Grunde eine republikanische
Utopie Amerikas, wie sie die USA nach 1945 einnahmen (aber kein Land des
ehemaligen iberischen Amerika) vorskizziert. Alle von Bolívar genannten Punkte,
mit Ausnahme der Kanals von Panama, – fern davon, für die Allgemeinheit der
Völker Lateinamerikas erfüllt zu sein – sind heute noch virulent. Nun könnte man
all dies damals für eine heroische Illusion und einen Mythos halten, der in
Revolutionen immer bemüht wird, um Menschen für die Ziele von Anführern zu
mobilisieren. Das ist es sicherlich auch, allerdings mit dem Zusatz, dass Mythen
wahr bleiben, solange Menschen an sie glauben und ihr Handeln davon
beeinflussen lassen. Insofern waren diese Utopien Bolívars wahr – damals vor
allem für die Offiziere der Patrioten; einige davon sind es heute noch. Das macht
eine der geistigen Triebkräfte heutiger Projekte zur Integration Lateiamerikas aus.
Die Ergebnisse des Kongresses von Angostura entsprachen ganz Bolívars
Konzept einer stabilen Regierung in Kriegszeiten: möglichst diktatorischezentralistische, aber konstitutionell abgesicherte Vollmachten für die
Kriegführung, pragmatische Neuaufteilung des Landes in Departements, in denen
das Militär die höchste Gewalt verkörperte und in denen Intendanten die
Versorgung der Truppen sichern sollten sowie möglichst wenig bürokratischer
Aufwand; die wichtigsten Machtinhaber sollte seine vertrauten
Offizierskameraden und andere Patrioten sein. Bolívar, ebenso Realist wie Utopist,
Bolívar, „Discurso de Angostura“ [Eröffnungsrede für den Kongreß von Angostura], 15. Februar 1819, in
deutscher Übersetzung: König (ed.), Simón Bolívar. Reden und Schriften …, S. 47-59, hier S. 59.
776
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sagte über die neue Republik: „Kolumbien wird sich so lange geeint halten, wie
die Befreier sich um mich scharen; danach wird es Bürgerkrieg geben“.777
Die neue Regierung und ihr Präsident dekretierten eine Reihe wichtiger
Gesetze, um dem neuen Staat auch eine neue Legitimation zu geben: zum Schutz
der bäuerlichen Indiobevölkerung von Cundinamarca778, die als Indígenas zu
gleichberechtigten Bürgern werden sollten. Komplettiert wurde das Dekret durch
das Gesetz vom 11. Oktober 1821; es sicherte den Indígenas zunächst ihren
bestehenden kommunalen Besitz (resguardos) und hob den Indio-Tribut (tributo)
sowie den unendgeltlichen Arbeitszwang (encomienda, informelle Sklaverei) auf,
verfügte aber zugleich die Zwangsschulbildung für die Kinder und die
Finanzierung der Schulen (um sie zu Staatsbürgern zu machen). Noch schlimmer,
aber unter damaligen Zivilisationsvorstellungen erklärbar war, dass ihr
Gemeinschaftsbesitz, die resguardos, innerhalb von fünf Jahren in
Individualbesitz, in bürgerliches Eigentum, umgewandelt werden sollte (was auch
geschah).779 Ein „Decreto sobre Libertad de Esclavos“780 erging, von Humboldt in
seinem Essay über die Insel Kuba in höchsten Tönen gelobt. Gesetze gegen
Lokalgeld (macuquina, fichas)781, zur Verbesserung der Rechtspflege und zur
Aufdeckung „spanischer Verbrechen“, gegen lokale Guerrillas und Banden, zur
Gründung von Juntas Proviciales de Agricultura y Comercio, eien Art früher
Wirtschaftsförderung, das Patronat und die Verwaltung von
777
Bolívar, Cartas ... Bd. IV, S. 121.
“Protección a los naturales en Cundinamarca”, Cúcuta, 20. Mai 1820, in: Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 194-197.
779
König, Auf dem Wege zur Nation. Nationalismus im Prozeß der Staats- und Nationsbildung Neu-Granadas
1750-1856, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1988 (Beiträge zur Kolonial- und Überssegeschichte, hrsg.v. Rudolf
von Albertini und Eberhard Schmitt, Bd. 37), S. 210f. (Spanische Version: König, En el camino hacia la nación
: nacionalismo en el proceso de formación del Estado y de la Nación de la Nueva Granada, 1750 a 1856; traducción
del alemán: Dagmar Kusche, Juan José, Santafé de Bogotá : Banco de la República, 1994).
780
Actas del Congreso de Angostura (Febrero 15, 1819 - Julio 31, 1821), pról. Brice, Angel Francisco, ed. al
cuidado de Grases, Pedro, Caracas: Publicaciones del Instituto de Derecho Público, 1969, S. 393-395, siehe auch:
“Decreto sobre la Libertad de los Esclavos”, 11. Januar 1820, Hauptstadt Guayanas, in: Presidencia de la
República, Documentos que hicieron historia. Siglo y medio de vida republicana, 2 Bde., Caracas: Editorial Arte,
1962, Bd. I: De la Independencia a la Federación, S. 245-248.
781
Walter, “Das Geld- und Münzwesen”, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870), Wiesbaden: Franz
Steiner Verlag, 1983 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 22), S. 87-88; Ríos de Hernández, Josefina,
„Características de los trabajadores“, in: Ríos de Hernández, La Hacienda Venezolana. Una visión a través de la
Historia Oral, Caracas: fondo editiral tropykos, 1988(Serie Agricultura y Sociedad), S. 43-58, hier v.a. S. 53ff.
778
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Bildungseinrichtungen . Vor allem Patronat und Kontrolle der Bildung stellte
einen scharfen Streitpunkt mit der Kirche und der Kurie in Rom dar.782
Eine Agrarreform war nicht unter den Dekreten – ganz im Gegenteil, das
wäre einem militärischen Harakiri der Patrioten gleichgekommen oder hätte einer
wirklichen Diktatur bedurft – zu beidem war Bolívar nicht bereit, obwohl der
aufklärerische Ansatz, jeden patriotischen Militär zu einem „Bürger mit
Landeigentum“ zu machen, sinngemäß in dem Bolívar-Dekret über „Repartición
de bienes como recompensa a los Oficiales y soldados“ vom 10. Oktober 1817
enthalten war.
Das Ausbleiben einer Demokratisierung des Landbesitzes war ein
historischer Fehler. Es gab aber Gründe. Es ist zunächst nicht so, dass kein Wissen
über die Schädlichkeit des Großgrundbesitzmonopols vorlag (ein altes Thema
spanischen Sozialdenkens). Aber die Reformer, die in Spanien (und in Amerika)
durchaus eine Tradition hatten, zählten meist zu den Eliten, die mit dem Imperium
eben geschlagen worden waren (oder zu den bäuerlichen Insurgenten in Mexiko
unter Hidalgo und Morelos, aber das war weit weg). Die Masse der kreolischen
Offiziere, die sie besiegt hatten, war Land- und Latifundienbesitzer. Dazu kam,
dass die grundbesitzenden Eliten, vor allem die mit Hacienda- und Sklavenbesitz
in den Küstengebieten Venezuelas, den Bergbaugebieten des Chocó und im Süden
Neu Granadas für die Patrioten gewonnen werden sollten und als soziale
Trägerschichte sowie Fachleute für Wirtschaft und Verwaltung sehr wichtig
waren. Die Exportwirtschaft der Latifundien, die Haciendas (und Hatos), bildeten
Kernstrukturen der hispanischen Extraktionsmaschine. Diese koloniale
Wirtschaftsstruktur sollte unter dem Banner des Liberalismus in eine „freie“, nur
noch von Kreolen dirigierte Wirtschaft umgewandelt werden – deshalb wurden
später auch die spanischen Großkaufleute des Landes verwiesen. Land, nach
bisherigen Rechtskonstruktionen unter königlichem Obereigentum stehend, wurde
“Patronato y gobierno de Establecimientos Educacionales”, Cúcuta, 21. Juni 1820, in: Bolívar, Decretos ..., B. I,
S. 204f.; Watters, Mary, A History of Church in Venezuela. 1810-1930, Chapel Hill: The University of North
Carolina Press, 1933.
782
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zu „bürgerlichem“ Eigentum. Die Latifundien und Mayorazgos der alten
Oligarchie-Familien gingen in das volle Eigentum „im römischen“ Sinne der
überlebenden Vertreter über, wurden aber nicht separiert – das bedeutet, sie
wurden nicht aufgeteilt, weder unter Bauern, noch unter einzelne
Familienmitglieder, sondern behielten meist die alte Rechtsrealität des indiviso bei.
Weder konnte eine bäuerliche Subsistenzwirtschaft noch eine vernünftige
kapitalistische Landwirtschaft entstehen. Die Gründe dafür waren das
weiterlaufende Statusdenken der überlebenden Oligarchien, vor allem auch der
Frauen (auf die Bolívar schon bei seinen Sequestergesetzen hingewiesen hatte),
der Bedarf des Staates an Zöllen und die militärische Macht über die meist
kreolische Offiziere geboten.
Die Extraktionsmaschine hatte die amerikanischen Territorien seit 1600 in
die Atlanten der atlantischen Wirtschaft integriert. Und die Haciendas und Hatos
stellten seit Jahrhunderten die Grundlage des Status, des Habitus sowie des
sozialen Kapitals der Elitefamilien dar. Zudem wurden die Extraktionsmaschine in
der wirtschaftlichen Zerstörung der Kriege und der Nachunabhängigkeit als
einziges Mittel angesehen, die Wirtschaft schnell wieder auf die Beine zu bringen.
Im Departement Venezuela, wie die Kerngebiete der alten Provinz im Norden nun
genannte wurde, herrschten noch bis in die 1830er Jahre Mangel an
Nahrungsmitteln, Vieh und Teuerung (sowie Mangel an Haciendaarbeitskräften).
Viele Menschen, vor allen die freie farbige Bevölkerung, sahen sich gezwungen,
nach 1815 auf den Haciendas arbeiten – oft waren die kleinen Gärten (conucos),
die ihnen die Großgrundbesitzer auf ihren Haciendas boten, die einzige
Möglichkeit zur Subsistenz. Viele Generäle, etwa Páez, aber auch eine Reihe
farbiger hoher Offiziere, rückten nach dem Krieg in die Klasse Großgrundbesitzer
ein (nicht zuletzt durch Spekulation mit den Vales des Tribunals de Repartimiento
de Bienes). Der Widerstand des Sklaven war durch die Dekrete über die
Sklavenbefreiung und die so genannten Manusmissionsgesetze von 1821 und 1830
geschächt.
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Der Latifundismus in der Form von Hacienda und Hato erfuhr während des
ganzen 19. Jahrhunderts eine Ausweitung (bis etwa 1890, dann bis 1930
einigermaßen stabil) auf Kosten der Realengos (königliches Land) und Baldíos
(»herrenloses« Land), der kommunalen Ländereien der Munizipien (Ejidos), der
kommunalen Ländereien der Indiogemeinden (Resguardos) sowie der Ländereien
der Missionen, die auch oft Indioland waren, der religiösen Orden und der Kirche
(Mano muerta, tote Hand). Aus Sicht der lokalen kreolischen Eliten war
jahrhundertelang gegen das Fehlen an Zivilisation und den Mangel an
Wirtschaftlichkeit bei den Indios angekämpft worden, deren Basis eben eine
kommunale und relativ demokratische Siedlungs- und Agrarstruktur bildete.
„Demokratie“ als politischer Begriff existierte damals nicht (er entstand weltweit
erst wieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts), aber inhaltlich existierten
Gleichheitsforderungen durchaus, wie an vielen Beispielen karibischer Einflüsse
gezeigt worden ist. Die Gleichheitsforderungen richteten sich gerade unter den
Llaneros und den einfachen Soldaten des patriotischen Heeres vor allem auf
soziale sowie politische Gleichheit und Freiheit von Hunger, das heisst, in der
politischen Dimension auf den Abbau von Titeln, Privilegien und Vorrechten oder
auf die Manien der Kastenideologie. Im Grunde wurden, abgesehen von sehr
wenigen Sozialliberalen, Haciendas (und Hatos), Extraktionsmaschine und
„moderne“ Exportwirtschaft in Verbindung mit der atlantischen Welt und Europa,
als integrierender und nicht weg zu denkender Bestandteil der neuen Staaten und
der neu zu schaffenden amerikanischen Zivilisation angesehen, die aus der „alten“
spanischen Kolonie entstehen sollten. Und die geistige Konstruktion einer neuen
civilización, die von den Städten und den dort lebenden Akteuren und ihrer Kultur
ausgehen sollte (deren Kern eben die kreolischen Eliten waren, ebenso wie die
einflussreichsten Offiziere des patriotischen Heeres) stand erst am Anfang. In
dieser Utopie der Independencia, der eurokreolischen Utopie einer Nation in Form
einer Republik, sollte die urbane Zivilisation im neuen Amerika die Wildheit und
Barbarei (barbarie) der ungezämten Natur der Hinterländer (wie der Llanos, der
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Indígenagebiete oder Guayanas) und ihrer Bewohner brechen und einbinden. Noch
die Werke Rómulo Gallegos in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts lebten von
diesem Konflikt. Unter diesen Bedingungen war eine Agrarreform wirklich
schwer zu machen. Aber sie wäre möglich gewesen – das soll gar nicht
hinweggeredet werden; ebenso wie eine entschädigungslose wirkliche Abolition
der Sklaverei. Im Endeffekt zählen aber auch die Sozialisierung und die
Lebenserfahrungen der wichtigsten Akteure, eben auch die Bolívars.
All dies führte dazu, dass die Lage sehr instabil war – nicht nur militärisch.
Die Instabilität der Lage und die fehlende Balance der Kräfte veranlassten Bolívar
dazu, stärker auf Santander, den Vizepräsidenten in Bogotá und einige der
Generale zu setzen, unter ihnen einige, mit denen er früher schwere Konflikte
gehabt hatte (wie Bermúdez und Mariño); die ihn zwar mehr und mehr in der
Öffentlichkeit begannen, ihn in einer Art patriotischem Kult zu verehren, aber in
den einzelnen Regionen Machtpositionen, vor allem durch Allianzen mit den
Resten der lokalen Oligarchien, gewannen.
Das Wichtigste war weiterhin der Krieg. Zunächst kam es unter dem
Eindruck des Trienio Liberal, der liberalen Revolution in Spanien (1820-1823) zu
Verhandlungen mit Morillo. Die Liberalen in Spanien hingen immer noch der
Illusion einer „spanischen Nation zu beiden Seiten des Atlantik“ an. Sie nahmen
auch an, dass zwischen Liberalen auf beiden Seiten kein Krieg geführt werden
sollte. Morillo und Bolívar trafen sich in Trujillo. Sie schlossen unter Hochrufen,
Ansprachen und gegenseitigen Umarmungen einen Waffenstillstand (Tratado de
armisticio) und einen Vertrag zur Regularisierung des Krieges – formell war
zumindest die Guerra a muerte zu Ende.783 Für Bolívar und die Gründer GroßKolumbiens galten die Unterschriften unter diese Verträge als eine De-factoAnerkennung des neuen Staates durch Spanien.
783
Quintero Saravia, “Los Tratados de Trujillo”, in: Quintero Saravia, Pablo Morillo ..., S. 432-444.
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Eliten, Sklaverei und Land: das Departement Venezuela in Groß-Kolumbien
„Von Miranda erdacht, von Bolívar organisiert“784
Venezuela, das Territorium der ehemaligen Generalkapitanie, hatte in den
Kriegen 1810 bis 1823 zwischen einem Drittel und einem Viertel seiner
Bevölkerung eingebüsst, ca. 75000- 100000 Menschen. Bis um 1910 verlor Gebiet
der Generalkapitanie auch mehr als ein Drittel an Territorium [Karte785].
Das Land war zerstört, die Menschen traumatisiert. Am stärksten getroffen
waren Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung und die komplizierte
Exportökonomie der Plantagen, das heisst, die Extraktionsmaschine. In der
gesamten späten Kolonialperiode war die Basis der Agrikultur eine intensive
Produktion für den lokalen Konsum; noch 1839 machte die Produktion
landwirtschaftlicher Nahrungsmittel rund 73% der gesamten landwirtschaftlichen
Produktion aus.786
Auch die politische Macht war betroffen. Die kreolische Elite in Form der
urbanen Oligarchien, die 1810 den Kampf für mehr Autonomie angeführt hatte,
war durch den Krieg zum großen Teil ausgerottet worden.787 Ein Staat existierte
faktisch nicht. Geld für den Neuaufbau gab es auch nicht. Theoretisch hätten nun
die Truppen der Patrioten - die die einzige funktionierende Macht darstellten - das
Land in einer großen Bodenreform umverteilen können. Venezuela hätte dann
nach relativ kurzer Zeit seine Eigenversorgung mit lokalen Nahrungsmitteln und
Ressourcen sicher stellen können und unter einer einigermassen begabten Führung
auch wieder eine neue Exportwirtschaft aufbauen können – aber eine
784
Frei nach Miquel Izard; siehe: Izard, Miquel, Orejanos, cimarrones y arrochelados, Barcelona: Sendai Ediciones,
1988, S. 105.
785
“Territorio original de la capitanía general de Venezuela 1777 y mapa de Venezuela 1997”, in: Klein, Marvin
(ed.), Atlas de Venezuela, Caracas: Ministerio del Ambiente y de los Recursos Naturales Renovales, ³2002, S. 8.
786
Izard, “La agricultura venezolana en una época de transición, 1777-1830”, S. 3-67, hier S. 3, FN 1; Meissner,
Jochen, “Ein weites Feld: Zur Geschichte der Landwirtschaft in den Amerikas zwischen Unabhängigkeit und
Weltwirtschaftskrise”, in: Edelmayer, Friedrich; Hausberger, Bernd; Tobler, Hans Werner (eds.), Die vielen
Amerikas. Die Neue Welt zwischen 1800 und 1930, Frankfurt am Main: Brandes und Apsel; Wien: Südwind, 2000
(Historische Sozialkunde; 16: Internationale Entwicklung), S. 175-199.
787
Caballero, Manuel, “Las tres muertes del Mariscal Sucre”, in: Insurgencia y Revolución. Antonio José de Sucre
y la independencia de los pueblos de América, La Rábida: Universidad Internacional de Andalucía (Colección
Encuentros Iberoamericanos), 1966, S. 136.
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Exportwirtschaft ohne Sklaven und eventuell mit einem eigenständigen Bauernund Handwerkssektor. Dann wären auch massive Immigrationen von
Wissenschaftlern, freien Bauern, Handwerkern und Erfindern nicht ausgeblieben,
wie sie sich wenig später in die USA richtete. Die Industrialisierung des 19.
Jahrhunderts hätte ihre Breite in Groß-Kolumbien gefunden und wir würden heute
nicht von den G-8 des Nordens, sondern vielleicht von den G-7 des Südens
sprechen.788 So funktionierte die Geschichte aber nicht.
Die Truppen der Patrioten und Llaneros waren mit den Siegen gegen
royalistische Truppen und Guerrillas 1820-1823 faktisch Zug und Zug zu
Besetzern der großen Küstenstädte im Norden des Landes mit ihren agrarischen
Hinterländern geworden. Truppen und Offiziere übten nicht nur militärische
Macht aus, sondern übernahmen auch politische Posten. Die Masse dieser Truppen
bestand aus Llaneros und Menschen der Unterschichten, die keine Ahnung von
Wirtschaft und Staat hatten und auch nicht in Kategorien wie „Nation“ dachten.
Sie waren aber bereit, ihren siegreichen Generalen, auch Bolívar, vor allem aber,
sofern es Llaneros waren, José Antonio Páez, in deren Zielvorstellungen zu folgen.
Das alte Venezuela der Generalkapitanie von vor 1815, das alle anderen Provinzen
eingeschlossen hatte, war jetzt auf ein Departament der neuen Republik
zusammengeschrumpft.
Die Bildung neuer Nationen und die endgültige Stabilisierung der Staaten,
die in den Unabhängigkeitskriegen begann, zog sich noch bis zum Beginn des 20.
Jahrhunderts hin.789 Die wichtigsten politischen Eliten des neugegründeten
Großstaates Kolumbien, der Zeit seiner Existenz eher eine Utopie der bolivarianos
(Anhänger Bolívars) als eine Realität war, glaubten, um überhaupt einen
funktionierenden Staat organisieren zu können, die Unterstützung der urbanen
konservativen Oligarchien Venezuelas und des ehemaligen Neu-Granadas zu
Die bislang kaum gestellte Frage nach einer “industriellen Revolution” in Venezuela findet sich bei: Herrera,
“¿Revolución industrial en Venezuela?”, in: Herrera, La expansión telegráfica en Venezuela ..., S. 37-55.
789
López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves,
State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S.
195.
788
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brauchen. Im Zentrum ihres Wirtschaftsdenkens standen nicht Zwiebeln, Bohnen,
Bananen und Fleisch für die Masse der Bevölkerung, sondern Kaffee, Kakao und
Rinderhäute sowie Exporte und Freihandel, die über Zölle schnell Geld für die
Staatskasse erbringen sollten. Freihandel sollte die Verbindungen nach Europa,
vor allem nach England, sichern – das große Modell Mirandas, Bolívars und der
kreolischen Independenten. In London, der Schnittstelle globaler Verbindungen,
begann Andrés Bello (Caracas, 29. November 1781-Santiago de Chile, 15.
Oktober 1865) eine neue kulturelle und diplomatische Offensive für die
Independencia.790 Europa schrie nicht nur nach Informationen, sondern nach den
Blockaden und Gegenblockaden der napoleonischen Kriege auch nach Kaffee und
Zigarren. Europa war seit 200 Jahren an Kolonialwaren gewöhnt; Hegel und Marx
konnten, wie sie auch schriftlich zugaben, ihre Werke nicht ohne Kaffee, Zucker
und Tabak schreiben. Ohne koloniale Stimulantien keine „Phänomenologie des
Geistes“ und kein „Kapital“; die europäische Industrialisierung wäre ohne Tabak,
Kartoffeln und amerikanischen Zucker stecken geblieben.791
Die Reste der alten urbanen Oligarchien hatten sich spätestens seit 1814
wieder dem Royalismus verschrieben. Ohne einen Stimmungsumschwung unter
den Resten dieser mächtigen agrarischen Oligarchien Venezuelas und NeuGranadas konnten nach den Vorstellungen der Staatsgründer Kolumbiens weder
die Wirtschaft wieder aufgebaut werden, noch die spanischen Truppen aus den
Küstengebieten und vor allem nicht aus Caracas sowie aus den Südgebieten Neu
Granadas (Caucatal, Popayan) und aus Ekuador oder gar aus Peru, wie es Bolívar
in seiner Internationalisierungsstrategie seit 1820 plante, vertrieben werden. Es
bedurfte sogar erst der Angst vor einer neuen liberalen Revolution in Spanien
(Trienio Liberal 1820-1823, durch Intervention der Heiligen Allianz beendet),
790
Grases, Pedro, Antología de Andrés Bello. Selección, Prólogo y Notas de Pedro Grases, Caracas: Editorial
Kapelusz Venezolana, S.A., 1964; Bello, Andrés, Obras Completas, 26 Bde., Caracas: Fundación La Casa de Bello,
1981-1984; Cussen, Antonio, Bello and Bolívar, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; Jaksić, Iván, “The
Diplomacy of Independence, 1820-1829”, in: Jaksić, Andrés Bello. Scholarship and Nation-Building in NineteenthCentury Latin America, Cambridge: Cambridge University Press, 2001, S. 63-93.
791
Mintz, Sidney W.; Price, Sally (eds.), Caribbean Contours, Baltimore and London: The Johns Hopkins
University Press, 1985; Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt am Main; New York:
Campus, 1986.
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damit diese alten Oligarchien, weil sie einen noch radikaleren Liberalismus
befürchtete, ihre Fahnen wieder für das „Vaterland“ in den Wind hängen ließen
und sich zur „Sache der Vaterlandes“ und zu Allianzen mit den neuen Eliten des
Unabhängigkeitskrieges (hohe Offiziere, Generale) öffneten.792 Die Patrioten
glaubten diesen kleinen, aber noch einflußreichen sozialen Gruppen, deren
Familien de jure noch Besitzer von Latifundien waren, wirtschaftliche Horizonte
öffnen und ihren sozialen Status sowie ihr Eigentum sichern zu müssen. Das
Hauptargument dabei war - neben dem der „Zivilisation“ und „Heiligkeit des
Eigentums“ - die Effizienz der Wirtschaft. Damit meinten die kreolischen
Patrioten die Exportwirtschaft der Haciendas und Hatos, nicht etwa die Effizienz
der bäuerlichen Kleinwirtschaften (conucos, corrales de cría). In der Nähe der
Städte gehörten diese Kleinwirtschaften oft zu den Haciendas oder zu indianischen
Kommunen. Diese „alte“ Exportwirtschaft sollte den Besitzern ein Leben in
gewohnter Kultur ermöglichen - auch ein Bolívar war an die kosmopolitischatlantische Kultur der kreolischen Elite gewöhnt - und dem Staat über Zölle und
Abgaben Einnahmen bringen und zugleich die Lebensmittelversorgung sichern,
ohne dass der Staat die Conucos und Kleinfelder für Bananen als „richtiges“
Eigentum anerkennen musste. Das hätte nur langwierige juristische Prozesse nach
sich gezogen und den Bauern eine Rechtsposition garantiert, etwa in den
Auseinandersetzungen um Saisonarbeit, von der die Haciendas nach dem Ende des
Sklavenhandels abhingen. Zugleich waren aber die latenten Forderungen nach
Land und Reform der großen Latifundien durchaus da. Viele der ziemlich lang
anhaltenden Konflikte auf den beiden Kongressen von Angostura und Cúcuta und
um die endgültige Vertreibung der spanisch-kreolischen Truppen. Insgesamt
verzögerte sich die „Befreiung“, wie die Patrioten es in ihren Zeitungen und Reden
792
Stoan, Stephen K., Pablo Morillo and Venezuela ..., passim; Costeloe, Michael P., Response to Revolution.
Imperial Spain and the Spanish-American Revolutions, 1810-1840, Cambridge 1986; Zeuske, Política colonial,
reforma y revolución: Cuba y la Independencia de la Tierra Firme, 1808-1821, in: Transformación, reforma y
revolución en la historia de América Latina, 1750-1898. Ensayos de historia comparada, Caracas: Fondo Editorial
Tropykos 1996, S. 17-62.
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nannten, um drei Jahre (1820-1823); im rein militärischen Sinne hätten die
bolivarianischen Truppen schon 1820 die Küstenstädte besetzen sollen können.
Der Kern dieser Probleme - aus Perspektive der Oligarchien, der meisten
Politiker Groß-Kolumbiens und fast aller kreolischen Intellektuellen Garanten
eines Neuaufbaus nach den Kriegszerstörungen - waren großes Landeigentum und
Sklaven. Land stellte die wichtigste Produktionsressource und zugleich das
wichtigste fixe und soziale Kapital für die Oberschichten, uach für die neuen
Eliten, dar. Sklaven und abhängige Bauern waren die einzige Arbeitskraft, die
gezwungen werden konnten, rurale Schwerstarbeit unter tropischer Sonne zu
leisten. Zwischen 1815 und 1825 wuchs die Nachfrage nach Zucker, Kaffee,
Häuten und anderen tropischen Produkten in Europa Jahr für Jahr explosionsartig
an; in England kam es gar zu einem Spekulationsboom wegen der erwarteten
Gewinne in den „neuen“ Staaten des ehemaligen Spanisch-Amerika. Land und
Sklaven waren genau jene Institutionen, die Bolívar im Kampf gegen den
Kolonialismus 1816 (Dekret zur Aufhebung der Sklaverei) sowie 1817 in der
Auseinandersetzung mit dem Pardo Manuel Piar angegriffen hatte (Ley de
Repartos). Die einzige Land-„Reform“, die die liberalen Patrioten anstiessen, war
die Auflösung der resguardos de indios. Die Landfrage war aber auch im Kriege
politisch nie aus dem Ruder gelaufen. Es hatte zwar furchtbare Zerstörungen
gegeben, aber eine wirklich Reform oder gar Aufteilung des Bodens hatte niemand
der Eliten auf seiner Agenda, auch Bolívar nicht. Eine solche Verteilung des
Bodens war Teil der Schreckenserzählungen über Haiti, wo wirklich die größte
Landumverteilung der karibischen Geschichte stattfand. Llaneros, die wirklich
eine militärische Gefahr hätten darstellen können, forderten kein Bodeneigentum –
ihre engere Kultur kannte dieses Konzept nicht und die Caudillos wie Páez, die das
Konzept des Bodeneigentums entweder schon kannten (Páez war kein gebürtiger
Llanero) oder es kennenlernten, wurden durch Übergabe konfiszierter Latifundien
in den Plantagengebieten ruhig gestellt.793
Carrera Damas, „Sobre el alcance y el significado de las políticas agrarias en Venezuela durante el siglo XIX“,
in: Jara, Álvaro (ed.), Tierras nuevas. Expansión territorial y ocupación del suelo en América (siglos XVI-XIX),
793
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Schwieriger war es schon, Freiheitsdiskurs und Sklaverei unter einen Hut zu
bekommen. Die Sklaverei musste aber aus Sicht der kreolischen Eliten der
Küstenstädte aber unbedingt restauriert werden, denn eine der wichtigsten Folgen
des Krieges war eine Verteuerung der Arbeitskraft. Die Rekonstruktion der
Sklaverei bei so viel Reden und Texten über die „Freiheit“ war kompliziert – aber
die kreolischen Notablen und Notare verfügten über lange Herrschaftserfahrungen.
Und sie verfügten über gute Beziehungen, oft sogar familiäre Verbindungen zu
den kreolischen Generälen der Patrioten – sie verheirateten nämlich ihre Töchter
mit den hohen Offizieren der Unabhängigkeitstruppen.
Zunächst zu den Fakten. Die sind schwer zu bekommen, da der Krieg die
Verwaltung mit ihren Berichten, Quellen und Statistiken vernichtet hatte: im
Departement Venezuela, im Umland von Caracas, in den Tälern von Caracas,
Aragua und Barlovento-Tuy, arbeiteten nach Informationen des Anuario de la
Provincia de Caracas in der Dekade der 1830er Jahre 701 Kaffee-Haciendas (mit
7364 Bäumen) und 356 Kakao-Haciendas (mit 7197 Bäumen); Federico Brito
Figueroa, frühverstorbener Dekan der Strukturhistoriker Venezuelas, gibt für den
gesamten Plantagensektor Venezuelas die Zahlen von 1995 Haciendas für 1833
(351 Kaffee, 671 Kakao und 175 Zuckerrohr) an, für 1840 hatte sich die
Gesamtzahl auf 9125 etwa vervierfacht – wenn jede nur 1000 Hektar umfasst
hätte, wären das über 9 Millionen Hektar, faktisch alles Land in der Nähe der
Städte. 794 Eine starke restaurative Tendenz. Sie lässt Rückschlüsse auf die
Dimensionen in den zwanziger Jahre zu. Die Viehwirtschaft war durch den Krieg
so schwer getroffen, dass nach 1817 auch 1826 nochmals der Export von
Hengsten, Stuten, Eseln und Maultieren verboten werden musste. So hatte es auch
Bolívar in Angostura praktiziert, um seine Truppen mit Reittieren ausrüsten zu
können. Das zeigt, dass der Exportlandwirtschaft vor allem Transporttiere fehlten,
México D.F. : El Colegio de México, Centro de Estudios Históricos, 1969, S. 121-138, hier S. 133-137.
794
Acosta Saignes, Latifundio, México: Editorial Popular, 1938; Acosta Saignes, Latifundio, Caracas: Procuraduría
Agraria Nacional, 1987; Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela. Una estructura para su estudio,
6 Bde., Caracas: Universidad Central de Venezuela, Ediciones de la Biblioteca, 1971-1987, Bd. I, S. 232f.; Fuentes,
Cecilia; Hernández, Daria, Cultivos tradicionales de Venezuela, Caracas: Fundación Bigott, 1993; “Agricultura”,
in: Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 69-81.
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weil sie vom Heer als Reit- und Zugtiere benutzt wurden und als mitlaufende
Fleischreserve.
Das Funktionieren und die Rentabilität der Haciendawirtschaft hingen ganz
entscheidend von Geldkapital und von Arbeitskräften ab. Je weniger Geld es gab,
desto wichtiger wurden die (billigen) Arbeitskräfte, die sich auf den Haciendas
auch noch versorgten und so völlig unter Kontrolle der Herrn standen.
Investitionen und private Kredite in Form von Geld gab es faktisch nicht zwischen
1815 und 1834. Arbeitskräfte waren wegen der Kriegsverluste extrem knapp. Um
überhaupt ihren Familien ein Überleben zu sichern und nicht Hungers zu sterben,
arbeiteten viele Pardos der Städte, in der Kolonialzeit stolze Handwerker, deshalb
unter Bedingungen auf den Conucos der Haciendas, zu denen sie vor 1810 nie
gearbeitet hätten. Das minderte zwar den Hunger ihrer Familien, aber weder das
Arbeitskräfteproblem noch den Landhunger. Die Kosten der Produktion wiederum
hingen ganz entscheidend der von der Nähe der Haciendas zum Meer und zu
Flüssen bestimmt (Transportkosten) ab; selbst wenn die meisten traditionellen
Haciendas, wie es Humboldt beschreibt, in der Nähe von Flüssen lagen, brauchten
sie viele Tiere für Arbeit und Transport.
Politische Probleme kamen hinzu, von denen die kreolischen Libertadores
befürchten mussten, die würden die Oligarchien weiterhin zu Aliierten der Spanier
machen. Die komplizierten Fragen ergaben sich aus der Organisation der neuen
Macht. In diesem Sinne drohte den kreolischen Eliten der Küstenstädte
Statusverlust durch ein so unschuldig wie langweilig bürokratisch klingendes Wort
wie Territorialorganisation. Beide Kongresse, der von Angostura 1819 bis 1820
und der von Cúcuta 1820 bis 1821, gingen von einer Umwandlung der alten
Provinzen in neue Departements aus. Wenigsten in der Rhetorik sollten die
Verfassungen revolutionär sein, denn das Wort „Departement“ kam aus der
Sprache der französischen Jakobiner. Die alten Oligarchien aber sahen darin
durchaus einen Fehdehandschuh. Die alte Provinz „Venezuela“ oder „Caracas“
sollte in das „Departement“ Venezuela umgewandelt werden, aber verkleinert und
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nur noch den Nordteil der alten Provinz umfassend. Und das bei einem Cabildo
von Caracas, dessen oligarchische Mitglieder nicht nur daran gewöhnt waren, eine
riesige Provinz als Expansionsraum ihr Eigen zu nennen, sondern seit 1777 mit
Stolz sogar von einer Generalkapitanie Venezuela gesprochen hatten, die alle
anderen Städte und Provinzen eines Großteils der Tierra Firme einschloss. Nicht
so sehr von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Kongressleute ging ihrer
Meinung nach Gefahr für sie aus, sondern in erster Linie von den uns heute relativ
bescheiden anmutenden politisch-administrativen Vorstellungen der Kongresse.
Als die Patrioten unter Páez und Bolívar 1821 in Carabobo gesiegt hatten,
ging die Oligarchie von Caracas (speziell der Cabildo, die Municipalidad)
zwischen 1821 und 1826/1830 deshalb sehr zügig daran, ihren politischen sowie
sozialen Status und ihre politische Dominanz herzustellen, zu verteidigen oder zu
restaurieren. Erstens liessen sie Vorbehalte gegen die Verfassungen von Angostura
und vor allem von Cúcuta festschreiben – und untergruben damit von Anfang an
die Legitimität der Verfassung als Institution.795 Fast zwangslaüfig entwickelte
sich in Venezuela seit 1857 ein wahres Verfassungskarussell. Zweitens
bekämpften sie Debatten über die Aufhebung der Sklaverei und die
Landverteilung sowie Steuern und Sonderabgaben für die Armee – unter dem
Argument der Wirtschaftlichkeit.796 Bolívar selbst liess die Sklaven seiner
Haciendas (El Ingenio in San Mateo in den Valles de Aragua; Santo Domingo de
Macaire in Caucagua im Tuy-Tal), die bis 1821 unter spanischer Herrschaft
verblieben waren, nach dem Sieg von Carabobo frei.797 Die Erzählungen über
seine Amme Hipolita Bolívar (San Mateo 1763 – Caracas, 25. Juni 1835) und die
Haushälterin Matea Bolívar (San José de Tiznados, 21. September 1773 – Caracas,
29. März 1886), beide mit dem Sklavennachnamen „Bolívar“, zeichnen den
Mijares, Augusto, “La evolución política de Venezuela (1810-1960)”, in: Picón-Salas ; Mijares; Díaz-Sánchez,
Ramón ; Arcila Farias ; Liscano, Juan (eds.), Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio
Mendoza, 1962, S. 51-84, hier S. 68
796
López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves,
State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S.
193-211.
797
Quintero, La criolla principal. María Antonia Bolívar, hermana del Libertador, Caracas: Fundación Bigott, 2003,
S. 55.
795
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Übergang von der Haussklaverei zum Hausdienstpersonal nach und prägten ein
die auf dem Lande weiter existierende Sklaverei verschleierndes diskursives
Muster, das paradigmatisch Gilberto Freyre in Casa grande e Senzala um 1930
(am Ende dieser Übergangszeit) beschrieben hat.798
Drittens betonten die Mantuanos unter dem Stichwort „Zivilisation“ ihre
Kultur und Bildung sowie ihre Verbindungen nach Europa, das damals als
Zentrum aller Kultur, Kunst, Lebensstile und Wissenschaft galt; die intellektuellen
Wortführer der Elite kämpften damit vor allem und in erster Linie um die
Herrschaft über die geschriebene Geschichte, die gedruckten Texte und Diskurse
sowie das gesprochene offizielle Wort, die die Ursachen und den Verlauf der
Unabhängigskeitskriege betrafen. Sie behaupteten, auch unter Zuhilfenahme der
eben erscheinenden Werke Alexander von Humboldts (vor allem die „Relation
historique“), dass es die Mantuanos von Caracas gewesen seien, die am 19. April
1810 die Unabhängigkeitsbewegung ausgelöst hätten – in gewissem Sinne
stimmte das zwar, aber nicht so, wie die Aktion vom 19. April 1810 gemeint
gewesen war - nämlich zur Stabilisierung am Ende der Kolonialzeit erreichter
Positionen. Ganz nebenbei entstand damit der venezolanische Humboldt-Mythos,
der bis heute anhält.799 Herrschaft wird aber nun einmal über Diskurse hergestellt.
Mit dieser relativ einfachen „Diskurs-Operation“ wurde auch der größte nationale
Mythos begründet, der bis heute nicht aus den Köpfen der Venezolaner, auch der
Chavistas, herauszubekommen ist – weil er zusammenfliesst mit dem allgemeinen
Gründungsmythos der Nation mit dem Vornamen Venezuela.
Komplizierter war die Rekonstruktion der Hegemonie über Philologie
(klassisches Kastilisch und Latein) und Schriftlichkeit sowie europäische Bildung,
Kunst und Literatur, als deren Symbol der hervorragende Wissenschaftler Andrés
798
Freyre, Gilberto, Casa-Grande & Senzala, o.O.[Rio de Janeiro:] , Schmidt-Editor, 1933; Freyre, The masters and
the slaves : a study in the development of Brazilian civilization; translated from the Portuguese of the fourth and
definitive Brazilian edition by Samuel Putnam, New York : Knopf, 1946; Freyre, Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein
Bild der brasilianischen Gesellschaft. Köln und Berlin. Kiepenheuer & Witsch, 1965.
799
Zeuske, “Vater der Unabhängigkeit? - Humboldt und die Transformation zur Moderne im spanischen Amerika“,
in: Alexander von Humboldt. Aufbruch in die Moderne, ed. Ette, Ottmar; Hermanns, Ute; Scherer, Bernd M.;
Suckow, Christian (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 21), Berlin: Akademie Verlag 2001, S.
179-224.
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Bello gelten kann, der auch die Kontakte mit den Utilitaristen (Jeremy Bentham,
James Mill, John Stuart Mill) vermittelte. Bello lebte von 1810 bis 1829 in London
und wirkte und danach bis zu seinem Tode 1865 in Santiago de Chile.800
Allerdings hat die Elitenherrschaft über Kultur, gedrucktes Wort und Diskurse nie
verhindern können, dass es in Venezuela eine starke orale, perfomative und
egalitäre Tradition der Interpretation der Geschichte gab und gibt; diese wurde in
den Kneipen der Unterschichten, in den Dörfern, auf kirchlichen Festen (San Juan
y San Pablo, San Benito, San Francisco de Yare, San Antonio), in Häfen und auf
den Feldern und Märkten, im Verborgenen und an den Lagerfeueren der einfachen
Llaneros erzählt oder gesungen.
All das lief parallel zur konstitutionellen Restauration der sehr realen
Sklaverei – real vor allem für die Sklavinnen und Sklaven sowie für ihre Kinder.
Sklaverei und rurale Zwangsarbeit oder Milizdienst waren der Schlüssel zur
Restauration der Plantagenwirtschaft sowie der Staatseinnahmen, des Lebens- und
Herrschaftsstiles der Eliten und ihrer Dominanz in der Politik.
Die Fortexistenz der hispanischen Extraktionsmaschine jedenfalls hing
mehr denn je von billiger Arbeit auf dem Land, im Innern ab, entweder durch
Sklaverei oder Angleichung des Status der „freien“ Bauernbevölkerung an die
Sklaverei. Deshalb durfte es aus Sicht der Eliten auch kein rechtlich gesichertes
Landeigentum für Unterschichten geben, deren Lage musste unsicher, auch im
rechtlichen Sinne, bleiben. Sklaverei war auch der Schlüssel, um die Legitimität
des großen Landeigentums am Leben, es effizient zu halten und zugleich die
Landreformforderungen der Pardos zurückzuweisen.
Die Konflikte und Allianzen im Kampf um die oligarchische
Neuformulierung der Herrschaft füllten die Jahre zwischen 1821 und 1830.
Zunächst aber ging es um den Schlüssel für die Herrschaft über die
Extraktionsmaschine – die Sklaverei. Die Sklaverei war die Institution, die den
Cussen, Antonio, Bello and Bolívar, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; Jaksić, Andrés Bello.
Scholarship and Nation-Building in Nineteenth-Century Latin America …, passim.
800
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Schutz des Eigentums, seine wirtschaftliche Funktion (billig produzieren und
möglichst teuer verkaufen) und den sozialen Status der Elite und ihrer Familien
garantierte. In der Wiedereinführung und Festigung dieser Institution waren beide
Kongresse, sowohl der von Angostura, wie auch der von Cúcuta (ab 1821), so
„reaktionär, wie die politische und militärische Situation es erlaubte“.801
Bolívar hatte 1821, wie gesagt, seinen auf der Hacienda San Mateo
verbliebenen Sklavinnen und Sklaven (María Jacinta Bolívar, José de la Luz
Bolívar, María Bartola Bolívar, Francisco Bárbara Bolívar, Juan de la Rosa
Bolívar, Nicolasa Bolívar)802 die Freiheit gegeben. In Angostura, hatte Fernando
Peñalver, enger Vertrauter und Duzfreund Bolívars sowie Vorsitzender des
Sequester-Tribunals, bereits am 2. März 1819803, zwei Wochen nach Beginn des
Kongresses, vorgeschlagen, alle Gesetze, die der Präsident (Bolívar) als „Jefe
Supremo de la República“ in den Zeiten ohne Legislative erlassen habe, „zu
prüfen und ihnen zuzustimmen oder sie abzulehnen und im besonderen jenes
[Gesetz], das man mittels einer Proklamation zugunsten der Freiheit der Sklaven
gemacht habe“.804 Die Frage sei besonders dringend, betonte Peñalver und deshalb
in der ersten Sitzung des Tages zu behandeln. Denn es sei fast sicher das „unsere
Waffen die Provinz Caracas besetzen“, deren Reichtümer und Ressourcen vor
allem in der Landwirtschaft - er meinte die Exportlandwirtschaft - bestünden.
Deren erfolgreicher Betrieb hänge „von den Sklaven ab“. Denen habe man „die
Freiheit gegeben“ und er bitte den Kongreß diese zu bestätigen. Er bitte aber
weiter darum, daß man diese Gesetze „noch nicht ausführe, während der Kongreß
Bierck, Harold A., “The Struggle for Abolition in Gran Colombia”, in: HAHR, XXXIII (1953), S. 365-386;
Lombardi, “Los esclavos en la legislación republicana de Venezuela”, in: Boletín Histórico No. 13 (Enero 1967), S.
43-67, S. 58; zusammenfassend in (spanische Ausgabe:) Lombardi, Decadencia y abolición de la esclavitud en
Venezuela, 1820-1854, Caracas 1974; sowie: Lombardi, “The Abolition of Slavery in Venezuela: a Non-Event”;
Lombardi, “La abolición de la esclavitud en Venezuela. Historia y fuentes”, in: UCV (ed.), Materiales para el
estudio de la cuestión agraria en Venezuela (1822-1860) …, Vol. II, Bd. 5, S. V-XIX; siehe auch: Pollak- Eltz, “Los
últimos años de la esclavitud en Venezuela y su abolición en 1854”, in: Tierra Firme Vol. XXII, 22, Nr. 85 (EneroMarzo 2004), S. 7-15.
802
Ramos Guédez, “Simón Bolívar – la abolición de la esclavitud en Venezuela 1810-1830. Problemas y
frustración de una causa”, in: Revista de Historia de América 125 (Jul.-Dic. 1999), S. 7-20; Ramos Guédez, “150
años de la abolición de la esclavitud en Venezuela: de José Leonardo Chirino a José Gregorio Monagas”, in:
TF Vol.22, Nr. 85, Caracas (2004), S. 17-32.
803
Parra-Pérez, La monarquía en la Gran Colombia, Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1957, S. 23.
804
Actas ..., S. 116f.
801
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noch keine Bestimmungen erlassen habe, die die Weise bestimmten, wie jene, die
nicht an die Freiheit gewöhnt seien, sie benutzten“.805
Am 31. Juli 1819 hatte die Kommission das Reglamento sobre la libertad
de los esclavos fertiggestellt806, aber erst am 19. November 1819 kam es, nach
einer Reihe von Verzögerungen, zur Diskussion im Plenum.807 Diese dauerten.
Noch im Januar 1820 kam es zu intensiven, sehr kontroversen Debatten über die
„Freiheit der Sklaven“. Dabei spielte auch das Argument eine Rolle, was mit der sehr erwünschten - Imigration von den Antillen geschehen solle, die ihre Sklaven
mitbrächten, weil sehr viele Pflanzer von Haiti geflohen waren.808 Die Diskussion
dauerte. José Antonio Zea mußte das Projekt eines Dekretes vorlegen, “que
concilie por ahora las opiniones encontradas [das für jetzt die entgegengesetzten
Meinungen beruhige]”.809 Am 11. Januar 1820 erging ein Decreto sobre Libertad
de Esclavos 810 Eines der verlogensten „Freiheitsgesetze“, die es jemals gegeben
hat! Voller Euphemismen und an einem liberalen Diskurs orientiert, der seine
Inhalte noch verlogener macht. Der Souveräne Kongreß von Kolumbien nahm
„die zwei Proklamationen“ Bolívars von 1816 und 1817 in Betracht. Die
Notwendigkeit der Freiheit und die Richtigkeit der Dekrete seien nicht
anzuzweifeln, aber es bedürfe „verschiedener vorbereitender Dispositionen“. „In
dem Zustand der Ignoranz und moralischer Degradierung, in der sich dieser
unglückliche Teil der Menschheit befindet, ist es notwendig, sie erst zu Menschen
zu machen, bevor man sie zu Bürgern macht ... Der Kongreß betrachtet die
Freiheit als das Licht der Seele, glaubte auch, das er sie ihnen in Einzelschritten
geben solle, so wie die, die das Augenlicht verloren haben, auch nicht sofort dem
hellen Glanz des Tages ausgesetzt werden“.811
805
Ebd.
Ebd., S. 220.
807
Ebd., S. 336.
808
Ebd., S. 189.
809
Ebd., S. 388.
810
Ebd. S. 393-395, siehe auch: “Decreto sobre la Libertad de los Esclavos”, 11. Januar 1820, Hauptstadt
Guayanas, in: Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 245-248.
811
Actas ..., S. 393.
806
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Zea hatte einen Plan ausgearbeitet, der zu einer totalen Ausrottung der
Sklaverei in den nächsten fünf Jahren führen sollte (also bis Anfang 1825). Aber
die Widerstände innerhalb des Kongresses führten dazu, daß dieser Plan bis
„zum nächsten Jahr“ ausgesetzt wurde.812 Bis dahin sollte laut Gesetz gelten:
Die Sklaverei war de jure aufgehoben; die genauen Modalitäten, dieses auch de
facto zu vollziehen, sollten auf dem nächsten Kongreß geklärt werden. Bis dahin
sollten „die Sachen in dem gleichen Zustand bleiben, in dem sie sich heute
befinden, in jedem der drei Departements, ohne die geringste Veränderung in
irgendeiner Provinz oder an irgendeinem Ort; die die Freiheit erlangt hätten,
sollten in Freiheit bleiben, die, die sich in Knechtschaft befänden, sollten darauf
warten, sie von Generalkongreß zu erhalten“.813 Nur der Präsident erhielt das
Recht (Zentralismus), denjenigen die Freiheit zu geben, die er zu den Waffen
riefe.814 Die Besitzer sollten Entschädigung erhalten. Die Einführung von
Sklaven auf das Territorium der Republik blieb untersagt. Fremde Sklaven aber,
die von anderen Nationen auf das Territorium der Republik kämen, würden
ihren Herren zurückgegeben. Die Kosten der Rückführung müßten diejenigen
tragen, die sie gebracht oder die, die sie unterstüzt bzw. verborgen hätten.815
Allerdings war die Einführung „persönlicher Diener“ erlaubt, was ein
Schlupfloch für den illegalen Sklavenhandel ließ.816 Damit war Großkolumbien
etwa für Kuba oder andere Sklaveninseln der Karibik (wie Saint Thomas,
Jamaika oder Guadeloupe, aber auch für den Süden der USA) keine passive
Gefahr mehr. Allerdings gab es so etwas wie einen Geheimbeschluß des
Kongresses, der in einem Brief (vom 9. August 1819) dem König von Haiti
mitgeteilt worden war, das „die Afrikaner, die von unseren Kriegsschiffen und
Korsaren aufgebracht würden, nach dort [Haiti] gebracht werden würden“. 817
812
Ebd., S. 394.
Ebd., S. 394f.
814
In dem Brief an Santander aus San Cristóbal im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Neu Granada vom 18.
April 1820 beruft sich Bolívar auf dieses Recht, siehe: König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 61
(Dokument Nr. 9).
815
Ebd. S. 395.
816
Izard, El miedo ..., S. 63.
817
Actas ..., S. 333.
813
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Viele der Sklavenbesitzer stimmten daraufhin einem Protest von
Mitgliedern der „alten“ Familien von Caracas gegen den Ley de Repartos (28. Juni
1821) zu, mit dem die Unterzeichneten Bolívar aufforderten, das Gesetz und seine
Folgeregelungen (trotz ihrer Begrenztheit; aber immerhin waren in der Provinz
Caracas 312 Haciendas sequestruiert worden) aufzuheben.818 Immerhin bestand
der Vorteil für alle Landbesitzer, die Haciendas besaßen, darin, diesen vorher
kolonialfeudalen Besitz stillschweigend in „bürgerliches“ Privateigentum im
„römischen“ Sinne fest zu schreiben. Diese Transformation war extrem wichtig;
das Land konnte aber nur mit Arbeiter „in Wert“ gesetzt werden.
Soweit das „Sklavenproblem“ als Symbol für die Restauration alter
Herrschaftsformen auf dem Kongreß von Angostura - wir kommen darauf zurück.
Bis 1830 mussten die Eliten, vor allem die von Caracas immer noch den Einfluss
Bolívars oder Massnahmen der Zentralregierung in Bogotá befürchten.
Anfang 1821 zog die Regierung von Angostura nach Cúcuta um. Das war
auch ein Symbol für die politische Schwerpunktverlagerung vom Hinterland
Venezuelas nach Neu-Granada. Hatte Santander während des Kongresses von
Angostura noch auf die Gefahren der Majorisierung der Neu-Granadiner durch die
Venezolaner verwiesen und die Ansprüche auf Gleichberechtigung durch den
Abgeordneten Vergara von Casanare in die Verfassungsberatungen einbringen
lassen819, so fühlten sich seit 1821 mehr und mehr die Venezolaner durch NeuGranada majorisiert und beherrscht.820 Allerdings drückte diese
Schwerpunktverlagerung auch die Bedeutung Cundinamarcas als Menschen- und
Ressourcenbasis für den Krieg aus, denn die gesamte Küstenregion der alten
Tierra Firme und der Süden Neugranadas sowie Ekuador waren ja noch unter
spanisch-royalistischer Kontrolle. Die Masse der Geldmittel, der Rekruten und der
Brito Figueroa, “Los fenómenos de transferencia de la propiedad territorial agraria”, in: Brito Figueroa, Historia
económica y social de Venezuela ..., Bd. I, S. 192-220 (Ausgabe in sechs Bden.).
819
Cortázar, Roberto (ed.), Cartas y Mensajes del General Francisco de Paula Santander, 10 Bde., Bogotá 19531956, Bd. I, Bogotá 1953, S. 236f; Brief Santanders vom 8. April 1819 an Vergara.
820
König, Auf dem Wege zur Nation …, S. 238ff.
818
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Nahrungsmittel für die militärischen Kampagnen sowohl zur Befreiung
Venezuelas und später Ekuadors und Perus kamen aus Neu-Granada.821
Der neue, der Allgemeine Kongreß, in der Historiographie auch als
Congreso de Cúcuta bekannt, wurde am 6. Mai 1821 eröffnet. José Manuel
Restrepo822, ein Neugranadiner und Historiker aus Antioquia (paisá), wurde zum
ersten Präsidenten des Kongresses gewählt, bald von Dr. Miguel Peña
(Abgeordneter für Isla de Margarita) abgelöst.823
Der Kongreß von Cúcuta ratifizierte das in Angostura beschlossene
Grundgesetz der Republik und erließ am 30. August die Verfassung der Republik
Kolumbien (unterschrieben vom Präsidenten des Kongresses, Dr. Miguel Peña)824,
die am 6. Oktober 1821 sanktioniert wurde. Die Konstitution sollte für zehn Jahre
unantastbar sein. Die Hauptstadt wurde nach Bogotá verlegt. Diese Verfassung sah
eine zentralistische und repräsentative Regierungsform vor. Die Souveränität lag
bei der „Nation“. Diese war in Realität nicht da, wurde aber imaginiert als Nation
von Staatsbürgern, nicht als Abstammungsnation. Beim „Volk“ (pueblo) lag die
Souveränität nicht, sondern bei den pueblos (Gemeinden); in Realität bei den
Cabildos der „alten“ Oligarchien. Das reale Volk hatte sich nach dem Geschmack
der Eliten zu sehr politisiert und galt ihnen zugleich als zu wenig „zivilisiert“.
Überhaupt war das „Volk“ in Gestalt der Verfassungsfigur (pueblo) in den
Verfassungen seit 1819 zwar symbolisch, aber an den entscheidenden Punkten der
Macht- und Herrschaftsausübung nur noch marginal oder überhaupt nicht präsent.
In der Verfassung von 1811 hatte der Begriff pueblo noch für die Gemeinschaft
der städtischen Oligarchien gegolten; der Pueblo übte in dieser Verfassung das
Recht auf Kandidatenaufstellung für Wahlprozesse aus. Seit der Verfassung von
1819 (Angostura; bis zur Verfassung von 1999) hatte das „Volk“ dieses Recht
821
Siehe die Darlegungen Santanders in einem Brief an Páez vom 12. Juni 1826, in dem Santander angesichts von
La Cosiata die Einheit Kolumbiens verteidigte: Cortázar (ed.), Cartas y Mensajes ..., Bd. VI, Bogotá 1954, S. 355363, hier besonders S. 358.
822
Restrepo, José Manuel, Historia de la Revolución de la República de Colombia, Paris ¹1827, Besançon ²1858
(nach der Ausgabe 1858: Bedout, Medellin 1969, 6 Bde.); siehe: Múnera, Alfonso, El fracaso de la nación ...,
passim.
823
Siehe die Liste der Abgeordneten in Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VIII, S. 191f.
824
Ebd., S. 24-40.
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nicht mehr, sondern es wurden spezielle Körperschaften konstituiert, die immer
der Auswahl durch den Staat und damit durch die jeweils Herrschenden
unterlagen. Alle anderen Kandidaten, die sich als solche zu erkennen gaben, waren
eigentlich nicht verfassungsgemäß – damit wurde der Rebellion von Caudillos
sozusagen mit konstitutioneller Förderung Tür und Tor geöffnet.825
1821 traten die Bewohner der Gemeinden nur in der ersten Stufe des
Wahlprozesses als Versammlung der sufragantes, in Erscheinung (Besitzzensus
von 100 Pesos, ab 1840 sollte auch lesen und schreiben gefordert sein), die die
eigentlichen Wahlmänner (electores; Zensus 500 Pesos) zu bestimmen hatte.826
Bolívar selbst war in der engen Fassung des Bürgerstatus radikal: “El que no sabe
escribir, ni paga contribución, ni tiene oficio conocido, no es ciudadano [Der, der
nicht Schreiben kann, keine Steuern zahlt noch anerkanntes Gewerbe betreibt, ist
kein Bürger]”. 827
Die Exekutive bestand aus einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten,
die für vier Jahre (von Provinz-Versammlungen) gewählt werden sollten. Der
Präsident war dem Kongreß verantwortlich; ein Grundproblem der Macht, das
speziell den Instituitonalisierungsfeind Bolívar diese Verfassung verhaßt machte.
Die Minister waren dem Präsidenten verantwortlich. Die Legislative war in Senat
und Repräsentantenkammer aufgeteilt. Die Mitglieder beider Kammern wurden
auf indirekte Weise von den Electores bestimmt, die 500 Pesos828 Besitz
nachweisen mußten. Das passive Wahlrecht war noch höher angesetzt. Ein Senator
mußte, um gewählt zu werden, vierzig Jahre alt sein und einen Besitz von 4000
Pesos nachweisen; ein Repräsentant 25 Jahre alt und einen Besitz von 2000 Pesos
haben. Ein extrem elitäres System, wie alle politischen Systeme der damaligen
Zeit, auch wenn sie Republik hiessen.
Njaim, Humberto, „Der Umgang mit der partizipativen Demokratie in Venezuela“, in: Sevilla; Boeckh (eds.),
Venezuela ..., S. 205-232.
826
Blanco; Azpurúa, Ramón, Documentos, Bd. VIII, S. 24-40.
827
Bolívar, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Librería Piñango, 1982 (im Folgenden: OC), Bd. II, S. 294. Brief
aus Chuquisaca vom 27. Dezember 1825 an Santander.
828
Izard, “Período de la independencia y la Gran Colombia, 1810-1830”, in: Frankel, Benjamín A. (ed.), Política y
economía en Venezuela, 1810-1976, Caracas: Italgráfica, 1976, S. 1-33, hier S. 28.
825
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Alle Kolumbianer aber erhielten die politischen „bürgerlichen“ (civiles)
Grundfreiheiten: Rede-, Druck- und Versammlungsfreiheit ohne Zensur, allerdings
mit der Einschränkung, daß keiner diese Rechte mißbrauchen solle. Damit, und
mit einer auf Europa ausgerichteten Bildung sollten alle Kolumbianer die
Möglichkeit erhalten, sich zu „Vollbürgern“ weiterzubilden und ihre „Zivilisation“
zu entwickeln. In diesem Sinne vertrat Bolívar die Konzeption einer
„Erziehungsdiktatur“, wie es Masur bezeichnet hat. Allerdings sprach Bolívar in
Briefen an Vertraute deutlich sein Mißfallen an dieser Verfassung aus829; sie war
ihm noch zu wenig zentralistisch.
Weitgehend sofort durchsetzen konnten sich die Repräsentanten der alten
Oligarchien in ihren Vorstellungen zum Latifundium als privates Eigentum sowie
die Oligarchien Venezuelas und der Plantagenregion des Caucatales im Süden Neu
Granadas mit ihren Vorstellungen in der Sklavenfrage. Der Kongreß von Cúcuta
erließ das so genannte Manumissionsgesetz (Libertad de los partos, manumisión
y abolición del tráfico de los esclavos).830 Es besagte, dass ab Proklamation alle
Kinder von Sklavinnen frei seien – ein „Gesetz des freien Bauches“ (Ley de partos
oder Ley de vientre libre). Die jetzt formell „freien“ Sklaven wurden zu
manumisos. Sie mußten aber dem Herrn ihrer Mutter bis zum 18. Lebensjahr
dienen. Der hatte sie im Gegenzug zu beköstigen, unterzubringen, zu bekleiden
und ihnen eine elementare Erziehung angedeihen zu lassen. Kontrollen für diese
Bestimmungen waren nicht vorgesehen. Wenn die Volljährigkeit (18 Jahre)
erreicht sei, sollten lokale Juntas entscheiden, wo und wie der Manumiso im
normalen Arbeitsleben einzusetzen sei. Gleichzeitig sollten sich diese Juntas um
eine Befreiung der 1821 vorhandenen Sklaven und Sklavinnen kümmern - gegen
829
Siehe die Briefe an Santander: Bolívar, OC, Bd. I. 365ff.
Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela (18101865), 2 Vols. in mehreren Bden., Caracas: Rectorado de la Universidad Central de Venezuela, Facultad de
Humanidades y Educación, 1994-1995. Vol. I, Bd. 4: Mano de obra: legislación y administración, estudio
preliminar y selección por Antonieta Camacho, S. 43-45; siehe auch die heftigen Debatten auf dem Kongreß
zwischen dem 27. Juni und dem 19. Juli 1821, also erst nach Carabobo: Congreso de Cúcuta. 1821, Libro de Actas,
Bogotá 1971, S. 175-269.
830
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Entschädigung natürlich aus einem fondo de manumisión (für den die Republik
kein Geld hatte, auch weil sie die Nationalschuld zurückzahlen musste).831
Mit dieser Restauration der Sklaverei war die entscheidende Weiche für
die Wiederherstellung der alten hispanischen und nun „neuen“ republikanischen
Extraktionsmaschine gestellt. Bolívar versuchte wenigstens rechtliche
Festlegungen durchzubringen, die die Position der Sklaven stärkten, so erliess er
- allerdings in lokalem Rahmen - am 24. März 1824 ein Dekret mit dem Titel
Protección a los esclavos para que escojan en libertad el dueño que les
convenga832 und am 28. Juni 1827, gab er ein Dekret heraus mit dem Titel Dando
eficacia a la Ley de Manumisión (Effizienz für das Gesetz über Manumission).833
Beide Dekrete zeigen, dass es sich wirklich um eine Restauration der Sklaverei
handelte, die allerdings im Gegensatz etwa zur atlantischen Massensklaverei auf
Kuba stark eingeschränkt – was vielleicht am besten in der vor Bolívar erlassenen
Höchststrafe von 29 Peitschenhieben zum Ausdruck kommt. Weder auf Kuba,
noch in Brasilien oder im Süden der USA gab es diese Grenze.834 Bolívar hatte
zwar eine hohe Sensibilität für die politische Wirkung sozialer Fragen entwickelt
hatte, aber er erlahmte in seinem Kampf gegen die Sklaverei.
Das Gesetz der Manumission zielte sicherlich auf eine graduelle
Abschaffung der Sklaverei, die durch den Wegfall des Sklavenhandels sowieso auf
die Dauer hätte nicht existieren können. 1821 aber sicherte diese
Sklavengesetzgebung den Herren der Haciendas die Kontrolle über die
Arbeitskräfte - und der Extraktionsmaschine das Funktionieren. Trotz allem
verbalen Liberalismus war klar, dass die Besitzer bestimmen wollten, wie sie ihre
Arbeitskäfte behandelten und wie die Institution Sklaverei aufzuheben sei. Vor
allem aber schoben sie der Selbstbefreiung der Sklaven einen Riegel vor, sicherten
ihre Herrschaftsrechte und beschränkten das Recht Bolívars und des Staates,
831
Universidad Central de Venezuela, Cuerpo de leyes de la República de Colombia. 1821-1827. Introducción Siso
Martínez, José M., Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1961, S. 31-32.
832
Bolívar, “Protección a los esclavos para que escojan en libertad el dueño que les convenga” (Trujillo, Peru, 24.
März 1824), in: Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 289f.
833
Bolívar, “Dando eficacia a la Ley de Manumisión” (Caracas, Cuartel General Libertador, 28. Juni 1827), in:
Ebd., Bd. II, S. 345-352.
834
Ebd., Artikel 10, S. 348.
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Sklaven zu den Waffen zu rufen. Damit war auch die Herrschaft der alten
Oligarchien und der neuen Eliten der Städte über das umgebende Land und seine
bäuerlichen Bewohner gesichert. Venezuela kannte keine freie Bauernschaft mit
eigenem Bodeneigentum.
Bereits im August 1821 klagte eine Gruppe von Hacendados aus Ocumare
de la Costa, wo Bolívar 1816 die „absolute Aufhebung der Sklaverei“835 verkündet
hatte, dass sie ihre Sklaven nicht an das Heer abgeben wollten.836 Ähnliches
geschah in anderen Landesteilen, so dass der Kongreß von Cúcuta auch im Falle
der zu den Waffen gerufenen Sklaven über Entschädigungen diskutieren und
dekretieren musste (14. Oktober 1821).837 Vom Kongress von Valencia sollte dann
aber 1830 das Alter, bis zu dem „freie“ Manumisos ihren Herren zu dienen hatten,
von 18 auf 21 Jahre heraufgesetzt werden. Im Grunde hatte sich die so genannte
„Sklavenbefreiung“ zu einer rechtlich abgesicherten Institution verwandelt, die die
jungen Sklaven zu abhängigen peones machte. Die Haciendabesitzer behandelten
aber nicht nur Sklaven als Peones, sondern alle farbigen Bauern.
Um 1830 gab es in Venezuela noch ca. 42500 Slaven, die ca. 4,5-5% der
Gesamtbevölkerung ausmachten (man vergleiche mit Kuba: 1827 - Slaven ca.
30%! der Bevölkerung, knapp 200.000).838 1844 war dieser Anteil nur 1,75% groß
oder klein. Allerdings stellten Sklaven immerhin noch 17% der Arbeitskräfte in
den Hacienda-Regionen der Küste und nur 3% der Bevölkerung Venezuelas fiel
unter die Kategorie Sklavenbesitzer. Diese Zahlen verschleiern, dass sich seit 1830
fast alle landlosen Bauern in ähnlicher Lage wie Sklaven und ehemalige Sklaven
befanden – das ländliche Venezuela mit Ausnahme der Llanos und der Guayanas
war, wenn überhaupt, eine „Nation“ sehr vieler Peones und weniger Hacendados,
die meist auch noch in den Städten der Küste lebten. Die Gemeinden der Indios in
den Peripherien verloren das recht auf ihre Territorien.
835
Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 55-56.
Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela …, Bd. I,
1800-1830, Estudio preliminar Carrera Damas, S. 297.
837
Izard, El miedo ..., S. 63, FN 74.
838
Lombardi, Decadencia ..., S. 202f.
836
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In den 1840er Jahren dann war die Sklaverei im Wortsinne eine „sterbende
Institution“839, weil ihr einerseits langsam die Sklaven wegstarben, andererseits
immer mehr liberale Rebellionen die Aufhebung der Sklaverei zum Kernpunkt
ihrer Propaganda machten. Mit der Sklaverei wurde nochmals Politik gemacht, als
José Gregorio Monagas die Sklaverei am 24. März 1854 vor allem aus dem
Grunde aufhob, um seinen Gegnern die Möglichkeit zu nehmen, mit Propaganda
gegen die Sklaverei Volksaufstände anzuzetteln.
Bolívar konzentrierte sich seit 1820 auf die Vollendung der VenezuelaKampagne und ab 1821 auf die Befreiung des „Südens“ (Ecuador und Peru sowie
Hochperu, heute Bolivien, 1822-1825). Die Eroberung des „spanischen“
Kernvenezuela dauerte noch erstaunlich lange, nämlich von Mitte 1821 (Schlacht
von Carabobo sowie patriotischer Aufstand in Maracaibo) bis zur endgültigen
Eroberung von Coro, Maracaibo und Puerto Cabello 1823.
Das Land wurde in kleinere Departements unterteilt. In der Verfassung
heißt es „sechs oder mehr Departements, für die leichtere und bequemere
Verwaltung“, das heißt, der Kongreß konnte die Zahl der Departements verändern.
In den Departements entfaltete sich faktisch eine Doppelherrschaft: regierungsseits
und de jure (der Verfassung nach840) wurde sie von Intendanten verwaltet, die
direkt der Regierung in Bogotá unterstanden, dazu kam wegen der unsicheren
Zeiten ein militärischer Chef, der Comandante General; die Silhouetten des
spanischen Systems der Generalkapitäne sind überdeutlich. Die nächste territoriale
Untereinheit waren die Provinzen, die von Zivilgouverneuren verwaltet werden
sollten. Die alten Provinzen der Generalkapitanie (Guayana, Cumaná, Barcelona
und Margarita) wurden zum Departement „Orinoco“ zusammengefasst
(Militärkommandant José Francisco Bermúdez), die von Coro, Maracaibo, Mérida
und Trujillo zum Departement „Zulia“ (Militärkommandant Santiago Mariño) und
die von Caracas und Barinas zum Departement „Venezuela“ (Militärkommandant
José Antonio Páez). Damit war unterhalb der Decke Großkolumbiens die
839
840
Ebd., S. 164f.
Blanco; Azpurúa, Documentos ..., Bd. VIII, S. 37.
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Dreiteilung des Landes de jure vollzogen, wogegen sich vor allem die Reste der
alten kolonialen Oligarchie von Caracas wütend mit dem Argument wehrte, kein
Angehöriger des Cabildos sei auf dem Kongreß von Cúcuta gewesen.841
Angesichts des militärischen Sieges des Patrioten konnten die Mantuanos keinen
offenen Widerstand leisten.
Die Oligarchien von Maracaibo und die der östlichen Städte, vor allem von
Cumaná, waren eher begünstigt durch diese Dreiteilung, denn Cumaná und
Maracaibo wurden de jure Caracas gleichgestellt. Venezuela, vormals eine
selbständige koloniale Einheit unter der Führung von Caracas (seit 1777), wurde
damit zu einer Provinz des alten Vizekönigreiches Neu-Granada, obwohl alle
Departementshauptstädte auch einen Hohen Gerichtshof (Corte Superior), nach
der Tradition der Audiencias, bekamen. Die Oberschicht von Caracas, die Bogotá
sowieso hasste, fand sich in der Feindschaft zur Metropole vereinigt.
Eine Reise von Caracas in die Hauptstadt Bogotá dauerte bei normalen
Witterungsverhältnissen 50-70 Tage (wie eine solche Reise in der Gegenrichtung
verlief – die den Vorteil hatte, die Flüsse abwärts fahren zu können – zeigt der
Bericht von José Cortés de Madariaga über die Reise von Bogotá über die Flüsse
Río Negro, Meta und Orinoko nach Caracas).842 David Bushnell hat die
kolumbianischen Kongresse in der Zeit von 1821 bis 1829 und die Beteiligung der
Abgeordneten an ihne untersucht. Er konnte zeigen, dass schon wegen der
räumlichen Entfernung viele Abgeordnete aus Ekuador und Venezuela nicht an
den Sitzungen teilnahmen. Wegen dieser eigentlich simplen Mißachtung der
infrastrukturellen Gegebenheiten verlor der Kongreß in Bogotá einerseits an
Autorität in den Peripherien. In Venezuela etwa gab es vor 1840 außerhalb der
841
Ebd., S. 191f.
“Diario y observaciones del Presbítero Doctor José Cortés de Madariaga, en su regreso de Santa Fe a Caracas,
por la vía de los ríos Negro, Meta y Orinoco ... Salió de Santa Fe el 14 de junio y llegó a Calabozo el 15 de agosto
de 1811“, in : Relaciones Geográficas de Venezuela. Recopilación, estudio preliminar y notas de Arrellano Moreno,
Antonio, Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1964 (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia;
70), S. 497-532; siehe auch den Reisebericht von: Romero, Juan María, “Viaje que hizo Juan María Romero, desde
Guayaquil, por Bogotá, el Meta, el Apure, hasta el pueblo de Cabruta, y de aqui por el Interior hasta Caracas, en
1801”, in: Blanco; Azpurúa (eds.), Documentos, Bd. II, S. 36-44 (Dokument 286).
des US-Amerikaners Duane, William, A visit to Colombia, in the years 1822 & 1823, by La Guayra and Caracas,
over the cordillera to Bogota, and thence by the Magdalena to Cartagena, Philadelphia: Thomas H. Palmer, 1826.
842
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Städte überhaupt keine künstlich angelegten Strassen oder Brücken (mit relativer
Ausnahme des so genannten „neuen“ Weges843 zwischen Caracas und La Guaira),
sondern nur Wege und Wasserwege (das blieb auch so bis etwa 1870).844
Andererseits wurde der Kongreß immer mehr zum Instrument kapitaliner
Interessen der Gruppe um Santander wurde845, obwohl zunächst keine bewußte
antivenezolanische oder antiekuadorianische Politik betrieben wurde.846 Die
beiden Historiker Barbara und Stanley Stein haben hinter den Konflikten des
politischen Konstrukts Großkolumbien sogar ein makrostrukturelles
Grundproblem politischer Steuerung von Konflikten der frühen republikanischen
Zeit sehen wollen: die alten Zentren der Kolonialzeit wollten ihre beherrschende
Stellung ausbauen oder wiedererlangen (wie Bogotá, Cartagena oder Panama), die
neuen, in den bourbonischen Reformzeiten des 18. Jahrhunderts emporgestiegenen
Zentren von Regionen (wie Maracaibo und Cumaná in Venezuela) wollten mehr
Autonomie. Im Falle von Caracas ist diese Beziehung besonders kompliziert: die
Stadt war ein traditionelles Zentrum einer eigenen politischen Einheit, die
allerdings formell erst mit den bourbonischen Reformen geschaffen worden war.
Die lokale Ebene der Verwaltung laut der Verfassung von Cúcuta waren die
„cabildos o municipalides de los cantones“847, die ihrerseits in parroquías
unterteilt wurden – die munizipale oder kommunale Ebene war also ganz
traditionell, wie in spanischen Kolonialzeiten, konfiguriert; was ganz praktisch
bedeutete, dass die lokale Macht bei den traditionellen Eliten der pueblos
(Kommunen) blieb.848 Am 8. Oktober 1821 erging jedenfalls ein Dekret des
Kongresses über die „Organisation der Departements, Provinzen und Kantone, in
843
Siehe die Beschreibung bei Robert Ker Porter, die eher an eine Gebirgswanderung auf Madeira erinnert:
Dupouy, Walter (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842. A British Diplomat in a Newborn Nation,
Caracas: Editorial Arte, 1966, S. 20-22, 27.
844
Walter, “Transport und Verkehr”, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) ..., S. 67-79; Karte, S. 70;
Olivar, José Albert, „Caminos y carreteras en Venezuela desde la óptica Liberal y Conservadora”, in: Olivar,
Caminos y carreteras en Venezuela. Construcción de la carretera del Este Caracas-Guatire, Caracas: Comala.com,
2004, S. 25-41.
845
Bushnell, David, El regimen de Santander en la Gran Colombia; traduccion de Jorge Orlando Melo, Bogota : El
Ancora, 1985, S. 71 und S. 317-339, passim.
846
König, Auf dem Wege ..., S. 239.
847
“Constitución de la República de Colombia”, Rosario de Cúcuta, 6. Oktober 1821, in: Blanco; Azpurúa,
Documentos, Bd. VIII, S. 24-40, hier 37 (Dok. 1864).
848
Ebd., S. 25.
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die sich die Republik Kolumbien unterteilt“.849 Kolumbien wurde in sieben
Departements unterteilt:
1. Orinoco mit den Provinzen Guayana, Cumaná, Barcelona und Margarita; Sitz
des Intendanten: Cumaná.
2. Venezuela mit den Provinzen Caracas und Barinas; Sitz: Caracas.
3. Zulia mit dem Provinzen Coro, Trujillo, Mérida und Maracaibo; Sitz:
Maracaibo.
4. Boyacá mit den Provinzen Tunja, Socorro, Pamplona und Casanare; Sitz: Tunja.
5. Cundinamarca mit den Provinzen Bogotá, Antioquia, Mariquita und Neiva; Sitz:
Bogotá.
6. Cauca mit den Provinzen Popayán und Chocó (Nóvita und Citará); Sitz:
Popayán.
7. Magdalena mit den Provinzen Cartagena und Islas (San Andrés, etc.) sowie
Santa Marta und Río Hacha; Sitz: Santa Marta bis zu Befreiung von Cartagena.850
1824 wurde dieses System auf Betreiben des starken Mannes Páez durch
eine admistrative Reform geändert. Aus drei venezolanischen Departements
wurden vier gemacht; zu „Venezuela“; „Zulia“ und „Orinoco“ kam noch das
Llanodepartement „Apure“ hinzu aus den alten Provinzen Apure und Barinas, mit
Sitz des Intendanten in Barinas.851 Der Apure galt als Páez’ politisches Feudum.
Damit wurde aber auch eine Tradition der Schaffung administrativer Strukturen
für die Klienteln von Caudillos in Gang gesetzt, die in Venezuela bis in das 20.
Jahrhundert lebendig blieb.
Der Sieg der Patrioten und Bolivarianer galt den Zeitgenossen keineswegs
als endgültig. Spanisch-monarchistische Truppenkontingente hielten sich bis 1823
in Küstenfestungen Venezuelas; in Peru standen bis 1824/25 starke Verbände
unter spanischen Generalen. Kuba und Puerto Rico waren Aufmarschgebiete für
spanisches Militär; die Häfen der Inseln und – bis 1823 – die Küstenstädte von
“Ley sobre la organización y réjimen político de los departamentos, provincias y cantones en que se divide la
República”, Cúcuta, 8. Oktober 1821, in: Ebd., S. 134-139 (Dok. 1907).
850
Ebd., S. 134.
851
Ley del 25 de Junio, in: UCV, Cuerpo de Leyes de la República de Colombia, Caracas 1961, S. 191-195.
849
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Puerto Cabello bis Maracaibo im Westen Venezuelas bildeten Stützpunkte für die
spanische Marine.852 Den Truppen unter Bolívar und Páez fiel es schwer, die
kreolischen Soldaten unter spanischen Offizieren endgültig aus den
Küstengebieten und einigen großen Städte Venezuelas zu vertreiben. In Maracaibo
hatte es 1821 eine kurze Rebellion der Stadtbevölkerung (check) und eines Teils
der Oligarchie gegeben, die sich beeilte, die Stadt der „Sache der Republik“
anzuschließen (wie auch Coro und Panama). Cartagena wurde von Montilla und
Padilla befreit. Maracaibo und Coro wurden aber fast sofort wieder von den aus
Carabobo fliehenden spanischen Truppen zurückerobert. Deutlich wird das
Muster, dass die Patrioten alle Städte befreien mussten; pejorativ ausgedrückt, sie
mussten die Städte gegen den Willen der Mehrheit der lokalen Oligarchien
besetzen.
Ende 1821 entschloß sich Bolívar zur Internationalisierung des Konfliktes.
Der erste Schritt des Angriffs auf die Hochburg spanischer Macht in Amerika, das
relativ intakte Vizekönigreich Peru, führte über Ekuador. Eine neue Generation
junger Offiziere, die im Krieg groß geworden waren und deren Exponent Antonio
José de Sucre y Alcalá (Cumaná, 3. Februar 1795 – Berruecos, ermordet, 4. Juni
1830)853 war, begleitete ihn. Damit trennten sich das Schicksal Venezuelas und
Bolívars – zumindest räumlich, denn Bolívar ist danach nur noch kurz in
Venezuela gewesen. Zugleich wurden Grundlagen für protagonistische Rolle
Venezuelas im ehemaligen Spanischen Amerika gelegt – in der Tradition der
nuestra América [unser Amerika].
Die Royalisten unter Tomás Morales hatten Puerto Cabello, Coro und
Maracaibo noch starke Positionen; erst 1823 gelang der republikanischen Marine
unter dem Admiral José Prudencio Padilla854, die spanische Marine auf dem
852
Semprún, José; Bullón de Mendoza, Alfonso, El ejército realista en la independencia americana, Madrid:
Mapfre, 1992; Fernández, Delfina, “El caso del ejército pacificador aniquilado: Costa Firme”, in: Fernández,
Últimos reductos españoles en América, Madrid: Editorial Mapfre, 1992, S. 73-135; Fernández, “El caso del
virreinato del Perú ante la pérdida del domino del mar”, in: Ebd., S. 137-153.
853
Sucre, José Antonio de, De mi propia mano. Selección y Prólogo de Salcedo-Bastardo, José Luis; Cronología
Quintero Montiel, Inés Mercedes; Romero, Andrés Eloy, Caracas: Biblioteca Ayacucho, 1981.
854
Helg, Aline, „Simón Bolívar and the Spectre of Pardocracia: José Padilla in Post-Independenca Cartagena”, in:
Journal of Latin American Studies Vol. 35:3 (2003), S. 447-471; Helg, “The Pardo and Liberal Challenges to
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Maracaibosee zu schlagen (24. Juli 1823). Morales kapitulierte und floh nach
Kuba. Die hochdekorierten konterrevolutionären Truppen des venezolanischkanarischen Generals Francisco Tomás Morales erreichten den kubanischen
Oriente und Santiago de Cuba. Sie bestanden vor allem aus schwarzen und
farbigen Soldaten und Offizieren. Der kubanische Generalkapitän Francisco
Dionisio Vives hatte angesichts der hochdekorierten Soldaten mit Militärrängen
Bauchschmerzen und schrieb an Tomás Gener über seine Angst vor: „la ambición
de los negros y mulatos que desearan llegar a esos honores por cualquier otro
camino“.855
Páez konnte im November 1823 auch die Festung Puerto Cabello
einnehmen. Damit war der Unabhängigkeitskrieg in Venezuela offiziell zu Ende,
nicht aber die Zeit der Guerrillas; sie hielten sich im Grunde bis 1915. Viele
Männer aus den Unterschichten schlossen sich nun als Feinde einzelner
patriotischer Offiziere, aus sozialem Protest oder als Monarchisten, als Gegner der
Sklaverei oder einfach, weil sie das Leben im Bürgerkrieg gewohnt waren, den
Guerrillas in den Hinterländern Venezuelas an. Diese Hinterländer, da der
patriotische Mythos immer Bolívar in den Mittelpunkt stellt und Bolívar niemals
mehr nach Angostura kam, fielen wieder in ihre Rolle als periphere Gebiete
zurück (mitAusnahme von Angostura/Ciudad Bolívar); die Apureregion blieb ein
soziales Pulverfass und vor allem die südlicheren Gebiete Guayanas (Alto
Orinoco, Amazonas) blieben gar bis um 1950 am Rande der Nation.
Die Begründung des informellen Machtsystems der Republik
In der Geschichte des westlichen Konstitutionalismus und überhaupt in der
Politikgeschichte des atlantischen Raumes gibt es ein eigentümliches Verhältnis
Bolívar’s Project”, in: Helg, Liberty and Equality in Caribbean Colombia 1770-1835, Chapel Hill; London: The
University of North Carolina Press, 2004, S. 195-236.
855
Zitiert nach: Deschamps Chapeaux, Pedro, “Distinciones”, in: Deschamps Chapeaux, Los batallones de pardos
morenos libres. Apuntes para la historia de Cuba colonial, La Habana: Editorial Arte y Literatura/Instituto Cubano
del Libro, 1976, S. 44-51, hier S. 51.
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zwischen Europa und dem ehemaligen Kolonien Spaniens in Amerika (sowie
Brasilien), dem heutigen Lateinamerika, das vielleicht zu dieser Zeit begann. In
Europa herrschte nach 1815 die konservativ-christliche Restauration („Heilige
Allianz“) – in Amerika retteten die Bolivarianer mit ihren militärischen Erfolgen
und ihrem konstitutionellen System, der Republik und der Verfassung selbst, das
Überleben des revolutionären Liberalismus, der in Europa erst mit der
Julirevolution 1830 wieder zum Zuge kam.
Als revolutionäre Liberale legten sich die Staatsgründer um Bolívar sich
auch mit der katholischen Kirche an. Auf dem Kongreß in Cúcuta wurden (Gesetz
vom 28. Juli 1821) die Konvente der Mönchorden aufgehoben (die Franziskaner
für das 19. Jahrhundert endgültig 1837), in denen nicht wenigsten 8 Vollmönche
Mitglied waren. Alle Massnahmen der Liberalen zielten vor allem auf die
Zerstörung der Macht der Kirche als Säule des Kolonialismus und die
Kapitalisierung des Bodenbesitzes (mano muerta) der Kirchesowie des
kommunalen Gemeinbesitzes der Indios und der Städte.856 Die Liberalen wollten
auch den übermäßigen Einfluss der Orden und der Kirche auf die
Landbevölkerung brechen. Damit gingen auch die traditionellen Formen
politischer Vertretung der Unterklassen, die religiösen Gremios und Cofradías zu
Bruch. Die Unterschichten mussten sich noch dichter an Caudillos und Caziques
anschliessen, um ein Minimum an Schutz zu haben.857 Lino Gómez Canedo ist in
seiner Geschichte des Franzikanerordens auch ganz deutlich in Bezug auf das
Gesetz von 1821: er hielt es zunächst für eine Anwendung eines Reformgesetzes
des Heiligen Stuhls, musste sich aber bald eines besseren belehren lassen.858
Die geschriebene oder besser, gedruckte, Verfassung, ein neues
staatsrechtliches Instrument der Politik seit der französischen Revolution, um die
Gómez Canedo, “La supresión de las ordenes religiosas en Venezuela”, in: Memoria del Tercer Congreso
Venezolano de Historia Eclesiastica, Barquisimeto, 28 de febrero al 4 de Marzo de 1977, Caracas: Editorial Arte,
1980, S. 269-288; Zeuske, “’Gott regiert im Himmel, auf Erden wir’: Bemerkungen zum Verhältnis von Revolution
und Religion im Werk von Simón Bolívar, in: Asien, Afrika, Lateinamerika (AALa), 17:1 (1989), S. 112-121.
857
Gilmore, Robert, Caudillism and Militarism in Venezuela, 1810-1910, Athens : Ohio University Press, 1964, S.
24.
858 Gómez Canedo, “Destrucción y extinción”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de Caracas ..., Bd. I, S.
171-176.
856
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sozialen und politischen Gruppen eines Territoriums zu einer souveränen,
begrenzten und imaginierten „Gemeinschaft von Gleichen“, die man mehr und
mehr mit dem Wort „Nation“ bezeichnete, zu formen, mußte in Amerika aber und hier werden die alten Korporationen der Macht deutlich - von den
korporativen Trägern der lokalen Macht beschworen werden. Ein Dekret des
Kongresses legte am 20. September 1821 fest, wer alles schwören sollte: „Die
Departementschefs, Tribunale [Gerichte] jedweder Klasse, Gouverneure, Richter,
Cabildos, die sehr respektablen Erzbischöfe, Bischöfe, Prälaten, Kirchencabildos,
Universitäten, religiöse Gemeinschaften und andere Korporationen, Angestellte
und Büros der Republik“, aber auch „überall dort, wo militärische Einheiten
existierten ... (sollte) vom Chef, der Offizialität und der Truppe“ geschworen
werden.859 Der erste deutliche Widerstand gegen die Verfassung von Cúcuta ging
eben von einer solchen Lokalkorporation aus, wie bereits erwähnt, dem sehr
traditionellen Cabildo von Caracas: Bereits im Dezember 1821 und im Januar
1822 protestierte der Cabildo von Caracas gegen die Verfassung der Republik
Kolumbien. Die Mitglieder des Cabildos beschworen die ungeliebte Verfassung
nur mit Vorbehalten unter dem formaljuristisch berechtigtem Vorwand: „los
representantes [del Cuerpo Municipal de Caracas] no han tenido parte en su
formación ni creen adaptable á este territorio algunas disposiciones de aquel
código, y de las leyes que emanen de él [Die Repräsentanten der
Munizipalkorporation von Caracas haben keinen Anteil an ihrer [der Verfassung]
Ausarbeitung gehabt und glauben einige Dispositionen diese Kodex und der
Gesetze, die von ihm ausgehen, auch nicht anwendbar für dieses Territorium].“860
An der Machtposition des Cabildo von Caracas zeigte deutlich sich das Überleben
der alten kolonialen und lokalen Machtstrukturen. Der trockene Kommentar von
José Félix Blanco (Caracas, 24. September 1782 – Caracas, 18.März 1872), dem
Pfarrer der Llaneros, dazu lautete: Er habe auf dem Kongreß von Cúcuta sehr wohl
„5 caraqueños naturales y 2 vecinos casados en Caracas [fünf in Caracas Geborene
859
860
Blanco; Azpurúa, Documentos ..., Bd. VIII, S. 99-100 (Dokument 1888).
“Publicación y juramiento de la Constitución, in: Ebd, S. 230-237, S. 236 (Dok. 1961).
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und zwei in Caracas verheiratete Bürger]”861 gesehen. Der patriotische Pfarrer und
Guerrillaführer empfahl den „señores Municipales protestantes, que si no hubiesen
preferido quedarse con los godos, en vez de ir á los campos de la batalla á pelear
por la libertad de la Patria ..., no habría habido lugar á protestas ni a
condiciones“.862 Relativ schnell erschien 1822 ein Artikel in einer Zeitung, die wie
das spätere liberale Blatt El Venezolano hiess (Caracas), der auf das Konto eines
Intellektuellen und Zeitungsmannes, Tomás Lander (Caracas, 29. Dezember 1787
– Caracas: 6. Dezember 1845) ging, der 1813 Sekretär Bolívars gewesen war (und
somit eventuell das Dekret über die Guerra a muerte mitformuliert hatte) und
selber den Protest des Cabildo mitgetrug.863 Darin hieß es: „Drei unterschiedliche
Verfassungen und alles republikanische, sind auf dem was sein [Kolumbiens]
Territorium bildet, formuliert worden: die föderale Verfassung von Venezuela
[1811], die von Santo Tomás de Angostura [1819] und die der Villa del Rosario de
Cúcuta [1821]. Wenn wir zunächst nur die Weise, Ruhe und das Maß beachteten
mit denen diese Verfassungen formuliert worden sind, würde die von Venezuela
[1811] ohne Zweifel den Vorzug vor den anderen erhalten“. 864 Damit hatte die
antikolombianische und separatistische Bewegung der Mantuanos von Venezuela
einen ersten Grundsatztext.865 Bogotá ließ seinen Innensekretär (Innenminister)
protestieren.866 Er erinnerte daran, dass sich ganz „Neu-Granada ... dem in
Guayana [also Venezuela] angenommenen Grundgesetz angeschlossen“867 habe,
ebenso wie „der Isthmus von Panamá, der die Verfassung [von Cúcuta]
proklamiert habe, ohne miserable Proteste“.868
1823 wurden die Spanier durch ein Dekret des Landes verwiesen - da sie
nach Meinung der neuen Machthaber gegen die Unabhängigkeit konspirierten. Die
861
Ebd., S. 237.
Ebd.
863
“El próximo Congreso de Colombia en Bogotá”, in: Ebd., S. 273-276 (Dok. 1972).
864
Ebd., S. 273-276, hier S. 273.
865
Der Cabildo legte die Gründe für seinen Schwur mit Bedingungen nochmals in extenso am 15. Juli 1821 in
einem Acta dar, siehe: Ebd., S. 475-476.
866
“Oficio de Ministro del Interior para el Intendente de Venezuela”, Bogotá, 26. Februar 1822, in: Ebd., S. 317318 (Dok. 1992).
867
Ebd.
868
Ebd.
862
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Ausweisung traf vor allem den Rest der Kaufleute. Ein großer Teil hatte schon
schon seit 1820 oder früher das Land verlassen, wie die katalanischen Händler des
venezolanischen Ostens. Viele flohen nach Kuba gingen.869 Sie nahmen ihre
Erfahrungen und ihr Metallgeld mit. Einige wenige blieben aber auch in CaracasLa Guaira. Sie schlossen sich den Konservativen um den Cabildo und Páez (ab
1826 an). Die Krise von 1825 führte auch dazu, dass die meisten von Bolívar
gerufenen Spekulanten, Waffenhändler, Kapitäne und Schmuggler dem Land der
Rücken kehrten. Damit gab es faktisch kaum noch eine Geldwirtschaft, schon gar
keine souveräne Geldwirtschaft. Das Land verlor die Kontakte zu den
traditionellen Märkten des Kakaos in Mexiko und Spanien; Spanien seinerseits
sperrte die Märkte Kubas und Puerto Ricos. Die Kaufleute und ihre Familien
galten auch in Spanien und seinen Restkolonien (Kuba und Puerto Rico) als
Verräter. Dazu kamen die Probleme mit den ausländischen Kaufleuten (vor allem
Engländer), die die Staatsschuld Kolumbiens nur noch als finanzielle
Spekulations-Akkumulationsmaschine870 sahen. Auch mit Arbeitskräften gab es
Prolem, denn viele freie Pardos der Städte mussten zwar auf den Plantagen
arbeiten, aber keiner wollte wirklich unter den Bedingungen wie früher die
Sklaven arbeiten; die Gruppe der Sklaven alterte schnell, da es keinen
Sklavenhandel mehr gab. Steuern flossen nicht und das Land hatte eine riesige
Auslandsschuld. Unter diesen Bedingungen konnten Staatseinnahmen nur aus
Zöllen oder aus dem Verkauf der Ländereien der Kirche sowie kommunaler
Ländereien (Indiogemeinden und Städte) kommen.
Alle Politiker Freihändler oder wurden es und stimmten darin überein, dass
das wirtschaftliche Heil des Landes nur in einer Rekonstruktion der
Extraktionsmaschine aus Plantagen- und Sklavenexportwirtschaft sowie Exportund Importzöllen bestehen konnte - im Grunde bis 1936. Das musste zugleich eine
soziale Restauration sein. Das Land hätte aber einer wirklichen sozialen
Banko, Catalina, „El papel de los comerciantes en el movimiento separatista venezolano“, in: Banko, El Capital
Comercial en La Guaira y Caracas (1821-1848), Caracas : Academia Nacional de la Historia, 1990 (Biblioteca de la
Academía Nacional de la Historia, 47), S. 65-69.
870
Banko, „La deuda pública como fuente de acumulación de capital”, in: Ebd., S. 69-74.
869
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Revolution und eines gesunden Protektionismus durchaus bedurft, vor allem um
die Subsistenzlandwirtschaft, die Nahrungsmittelversorgung sowie den inneren
Handel, die interne Akkumulation und das Handwerk zu fördern. In die Lücke, die
die Ausweisung der Spanier hinterlassen hatten, waren Spekulanten vorgedrungen
– vor allem Engländer, Amerikaner, Deutsche, Schotten, Iren (oft ehemalige
Offiziere, karibische Kaufleute aus Jamaika oder Trinidad oder
Waffenschmuggler), oft auch die Handelspartner, die in Angostura 1817-1819
begonnen hatten, Schmuggelgeschäfte mit den Patrioten zu treiben. Die erste
Welle dieser Spekulanten und Glücksritter, die meist als bitterarme
Handelsgehilfen ins Land kamen und Gewinne machten, zog sich schon 18261830 wieder zurück, nachdem die erste Bonanza durch die Krise von 1825 ein
Ende gefunden hatte.
Ein weiterer Ankerstein der Restauration der Dominanz kreolischer Eliten
war die Legitimierung der der neuen Macht zwischen Realität der vielen Generale
mit ihren patriotischen Truppen sowie Guerrillamilizen, der formalen Verfassung
und der Sicherung des informellen Machtsystems. Die alte Tradition des
sozusagen natürlichen Legitimation des Königs fiel aus und die neuen und alten
Eliten (Generale und Reste der alten Oligarchie) konnten sich nicht auf ein neues
Königtum einigen. Informell und formal (nicht inhaltlich, denn der Inhalt war
vorher durch Körperlichkeit, Mut, Charisma und Gleichheit der Starken geprägt)
übernahmen die Eliten den Wahlmodus der Llaneros aus den
Unabhängigkeitskämpfen – der beste Krieger und beste Charismatiker soll
Caudillo sein. Darin zeigte sich eine für die Geschichte des neuen Venezuela, bis
1830 noch unter dem konstitutionellen Dach „Groß“-Kolumbiens, außerordertlich
wichtige Facette der politischen Kultur. Die Eliten mussten eine neue Methode
finden, die Kandidaten für die Regierung zu bestimmen, die gleichzeitig von den
Unterschichten und Oligarchien akzeptiert wurden. Ganz pragmatisch – es ging
um das Recht der Kandidatenaufstellung und – prüfung. Nach einigen Konflikten
zwischen 1821 und 1825, die sich vor allem um die Kosten für Armee und
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Kriegführung drehten, aber auch mehr und mehr um die soziale und politische
Stellung der Militärs, wurde eine infomelle Methode entwickelt, den
durchsetzungsfähigsten militärischen Anführer als obersten Chef (ab 1830 auch als
formalen Präsident) zu wählen, der in der Lage war, die schlagkräftigste Armee
persönlicher Milizen zu organisieren und unter Kontrolle zu halten und zugleich
die Interessen des Machtkerns der Oligarchie zu sichern. Diese eher krude
erscheinende „Wahl“ gibt einen Schlüssel für die politische Geschichte
Venezuelas von 1821 bis 1908 und für die Traditionen der politischen Kultur bis
heute. Das informelle System der Wahl des besten Caudillo durch die grauen
Eminenzen der Oligarchie, der durchaus auch eine radikale Sprache führen durfte,
um von Llaneros und Volk verstanden zu werden, gewann beträchtliche
Flexibilität und Subtilität, man könnte sogar von Eleganz sprechen. Ansatzpunkte
dieses informellen Systems waren die Wahlen unter militärischer Kontrolle, wie
sie bei den Llaneros üblich waren; Bolívar hatte dieses Procedere bei seinen
Treffen mit Páez vorgemacht und im formalen Wahlreglement von 1818 etwas
anderes festgeschrieben, wobei er natürlich die Truppen unter seiner Kontrolle
meinte. Seit 1825-1830 gehört dieses informelle Wahlsystem zur Sozialisierung
der Venezolaner und Venzolanerinnen. Die oberste Autorität, sprich die informelle
Macht im Staate, beruhte auf zwei Kernelementen: erstens die Fähigkeit eines
individuellen Caudillo vor allem durch seine Charisma und seine Rhetorik in
konkreten Situationen große Mengen bewaffneter Männer zu kontrollieren, die
willens sein mussten, für ihren Führer zu marschieren und für ihn und die Beute,
die er versprach, zu sterben. Dafür musste der Caudillo die rüde und respektlose
Sprache der Llaneros führen können und ihre raue Körperlichkeit demonstrieren
können. Zweitens sollte der oberste Machthaber mit Hilfe von Doktoren
(Rechtsanwälten, Wissenschaftlern) die Bürokraten von Caracas kontrollieren
können, zugleich aber auf ihren Rat hören. Und er musste sich mit der Elite der
Metropole ins Benehmen setzen können – und gleichzeitig den Zerfall des
Gebietes, das 1777-1811 als Venezuela entstanden war, verhindern (wozu auch
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der mächtigste Militärchef die Hilfe der Bürokratien, der Juristen und der freien
Berufe in Caracas brauchte).871 Mitglieder dieser Elite bildeten die Gruppe, die die
wirkliche Herrschaft im Lande innehatte – da sie sich auf die alte Mantuanaje von
vor 1810 zurückführte, gehörte der Besitz einer Hacienda sowie Sklaven und der
urbane Lebensstil mit einem großen Haus im Zentrum von Caracas zu den
unbedingten Statusmerkmalen von Herrschaft - auch der neuen Herrschaft. Für die
politische Kultur Venezuelas (und für die Zukunft) bedeutete diese Konfiguration
der Macht, dass die Regierenden immer unter den militärisch Mächtigsten und
rhetorisch Radikalsten ausgewählt wurden - nach der „Wahl“ freilich sollte sich
der neue Machthaber nach der Regeln der alten Elite verhalten. Im Grunde eine
Janusgesicht der politischen Elite Venezuelas: nach vorn, zum Atlantik und nach
Europa hin, das „zivilisierte“ Gesicht, die Sprache und die Kleidung sowie der
Lebensstil der Eliten Europas und Nordamerikas, nach „hinten“ und in den Zeiten
der Konflikte im Innern, die respektlose und oft rüpelhafte Sprache des Machismo
und die harten Mutproben der Llaneros. An Diktatoren und Militärs als politisches
Personal waren die venezolanischen Oligarchien gewöhnt: früher hatten sie
versucht, die militärischen Konsuln Spaniens, die Generalkapitäte und
Gouverneure872, in ihr informelles Herrschaftssystem einzubauen. Nach dem
kurzen Versuch einer oligarchischen Basisdemokratie hatten sie Miranda als
„Diktator“ die Kastanien aus dem Feuer holen lassen; Bolívar und seine
Milizhauptleute hatten sie 1813-1814, in der so genannten „II. Republik“,
ebenfalls als „Diktator“ und Libertadores notdürftig akzeptiert. Dem militärischen
Diktator Morillo aber hatten sie sich in einer regelrechten Liebesheirat an den Hals
geworfen. So traten sie auch den Militärs der Patrioten gegenüber, als diese 1821
Caracas besetzten. Es war aber keiner aus ihren Reihen mehr da, der den Diktator
hätte spielen können. Die Masse kreolischer Offiziere war mit Bolívar nach
Lombardi, “The Commercial-Bureaucratic Outpost, 1830-1935”, in: Lombardi, Venezuela ..., S. 157-211, hier
S. 158f.
872
Morón, Gobernadores y Capitanes Generales de las provincias venezolanas 1498-1810 ..., passim
871
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Ekuador und Peru gezogen. Es dauerte eine Zeit, bis die Oligarchie von Caracas
begriff, dass nun Páez „ihr Mann in Caracas und Großkolumbien“ sein musste.
Im historischen Längsschnitt kann man sich aus der Perspektive dieses fest
in Tradition und Kultur verwurzelten informellen Wahl- und Machtsystems nur
wundern, dass es den Venezolanern zwischen 1960 und 1980 gelang, dieses
System unter einer relativ funktionierenden „Demokratie“ nach westlichen
Vorstellungen nicht etwa abzuschaffen, sondern unter der Hand in den
personalisierten Wahlkämpfen anzuwenden und in ein „demokratisches“ System
einzupassen. Das sind die langwirkenden historischen Gründe der Schwäche der
Institutionen und der Stärke von Personen in der Geschichte des venezolanischen
politischen Systems. Zu dieser Zeit mag auch der fatale Hang der konservativen
Oberschichten entstanden sein, in wirklich populistischem Sinne keinesfalls als
„konservativ“ zu scheinen873 – in Venezuela mussten und müssen Eliten „populär“
sein und ihre Klienteln mit Geschenken und Privilegien versorgen. Das ist
natürlich übertrieben, um für alle Zeiten und Gelegenheiten seit 1821-1825 zu
gelten, ich habe aber bewusst übertrieben, um die Tendenz zu zeigen.
Zur Sozialisierung der Unterschichten in Venezuela gehörte seit jeher auch
das informelle Wissen um die soziale Präeminenz der Besitzer von Haciendas und
Mitgliedern der „alten“ Familien, um das informelle Wahlsystem des
geschicktesten und grausamsten Caudillos und die Organisation des Staates in
einem elitären Konstitutionalismus, unter dem all dies zwischen 1821 und 1830
nochmals zusammengefasst und systematisiert wurde.
Parallel zu Etablierung des neuen Machtsystems kam es zu einer der großen
Neuerfindungen Venezuelas. Die Diskurs-Operation fand statt zwischen 1821 und
1827 mit der textlichen Fixierung der Geschichte im neuen Medium Zeitung, dass
die Mantuanos von Caracas, Cumaná, Mérida, Barcelona und Trujillo 1810-1814
„revolutionär“ gewesen seien.874 Im Grunde kann seit dieser Zeit als Regel gelten,
873
Uslar Pietri, Juan, Historia política de Venezuela, Caracas-Madrid: Editorial Mediterráneo, 1970, S. 71.
Zeuske, “Regiones, espacios e hinterland en la independencia de Venezuela. Lo espacial en la política de Simón
Bolívar”, S. 39-58.
874
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dass besonders konservative Eliten sich als besonders „revolutionär“ und
populistisch oder, als Variante, besonders mitfühlend, geben mussten. Das verband
sich noch nicht (oder seit 1822 zunächst nicht mehr) mit dem Bolívarkult, denn der
reale Bolívar war als jakobinisch-militärischer Zentralist und Präsident
Kolumbiens noch eine reale Bedrohung für diese konservativen Eliten. Der
Unabhängigkeitsrevolutionskult als „unsere französische Revolution“ begann zu
dieser Zeit.875 Seit 1826 begann sich das informelle Machtsystem in Venezuela
gegen Bolívar zu wenden.
Die Zerstörung des bolivarianischen Projekts und die endgültige Gründung Venezuelas
„El que sirve una revolución ara en el mar [Der, der der Revolution dient, pflügt im Meer].“876
Die unerwarteten Siege der Patrioten in Amerika stellten für die
Zeitgenossen eine grundstürzende Änderung ihres Weltbildes dar, vergleichbar nur
mit dem Zusammenbruch des russisch-sowjetischen Imperiums 1989-1990 und
den Balkankriegen 1991-1997. Allerdings waren die globalen Bedingungen nicht
eben günstig für die neuen Gesellschaften. Zunächst kam es zu einem kurzen
politischen und wirtschaftlichen Boom. Die atlantische Weltwirtschaft befand sich
aber seit Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in einer schwierigen
Phase. Die alten Kakao-Märkte der venezolanischen Exportwirtschaft (Spanien
und Mexiko) waren zusammengebrochen. Venezuelas Haupthandelspartner
(Großbritannien) brauchte die venezolanischen Agrarprodukte eigentlich gar nicht,
einerseits weil es eigene Kolonien hatte, andererseits, weil Kaffee und Kakao in
Großbritannien kaum konsumiert wurde. Nur Kaffee konnte mit einigem Gewinn
Carrera Damas, “De nuevo sobre nuestra Revolución francesa”, S. 67-78.
Quasi das politische Vermächtnis Bolívars in einem Brief aus Barraquilla vom 9. November 1830 an Juan José
Flores, der als Reaktion auf die Ermordung Sucres im Juni 1830 geschrieben worden ist, in: Bolívar, Cartas del
Libertador …, Bd., IX, S. 376-377; Bolívar, OC, Bd. III, S. 501-502, eine sehr schöne neue Ausgabe findet sich in:
Simón Bolívar, Estado ilustrado, nación inconclusa: la contradicción bolivariana/Simón Bolívar, Estado ilustrado,
nação inacabada: a contradição bolivariana …, S. 149-154 (Dok. Nr. XI).
875
876
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nach Europa (Hamburg877) weiter verkauft werden. Die Kakaoproduktion
verlagerte sich immer mehr nach Osten.878 Die Kriegsfolgen in Venezuela selbst,
der laufende, aber ungeliebte kontinentale Krieg in Peru, und die Gefahr einer
neuen Eskalation des Sozialkrieges entweder unter Einfluß der Royalisten oder
weil die Patrioten nicht wirklich demokratische Agrarreformen gemacht hatten,
verschärften die schwierige Situation.
Es gab auch Positives. Die Freiheit schien eine Heimat gefunden zu haben.
Aus aller Welt kamen Liberale, avantgardistische Reisende und Patrioten nach
Kolumbien – paradigmatisch die Söhne Francisco de Mirandas mit seiner
englischen Frau Sarah Andrews, Leandro und Francisco Miranda Andrews
(London, 9. Oktober 1803 und 27. Februar 1806 – Paris, 1886 und Cerinza, 26.
April 1831).879 Der kolumbianische Kongress dekretierte 1823 ein
Immigrationsgesetz, das besonders auf eine nach damaligem Sprachgebrauch
„zivilisierte“ (was damals als positiv galt, heute eher als rassistisch)
nordamerikanische und europäische Migration zielte. Agrarische Colonias
(Kolonien) wurden angelegt, wie etwa die Colonia Topo de Tacagua, nahe
Caracas, wo rund 200 Schotten angesiedelt wurden. Die Kolonien scheiterten
meist (die Schotten mussten 1827 nach Kanada gebracht werden), aber für das
weitere 19. Jahrhundert begann eine Immigration, die für Venezuela vor allem aus
Kanariern, Niederländern (nach Adolfo Ernst „in ihrer Mehrzahl Schwarze aus
Curaçao“ 880), Englisch sprechenden Bewohner Grenadas und Trinidads,
Franzosen (die meisten davon Korsen881), Portugiesen, Italienern und Deutschen
sowie (nach 1830) aus Neugrandinern/Kolumbianern und Brasilianern bestand.
877
Walter, Rolf, Venezuela und Deutschland (1815-1870), Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1983 (Beiträge zur
Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 22).
878
Harwich, „Le cacao vénézuélien: une plantation à front pionnier”, in : Caravelle. Cahiers du Monde Hispanique
et Luso-Bresilien 85, Toulouse (2005), S. 17-30.
879
Blanco Fombona de Hood, Míriam, El enigma de Sarah Andrews, esposa de Francisco de Miranda, Caracas:
Universidad Católica Andrés Bello, 1981, Miramón, Alberto, La llama no muere, Caracas: Instituto Panamericano
de Geografía e Historia, 1983.
880
Morón, “Venezuela, Deutschland und der Vertrag von 1837”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.),
Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart, München: Eberhard Verlag, 1988, S. 6782, hier S. 69.
881
Siehe die Charakteristik eines der Korsen bei Geldner, “Reise nach Upatá“, in: Geldner, Venezuela 1865-1868
…, S. 200-223, hier besonders S. 215.
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Angesichts der miserablen Infrastrukturen, der geringen Wirtschaftsleistung, der
Krankheiten, vor allem aber wegen des Latifundismus und der Herrenallüren der
Sklavenbesitzer sowie des Kastenimages der Handarbeit reichte vor allem die
Immigration freier Menschen für die Landwirtschaft nie aus. Von den kanarischen
Inseln, vor allem von Tenerife, setzte die Immigration armer Landarbeiter ein –
einer Art „weißer Sklaven“ ein.882 Mitteleuropäische Einwanderer waren vor allem
Kaufleute, Apotheker und qualifizierte Handwerker und blieben meist unter sich.
Es kam vor 1950 nicht zu einem wirklichen Immigrationsstrom (wie ab 1830 in
Richtung USA oder ab 1850 nach Argentinien und Südbrasilien); Farbige,
„Mulatten“ und „Neger“ aus der Karibik wurden offiziell abgewiesen, wanderten
aber inoffiziell ein. 883
Geschichte ist immer konkret. Die drei alten Kolonialgebiete, aus denen
Großkolumbien durch mirandinische Utopie und politischen Willen Bolívars und
seiner Generale zusammengefügt worden war, wiesen erhebliche Unterschiede
auf. Vor allem und zuerst gab es, neben komplizierten Schiffs- und
Flussverbindungen, praktisch keine Infrastrukturen (Strassen, Brücken und
Wasserversorgung, vor allem Aquädukte). Die agrarischen Produkte NeuGranadas, wie Weizen aus den andinen Zentralgebieten und Tabak-, Zucker- oder
Rumproduktion und Früchte der tieferen karibischen und pazifischen
Küstengebiete, meist auf kleineren Haciendas oder auf Kleinbesitz produziert,
waren für den inneren Verbrauch bestimmt; Neu Granada war kein Exportland; es
hatte nur einige spezialisierte und regional sehr begrenzte Exportsektoren (vor
allem Gold und Saphire). Die breitere Basis der Landwirtschaft zur Versorgung
der Bevölkerung Subsistenzproduktion waren Bohnen, Mais, Reis, Zwiebeln,
Bananen, Yuca, Kleinvieh und Großvieh in den Llanos. In der Ostkordillere des
alten Neu-Granada, um Socorro, waren in der Kolonialzeit kleinere
Paz, Manuel de; Hernández, Manuel, “Uruguay y Venezuela y partir de 1830”, in: Paz, Manuel de; Hernández,
Manuel, La esclavitud blanca. Contribución a la historia del inmigrante canario en América. Siglo XIX, Santa Cruz
de Tenerife: Taller de Historia, 1992, S. 35-55.
883
Acosta Saignes, Historia de los portugueses en Venezuela, Caracas: Publicaciones de la Librería Suma, ²1977;
Arango Cano, Jesús, Inmigración y colonización de la Gran Colombia, Bogotá: Librería Voluntad, 1953; Fleitas
Núñez, Germán, Colonos y colonieros, Villa de Cura: Editorial Miranda, 1988; Perazzo, Nicolás, Historia de la
inmigración en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Congreso de la República, 1982-1983.
882
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Manufakturzentren mit Eisen-, Textil- und Lederproduktion (Schuhe, Stiefel,
Westen, Gürtel, Sättel, Zaumzeug, Pferdegeschirre, Möbel, Messer und Macheten)
entstanden. In der Westkordillere, in der Provinz Antioquia, stellte seit hunderten
von Jahren das koloniale Prestigeprodukt Gold das Hauptausfuhrgut dar. Schon
innerhalb der Großregionen des alten Vizekönigreiches gab es keine Kohärenz und
keine gemeinsamen Strukturen. Panamá im Norden lebte von den
Fernhandelsverbindungen, die sich seit 1810 im Niedergang befanden.884
In der Presidencia von Quito war Guayaquil ganz auf den Kakaoexport und
auf den Cabotage-Zwischenhandel von Mexiko und Panamá nach Callao und
Lima orientiert, während im Hochland von Quito Agrarwirtschaft für den
Selbstverbrauch sowie Woll- sowie Fleischproduktion für die Textilmanufakturen
vorherrschte und der Indianertribut etwa ein Drittteil der Steuern einbrachte.
Besonders die preiswerten europäischen Importe, die durch die liberale
Zollgesetzgebung befördert wurden, trafen die einheimische Textilindustrie und
darunter speziell die ecuadorianische, zutiefst. Erst 1829 erließ Bolívar für
Ekuador ein Importverbot für Textilwaren, aber eher aus politischen Gründen,
wegen des Krieges zwischen Großkolumbien und Peru.885
Venezuelas Kakao- und Kaffeeproduktion in den Küstentälern war seit jeher
auf Export und Schmuggel nach den Antilleninseln, Frankreich, Spanien und
Deutschland gerichtet; Zuckerproduktion angesichts der starken karibischen
Exportkonkurrenz eher für den inneren Verbrauch (raspadura und Rum).886
Exportorientiert waren seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch die
Produkte des Llanos (Häute, Trockenfleisch, Leder, Horn, lebendes Vieh), der
Guayanas (Holz, Gold, Drogen, Rohstoffe für Parfümerie, Mode und
Lederindustrie) und der neuen Kaffeegebiete, vor allem im Westen, in den
fruchtbaren Anden-Gegenden im Umfeld des Maracaibo-Sees. In Venezuela
Zum Niedergang Panamas und der alten kolonialen Handelszentren, siehe: Johnson, John J., “The Racial
Composition of Latin American Port Cities at Independence as Seen by Foreign Travellers”, in: Jahrbuch für
Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (JbLA) 23 (1986), S. 247-266, hier S. 265.
885
Bushnell, El regimen de Santander en la Gran Colombia ..., S. 177-192; siehe auch: Herrera, “¿Revolución
industrial en Venezuela?”, S. 37-55.
886
Rodríguez, Los paisajes geohistóricos cañeros en Venezuela ..., passim; Harwich, „Le cacao vénézuélien: une
plantation à front pionnier”, S. 17-30.
884
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waren sich die vorherrschende breite Subsistenzproduktion und die
Exportproduktion unter Kontrolle einer dünnen Bevölkerungsgruppe in den
Küstengebieten besonders entgegengesetzt.
Wenn die Patrioten, die, soweit sie mit ökonomischen Vorstellungen befasst
waren, alle überzeugte Freihändler waren, also freihändlerische Maßnahmen in
Gesetze gossen, kamen diese zwar den exportorientierten Gruppen in Venezuela
und Guayaquil entgegen, sprich den landbesitzenden Eliten und Kaufleuten,
wirkten sich aber verheerend auf die Manufakturproduktion für den internen
Markt in Cundinamarca (wie Socorro) und Quito aus. Diese freihändlerischen
Maßnahmen mußten die Patrioten aber, neben ihren eigenen
wirtschaftstheoretischen Überzeugungen, auch vornehmen, da sie damit die
Verbindung zu Großbritannien ausbauen konnten und sich somit die notwendigen
Finanzmittel (Anleihen) sichern konnten, die sie für ihren Kampf, die Ausrüstung
von Armeen und für den Aufbau des Landes brauchten. Diese Auslandskredite
und -anleihen nahmen bald inclusive Zinsen die damals enorme Summe von 63
515000 Pesos an (über 63 Millionen Pesos887; Brito Figueroa kommt nur auf 46
505638 Pesos, immerhin aber immer noch auf über 46 Millionen888). Die
Kongresse von Angostura und Cúcuta hatten diese Schulden als verbindlich
anerkannt. Um die Schulden abbezahlen zu können, brauchte Kolumbien
Einnahmen. Diese konnten nach Abschaffung des Indianertributs und vieler
kolonialer Steuern nur aus Zöllen kommen. Das bedeutete mehr Freihandel, was
wiederum die interne Entwicklung der industria, das heisst, von Handwerk,
Lebensmittel-, Konsum- und Getränkeherstellung, Papier- und Textilproduktion,
Fleischsalzereien, Transport, kleinem Handel und Eigenversorgungslandwirtschaft
verlangsamte und behinderte.889 Ein Teufelskreis: Die erste Schuldenkrise
König, „Ecuador, Kolumbien, Venezuela“, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Band II:
Lateinamerika von 1760 bis 1900, hrsg.v. Bernecker, W. u.a., Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 578ff.
888
Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela ..., Bd. IV, S. 1343; Fundación para la
conmemoración del bicentenario del natalicio y el sesquicentenario de la muerte del general Francisco de Paula
Santander (ed.), Santander y los empréstitos de la Gran Colombia 1822-1828, Bogotá: Fundación Francisco de
Paula Santander, 1988 (Colección documentos; no. 10).
889
Banko, Contribución a la historia de la manufactura en Venezuela, Caracas: Universidad Santa María, 1983;
Cartay, “Los albores de la industria en Venezuela, 1830-1899”, in: BANH, No. 275, Caracas (julio-septiembre
887
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lateinamerikanischer Länder nahm ihren Lauf; die neuen Staaten mussten
Zwischenkredite bei dubiosen Financiers aufnehmen.890
Auch andere Kernmaßnahmen trafen die Großregionen sehr unterschiedlich.
Die liberale Grundüberzeugung der Befreier - zu der sich auch Bolívar
durchgerungen hatte - , dass kein Mensch das Eigentum eines anderen sein könne,
d.h., die Maßnahmen und Gesetze zur Sklavenbefreiung, fanden schärfsten
Widerstand in den Plantagenregionen an der Küste Venezuelas, an den karibischen
Küsten des ehemaligen Neu-Granadas und in der Provinz Cauca, wo sich der
Widerstand gegen die Maßnahmen gegen die Sklaverei mit allgemeinem
Widerstand gegen die Republik verband. Über das Recht, dort auch nur einige
Sklaven für den Militärdienst auszuheben, geriet Bolívar sogar sehr zeitig mit
Santander in Konflikt.891 Gleiches galt für die Maßnahmen, die Bolívar glaubte
zugunsten der Indios dekretieren zu müssen. Bolívar war in dieser Beziehung
einerseits ein Revolutionär gegen seine eigene Klasse (Indiotribut), andererseits
ein Liberaler, der die Kommunalstrukturen indianischer Kontrolle über ihre
traditionellen Territorien zerstörte.
Zugleich setzte Bolívar mit der Erschießung des mulattischen Admirals José
Padilla (Oktober 1828 in Bogotá) eine Grenze gegen das, was er als
„Pardocracia“892 verstand – den Einfluss von Gleichheitsbewegungen gegen die
weißen Kreolen unter der Führung erfolgreicher mulattischer Offiziere des
Unabhängigkeitskrieges (vor allem Cartagena und Guayaquil).893 Dazu kam die
komplizierte Indianerfrage. Bolívar verfügte die Abschaffung des Tributs der
1986), S. 779-788; Cartay, Historia económica de Venezuela. 1830-1900, Valencia: Vadell Hermanos, 1988;
Herrera, “¿Revolución industrial en Venezuela?”, S. 37-55.
890
Liehr, “La deuda exterior de la Gran colomia frente a Gran Bretaña 1820-1860”, S. 465-488
891
Siehe den Brief an Santander vom 18. April 1820, in: König (ed.), Simón Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 61.
892
Bolívar, Cartas del Libertador ..., Bd. IV, Brief an Santander: “Mi hermana, que tiene mucho talento, me escribe
que Caracas está inhabitable por las tentativas y amenazas de la pardocracia”; siehe auch: Deschamps Chapeaux,
“Oportunidades ocupacionales”, in: Deschamps Chapeaux, Los batallones de pardos morenos libres ..., S. 61-63.
893
Otero D’Costa, Enrique, Vida del Almirante José Padilla, 1778-1828, Bogotá: Imprenta y Litografía de las
Fuerzas Armadas, 1973; Lasso, “Haiti as an Image of Popular Republicanism in Caribbean Colombia. Cartagena
Province (1811-1828)”, S. 176-190, speziell S. 184-186 (Marixa Lasso zitiert ein Dokument aus dem Archivo
General de la Nación, Bogotá mit dem Titel: “Cartagena, Sumaria averiguación para aclarar asuntos relacionados
con la seguridad pública y con la subordinación y disciplina en las clases del ejército” in: AGN, Bogotá, R-AC, 44,
fols. 86-118, von mir hier zitiert nach: Ebd., S. 190, FN 47-52); Lasso, “Threatening Pardos: Pardo Republicanism
in Colombia, 1811-1830”, S. 117-135; Helg, “The Pardo and Liberal Challenges to Bolívar’s Project”, S. 195-236.
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Indianer, der mit der intendierten staatsbürgerlichen Gleichstellung und
Gleichberechtigung der Indios in den Dekreten von 1820894 und 1821895
verbunden war. Die Verfassung sah nur Staat und Bürger als Subjekte vor.
Zugleich wurden die kollektiven Schutzgebiete der Indios, die Resguardos
aufgehoben. Die Aufhebung der Tribute traf vor allem die Steuersituation
Ecuadors. Der Indianertribut machte im Hochland etwa ein Drittel des
Steueraufkommens aus, im Gegensatz zu Neu-Granada und Venezuela, wo die
meisten Indio-Siedlungsgebiete viel peripherer lagen und kaum in das System der
Steuererfassung eingebunden waren.896
Zusammenfassend ging es nach 1820 in Venezuela in gewissem Sinne erst
einmal darum, überhaupt die Bedingungen für einen funktionierenden Staat zu
schaffen, nachdem die alte Extraktionsmaschine, die Kolonialordnung mit ihrer
Kastengesellschaft und der repressiven Sozialdisziplin in den langen Kriegen
faktisch in ihre Einzelteile zerfallen war. Aber die geringe soziale Strukturierung
der Bevölkerung (80% rurale Sklaven-, Indio- und Pardo-Bevölkerung), die
Subsistenzproduktion, die fehlenden Infrastrukturen und die fehlende Bevölkerung
(zwischen 700000 und 950000), die eine ökonomische Integration auf der Basis
von Arbeitsteilung fast unmöglich machte, das Fehlen einer geregelten
Steuerpolitik, die dünnen Fäden einer ungeübten republikanischen Administration
und die fehlenden Polizeikräfte, die es unmöglich machten, Gesetze überhaupt
durchzusetzen. Dazu kamen die riesigen geographischen Unterschiede, die
ungleiche Verteilung der Bevölkerung, die Weite des Landes, die
unkontrollierbaren Flüsse und die Stürme und Wetterkapriolen an den Küsten, die
die Verbindungen auch dort, wo sie von Wasser, Schiffen und Häfen ermöglicht
wurden, extrem unsicher machten.897
Bolívar, Decretos ..., Bd. I, S. 194-197 (20. Mai. 1820): Rückgabe und „Verteilung“ des Bodens der Resguardos
an die Indio-Familien; Verkauf des Restes (falls er existierte) an die Meistbietenden.
895
Ebd., S. 227-231 (12. Februar 1821).
896
Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, in:
Frankel (ed.), Política y economía en Venezuela ..., S. 33-89.
897
Zu den indianischen Völkern und ihrem Verhältnis zur Unabhängigkeit siehe: Hill, Jonathan D., „Indigenous
Peoples and the Rise of Independent Nation-States in Lowland South America“, in: Cambridge History of the
Native Peoples of the Americas, Vol. III, Part II, S. 704-764.
894
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Aus dem Krieg, der fast 15 Jahre gedauert hatte, waren in Venezuela drei
größere kulturell-soziale Gruppen von Akteuren hervorgegangen, die glaubten,
legitimerweise die Macht beanspruchten zu können. Die beiden wichtigsten
Gruppen, militares und civiles (auch: generales y doctores – Militärs und
Intellektuelle), verdankten ihren Aufstieg dem Unabhängigkeitskrieg und
formierten sich 1819-1826. Dazu kamen im Hintergrund die Reste der
traditionellen Familien der Oligarchie und der verbliebenen iberischen
Kaufleute, genannt die godos (Goten), aufgespaltet in eine größere konservative
Gruppe und eine noch sehr kleine Gruppierung, die in Bezug auf die Sklaverei
auch sehr konservativ war, aber öfter mal eine liberale Idee hegte; zu dieser
Gruppe gehörte eine Reihe von Intellektuellen und freien Berufen. Die
Oligarchie kontrollierte immer noch die Masse der Plantagen, Hatos, das Land
und die Sklaven. Inoffiziell schon seit der Kolonialzeit und während der
Morillo-Herrschaft sowie den ersten Zeiten der patriotischen Rückeroberung
machten diese drei Gruppen seit 1825-1826 die Macht im Lande offiziell, in
Bezug auf Mitglieder der alten Mantuanos allerdings durchaus als graue
Eminenzen im Hintergrund, als cúpula dominante (Herrschaftsspitze) aus, wie
es Gastón Carvallo genannt hat.898
Die Militares wurden, nach ihrem Anspruch „Venezuela“ von der
spanischen Tyrannei befreit zu haben, libertadores oder próceres (Vorkämpfer)
genannt; der Politikstil dieser Gruppierung wird protagonismo militar genannt.
Aus diesem militärischen Protagonismus entfaltete sich ein Traditionsstrang der
politischen Kultur Venezuelas, der vom Damals bis in das Heute reicht. Die
Militares lassen sich grob in Karriere-Militärs und Caudillos sowie Chefs von
Guerrilla-Milizen unterscheiden, mit einem erheblichen Einfluss auf die Männer
der Gruppen der Pardos und Llaneros. Die militärische Gruppierung, der
protagonismo militar war aus dem Offizierskorps der bolivarianischen Armee, den
Guerrillas (wie die von Juan de los Reyes Vargas) und den Milizen der Llaneros
898
Carvallo, Gastón, Próceres, Caudillos y Rebeldes. Crisis del sistema de dominación en Venezuela (1830-1908),
Caracas: Grijalbo 1994.
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hervorgegangen. Da es sich selbst bei Offizieren, die aus den Eliteclans der
Oligarchien hervorgegangen waren, meist um zweite oder dritte Söhne handelte,
waren sie dem Latifundium oder der ruralen Sklaverei entfremdet, was für
Haussklaverei nicht gelten musste. Oft behandelten sie neu eingezogene Soldaten
(bisoños), vulgo Burschen, wie es gewöhnt waren – also wie Sklaven. Das
Offizierkorps Groß-Kolumbiens war von Venezolanern dominiert. Eine Liste für
das Jahr 1827 weist 74 Generale und Obersten aus Venezuela, 29 aus NeuGranada und 4 aus Ecuador aus; 18 waren Ausländer; insgesamt gab es in dem
armen Land 125 Generale; Venezuela stellte rund 60%; Neu-Granada rund 23%;
Ecuador 3 % und rund 14% Ausländer; dagegen hatte Venezuela, nur zum
Vergleich, zwischen 1831 und 1859 nur etwa 80 Militäringenieure (die etwa auch
Stadtbau- und Strassenbauprojekte leiten konnten).899 Die Mantuanos aus den alten
Oligarchien nahmen in ihrem Kampf gegen den neuen Staat das Argument der
Wirtschaftlichkeit sowie des real existierenden Geld- und Arbeitskraftmangels auf
und schlugen vor, die Militärs nach Ende des Krieges zu entlassen und die Armee
aufzulösen.900 Das mit der Armee gelang ihnen zeitweilig; die Armee wurde durch
Privatmilizen von Caudillos ersetzt (also quasi „privatisiert“) – die Militärs
allerdings spielten bis in das 20. Jahrhundert eine extrem wichtige Rolle. Im 19.
Jahrhundert etwa musste der deutsch-venezolanische Wissenschaftler und
Begründer des Positivismus, der Statistik und der Folklorestudien in Venezuela,
Adolfo Ernst901, 1873 feststellen, dass es allein in der Provinz Carabobo, einem
Großgrundbesitzerterritorium par excellence, 449 Generäle, 627 Oberste, 967
Majore, 818 Hauptleute, 504 Leutnants und 85 Unterleutnants gab; insgesamt
899
König, Auf dem Wege ..., S. 240; Arcila Farías, Historia de la ingeniería en Venezuela, 2 Bde., Caracas: Colegio
de Ingenieros de Venezuela, 1961; Zawisa, Leszek Alberto, Arquitectura y obras públicas en Venezuela, 3 Bde.,
Caracas: Universidad Central de Venezuela, 1984-1988; Zawisa, Alberto Lutowski: contribución al conocimiento
de la ingeniería venezolana del siglo XIX, Caracas: Ministerio de la Defensa, 1990.
900
López-Alves, Fernando, “Two Alternative Paths of State Making: Venezuela and Paraguay”, in: López-Alves,
State Formation and Democracy in Latin America. 1810-1900, Durham & London: Duke University Press, 2000, S.
193-211.
901
Hernández González, “Raza, inmigración e identidad nacional en la Venezuela finisecular”, in: Contraste.
Revista de Historia Moderna, No. 9 – 10, Murcia (1994-1997), S. 35-48.
Harwich Vallenilla, „Las ilusiones del progreso: Adolfo Ernst (1832-1899) y el proyecto positivista venezolano“,
in: Farré, Joseph M.; Martinez, Françoise, Olivares, Itamar (eds.), Hommes de science et intellectuels européens en
Amérique latine (XIXe-XXe siècles). Actes du colloque international et interdisciplinaire 18, 19, 20 novembre
2004, Université Paris X, Paris : Éditions Le Manucrit, 2005, S. 1-23.
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3450 höhere Militärs. Bei einer Anzahl von 22952 Männern in dieser Provinz
machten Großgrundbesitzer mit Militärrang allein 15% der männlichen
Bevölkerung aus.902
Páez hatte die Ansprüche der Väter dieser Militärs von 1873 mit der
Legitimation der Befreier in einem so genannten “Napoleon-Brief” (1825) an
Bolívar zunächst ziemlich deutlich und in eindeutig sozialrevolutionärer Sprache
formulieren lassen: “Vd. no puede figurarse los estragos que la intriga hace en
este país, teniendo que confesar que Morillo le dijo a Vd. una verdad en Santa
Ana, sobre ‘que le había hecho un favor a la república en matar à los abogados’
[Morillo bezog sich hier auf die Erschiessungen in Neu Granada – M.Z.]; pero
nosotros tenemos que acusarnos del pecado de haber dejado imperfecta la obra
de Morillo, no habiendo hecho otro tanto con los que cayeron por nuestro lado;
por el contrario, les pusimos la república en las manos, nos la han puesto a la
española, porque el mejor de ellos no sabe otra cosa, y están en guerra abierta
con un ejército a quien deben todo su ser, y de cuyo cuartel general han salido
los congresos sin tomar la más mínima parte en ellos como corporación ... La
situación de este país es muy semejante en el día a la de la Francia cuando
Napoleón el Grande se encontraba en Egipto ... y Vd. está en el caso de decir lo
que aquel hombre célebre dijo entonces: ‘los intrigantes van a perder la patria,
vamos a salvarla’. [...] éste es el sentimiento o el deseo de todos los militares
[Euer Ehren können sich nicht vorstellen, welchen Schrecken die Intrige in
diesem Land ausbreitet, denn ich muss Euch gestehen, dass Morillo Euch in
Santa Ana eine Wahrheit gesagt hat, darüber [nämlich], dass er ‚der Republik
einen Gefallen getan hat, als er die Rechtsanwälte tötete’; wir aber müssen uns
selbst beschuldigen, dass wir die Arbeit Morillos unvollendet gelassen haben, da
wir nicht das gleiche mit denen auf unserer Seite gemacht haben; im Gegenteil,
wir haben ihnen die Republik in die Hände gelegt, sie haben sie uns hispanisiert,
Morón, “Venezuela, Deutschland und der Vertrag von 1837”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.),
Deutsch-Venezolanische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 67-82, hier S. 69, siehe die
exzellente Zusammenfassung: Irwin G., Domingo, Relaciones civiles – militares en Venezuela 1830-1910 (Una
visión general), Caracas: Litobrit, C.A, 1996.
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weil der Beste von ihnen nichts anderes kann und sie sind in offenem Krieg mit
einem Heer, dem sie all ihr Sein verdanken und aus dessen Hauptquartier die
Kongresse entstanden sind, ohne dass es als Korporation den geringsten Anteil
an ihnen genommen hätte … die Situation dieses Landes ist heute derjenigen
Frankreichs ähnlich, als Napoleon der Große sich in Ägypten befand und Euer
Ehren befindet sich in dem Fall, dass zu sagen, was jener berühmte Mann
damals sagte: ‚Die Intriganten ruinieren das Vaterland, lasst es uns retten’ …
Das ist das Gefühl oder der Wunsch aller Militärs].“903
Die Mehrzahl der einflußreichen Karriere-Militärs, die in Venezuela
verblieben waren, stammten aus einer oligarchischen Familie (wie Carlos
Soublette (La Guaira, 15. Dezember 1789 – Caracas, 11. Februar 1870)904,
Rafael Urdaneta (Maracaibo, 24. Oktober 1788 – Paris, 23. August 1845)905,
Montilla, Mariano (Caracas, 8. September 1782 – Caracas, 22. September
1851)906; die meisten Caudillos waren lokale Machthaber, manchmal
Landbesitzer, meist aber „Weiße“ oder Pardos bescheidenster Herkunft. Das
Problem für die Erhaltung Großkolumbiens war, dass die meisten der
Bolivarianos, der engeren Anhänger des Libertadors unter den Militärs, darunter
alle Ausländer, mit Bolívar nach Süden gezogen waren. Bolívar war weit [siehe
ein Bild Bolívars um 1825 in Parra-Pérez, La monarquía en la Gran Colombia,
Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1957, Frontispiz].
Prototyp der Verschmelzung zwischen „armem Weißen“ (blanco de orilla),
Llanero, Caudillo und patriotischem Offizier sowie bald auch Politiker, dem auch
die alten Oligarchien zustimmten, aus den unteren Schichten wurde eben José
Antonio Páez. Noch nicht vierzigjährig, genoß der Llanero ein ungewöhnliches
903
Bolívar, OC, Bd. II, S. 326-328. Brief von Páez aus Caracas an Bolívar vom 1. Oktober 1825.
Morón, “Wer ist Carlos Soublette”, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische
Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 75-77; Soublette, Carlos, Archivo de general Carlos
Soublette, 2 Bde., Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1992; Amas Chitty, Vida del general Carlos
Soublette, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1991.
905
Párraga Villamarín, Eloy [et al.], Venezuela en los años del general Rafael Urdaneta, 1788-1845, Maracaibo:
Comité Organizador del Bicentenario del Natalicio del General Urdaneta, 1988, Mudarra, Miguel Ángel, Rafael
Urdaneta 1789-1845, Caracas: Grijalbo, 1991.
906
Presidencia de la República, General de División Mariano Montilla, 2 Bde., Caracas: Ediciones de la Presidencia
de la República, 1982.
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Prestige und Charisma. Er war der Held des Guerrilla-Krieges in den Llanos gegen
viel stärkere spanische Einheiten 1816-1820. Er hatte sich und seine Llaneros zwar
formal Bolívar unterstellt, behielt aber als Caudillo die Kontrolle über sie. Páez
war auch der militärische Held von Carabobo (1821) und er hatte die letzten
royalistischen Truppen aus Puerto Cabello vertrieben (1823). In der
konstitutionellen Ordnung von Cúcuta hatte sich Páez, da er als ungebildet galt
und immer gewisse Spannungen zwischen ihm und Bolívar, Santander;
Soublette und den anderen kreolischen Militärs existierten, zunächst dem
Intendanten und Soublette unterordnen müssen. Auf einer Stufe mit ihm standen
die beiden anderen Militärkommandanten Santiago Mariño und José Bermúdez.
Keiner von ihnen aber verfügte über ein solche Machtbasis und ein solches
Charisma wie Páez. Páez war außerdem, und das macht ihn für die alte
Oligarchie bald akzeptabel, durch Spekulation mit den Vales aus dem Reparto
de Bienes in die Klasse der größten Grundbesitzer des Landes aufgestiegen. Er
hatte die Hacienda Trinidad de Tapatapa vom Marqués de Casa León, dem
Señor de Maracay, einem Royalisten, nach 1821 übernommen.907 Der Besitz lag
in den fruchtbaren Tälern von Aragua. Auf ihm wurden, wie in Kolonialzeiten,
Zuckerrohr, Kaffee und Indigo durch Sklaven angebaut und geerntet. Gleiches
galt für den immensen Vieh-Hato San Pablo, den Páez in den Llanos von
Calabozo, dem Fleischversorgungszentrum von Caracas, an sich gebracht hatte.
Diese Latifundien, und das gilt nicht nur für Páez, sondern auch für Mariño und
die Gebrüder Monagas, waren so groß und hatten soviel angesiedelte Peones
und Sklaven, das sie allein manchmal als militärische Rekrutierungsbasis für die
Caudillos fungierten.908 Je deutlicher wurde, dass Páez auch ohne formale
Armee immer militärisches Zünglein an der Waage der Politik bleiben würde,
desto schneller gaben er und seine engeren Anhänger den Widerstand gegen die
Briceño-Iragorry, Casa León y su tiempo, Caracas 1946, S. 32, 223f.; Dupuy, Crisáldia, “La Trinidad una
hacienda que perteneció al marqués de Casa León y a los generales José Antonio Páez, Cipriano Castro y Juan
Vicente Gómez”, in: Revista de Control Fiscal, Nr. 104, Caracas (enero-febrero 1982).
908
Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 67; Castillo Blomquist, “La Post-Independencia”, in: Castillo
Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 27-52, hier S. 27.
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Demobilisierung der bolivarianischen Armee auf. Da aber auch die Mehrzahl
der in Venezuela verbliebenen Soldaten und Offiziere bis in die Hauptleute- und
Oberstenränge in den zwanziger Jahren aus den Llanos stammte und Pardos
waren, blieben Páez’ Klientelbeziehungen zu den Unter-Caudillos und den
Mannschaften intakt, auch wenn diese schon offiziell aus dem Heer entlassen
worden waren. Páez verfügte also sowohl real wie auch potenziell über größten
militärischen Einheiten, d.h., die einzige Kraft, die im Lande real Macht ausüben
konnte.909
Der so genannte sector civil bestand zunächst aus einem etwas liberaleren
Teil der alten Mantuanofamilien, die den Krieg an der Seite der Patrioten oder in
Opposition zu den Royalisten durchgemacht hatte (oft im Exil in Trinidad oder
Jamaika). Die grauen Eminenzen in dieser Gruppe aber waren immer noch die
(überlebenden) Clanchefs der alten Mantuanofamilien, die ihren traditionalen
Status verteidigten. Hinter der Gruppe ziviler Akteure bildete sich in den
zwanziger Jahren eine recht kleine Gruppierung ziviler Machteliten haraus, die
élite civil y civilista (civilismo); ein recht heterogener ziviler Sektor. Er bestand aus
Intellektuellen (Journalisten), Rechtsanwälten, Ärzten, und Kaufleuten
(„hacendados, comerciantes, letrados, profesionales, funcionarios“910), die die
Kongresse beschickte. Der Kern dieser zivilen Elite, aus dem politisch zunächst
die konservative Partei hervorging, war oligarchischer Herkunft und hatte die
direktesten biographischen Verbindungen zu den alten Kolonialoligarchien, wie
die Namen zeigen: im wirklichen Vordergrund (Regierungschef) eher nicht die
Vertreter der ganz großen alten Familien, wie der Mediziner und Politiker Dr. José
María Vargas (La Guaira, 10. März 1786 – New York, 13. Juli 1854)911; eher im
Hintergrund, als Minister, Kommissionschefs, Leiter diplomatischer Missionen
oder ganz als graue Eminenzen: Fermín Toro (aus dem Toro-Clan; El Valle, 14.
Irwin, “La estructura militar del Gobierno Deliberativo”, in: Irwin G., Relaciones civiles – militares en
Venezuela 1830-1910 …, S. 15-54.
910
Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S.
33-89, hier S. 42f.
911
Uslar Pietri, Arturo, Cuéntame a Venezuela, Caracas: Editorial Lisbona, 1981; Bruni Celli, Imagen y huella de
José Vargas, Caracas: INTEVEP, 1987.
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Juli 1806 – Caracas, 23. Dezember 1865)912, Martín Tovar Ponte (aus dem TovarClan; Caracas, 27. September 1772 – Caracas, 26. November 1843)913 und Manuel
Felipe de Tovar y Tovar (sein Neffe, also ebenfalls aus dem Tovar-Clan; Caracas,
1. Januar 1803 – Paris, 20. Februar 1866).914 Diese konservative Elite in der PáezRegierung (oder hinter ihr) vertrat am deutlichsten die wirtschaftlichen Interessen
der großen Besitzer des Zentrums, das heißt, der alten Provinz Caracas, Valencia
oder Venezuela sowie ein Herrschafts- und Gesellschaftsmodell, das man als die
republikanischen Bedingungen, der Wirtschaftsform des atlantischen Freihandels
und nationalen Diskursformen angepasste alte koloniale Sozialordnung bezeichnen
kann. Sie beanspruchten mit der Formel des uti possidetis iuris auch die alten
Kolonialterritorien als ihre neuen republikanischen Machträume. Allerdings gab es
keine direkte Kongruenz zwischen der Klasse der ländlichen Haciendabesitzer, der
sich neu formierenden Elite und der Gruppe politischer Akteure in den Städten. T.
R. Ibarra sagt in seinen Erinnerungen über die Familie Tovar: „So zahlreich waren
die Häuser der Tovares in meinem Caracas, dass wenn man einen Caraqueño über
die Geschichte dieses oder jenes wichtigen Stadtpalais’ befragte, war es möglich,
dass es antwortete: ‚ach, das ist ein Haus von Tovar’“.915 Ibarra setzt fort: „Die
Mehrheit der Venezolaner meiner Kindheit, die noch etwas auf das blaue
spanische Blut [der aristokratischen Tovar – M.Z.] gaben, gehörten der
konservativen Partei an. Aus dieser Perspektive der Familie [Ibarra bezieht sich
auf die alten Familien der Oligarchie – M.Z.], hätten meine Ybarras Konservative
sein müssen; aber im Endeffekt waren sowohl mein Großvater [José Félix Ribas –
M.Z.] und mein Vater begeisterte Liberale.“916
Die institutionelle Basis der Gruppe der zivilen Politiker waren die
Cabildos, die seit 1826 reformierte republikanische Universität (Universidad
Central de Venezuela; 1827 nochmals von Bolívar reformiert) und die sich
912
Toro, Fermín, La doctrina conservadora, Caracas: Consejo Supremo de la República, 1982; Toro, Elías, Fermín
Toro, 1807-1865, Caracas: Grijalbo, 1990.
913
Uslar Pietri, Juan, Martín Tovar Ponte, Caracas: Fundación Eugenio Mendoza, 1979.
914
Tovar, Manuel Felipe de, Archivo de Manuel Felipe de Tovar, Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1984.
915
Ibarra, T.R., “Mi Caracas”, S. 442-449, hier S. 447.
916
Ebd.
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herausbildenden administrativen Strukturen der höheren Verwaltung, die
Legislative und die Judikative.917
Die kreolischen Oligarchien mußten unter den gegebenen Umständen der
Beibehaltung der kolonialen Sozial- und Kastenstruktur sowie der
Extraktionsmaschine, Nichterfüllung der Versprechen Bolívars über sofortige
Sklavenbefreiung und Bodenverteilung sowie wirtschaftliche Krise um die soziale
Disziplin der Unterschichten fürchten. Sie hatten vor allem Angst vor einem neuen
Kastenkrieg der vielen Pardos gegen die relativ wenigen Weißen, ähnlich der
guerra a muerte. Und die oligarchischen Oberschichten der venezolanischen
Städte mußten zugleich fürchten, dass es der Regierung im fernen Bogotá, die ihre
Aufmerksamkeit auf den Krieg in Peru, auf die Interventionsgefahr von den
spanischen Antillen oder gar von seiten der Heiligen Allianz richetete, unmöglich
sein würde, die innere Ordnung Venezuelas zu garantieren. Deshalb auch die
Nervosität gegenüber den Milizen und den Zusammenrottungen ehemaliger
Soldaten, Guerrilleros und Militärs, den diese bestanden ja zum größten Teil aus
Llaneros, Indios und ehemaligen Sklaven, aus Pardos und UnterschichtenMestizen. Dazu kam eine intellektuelle, kollektivpsychische und kulturelle
Anstrengung, auf die die überlebenden Vertreter der „alten“ Familien viel Geld
und Zeit verwandten: auf die Obsession, die historische Memoria der Notabelnund Adelsgenealogien der Stadt Caracas zu bewahren, um zu zeigen, das nur sie
„zivilisiert“ waren.918 Die Zeitgenossen, denen diese alte, neue Sozialordnung als
normal galt, nahmen die politischen Gruppierungen in anderen Kategorien als wir
wahr. Nach den Worten der königstreuen Schwester Bolívars existierten in
Venezuela zwischen 1821 und 1825 die drei Parteiungen der monárquicos,
demócratas y pardocratas.919 Diese Interpretation ist interessant, da sie die
Bedrohung der Mantuanos durch die Pardo-Unterschichten betonte, von denen
917
Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 70ff.
Múnera, Fronteras imaginadas. La construcción de las razas y de la geografía en el siglo XIX colombiano,
Bogotá: Editorial Planeta Colombiana S.A., 2005, S. 182
919
Vertraulicher Brief Bolívars an Santander aus Magdalena vom 21. Februar 1826, in: Bolívar, OC, Bd. II, S. 311313.
918
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auch der aristokratische Bolívar die Stabilität in Venezuela bedroht sah. Mitte der
20er Jahre existierten drei größere politische Gruppierungen in Caracas: die
Monarchisten, die Konformisten (die „Demokraten“ der Schwester Bolívars) und
die Separatisten, zu denen auch auch die Anhänger von Páez gehörten, die
Bolívars Schwester als Pardokraten bezeichnete.920 Führungsfigur der ersten war
Andrés Level de Goda (14. Juni 1777, Cumaná - 19. April 1856, Caracas); ein
ehemaliger königlicher Funktionär. Die Konformisten waren die Träger
Großkolumbiens, die meist als Funktionäre von dem Großstaat profitierten. Aus
freien Berufen und weniger einflussreichen Mantuano-Familien oder aus der
Gruppe der „armen Weißen“ entstanden die „Liberalen“ unter Tomás Lander mit
ihrem Presseorgan El Venezolano. Sie profilierten sich zumindest zeitweilig
zusammen mit den Anhängern Páez’ (pardocratas) nach und nach zu derjenigen
Gruppierung, die die Separation der antigua Venezuela (altes Venezuela) von
Großkolumbien zu ihrem Ziel erklärte; erst seit etwa 1840 bildete sich – nun schon
gegen Páez und die Konservativen, ich greife etwas vor - die Gruppe der hombres
nuevos („neue Männer braucht das Land“), die liberale Partei.
Was dieser Allianz der „Venezolaner“ allerdings bis 1825 fehlte, war ein
Führungsfigur, der auch militärische und populistische Gewalt ausüben konnte.
Erst als Páez sich in der Folgezeit nach und nach an die Spitze der Separatisten
stellte, machte ihn endgültig den alten Oligarchien akzeptabel. Bolívar meinte
dazu: „Der General Páez ist an der Spitze dieser Ideen, die ihm von seinen
Freunden, den Demagogen, suggeriert worden sind“921; der Mann hinter ihm war
der Militär und Mitglied einer der alten Mantuanofamilien wie Bolívar, Francisco
Carabaño Aponte (Cumaná, 6. September 1781 – Cariaco, 19. August 1848).
Unter diesen komplizierten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen
schwelte die Krise des Großstaates. Der Wille, zwei ferne Zentralismen -
920
Díaz Sánchez, Ramón, Guzmán. Elipse de una ambición de poder, 2 Bde., Caracas-Madrid: Editorial
Mediterráneo 1975, Bd. I, S. 30;
921
Bolívar, OC, Bd. II, S. 311-313.
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Santander in Bogotá und Bolívar in Peru922 - zu ertragen, nahm auch bei
Gutwilligen mit den militärischen Erfolgen der Patrioten immer mehr ab.
Unmittelbare Gründe für die gesellschaftliche und politische Krise waren
der ausbleibende Wirtschaftsaufschwung, die separatistischen Bestrebungen in
Venezuela und der weiterschwelende Krieg. In Militärfragen, die zugleich auch
immer Finanzfragen waren, wurden die Bruchlinien am deutlichsten sichtbar.
Nach der nur mit Säbeln und Lanzen geführten Schlacht von Junín (6.
August 1824) hatte Santander am 31. August 1824 in Bogotá auf Bitten
Bolívars923 ein Dekret über einen Alistamiento General (etwa: Allgemeine
Mobilmachung) veröffentlichen lassen. 50000 Mann sollten ausgehoben
werden.924 Die separatistische Presse in Caracas, die sowieso alles Schlechte aus
Bogotá kommen sah, reagierte mit einem Aufschrei gegen die hohen
Militärkosten. Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidungsschlacht von Ayacucho
(9. Dezember 1824) noch nicht geschlagen. Bolívar befürchtete ein
„mexikanisches Peru“ (eine direkte Machtübernahme der alten konservativen
Oligarchien), das alle neuen Republiken bedroht hätte. Auch danach befürchtete er
bei jeder schlechten Nachricht aus Europa oder der Karibik eine Intervention der
Heiligen Allianz. Außerdem ließ sich seine eigene starke Stellung nur auf Basis
eines starken Heeres halten. Deshalb plante er auch eine amerikanische
Konföderation und sich selbst sah er in der Rolle eines Protektors (das bedeutet,
eine nicht national gebundener Anführer eines „amerikanischen“ Heeres, das
faktisch zu einer schnellen Eingreiftruppe wird) der neuen Republiken. Aber dazu
fehlte das Geld. Santander selbst schrieb 1826 an ihn: „Unser Heer hat heute
23000 Mann und die Marine ist ziemlich stark ... die Zinsen der äußeren Schuld
schätzt man auf sechzehn bis achtzehn Millionen Pesos. Die Steuern ergeben
922
Siehe die Verfassung von Bolivien, in: König (ed.), Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 97-106.
Siehe den Brief von Bolívar aus Huamachuco, 6. Mai 1824 an Santander: “Mande Vd. esos 4.000 hombres que
ha ido a buscar Ibarra”, in: Bolívar, OC, Bd. I, S. 962f.
924
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. IX, S. 265f.
923
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sieben bis acht Millionen [Pesos]. Woher nimmt man das Fehlende?“925 Die
Republik begann mit einem Finanzkollaps.
Die Regierung in Bogotá unterstützte zunächst Páez bei der Umsetzung des
Rekrutierungsdekrets926 gegen den Cabildo von Caracas (und anderen Städten, vor
allem Valencia), die gegen die Aushebung protestierten. Zu dem Grund
Militärkosten, hinter dem politisch auch immer das Problem Militärs-Zivilisten
stand, kamen andere Anlässe eher politischer oder stimmungsmäßiger Art, an
denen sich die Spannungen hochkochten; so der Fall Infante und der Fall Peña,
bald auch der Fall Páez. Oberst Leonardo Infante war ein Pardo-Offizier aus
Venezuela, aus den Llanos. Er war im Befreiungsheer aufgestiegen. In das
mondäne Bogotá versetzt, wurde er nach 1819, also im Frieden, zum Trunkenbold
und Bürgerschreck. Bei einem seiner vielen Händel tötete er einen weißen
Leutnant aus „alter Familie“. Der Oberste Gerichtshof in Bogotá verurteilte ihn
1825 zum Tode. Nur der Präsident des Obersten Gerichtshofes, der venezolanische
Jurist Dr. Miguel Peña aus Valencia, trug das Urteil nicht mit. Im Gegenteil, er
nutzte es, um, Mitte 1825 nach Venezuela geflüchtet, die allgemeine
antikolombianische Stimmung anzuheizen. Er klagte die Bogotaner des AntiVenezolanertums, des Rassismus gegenüber dem aufgestiegenen Pardo-Offizier
und einer Anti-Militär-Haltung an. Peña war einer der wenigen Zivilisten unter
den Veteranen der Patrioten. Bolívar kannte die Listen des Miguel Peña schon aus
den Jahren der Verhaftung Mirandas. Er fürchtete den Juristen, der seinerseits
einige der bestgehüteten Geheimnisse des Befreiers kannte. Bolívar hatte deshalb
an Santander geschrieben: “El doctor Peña es un hombre vivo, de talento, audaz ...,
y conviene mucho que Vd. lo mantenga al lado del gobierno, halagado con la
esperanza de un alto destino, y que por ningún pretexto vaya a Venezuela, para
que la Patria, Vd. y yo no tengamos algún día algo que llorar [Der Doktor Peña ist
ein unruhiger Mann, hat Talent, kühn ... und es wäre sehr gut, dass Euer Ehren ihn
925
Restrepo Tirado, Ernesto [et al.] (eds.), Archivo Santander, 24 Bde., Bogotá: Academia Colombiana de Historia,
1913-1932, Bd. XIX, S. 32.
926
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. IX, S. 473-478.
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an der Seite der Regierung halten, ihn mit der Hoffnung auf eine großes Schicksal
locktet und dass er unter keinem Vorwand nach Venezuela gehe, damit das
Vaterland, Euer Ehren und ich nicht nicht eines Tages weinen müssten].”927 Kurz,
dieser Fall war Öl im Feuer der antikolombianischen Agitation in Venezuela.
Der Fall Páez
Gefährlicher und im Grunde Keim der endgültigen Loslösung Venezuelas
von Großkolumbien wurde der „Fall Páez“. Páez, seit 1820 Freimauer, hatte sich
1824 auf der Suche nach Verbündeten sowohl gegen Mitkonkurrenten unter den
Militärs, wie auch gegen den Hochmut der aristokratischen Zivilisten mit
profilierungssüchtigen Intellektuellen aus dem früheren royalistischen Lager, wie
Antonio Leocadio Guzmán oder Montenegro Colón zusammengetan. Die
Monarchie, der Monarchismus als politisches Stabilitäts- und Legitimitätskonzept,
hatten allerdings, quer durch alle politischen Gruppierungen, eine ganze Reihe von
Anhängern. Beraten von bolivarianischen Monarchisten (wie Carabaño), schlug
Páez jedenfalls Bolívar 1825 ein „napoleonisches Verhalten“ (wie Napoleon in
Ägypten), d.h., im Klartext, die Rückkehr der siegreichen Truppen aus „Ägypten“
(Peru), die inrichtung einer Monarchie und seine, Bolívars, Krönung, zur Lösung
der Probleme der Militärs und der Erhöhung der Legitimität der Staatsgewalt vor.
Páez stützte sich bei den Monarchieplänen um 1825 auf eine eigenartige Koalition
aus seinen direkten Anhängern unter den Militärs und Monarchisten, während die
zwei anderen Gruppen der Demócratas und Godos aus den alten Familien noch
Abstand zu ihm hielten. Erst nach der Ablehnung Bolívars und mit den Vorgängen
1826 sowie durch die Fädenknüpfungen von Miguel Peña erfuhr Páez bald auch
die Unterstützung der konservativen Zivilisten aus der alten Oligarchie (Felipe
Fermín Paúl, der Marqués del Toro, José Santiago Rodríguez, Lino de Clemente)
927
Bolívar, Cartas …, Bd. V, S. 32 und 67 (FN), S. 68 und 225.
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sowie der Separatisten um Tomás Lander, die als Liberale den Monarchieplänen
noch ablehnend gegenübergestanden hatten und untereinander spinnefeind waren.
In der gemeinsamen Frontstellung gegen Bogotá, die zwischen 1823
(nachdem Páez Puerto Cabello hatte einnehmen können) und 1826 noch
unterschiedlich artikuliert wurde, kam, trotz erheblicher Reibereien, den
verschiedenen Oppositionsgruppen ein Kristallationspunkt wie gerufen. Der
charismatische Páez, der wegen seiner militärischen Erfolge und wegen seines
robusten Caudillismo und seiner militärischen Erfolge bei der Einnahme von
Puerto Cabello, die höchste Legitimität aller Próceres besaß, bot sich für
konservative Gruppierung sowieso, aber mehr auch für die eigentlich dem
Militärischen abholden Liberalen, als politischer Frontmann an. Eine
Schlüsselfigur in der Verknüpfung zwischen der ehemaligen Monarchiefraktion
und den Separatisten war der Journalist und zeitweilige Sekretär von Páez,
Antonio Leocadio Guzmán García (5. November 1801, Caracas – 13. November
1884, Caracas; Vater des späteren Präsidenten Antonio Guzmán Blanco).928 Er
hatte zunächst den Monarchiebrief (Oktober 1825) von Páez aus Caracas an
Bolívar in Perú als Bote überbracht. Briceño Méndez, der Vertraute Bolívars,
schrieb über Guzmán in einem vertraulichen Kommentarbrief: “es verdad que él se
educó en España y estuvo allí hasta el año de 22; que es hijo de un oficial español,
godo rancio; también lo es que tiene buen talento y juicio y que se separó de su
familia en Puerto Rico porque era patriota y no podia vivir con ella.”929
Bolívar selbst hatte wegen der Unüberschaubarkeit der politischen
Gemengelage in Venezuela Santander schon seit längerem vorgeschlagen, Páez
ganz konstitutionell zum Intendanten für das gesamte ehemalige Venezuela zu
machen und ihm auch die militärischen Befugnisse zu lassen, d.h., auch de jure die
starke Stellung anzuerkennen und damit formell das sich herausbildende
informelle System der Venezolaner.930 Bolívar war bereit, Páez zum Quasi928
Díaz Sánchez, Ramón, Guzmán. Elipse de una ambición de poder, 2 vols., Caracas-Madrid: Editorial
Mediterráneo 1975.
929
Bolívar, OC, Bd. II, S. 330. Brief von Briceño Méndez aus Panama vom 23. Dezember 1825 an Bolívar.
930
Ebd., Bd. II, S. 129. Brief aus Ocaña, 8. Mai 1825.
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Präsidenten des historischen Venezuela zu machen, allerdings mit einem „
excelente y hábil asesor, consejero o secretario.“ Bolívar schlug Briceño Méndez,
Montilla, Peñalver, White oder Mendoza vor – im Klartext bedeutete dies, dass
Bolívar um das informelle politische System der Machtauswahl wusste und nichts
anderes wollte, als es die konservative Oligarchie tat – eine Galionsfigur, umringt
von Beratern und grauen Eminenzen aus der alten Elite.931 Insgesamt hatte
Bolívar, der bis September 1826 in Peru und Bolivien weilte, in dieser Zeit
Vorahnungen, vor allem über die Gefahren einer so genannten Pardocracia in
Venezuela - denn er war immerhin ein ziemlich elitärer Angehöriger der
ehemaligen kolonialen Oberschicht. An Santander schrieb er aus Peru: “La
igualdad legal no es bastante por el espíritu que tiene el pueblo, que quiere que
haya igualdad absoluta, tanto en lo público como en lo doméstico; y después
querrá la pardocracia, que es la inclinación natural y única, para exterminio
después de la clase privilegiada. Esto requiere, digo, grandes medidas, que no me
cansaré de recomendar.”932Als er immer neue Hiobs-Nachrichten über die
politischen Vorgänge in Venezuela und die Widerstände gegen Bogotá erhielt,
schrieb er seine wahre Meinung über sein Vaterland an Santander: „más miedo
tengo a mi querida patria que a toda la América entera. Soy capaz de encargarme
con más facilidad de la dirección de todo el Nuevo Mundo, más bien que de
Venezuela [...] no quiero nada con esos abominables soldados de Boves; con esos
infames aduladores de Morillo; con esos esclavos de Morales y de Calzada. A esos
obedecían y querían esos fieros republicanos que hemos libertado contra su
voluntad, contra sus armas, contra su lengua y contra su pluma.”933 Er stellte
Santander knapp 5000 Mann (danach 3000) in Aussicht, als ejército de reserva
contra las insurreciones (Reserveheer gegen die Insurrektionen), das in Caracas
stationiert werden sollte.934 Im Grunde mußte das eine großkolumbianische
Besatzungsarmee für Venezuela sein. Als guter Machtpolitiker wußte er auch, das
931
Ebd.
Ebd., S. 116. Aus Lima, 7. April 1825.
933
Ebd., S. 128-130. Aus Ocaña, 8. Mai 1825.
934
Ebd., S. 185f. Aus Cuzco, 25. Juli 1825.
932
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dies keine Soldaten aus dem Lande, nicht einmal aus dem ehemaligen NeuGranada sein durften: “alguna tropa que no pertenezca a Venezuela ni a Colombia
tampoco, a fin de evitar cualquier desorden de parte de aquellos hombres de color
[die venezolanischen Truppen bestanden vorwiegend aus Pardos - M.Z.], que no
dejan de tener aspiraciones muy fuertes.”935 Er bezog sich damit auf den Wunsch
vieler Menschen, die Monarchie wieder einzuführen. Bolívar lehnte aber für sich,
trotz der Schwierigkeiten in Bezug auf die Legitimität der Republik, eine
„Bürgerkrone“ mit den Worten ab: „Ni Colombia es Francia, ni yo Napoleón.“936
1826 rebellierte Páez dann offen gegen Santander. In der Historiographie
hat dieser inszenierte Protest den Namen La Cosiata937 erhalten. Die Oligarchien
Venezuelas und die unterschiedlichen politischen Gruppen des Landes hatten ihren
starken Mann gefunden. Páez wurde zur der Galionsfigur der Opposition und zum
Steuermann bei der Wiederherstellung der antigua Venezuela. Die Paecistas
formierten sich. Bereits in den Zeiten des Monarchiebriefes - als er ihn konzipierte
oder eingeflüstert bekam - hatte Páez als Militärkommandant des Departements
Venezuela 1824 versucht, nach den Anweisungen des Alistamiento General
(Allgemeine Aushebung; Aug. 1824) Rekruten für die Truppen Bolívars
auszuheben. Im Laufe des Jahres hatte er dreimal die Einberufungsdekrete
proklamieren lassen, aber keiner kam. Die Militärs, d.h., diejenigen, die in den
Unabhängigkeitskriegen gekämpft hatten, wollten zwar Privilegien in Venezuela,
aber sie wollten als Llaneros nicht nach Südkolumbien, nach Lima oder Oberperu.
Für die jungen Jahrgänge, die im Krieg aufgewachsen war, stellte das Militär kein
erstrebenswertes Ziel dar, zumal sie auch sahen, wie schlecht die einfachen
Soldaten der Unabhängigkeitskriege belohnt worden waren. Keiner wollte Soldat
sein. Im Januar 1826 mußte Páez Militärstreifen durch Caracas patrouillieren
lassen, um neue Soldaten einfach einzufangen. Der Intendant Escalona, der formal
dem Páez übergeordnet war, sah in diesen rigoren Methoden eine Bedrohung der
935
Ebd., S. 211. Brief aus La Paz an J. Hipólito Unanúe vom 2. September 1825.
Ebd., S. 324. Brief vom 6. März 1826 aus Magdalena an Páez.
937
Siehe die Erklärungen über die Herkunft dieser Bezeichnung bei: Díaz Sánchez, Guzmán ..., Bd. I, S. 61f, FN 1.
936
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Zivilgewalt. Páez an der Spitze seiner Truppen ähnelte sehr den vielen Banden und
Caudillos, d.h., den Sozialbanditen, die überall im Lande ihr Unwesen trieben.
Wie es unter Páez bei Rekrutierungen und bei der Disziplinierung der Truppen
zuging, kann man sehr schön bei dem Hannoveraner Söldner Carl Richard
nachlesen.938 Außerdem hatte es schon seit der Etablierung der Doppelherrschaft
zwischen konstitutionellen Intendanten und Militärkommandanten, die ihre
Legitimität aus der gesonderten Kriegsgesetzgebung zogen, Reibereien um die
Ressourcen gegeben939. Der Intendant beschwerte sich bei Santander, der nur auf
eine juristisch abgesicherte Gelegenheit, mit Páez abzurechnen, gewartet hatte. Im
März 1826 wurde im Parlament in Bogotá offiziell Anklage gegen Páez erhoben.
Páez schrieb zunächst nach Bogotá, dass er kommen und sich verantworten wolle.
Er legte den militärischen Oberbefehl im Departement Venezuela nieder. Da kam
es aber zu einem Umschwung in der Stimmung der wichtigsten Gruppen
politischer Akteure aus den alten Oligarchien. Miguel Peñas Rat tat viel dazu.
Fernando Peñalver war mittlerweile Gouverneur der Provinz Carabobo. Als
Kaufmann sprach Peñalver fließend Englisch und Französisch und er besaß eine
Hacienda am Valenciasee (Los Aguacates). Humboldt hatte über ihn gesagt:
„D[on] Fernando Peñalver gebildet wie sein Bruder, ebenso hundemager, aber
größer und sich ein Adonis dünkend, elend eitel, die ersten Tage immer von
Raynal, Encyclopédie, Menschenfreiheit … sprechend. Aber nachher brach die
gemeine Menschennatur durch. Der Portugiese meinte, man solle eine weiße
Republik stiften, zu der Zeit, wo die franz[ösische] Republik, wie nicht zu
zweifeln, die Sklaverei wieder erlaubt hat; … in der weißen Republik giebt man
selbst den freien Mulatten [Pardos – M.Z.] keine Rechte, die Sklaven bedienen
ihre Herren knieend, jene verkaufen die Kinder der letzteren … Das ist die Frucht
ameran[ischer] Aufklärung! Verbannt Eure Encyclo[pédie] und Euren Raynal, ihr
schändlichen Menschen.“940 Peñalver rief die Hacendados in Carabobo auf,
938
Richard, Carl, Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde, neu hrsg. und komm.
von Hans-Joachim König, Leipzig : Brockhaus, 1992 (Americana Eystettensia. Serie C, Texte ; 2).
939
Siehe für 1822: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VIII, S. 370-374.
940
Humboldt, “Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (7.2. – 5.3.1800), in: Humboldt,
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Spenden für die Militärs (unter Páez) zu machen.941 Die Godos, die zunächst Páez
an der Spitze der Milizen mit dem Intendanten verurteilt hatten, stellten sich jetzt
ganz auf Páez’ Seite. Der ganze Vorgang ist als La Cosiata (April-Dezember
1826, mit Folgen bis 1830) in die Geschichte Venezuelas eingegangen.942 Die
Verbindungsnetze der Stadtcabildos traten in Aktion. Am 27. April 1826 erklärte
der besonders konservative Stadtrat (cabildo, Munizipalität) von Valencia auf
Anraten von Miguel Peña, dass Páez das Vertrauen der Bevölkerung und der
Truppen in Venezuela besäße. Die Paecistas (und Antisantanderistas) von
Valencia waren: Francisco Carabaño, Manuel Escurra, José Jacinto Mujica, Pedro
García, Carlos Pérez Calvo, Rafael Vidoza, José María Sierra, Antonio Villanueva
und die Aktivisten Matías Escuté, Mérida und Cala y Arguíndegue. Es geht das
begründete Gerücht, daß beiden letzteren in der Nacht vor der Entscheidung des
Cabildo von Valencia drei Bauern getötet hätten, sie vor die Tür des Ayuntamiento
gelegt hätten und am Tag auf die mangelnde Sicherheit in Venezuela verweisen.943
Die Stadt Nueva Valencia del Rey und ihre Umland, die Ebenen am See
von Valencia und die Täler von Aragua (siehe Karte944), hatte bei ihren knapp
7000 Einwohnern die größte Dichte von Großgrundbesitzern und Hacendados im
Land. Eine paradigmatische Plantagen- und Sklavereilandschaft am See von
Valencia zwischen Meer und Küstengebirgstälern, von Caracas im Osten durch
die fruchtbaren Araguatäler getrennt, Nirgua im Westen und Villa de San Luis de
Cura im Süden, wie sie Humboldt im Februar/März 1800 beschrieben hat.945 Hier
nahm die Regierung des unabhängigen Venezuela 1830 ihren Sitz. Die Tatsache,
daß Valencia der Ursprungsort des unabhängigen Venezuela geworden war, wurde
auf dem Kongreß von 1830 damit anerkannt, dass die Provinz Carabobo gegründet
wurde; unter den Unterzeichneten der Verfassung von 1830 finden sich besonders
Reise durch Venezuela …, S. 185-221, hier S. 208.
941
Restrepo, Historia de la Revolución de la República de Colombia ..., Bd. V, S. 250.
942
Acusación contra el jeneral Páez, Colombia: Imprenta de M.M. Viller Calderón, 1826; “La Cosiata”, in:
Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 872-876.
943
Magallanes, Manuel Vicente, Historia Política de Venezuela, 3 Bde., Caracas: Monte Ávila Editores, 1975, Bd.
I, S. 284.
944
Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 72.
945
Humboldt, “Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (7.2. – 5.3.1800), in: Humboldt,
Reise durch Venezuela …, S. 185-221.
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viele Abgeordnete mit dem Zusatz „Carabobo“. Miguel Peña, der Architekt der
Allianz, wurde nicht von ungefähr Präsident des Kongresses von Valencia. Andere
Munizipalitäten schlossen sich an, erst Maracay, dann Calabozo, schließlich
Caracas.946 In Caracas schlossen sich dem Putsch die Vertreter der wichtigsten
politischen Richtungen, vor allem aber Vertreter der der wichtigsten Familien als
Antibogotaner, Reformisten und Separatisten an: José de Iribarren (Síndico
procurador municipal), José Núñez de Cáceres, Andrés Level de Goda, Pedro
Pablo Díaz, Tomás Lander, Martín Tovar y Ponte, Francisco Ribas und José María
Pelgrón y Pardo y Ruiz (Caracas, 12. Januar 1781 – Caracas: 17. August 1845).
Páez riß den Oberbefehl wieder an sich. Am 16. Mai 1826 wurde er auf Betreiben
der Oligarchien der zentralen Landesteile um Caracas und Valencia zum zivilen
und militärischen Oberhaupt des ganzen antigua Venezuela (will sagen, dem
bourbonischen Venezuela von 1777) akklamiert: „solange wie es die Umstände
erforderten oder bis die Völker Venezuelas mit Sicherheit ihre Vereinigung
verwirklichen könnten, um über die Form der Regierung verhandeln zu können,
die ihrer Situation, ihren Bräuchen und Produktionen angemessener seien.“947
Damit stand ein venezolanischer Putsch, getragen von einer eigentümlichen
Allianz ehemaliger Royalisten, neuer Monarchisten, Patrioten, städtischer
Funktionäre von Caracas und „alter“ Mantuanofamilien, neuer Funktionäre sowie
freier Berufe (vor allem Rechtsanwälte), gegen die konstitutionelle Regierung in
Bogotá.948 Ich will es gerne noch einmal wiederholen: am Beginn der eigentlichen
nationalstaatlichen Entwicklung Venezuelas, engstens verbunden mit einem Verrat
der Eliten an Bolívar (der den „Verrat“ gegen Santander ausnutzen wollte), stand
ein Putsch gegen den Staat Großkolumbien und seine rechtmäßige Regierung. Der
Putsch der Eliten nutzte die Drohung einer Rebellion von Bauern, Llaneros,
Indios, Pardos und städtischen Unterschichten gegen die Ergebnisse des
Unabhängigkeitskrieges.
946
Siehe die Actas der Municipalidad von Valencia und der weiteren Cabildos von Venezuela, in: Páez,
Autobiografía …, Bd. I, S. 313-363.
947
Vega, José de la, La Federación en Colombia (1810-1912), Tesis doctoral, Bogotá 1952, S. 179.
948
Ich folge hier: Masur, Simón Bolívar ..., S. 557-559.
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Páez ging nach Caracas. Dort verpflichtete er sich, die Gesetze Venezuelas
einzuhalten und keine Anweisungen aus Bogotá mehr anzunehmen. Er konnte auf
die Unterstützung des Departements Venezuela und der „Provinz Apure im
Departement Orinoco“ verweisen. Der Apure war eine soziale Pulverkammer;
Páez brauchte das Wort nur zu erwähnen, damit sich alle Eliten darüber klar
waren, dass er mit dem Einsatz der Llaneros vom Apure drohte.949 Restrepo
schrieb zu Recht über die Unterstützer von Páez: “este partido no podía sufrir que
el Ejecutivo de la nación residiera en Bogotá, que Caracas no fuera la capital de un
Estado y que sus miembros no ocupasen los primeros destinos en el Gobierno sin
moverse de su casa”.950
Die Departements Zulia (vor allem die Eliten von Coro von Maracaibo; bei
Trujillo und Mérida sah es schon anders aus), deren alte Eliten immer Gegner der
Zentraloligarchien gewesen waren und der Großteil des Departements Orinoco,
sprich Angostura und Guayana, erklärten ihre Treue zur Verfassung von Cúcuta.
Der Konflikt hatte soziopolitische Dimensionen, auf die wir gleich kommen
werden, aber er hatte auch eine persönliche Dimension. Zwei der prominentesten
Befreier standen sich gegenüber. Sie kannten sich seit fast zwei Jahrzehnten.
Santander wie Páez hatten an Bolívar geschrieben und jeweils dem anderen die
Schuld gegeben. Bolívar aber befand sich in einer komplizierten Lage. Er war
dabei, Peru und Bolivien zu organisieren und die Genüsse des kontinentalen
Sieges auszukosten („in Peru hatten sie alle Verführungen und Annehmlichkeiten
eines Sultanats angenommen“951). Aber die Oligarchien Limas und Oberperus
warteten nur auf den Abzug der bolivarianischen Truppen, die vor allem aus
venezolanischen und neogranadinischen Soldaten bestanden: „Wenn der Befreier
Peru verläßt, wird es in eine schreckliche Unordnung versinken“, schrieb Antonio
José de Sucre, „die Parteien werden sich bald mit Waffen bekämpfen; und wie
Izard, “El polvorín apureño”, S. 97-101.
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XI, S. 134. Es handelt sich bei diesem Dokument um den Bericht von José
María Restrepo vor dem konstitutionellen Kongreß in Bogotá. Restrepo war zu dieser Zeit Staatssekretär im
Innenministerium Kolumbiens. Titel des Berichts “Historial de la revolución de Venezuela orijinada en la rebelión
de Valencia, en abril de 1826”, Ebd., S. 133-157.
951
Masur, Simón Bolívar …, S. 559.
949
950
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kann ich dann Bolivien retten?“952Auch Rafael Urdaneta schrieb aus Maracaibo,
Bolívar möge schnell kommen. Und er deutete ebenfalls an, dass seiner Meinung
nach nur eine Monarchie die neuen Staaten retten könne; Bolívar mußte Peru
nolens volens verlassen. Im September 1826 traf er sich mit Santander in Tocaima;
die beiden Politiker trafen die Vereinbarung, daß Bolívar Páez im Rahmen der
konstitutionellen Ordnung von Cúcuta zur Räson bringen sollte; Santander wollte
dann den Kongreß einberufen und vom Gesetzgeber den Termin für eine neue
Verfassung-Versammlung bestimmen lassen.
Die politischen Elite-Gruppierungen Venezuelas versuchten den sozialen
Zündstoff ganz bewußt gegen die Zentralregierung in Bogotá auszurichten. Dazu
brauchten sie Páez - er war, um das mit einem sehr umstrittenen Konzept des
venezolanischen Soziologen und Historikers Laureano Vallenilla Lanz zu
bezeichnen, der gendarme necesario, den Venezuela seit 1821 in regelmäßigen
Abständen gehabt habe, bis 1958, dem Sturz des Diktators Pérez Jiménez.
Vallenilla Lanz hat sein Konzept des „notwendigen Gendarmen“ (sprich:
„notwendiger Diktator“) seit 1902 an der Figur von José Antonio Páez begonnen
zu entwickeln.953 Der Erste aus den neuen Elite Venezuelas, der das erkannt hatte,
war - kaum verwunderlich wenn wir uns der Worte Humboldts entsinnen Fernando Peñalver bereits 1823.954
Diese soziale Explosivität hatte bald auch die Reste der alten Oligarchie und
die neue Elite des Landes begreifen müssen, die ja selbst mit der verschleierten
Beibehaltung der Sklaverei und dem Unwillen, an Agrarreformen auch nur zu
denken, an diesem Rad gedreht hatte. Páez schien den Eliten zwischen 1825 und
1830 der einzige Caudillo zu sein, der sowohl eine massive Rebellion von unten,
einen Sozial- und Kastenkrieg (wie die Guerra a muerte 1813-1820) wenn nicht
völlig verhindern, so doch vielleicht in genehme Kanäle lenken und unter
Kontrolle halten konnte; die konstitutionellen Maßnahmen, wie Gesetze gegen
952
Restrepo Tirado [et al.] (eds.), Archivo Santander, Bd. XV, S. 106.
Vallenilla Lanz, Laureano, Obras Completas, 3 Bde., Caracas: Universidad Santa María, 1983-1988.
954
Vallenilla Lanz, “El gendarme necesario”, in: Obras Completas ..., Bd. I, S. 79-94, hier S. 80.
953
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Bettler und Vaganten (ley de hurtos 2. Mai 1826) reichten da lange nicht aus,
zumal wenn keine reale Kraft im Lande da war, die sie durchsetzen konnte. Mit
der Allianz zwischen Peña und Páez 1826 hatte sich gezeigt, daß Páez auch für
Godos (und nicht nur für Bolivarianer, wie Carabaño) lenkbar war; es konnte also
die berechtigte Hoffnung bestehen, daß er auch konstruktiv im Sinne des Macht-,
Staats- und Gesellschaftsprojektes der Mantuanos wirken konnte.
Bolívar war auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner fast mythischcharismatischen Stellung zu den einfachen Soldaten zwar in der Lage, Páez
persönlich zu beeinflussen, aber dieser Einfluß verflüchtigte sich, sobald Bolívar
wieder weg war. Die Oberschichten, vor allem die alten Notabelnclans,
brauchten in dieser Situation Páez, den Mann der „die Sprache des Volkes
sprach“, und zugleich ein Symbol sozialen Aufstieg in die Klasse der
Grundbesitzer war. Páez verstand es auch, die unteren Kasten in Bezug auf die
Landfrage zu mobilisieren und zu manipulieren. Die Enttäuschung der unteren
Volksklassen betraf neben den normalen Alltagssorgen und
Wirtschaftsschwierigkeiten sowie den Problemen und Ängsten, die sich für die
Pardo-Bevölkerung aus der ungelösten Frage der Sklaverei (familiäre Nähe zur
Sklaverei) ergab, vor allem das ebenfalls ungelöste Problem des Zugriffs auf
Landeigentum. Rechtlich abgesichertes Landeigentum war die Basis jeglicher
Produktion, familiärer Stabilität und des sozialen Status. Egal, ob Bolívar nun eine
Agrarreform mit seinen Dekreten über die Repartición de bienes vom 10. Oktober
1817955 oder nicht angestrebt hat956 und ebenfalls egal, ob er mehr dem „modernen
Großbesitz“ oder der Aufteilung des Landes in Kleinbesitz anhing, wurde dieses
Problem in den Jahren nach 1821 gegen eine demokratische Verbreiterung des
Landbesitzes gelöst.
Welche soziale Bedeutung die Landfrage hatte, zeigt sich darin, dass Páez
bereits 1816 damit begonnen hatte, „allen [Land]-Besitz, der der Regierung
gehörte“ (das heißt, damals der spanischen Krone) am Apure seinen Anhängern zu
955
956
Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 89-92.
Siehe die Diskussion dieses Problems bei: Izard, El miedo ..., S. 158-163.
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versprechen.957 Als Páez sich mit seinen Llaneros Anfang 1818 Bolívar anschloß,
“no exigió sino la ratificación de aquella oferta”. Bolívar aber habe sie für “muy
justa en su objeto” gehalten, “aunque demasiado extensa é ilimitada”.958 Deshalb
habe er sie 1817 in dem bereits genannten Dekret genauer gefasst (und begrenzt).
Der Kongreß von Angostura bestätigte am 6. Januar 1820959 das Bolívar-Dekret
von 1817 mit einigen substantiellen Änderungen: Die Rechte wurden auf alle
Zivilbeschäftigten auf patriotischer Seite ausgedehnt960 und - die folgenschwerste
Änderung: „El pago de estas asignaciones se hará por el total a la tropa, y por
mitades á la Oficialidad en vales del tesoro Público, que serán admitidos por su
valor nominal en las Almonedas de Bienes Nacionales“.961 Im Grunde eine Art
Ersatzgeld. Damit waren der fraudulenten Spekulation Tür und Tor geöffnet. 1821
kam es zu Protesten wegen der schleppenden Umsetzung der Dekrete durch den
Kongreß von Cúcuta. Páez erhielt in einem Dekret von Januar 1821
Sondervollmachten Bolívars zur Umsetzung des Dekrets, um den Llaneros
„asegurar la subsistencia de sus familias“.962 Nach dem Sieg von Carabobo war es
der Sekretär Bolívars, Pedro Briceño Méndez, der mehrfach auf die Dringlichkeit
der Umsetzung verwies, um soziale Unruhen in den Llanos zu verhindern: “por lo
menos con respecto á la división de Apure y demas del Llano es de forzosa
necesidad esta medida, si se quieren prevenir los desastres ... de los disturbios y
trastornos que turben la tranquilidad pública”.963 Am 28. September 1821
schließlich erließ der Kongreß von Cúcuta ein Gesetz über Haberes Militares.964
Darin wurde bestimmt, dass die Festlegungen des Dekrets von Bolívar vom 10.
Oktober 1817 und des Kongresses von Angostura vom 6. Januar 1820 für alle
diejenigen gelten sollten, die in der Zeit zwischen 1816 und dem 15. Februar 1819
mindestens zwei Jahre gedient hatten und für Ausländer, die vor dem 6. Mai 1820
Brief von Briceño Méndez an Pedro Gual aus Valencia vom 20. Juli 1821, siehe: O’Leary, Documentos, Bd.
XVIII, S. 399-400.
958
Ebd., S. 400.
959
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VII, S. 162-163.
960
Ebd., Art. 8, S. 163.
961
Ebd.
962
Bolívar, Decretos, Bd. I, S. 222f.
963
O’Leary, Documentos ..., Bd. XVIII, S. 400.
964
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. VII, S. 110-112.
957
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nach Venezuela gekommen seien.965 Die Summen reichten vom Gegenwert 20000
Pesos für den General und 500 Pesos für den einfachen Soldaten. Als Fonds für
die Verteilung war Bodenbesitz vorgesehen, der konfisziert worden war und bis
zum Zeitpunkt der Gesetzgeltung noch nicht verteilt war oder tierras baldías (so
genanntes „herrenloses Land“, meist schlechter oder schlecht gelegener Boden).
Im Artikel 14 legte das Gesetz fest: „Se prohibe absolutamente la circulación de
los expresados vales ó billetes contra el tesoro público [Man verbietet absolut die
Zirkulation der genannten Vales oder Billetts gegen den Staatsschatz]“966, aber der
Schaden war schon nicht mehr zu beheben. Auf zwei Arten wurden die einfachen
patriotischen Soldaten um die Früchte dieser Dekrete betrogen. Erstens, da sie
Geld brauchten, durch den Aufkauf der Vales weit unter Nominalwert durch die
höheren Offiziere, wie Páez oder die Monagas selbst. 1825 wies der
venezolanische Senator Andrés M. Briceño darauf hin, dass: “colombianos de
muchas condiciones distintas tomaron parte en el juego de la especulación, y entre
los peores especuladores se encontraban líderes militares como Páez, cuya fortuna
privada se atribuía al agiotage escandaloso con los vales de sus propios soldados y
oficiales.”967 Am Ende des gleichen Jahres machte die Zeitung Indicador del
Orinoco (Cumaná) darauf aufmerksam, dass es zu extrem wenig wirklichen
Verteilungen von Bodenbesitz gekommen sei und daß viele Soldaten ihre Vales
(Bodenlose - Anrechtsscheine) für cuatro reales (vier Groschen) verkauft
hätten.968 Wirtschaftsfachmann José Rafael Revenga schlug 1825 zwar die
Gründung eines Banco de Venezuela in Caracas vor (mit einem Kapital von zwei
Millionen Pesos) – erste Erwähnung des Wortes „Bank“ in der
Wirtschaftsgeschichte des unabhängigen Landes - , aber die Krise der
965
Ebd., S. 110. Wegen des Dekrets vom 24. September 1820, keine neuen höheren ausländischen Offiziere
einzustellen, Ebd., S. 212-213.
966
Ebd., S. 111.
967
Zit bei: Bushnell, El regimen de Santander en la Gran Colombia ..., S. 309.
968
Universidad Central de Venezuela (ed.), Materiales para el estudio de la cuestión agraria en Venezuela …, Bd. I,
1800-1830, Estudio preliminar Carrera Damas, S. 455f.
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Unabhängigkeit und die Ablehnung jeglichen Vorschlags, der aus Bogotá durch
die Oligarchie von Caracas verhinderten das Vorhaben. 969
Zweitens, indem viele Angehörige der Notabeln, der alten Mantuanaje, die
seit 1814/15 offen mit Morillo paktiert hatten und 1820/21 emigriert waren, nach
dem patriotischen Sieg zurückkamen, sich mit Bezug auf ihre Rollen 1810/12 als
„alte“ Patrioten präsentierten und ihre Verbindungen zu den höchsten
republikanischen Politikern ausspielten, damit ihre Besitze nicht konfisziert
würden oder, wenn das schon geschehen sein sollte, ihnen zurückgegeben
wurden.970 Das war bei Bolívar, der persönlich immer sehr generös war, oftmals
nicht schwer. Schlagend hat das Brito Figueroa nachgewiesen, indem er die
Unterzeichner einer royalistischen Ergebenheitsadresse der Oberschichten von
Caracas aus dem Jahre 1819 (manifiesto trilingüe vom 6. April 1819 gegen den
Kongreß von Angostura)971 mit einer Adresse gegen den Decreto de repartición de
bienes protestiert hatten (4 Tage nach Carabobo). Es waren die Gleichen! Ca. 140
Personen, die die Cabildos kontrollierten und damit die einzige wirklich
funktionierende politische Machtinstitution repräsentierten, die effektiv etwa ein
Drittel des nationalen Territoriums - natürlich als Kaleidoscop von Munizipalitäten
- kontrollierten. Sie begannen auch den komplizierten Prozeß der historischen
Verfälschung, indem sie mit dem Mythos von Caracas als cuna de la
independencia (Wiege der Unabhängigkeit) begannen und einige Royalisten, die
sich wirklich um eine Lösung der Probleme ging, wie Andres Level de Goda, zu
Buhmännern aufbauten. Noch 1828 beklagten sich Heereseinheiten über die
Nichterfüllung der Bodenverteilungsgesetze972 und das gesamte 19. Jahrhundert
wurde mit den Forderungen nach wirklicher Bodenverteilung Politik gemacht
(siehe das Bodenverteilungsgesetz der Monagas, 1848).
969
Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela (1830-1940), Caracas: Fondo Editorial Buria; Fondo Editorial
Antonio José de Sucre, 1986, S. 15f.
970
Brito Figueroa, Historia económica ..., Bd. I, S. 219; siehe auch: Troconis Guerrero, Luis, La cuestión agraria en
la historia nacional, Caracas 1962, S. 69-72.
971
Brito Figueroa, Historia económica …, Bd. IV, S. 1351-1359.
972
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XII, S. 131-143.
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Die Zeichen für einen Sozialkrieg von unten mehrten sich. Bereits Ende
1824 hatte es in Petare, einer Ortschaft (damals) in der Nähe von Caracas, einen
Angriff einer „Gruppe von Leuten, etwa 200 Mann, unter denen sich Sklaven der
umliegenden Haciendas befanden“ auf einen Militärposten gegeben.973 Ein
schwarzes royalistischer Guerrillaführer mit Namen Dionisio Cisneros (Páez war
Compadre seines Sohnes974) trieb seit Beginn der zwanziger Jahre sein Unwesen
in der Nähe von Baruta. Dabei spielte durchaus auch eine Rolle, dass 4000 Mann
der royalistischen Truppen, die in Carabobo 1821 oder in Puerto Cabello 1823
besiegt worden waren, ja Menschen aus Venezuela waren, die entlassen worden
waren oder durch Amnestien in die republikanischen Streitkräfte gelangt waren.
Es bestand die Gefahr einer Verbindungsaufnahme zu spanisch-royalistischen
Widerstandgebieten.975 Die neuere Forschung auch von spanischer Seite hat
gezeigt, wie viel Hoffnung in Kuba und Puerto Rico, wo viele Emigranten saßen
(wie José Domingo Díaz), in diese Verbindungen gesetzt wurden zwischen
regulären Truppen (Expeditionen), royalistischen Guerrillas und dem
Sozialprotest, der sich als Protest gegen die republikanische Ordnung als
„Royalismus von unten“ äußerte, denn bei allen Beschränkungen hatten die
königlichen Funktionäre die Unterschichten der Kolonie zumindest theoretisch
gegen die Hacendados geschützt. Santander schrieb einen Brandbrief über die
Gefahr von sozialen Unruhen in Venezuela an den Senat und beschuldigte die
Liberalen, diesen Rebellionen und gar den Feinden von außen mit ihren
Agitationen gegen Bogotá Tür und Tor zu öffnen.976
Kandidat Páez konnte allerdings mit Schlitzohrigkeit und Charisma die
Rebellionen unter Kontrolle halten.977 O’Leary, der von Bolívar aus Peru nach
Venezuela geschickt worden war, schrieb an Santander: „Wenn er [Bolívar] nicht
mit Eile kommt, geht Venezuela verloren, entweder es wird wieder spanisch oder
973
Ebd., Bd. XII, S. 525.
Palacios Herrera, Oscar, Dionisio Cisneros el último realista, Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1989
(Fuentes para la Historia Republicana de Venezuela; 45).
975
Fernández, Delfina, Últimos reductos españoles en América, Madrid: Editorial Mapfre, 1992, S. 292ff.
976
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XII, S. 525-527.
977
Siehe die Art und Weise, wie er das Cisneros gegenüber als „compadre“ machte, indem er sich zum Taufpaten
eines Sohn von diesem machte: Fundación John Boulton (ed.), Política y economía en Venezuela ..., S. 61, FN 53.
974
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es fällt unter die Pardokratie“.978 Auch Restrepo, neugranadinischer Offizier,
Minister und Historiker, schrieb in seiner Zeitgeschichte, der berühmten Historia
de Colombia (die Venezuela einschloss), über die Vorgänge 1826 in Venezuela
und speziell über das Dekret Bolívars979, mit dem dieser im Dezember 1826
persönlich die Macht im Lande übernahm: „Dieses Dekret ... war Folge ... des
Schreckens, von dem Bolívar angesichts eines Bürgerkriegs auf dem
venezolanischen Territorium befallen wurde, der eine mörderische Degeneration
haben könnte, wenn die Kasten aufeinanderträfen, wovon man schon alarmierende
Symptome im Maturín zu sehen begänne.“980
Bolívar war 1826 mit der hehren Idee des kontinentalen Kongresses
beschäftigt (als „Kongreß von Panamá“981 in die Geschichte eingegangen): „In
Panamá wollte Bolívar die wichtigen Angelegenheit der Neuen Welt erörtert, die
übernationalen Gesetze abgefasst wissen, und alle Bemühungen auf die
Verwirklichung eines durch die Anwesenheit aller [amerikanischen Staaten – von
Nord nach Süd – M.Z.] geschmiedeten Ideals gerichtet.“982 Daran zeigt sich, wie
weit sich der Amerikanismus Bolívars von den Realitäten in den neuen Staaten
entfernt hatte.
Ende 1826 ging dann Bolívar auch nach Venezuela, oder besser: nach
Maracaibo. Nicht umsonst machte der Libertador bei seiner Ankunft in Venezuela
das Departament Zulia zu seiner ersten Basis, Urdaneta zum Heereschef und
Salom zu seinem Stellvertreter.983 In Maracaibo herrschte das stärkste Interesse an
Großkolumbien – Maracaibo befand sich im Großstaat in einer Zentrallage. Dann
Pérez Vila, Vida de Daniel Florencio O’Leary, Caracas: Soc. Bolivariana de Venezuela 1957, S. 311.
Restrepo, Historia de la Revolución de la República de Colombia ..., Bd. V, vor allem die Kapitel X und XI, S.
246-365.
980
Ebd., S. 340; siehe auch: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XI, S. 61.
981
Castillero R., Ernesto J. (ed.), Bolívar en Panamá: génesis y realidad del “Pacto Americano”: las Actas
extraviadas del Congreso de Bolívar de 1826, Panamá: Instituto Nacional de Cultura, 1976; an dem Thema haben
sich auch venezolanische Präsidenten versucht: Caldera, Rafael, Pedro Gual, el Congreso de Panamá y la
integración Latinoamericana, Caracas : Ministerio de Relaciones Exteriores, Dirección de Relaciones Culturales,
1983; Díaz Lacayo, Aldo, El Congreso Antifictiónico (Panamá, 22 de junio – 15 de julio de 1826): visión
bolivariana de la América anteriormente española. Prólogo de Montiel Argüello, Alejandro, Managua: Banco
Central de Nicaragua, 2001 (Colección Premio nacional de historia).
982
Salcedo-Bastardo, Simón Bolívar. Ein Kontinent und sein Schicksal, Percha: Verlag R.S. Schulz, 1978, S. 227.
983
Ebd.; die Karte dieser Militäroperation Bolívars fehlt bezeichnenderweise in: Espinosa Goitizolo, Reinaldo [et
al.], Atlas mínimo histórico biográfico y militar Simón Bolívar, La Habana: Editorial Pueblo y Educación; Instituto
Cubano de Geodesía y Carografía, 1988.
978
979
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zog er über Coro und Chichiviriche, um von dort per Schiff nach Puerto Cabello
zu gelangen. Kommandant in Puerto Cabello war Briceño Méndez, quasi
Schwager von Bolívar. Die Lage in Venzuela war weit schlimmer, als er sich
vorgestellt hatte; Páez hatte die Uniform ausgezogen und war wirklich an den
Apure gegangen, wo er die Llaneros zum Kampf gegen „alle Weißen“ aufrief. Die
Militärs spalteten sich (wieder) in kreolische Militärs und Llanero-Führer; die
kreolischen Offiziere auch noch einmal entlang der traditionellen regionalen
Konfliktlinien: Santiago Mariño hatte sich in sein heimatliches Maturín begeben
und kämpfte dort gegen seinen Lieblingsfeind José Francisco Bermúdez (der 1817
Piar ausgeliefert hatte). Das heißt, vor dem Hintergrund einer von Bolívar lange
befürchteten guerra de los colores (Rassenkrieg) kämpften Libertadores
untereinander – der worst case im Bolívars Zukunftsszenarium für Kolumbien.
Konflikte im Anfang austreten war die Devise. Die auf Charisma basierte Taktik
Bolívars ging zunächst auf; er stellte sich als Außenstehenden dar, der für die
Probleme zwischen Venezuela und Caracas nicht verantwortlich gemacht werden
könne. Daran seien die Juristen und Bürokraten in Bogotá schuld.
Die Route, die er nahm, um mit Páez zusammenzutreffen - alles Städte bzw.
Festungen, die sich Páez am längsten widersetzt hatten und die Kampftruppen, die
er mitführte, waren eine erhebliche Drohung; aber Bolívar bot auch Allianz und
Amnestie an: „Conmigo ha vencido Ud.; conmigo ha tenido Ud. gloria y fortuna; y
conmigo debe esperarlo todo“ (Mit mir haben Sie Ruhm und Fortune gehabt; und
mit mir können Sie auf alles hoffen).984 Und in einzigartiger Vertrautheit schrieb
er, tief aus dem Fundus charismatischer Herrschaft: “Voy a dar a Ud. un bofetón
en la cara yéndome yo mismo a Valencia a abrazar a Ud.”.985 Und er versprach die
Verfassung zu ändern: “Yo ofrezco convocar al pueblo para que determine lo que
quiera y haga cuanto alcance su poder”.986 Er stellte Páez, den er wohl gerne als
eine Art revolutionären Eroberer aus dem Land haben wollte, wieder und wieder
984
Bolívar, OC, Bd. II, S. 504f.
Ebd. S. 519.
986
Ebd., S. 518f.
985
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eine Expedition nach Kuba und Puerto Rico in Aussicht; verwarf aber später diese
Pläne – “weil es so viele Neger auf Kuba” gab.987
Aufgrund seiner besonderen Vollmachten übernahm Bolívar die Regierung
in Venezuela und spaltete dieses damit selbst von einheitlich gedachten und von
Santander de jure auch immer so behandelten Rechtsbereich „Kolumbien“ (GroßKolumbien) ab. Er hatte aber begriffen, dass er als Angehöriger der alten
Oligarchie im Lande nicht lange würde regieren können – Páez hatte sich in der
Kandidatenaufstellung für die direkte Machtausübung durchgesetzt. Bolívar traf
deshalb für Venezuela (und auch für Ekuador) Sonderregelungen und verlieh den
venezolanischen Putschisten in der Amnestieakte vom 1. Januar 1827 mit der
Ernennung von Páez (und Flores in Ekuador) zu jefes superiores (Obersten Chefs)
eine Quasi-Selbständigkeit.988 Aber nicht nur das, er setzte auch Mariño, der bisher
überall, nur nicht in „seiner“ Region, dem Maturín, Staatfunktionär gewesen war,
als Intendant und Comandante General (Zivil- und Militärgewalt!) im Maturín ein
– durch die Anerkennung verschiedener Chefs in unterschiedlichen Regionen, die
sich zum Teil spinnefeind waren, hoffte Bolívar Páez besser kontrollieren zu
können.989 Im Grunde eine Anerkennung der Caudillos. Insgesamt, auf
großkolumbianischer Ebene, stellte er damit allerdings das bisherige und immer
noch von Santander, dem „Paladin der Verfassung (von Cúcuta)990 repräsentierte
Verhältnis von zentraler und regionaler Autorität und Machtverteilung
gewissermaßen auf den Kopf991 und nutzte das neue System regionaler Chefs, um
Druck auf Santander auszuüben. Santander wiederum lehnte einerseits den
übergeordneten kontinentalen Föderalismus Bolívars, besonders aber die
Verfassung von Bolivien und den Kongress von Panamá ab. Bolívar war auf dem
Wege nach Bogotá von Transparenten mit den Aufschriften „Es lebe die
Páez, „Cuba“, in: Páez, Autobiografía …, Bd. I, S. 377-405; Bolívar, Cartas de Bolívar, Bd. IV, S. 227 und 335;
Key Ayala, Santiago, Por que Bolívar no libertó a Cuba, Caracas: Sociedad Bolivariana de Venezuela, 1950. Der
„Befreier“ fürchtete ein „neues Haiti“ auf Kuba, siehe auch: Pérez Guzmán, Francisco, Bolívar y la independencia
de Cuba, La Habana: Editorial Letras Cubanas, 1988.
988
König, Auf dem Wege ..., S. 242.
989
Magallanes, Historia Política de Venezuela ..., Bd. I, S. 282.
990
Masur, Simón Bolívar ..., S. 561.
991
Ebd.
987
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Verfassung von Cúcuta“ empfangen worden. Andererseits wollte sich Santander,
da Páez trotz seiner Rebellion faktisch belohnt worden war, auch nicht als der
hinstellen lassen, an dem jetzt die Schuld für die verfahrene Lage hängenblieb.
Der Konflikt, auch der persönliche zwischen ihm und Santander konnte
nicht ausbleiben992, zumal Santander Bolívar bereits 1826 geschrieben hatte, er
möge sich bei seiner Rückkehr nicht um die Regierungsgeschäfte, d.h., um die
Vorgänge in Bogotá, kümmern, sondern mit dem Heer nach Venezuela gehen, und
dort für Ordnung sorgen.993 Bolívar sollte also de facto als beauftragter General
der Regierung in Bogotá den Bürgerkrieg in Venezuela führen. Bolívar aber war
kein Lecquerc. Er hatte schon lange seine Meinung kundgetan, daß er die
Verfassung von Cúcuta für reformbedürftig hielt und dass die bestehenden
Gesetze nicht ausreichten, um der Rebellion von Páez beizukommen.994 Außerdem
wollte er „seine“, die kontinental gedachte Verfassung von Bolivien auch in
Kolumbien einführen und dann aus den von ihm befreiten Staaten eine
Andenkonföderation bilden. Die tieferen und, wenn man so will, politischkulturellen Ursachen der venezolanischen Rebellion waren, neben den schon
genannten infrastrukturellen Gründen, sozialer und politischer Art. Bolívar erliess
nicht umsonst am 28. Juni 1827 in Caracas das Dekret über die Effizienz der
Manumission.995 Dazu kam, dass der von den Liberalen mit dem Freihandel
erwartete, ja in Art einer modernen Religion herbeigebete, Wirtschaftsaufstieg
nicht sofort eintrat. Wirtschaftskrise und Angst vor einer neuen guerra a muerte
der enttäuschten Unterschichten und speziell der einfachen Soldaten des
Unabhängigkeitskrieges in Venezuela potenzierten sich gegenseitig. Die Soldaten
waren fast alles Pardos aus den Llanos. Die Verringerung der Stellen der
Veteranen-Truppen, vor allem der unteren Dienstgrade des Heeres und die
Erbitterung der einfachen Soldaten über ihr Leerausgehen in den Repartos de
Bushnell, “Santanderismo y Bolivarismo: dos matices en pugna”, in: Desarrollo económico Vol. 8, Nr. 30/31
(1968), S. 243-261; Bushnell, “El comienzo del fin de la unión”, in: Bushnell, Colombia. Una nación a pesar de si
misma. De los tiempos precolombinos a nuestros días, Santafé de Bogotá: Planeta Colombiana Editorial S.A., 1996,
S. 96-103.
993
Cartas de Santander ..., Bd. II, S. 258f.
994
Masur, Simón Bolívar ..., S. 561.
995
Bolívar, Decretos, Bd. II, S. 345-352.
992
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Bienes verschafften Páez sogar eine noch stabilere Basis, denn der Zorn der
Soldaten richtete sich nicht gegen ihn, sondern „die Neugranadiner“ (quasi eine
konstruierte „Fremden“-Frage) im fernen Bogotá. Die entlassenen Veteranen, von
denen einige zwanzig Jahre im und vom Krieg gelebt hatten (und nicht nur auf
patriotischer Seite), hatten ihre Waffen behalten, ihre Erfahrungen sowieso, und
bildeten Banden von Sozialbanditen. Gegen Bogotá und Santander richtete sich
der Zorn der einfachen Menschen, wenn entweder die regulären, d.h., auch regulär
bezahlten Veteranentruppen abgebaut, oder wenn neue und schlecht bezahlte
Bisoño Kampf-Truppen für den Krieg Bolívars im fernen Süden ausgehoben
worden waren.
Die Gefahr eines Sozial- und Kastenkrieges, den die Vorgänge von La
Cosiata drohten, in einen Bürgerkrieg Venezuelas unter der Führung von Páez
gegen Bogotá zu kanalisieren, bewog Bolívar, Páez de facto in seiner Stellung zu
bestätigen und eine Neuregelung der Verfassung in einer gran convención (großer
Konvent) zu verprechen. Der Gesamtkomplex, die Gefahr einer solchen neuen
Guerra a muerte auf der Basis der ungelösten Land- und Sklavenfrage war
möglicherweise der eigentliche Hintergrund der aufgeregten Reaktionen in den
Monaten von La Cosiata und dem schnellen Umschwung in der politischen
Haltung der Oligarchien des Zentrums, vor allem der von Caracas, vom
anfänglichen Widerstand gegen die Rekrutierungen und vom Beifall über die
Anklage gegenüber Páez zur Unterstützung seiner Person als Oberbefehlshaber.
Die Gefahr einer guerra de razas y colores (Krieg der Rassen und Farben)
war ganz sicher der Hintergrund für die Haltung Bolívars gegenüber Páez 1827;
aber Bolívar verfolgte - wie gesagt - auch das Ziel, Santanders mittlerweilen starke
Stellung in Bogotá auszuhebeln und ihn sowie den Kongreß in Bogotá zur
Annahme seiner neuen Verfassung zu zwingen. Verfassungsgeschichtlich gesehen
ab es im nachkolonialen Kolumbien keine genügend starke Gruppe der Eliten, die
einen Verfassungtext als gültiges Grundgesetz durchsetzen konnte.
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All das machte die Situation in Kolumbien immer instabiler und explosiver;
auch wenn Venezuela zunächst befriedet schien. Es wurde nach Ventilen gesucht.
Bolívar konnte - mit einem massiven Miltäraufgebot im Rücken - um den Preis
des Bruches der Verfassung von Cúcuta und damit des Bruches mit Santander
Páez zu Ruhe bringen. Das bedeutete zugleich den Bruch mit den intellektuellen
Liberalen, den Constitucionalistas in Bogotá und anderswo. All das stärkte
wiederum die Stellung von Páez. Aber auch der „Löwe der Llanos“ wußte, daß er
Berater brauchte; er konnte ja nicht einmal lesen und schreiben. Er wußte auch,
dass er nach dem Prinzip „teile deine Konkurrenten und herrsche“ Verbündete
gegen Mitkonkurrenten im Protagonismo militar suchen musste. Helden hatte
Venezuela viele. Innerhalb des Protagonismo militar gab es nämlich weitere
individuelle Attraktionszentren. Jeder General mit Machtambitionen das Zentrum
einer Machtallianz. Keine Gruppe politischer Akteure war stark genug, allein zu
herrschen. Der fuchsschlaue Páez hat diese Schwachstelle der Macht in Venezuela
mit ziemlichem Realismus erkannt und von 1826 bis 1846 nutzen können. Der
wichtigste Karrieremilitär und Kandidat für hohe Positionen unter den Próceres in
Venezuela war zweifelsohne Carlos Soublette, der Adjutant schon von Miranda
gewesen, dann zu Bolívar und schließlich in eine Position hinter Páez
übergewechselt war. Er hatte Bolívar bis 1821 loyal als Generalsstabschef gedient.
Aber Soublette stammte aus einer Mantuano-Familie. Er war kein Caudillo,
sondern eher profesioneller Militär. Auch hatte er niemals als kommandierender
General eigene Schlachten geschlagen; er war er der Typ des
Generalsstabsoffiziers. Das Charisma in der Führung einfacher Menschen konnte
er sich nie erwerben. Für die Massen, für das „Pardo-Volk“ Venezuelas war er
nicht populistisch genug; „Geiz und Spielschulden sollen sein hervorstechendes
Merkmal gewesen sein“. Er vertrat innerhalb des Militarismo durchaus die elitären
Vorstellungen der konservativen Zivilisten aus der alten Mantuanoelite. Ähnliches
galt für Bartolomé Salom (Puerto Cabello, 24. August 1780 – Puerto Cabello, 30.
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Oktober 1863)996, der in noch höherem Maße Karrieremilitär, um nicht zu sagen
Kommißkopp, war. Noch höheres Prestige, vor allem als Politiker und
überregionale Führungsfigur, besaß Santiago Mariño vor allem im Osten, im
Pariagebiet und im Maturín. Mariño hatte allerdings den Makel, mehrfach gegen
Bolívar opponiert zu haben und als unsicherer Kandidat zu gelten. Als Militär und
Caudillo war Mariño zweifelsohne eine eigenständige Figur, allerdings besaß er
nicht den Vorteil, wie Soublette, auch die Unterstützung der alten
Mantuanooligarchie von Caracas zu genießen.997 Gleiches galt für Rafael Urdaneta
(der 1824 bis 1827 Intendant des Departements Zulia und sehr treuer Bolivariano
war) und José Francisco Bermúdez (der in Cumaná die Intendanz und die
Kommandantur für das Departement Orinoco ausübte) und seit 1817 erbitterter
Gegner von Mariño war. Von eher lokalem Einfluss im Oriente, allerdings sehr
volkstümlich, waren die Caudillos Monagas. Urdaneta hatte sich 1824 bis 1827
ganz in seine Heimatstadt Maracaibo zurückgezogen und bezog dort zwar klare
bolivarianische Positionen, hegte aber durchaus auch ein Interesse an
monarchischen Lösungen und pflegte sein eigenes Netz, die so genannten
campesinos (Bauern), Hacendados und Notabeln aus Maracaibo, die sich nach
dem Yorkschen Freimaurerritus zusammengeschlossen hatten.
Gegen diese Kandidaten, vor allem weil er den größten Einfluß unter den
der sozialen Gruppe der Pardos und unter den einfachen Veteranen hatte und auch
auch vor der Drohung mit einer neuen Guerra a Muerte nicht zurückschreckte,
aber auch, weil er sein Lager mit Soublette verbündete, konnte sich Páez jedenfalls
als Achse einer Allianz durchsetzen. Das mußte Bolívar, der ja auf beklemmende
Weise Utopist, Visionär und Realist war, in seinen Abmachungen mit Páez
anerkennen. Somit kamen aus diesem Protagonismo militar auch wenn Páez
selbst nicht formal oberster Anführer oder Präsident war, von 1830, eigentlich
996
González Antías, Antonio, Archivo del general Bartolomé Salom, Caracas: Academia Nacional de la Historia,
1981.
997
Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 42f.
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schon von 1826 an, bis 1858, das im Vordergrund wirkende Führungspersonal
im Lande (Präsidenten).
Wichtigstes Ventil für die Lösung all der Probleme, im Nachhinein leicht
als „liberale Illusion“998 zu denunzieren, sollte 1828 schließlich die so genannte
Konvention von Ocaña sein. Bolívar versuchte, die widerstreitenden politischen
Interessen auszugleichen und eine Reform der Verfassung von Cúcuta
auszuhandeln. Das gelang nicht. Die Convención de Ocaña, der
verfassungsgebende Kongreß, der die Verfassung reformieren sollte, trat am 9.
April 1828 zusammen. Bolívar versuchte die Abgeordneten aus allen Teilen des
Landes zur Annahme der von ihm ausgearbeiteten Verfassung von Bolivien999 zu
bewegen. Aber die Fraktion der Constitucionalistas, die vorgaben, die Verfassung
von Cúcuta zu verteidigen, aber vor allem die Annahme der Verfassung von
Bolivien verhindern wollten, war zu stark.
Die beiden Gruppierungen auf der Konvention waren Bolivarianos und
Anti-Bolivarianos oder constitucionalistas. Der Führer der Constitucionalistas
wurde Francisco de Paula Santander. Santander war selbst Deputierter. Deshalb
wurden die Mitglieder der antibolivarianische Partei auch santanderistas genannt,
hinter ihm sammelten sich in schnellen Umorientierungen der politischen Kräfte
jetzt alle Föderalisten. 1828 standen sich, allerdings mit unterschiedlichen
Zielstellungen Santander und Páez sowie die Gruppen hinter ihnen, auf einmal
wieder viel näher als jemals vor 1828.1000 Bolívar selbst trat auf dem Kongreß
nicht persönlich auf. Die Bolivarianos verließen schließlich die Konvention, da
keine Einigung zustande gekommen war; in dieser Zeit entstand, heute würden wir
sagen, das lange schriftliche Interview von Louis Peru de Lacroix mit Bolívar,
bekannt als Diario de Bucaramanga.1001 Die Parteiung Santanders ist zu Recht
998
Gartz, Joachim, Liberale Illusionen : Unabhängigkeit und republikanischer Staatsbildungsprozess im nördlichen
Südamerika unter Simón Bolívar im Spiegel der deutschen Publizistik des Vormärz, Frankfurt am Main [etc.]: P.
Lang, 1998.
999
Trigo, Ciro Félix, Las constituciones de Bolivia, Madrid 1958, S. 177-199; Deutsch siehe: König (ed.), Simón
Bolívar, Reden und Schriften ..., S. 97-107.
1000
Magallanes, Historia Política de Venezuela ..., Bd. I, S. 288.
1001
Lacroix, Luis Peru de, Diario de Bucaramanga. Vida pública y privada del Libertador Simón Bolívar, Medellín:
Editorial Bedout S.A., 1980.
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von Indalecio Liévano Aguirre esencialmente oligárquica (im Wesentlichen
oligarchisch)1002 genannt worden. Aber das war aber auch, sieht man die soziale
Herkunft, ein allgemeines Merkmal der Fraktion der Bolivarianos. Was also waren
konkrete Unterschiede der beiden Gruppen politischer Akteure? Im Sinne des
Spruchs „das Medium ist die Botschaft“ war es zunächst die Tatsache, dass sie
eben unterschiedliche Gruppen von Anhängern und Klienteln großer
Persönlichkeiten bildeten; so wie heute noch viele politische Systeme, vor allem in
Lateinamerika eben funktionieren. Die Bolivarianos waren, so schreibt
Magallanes: los amigos del Libertador (die Freunde des Befreiers) - als Präsident
hatte er viele dieser Amigos - , die Mehrheit der venezolanischen Chefs und
Offiziere, die Anhänger einer starken, zentralistischen Regierung und eines
„großen Vaterlandes“ mit einem großen und ruhmreichen Heer sowie die
Ausländer im Dienste der Republik. Und alle waren vor allem Antisanderistas –
eben Feinde, oft sehr persönliche Feinde Santanders.1003
Gleiches kann, mit Ausnahme der Anhänger der zentralistischen Regierung
und der Ausländer, die wirklich von Bolívar abhingen, auch für die Paecistas
gelten, die aber wegen ihrer regionalistischen Machtambitionen in Ocaña
mehrheitlich Anhänger der Constitucionalistas waren. In Bezug auf die Paecistas
hatte sich offensichtlich auch Bolívar in seinem taktischen Kalkül getäuscht, denn
er hoffte die Anhänger von Páez auf seiner Seite.
Die Parteiungen oder Personennetze unterschied vor allem ihre regionale
Verwurzelung, die oft in der gleichen soziale Position und gleiches Kerninteressen
bestehen konnte. Aber die Mittel der Zentrale waren begrenzt. Da sich die
regionale Verwurzelung, auch wenn sie auf gleicher sozialer Grundlage beruhte;
zwei Kandidaten etwa Angehörige der landbesitzenden kreolischen Oligarchie
waren und, legt man den Klassenbegriff an, Angehörige der gleichen sozialen
Klasse waren, aber mit einem regionalen, eben nur auf ihre konkrete Stadt oder
Liévano Aguirre, Indalecio, “Razones socioeconómicas de la conspiración de septiembre contra el Libertador”,
in: Revista de la Universidad de los Andes, año II, No. 2 (1973), S. 42-89.
1003
Magallanes, Historia Política de Venezuela …, Bd. I, S. 286.
1002
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Region bezogenen Realität, Stil und Mentalität bezog und die Politik eben von
Gruppen von Akteuren aus eben dieser Region betrieben wurde, spielten
Regionalismus als Föderalismus eine so wichtige Rolle und wurden Fragen des
Föderalismus so erbittert ausgekämpft. Die wichtigste Bedeutung hatte dabei
kaum eine eigene geschlossene konstitutionelle Vorstellung (theoretisch und
doktinär waren insofern fast alles Liberale), sondern das Netz einer Gruppe
regional verwurzelter Akteure, mit einem Hauptakteur (ein Politiker, ein General),
die durch Verwandtschaft, Compadrazgo - rituelle, gewählte Verwandschaft -,
Klientelwesen, gemeinsamen Interessen miteinander verbunden waren; der erste
Ansprechpunkt aber war fast immer die gemeinsame Herkunft; diese Netze von
Akteuren gruppierten sich Allianzen von Familienclans, mit traditioneller Heirats-,
Verwandtschafts- und Erbschaftspolitik. Sie definierten sich fast immer durch die
Feindschaft zu einem anderen Netz von politischen Akteuren, das das gleiche Ziel,
die gleiche Ideologie, das gleiche Imaginarium, Sprache und Lebensstil haben
konnte.
Die letzte Diktatur Bolívars
Kolumbien hatte nach dem Scheitern des Verfassungskongresses von Ocaña
faktisch keine gültige Verfassung mehr. Bolívar, der seit seiner Rückkehr und seit
dem Konflikt Páez-Santander vom Freund zum erbitterten Feind Santanders
geworden war, griff zu einem letzten Mittel, dem der „konstitutionellen Diktatur“.
Die Gründe für die Entzweiung lagen aber tiefer: es war die unterschiedliche
Haltung, von liberalen Grundlagen ausgehend, zum Volk und zur Verfassung von
Bolivien.1004 Wäre diese Verfassung zur konstitutionellen Basis des Staates
geworden, hätte Bolívar auf Lebenszeit die Präsidentschaft eingenommen. Es hätte
1004
Santander selbst hat in seinen Schriften die Constitución Boliviana als die wahre manzana de discordia (Apfel
der Zwietracht) genannt, siehe: Forero, Manuel José (comp.), Santander en sus escritos, Bogotá 1944, S. 83. Auch
erzürnte Santander die Kritik Bolívars an dem von ihm aufgenommenen Kredit von 1824 und dessen Verteilung,
siehe: Liévano Aguirre, “Razones socioeconómicas de la conspiración de septiembre contra el Libertador”, S. 4289, hier S. 33-34.
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ihm das Recht zu gestanden, seinen Vize und seinen Nachfolger auszuwählen.
Damit wäre die Zentralgewalt mit den größten Pfründen aus dem Zugriff der
verschiedenen föderalen Gruppen politischer Akteure entzogen worden. Santander
wurde von Bolívar als Botschafter in den USA faktisch ins Exil geschickt, erbat
sich aber Aufschub und bereitete das Attentat auf Bolívar vor (25. September
1828). Bolívar konnte nur mit Hilfe seiner Geliebten, Manuela Sáenz, dem von
einem Venezolaner, Pedro Carujo, geführten Dolch entkommen.1005 Selbst ein
Miguel Peña sagte von Carujo: “ese hombre, cuyo nombre no pronuncio por temor
de equivocarme [ dieser Mann, dessen Namen ich nicht ausspreche aus Furcht,
mich zu versprechen; M.Z.: weil Carujo leicht wie carajo klingt; damals ein
ziemlich starker Fluch].”1006
Bolívar erließ ein Decreto organíco (27. August 1828), als „legale
Grundlage“ (das heisst, ein Ermächtigungsdekret) der Diktatur und berief am
Weihnachtsabend 1828 einen Congreso Constituyente nach Bogotá ein, der am 2.
Januar 1830 beginnen sollte. Bis dahin regierte Bolívar ohne Kongreß (ohne
Legislative), beraten durch einen Staatsrat. Die Intendanturen und die
Munizipalitäten wurden abgeschafft und das Land in quasi-militärische
Präfekturen unterteilt; die Exekutive behielt sich das Recht vor, alle Beamten einund abzusetzen. All das hätten die Liberalen, die Bolívar nun offen als Jakobiner
zu bezeichnen begann, ertragen können. Bolívar als Stabilitätspolitiker
verwandelte sich in einen Politiker, der konservieren wollte (Ergebnisse seiner
Siege, Verfassung von Bolivien) und den Staat als wichtigen Wirtschaftsfaktor sah
(Wirtschaftsminister José Rafael Revenga (1786-1852)). Der diktatorische
Präsident hob auch die Pressefreiheit auf und verbot die Geheimgesellschaften der
Freimaurer sowohl nach schottischem wie nach yorkschem Ritus und ließ sie
verfolgen. Der Artikel 25 des decreto orgánico gab zudem der Kirche ihre alte
Macht zurück; in dem Artikel hieß es “el Gobierno sostendrá y protegerá la
Murray, Pamela, “’Loca’ or ‘Libertadora’?: Manuela Sáenz in the Eyes of History and Historians, 1900-c.
1990”, in: Journal of Latin American Studies, vol. 33:2 (May 2001), S. 291-310.
1006
Zit. nach: Lacroix, Diario de Bucaramanga …, S. 7 (Einleitung von Cornelio Hispano).
1005
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religión católica, apostólica y romana como la religión de los colombianos.”1007
Damit brachte er die liberalen Intellektuellen und Theoretiker gegen sich auf. Der
späte Bolívar stützte sich auch auf Bajonette und Altäre. 1828 kam es in Peru und
Bolivien zu Aufständen gegen „die Kolumbianer“ und Präsident Sucre, bei denen
die Eliten die Fäden zogen. 1829 schließlich brach ein Krieg zwischen Peru und
Kolumbien aus, den Bolívar und Sucre gewinnen konnten. Als aber Sucre, der
Kronprinz, am 4. Juni 1830 auf dem Wege von Peru nach Kolumbien ermordet
wurde, gab Bolívar auf; er stirbt am 17. Dezember 1830 (Tuberkulose und
Amöbenruhr) in San Pedro Alejandrino in der Nähe von Santa Marta auf dem
Weg ins Exil (in Frankreich hatte eben die Julirevolution 1830 gesiegt)1008; von
den alten Waffengefährten ist Mariano Montilla an seinem Totenbett.
Diese letzte Diktatur Bolívars (the last dictatorship) hielt nicht einmal zwei
Jahre, dann brach Großkolumbien vor allem auf Betreiben der regionalen MachtGruppierungen um die Gründerväter Juan José Flores (Ekuador) und José Antonio
Páez - beides Unterschichten-Venezolaner - auseinander. Letztere hatten ja
faktisch schon die Macht in ihren Großregionen, in Bogotá war die Lage
komplizierter. Es erhoben sich aber allenthalben lokal-sezessionistische
Bestrebungen unter ambitionierten Generalen, Diadochen mit großen patriotischen
Meriten, wie José María Córdoba in Antioquía.
Ende 1829, genau am 23. November, trafen sich in Valencia sowie am 24.,
25. und 26. November, in der Kirche San Francisco de Caracas, die wichtigsten
Notabeln der alten Oligarchie in einer euphemistisch asamblea popular
(Volksversammlung) genannten Versammlung trafen und beschlossen,
Großkolumbien den Todesstoß versetzen.1009 Sie nutzten dabei die für den neuen
Congreso Constituyente (konstituierender Kongreß) angesetzten Wahlen, um
einen eigenen Kongreß für das historische Venezuela ins Auge zu fassen.
1007
Las constituciones de Venezuela ..., S. 30f.
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 187 (Dok. 4472).
1009
Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 354ff.
1008
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Die Gründe für das Scheitern waren wirtschaftlicher und struktureller; die
konkreten Formen, in denen der Zusammenbruch vonstatten ging waren
politischer und konstitutioneller Art, auch Mentalitäten und persönliche
Animositäten spielten ihr irrisierendes Spiel. Diese Sachzwänge setzten sich über
die politischen Interessen von Eliten um, oder wie es einer der Mantuanos
ausdrückte: „Las cuestiones económicas están hoy íntimamente ligadas a las
cuestiones políticas y morales“.1010
Als der Cabildo von Valencia die Gründe für das Scheitern des Großstaates
1829 darlegte, hoben die Munizipalitäten genau auf die Unterschiede zwischen
den Großregionen und die Gesetze ab, die diesen Unterschieden nicht Rechnung
trugen: “Venezuela no debe continuar unida a la Nueva Granada y Quito, porque
las leyes que convienen a aquellos territorios, no son a próposito para éste,
enteramente distinto por costumbres, clima y producciones; y porque en la grande
extensión pierden la fuerza y energía, como lo ha comprobado la experiencia de la
administración pasada, durante la cual ha sido necesario que el Gobierno delegue
frecuentemente sus facultades, y que los Jefes gobiernen por medios
extraordinarios y conforme a las circunstancias”.1011 Aber deutlicher als jeder
Verweis auf Strukturen war Carlos Soublette, als er José Tadeo Monagas 1829
aufforderte, sich der Separation anzuschließen: er wies einfach darauf hin, dass es
sich um eine „Revolution“ der Plantagen- und Sklavereiprovinzen Carabobo und
Caracas handelte.1012
Wenn man dem britischen Admiral Cochrane Glauben schenken darf, war
das Alltagsleben in den Städten Kolumbiens besonders spannend; er schrieb:
„Polizeikommissare, welche auf die Reinigung der Straßen zu sehen haben, gibt es
vier: der Regen, das Schwein, der Geier und der Esel“. Und über das Leben der
Oberschichten urteilte er recht drastisch: „Der alltägliche Lauf des Familienlebens
1010
Toro, Fermín, Reflexiones sobre la ley del 10 de abril de 1834, Caracas, Imprenta de Valentín Espinal 1845
(Caracas: Ministerio de Educación Nacional, Diressión de Cultura, 1957).
1011
Acta del Cantón de Valencia, 23 de noviembre de 1829, in: Gil Fortoul, José, Historia Constitucional de
Venezuela, 3 Bde., Caracas: Ministerio de Educación, 1953-1954, Bd. I, S. 677.
1012
Carlos Soublette aus Caracas, 18. Dezember 1829, in: Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 43 (Dok.
4393).
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dreht sich um Messen und Siesta, Chocolade und Cigarrenrauch, Liebesintriguen
und Klatschereien“.1013 Der britische Konsul Ker Porter hatte in ähnlichem Tenor
über seinen ersten Eindruck von Caracas geschrieben: „Der erste Eindruck der
Stadt ist striking, aber ich muss noch sagen, er enttäuschte mich. Wie [schon] aus
der Entfernung klar wurde, was für ein Ruin, Desolation und Abwesenheit von
jedwelchem Komfort oder Hoffnungen auf [gute] Gesellschaft.“1014 Der
Dominikaner (aus Santo Domingo) Don Pedro Núñez de Cáceres, der aus Santo
Domingo wegen der Invasion der Haitianer geflohen war, hat in einer
Beschreibung von Venezuela die Sitten der Postindependencia-Zeit hinterlassen.
Die Beschreibung, die zweifellos von einem Pessimisten stammt, dürfte aber
trotzdem in Vielem für das ganze 19. und 20. Jahrhundert gelten. Über das
Trinkwasser schreibt er: “Das Wasser in Caracas ist frisch, leicht und sehr gut;
aber es ist zu wenig da, denn es ist schlecht verwaltet”.1015 Das Essen, schreibt
Don Pedro, “ist eine der schlechtesten Sachen in Caracas 1016 […] das
schädlichste und zu gleicher Zeit widerlichste Nahrungsmittel ist cochino
[Schwein1017]: man kann es nur mit dem pescado [Fisch] vergleichen, der aus La
Guaira kommt am Tag nachdem er aus dem Meer geholt worden und deshalb
schon angegangen ist, wenn man ihn nicht salzt. […] Was am meisten da ist, ist
Mais, von dem man die Arepas macht, die der Pöbel gemeinhin Brot nennt, und
es ist das unentbehrliche Nahrungsmittel in Venezuela, wie auch die caraotas
[schwarze Bohnen, frijoles negros], eine Art schwarzer habas [Bohnen] ohne
die man in Caracas nicht leben kann. […] Die frisch gekochten Arepas sind gut,
mit Butter oder Käse sind sie ziemlich passabel. Die Caraotas werden gut oder
schlecht durch das Gewürz, das man ihnen zusetzt; aber sie dürfen in keinem
1013
Journal of a Residence in Columbia, During the Years 1823 and 1824, by Captain Charles Stuart Cochrane, 2
Bde., London 1825, Bd. II, S. 826. Neue Ausgabe einfügen.
1014
Dupouy (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842 ..., 1966, S. 27; siehe auch: Díaz Sánchez,
Ramón, “Extranjeros en Venezuela”, in: Picón-Salas ; Mijares, Augusto; Díaz-Sánchez; Arcila Farias ; Liscano,
Juan (eds.), Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio Mendoza, 1962, S. 226-229, hier S.
226.
1015
Núñez de Cáceres, Pedro, “Memoria sobre Venezuela y Caracas por Pedro Núñez de Cáceres” (1823), in:
BANH, Nr. 85, Caracas (Enero-Marzo de 1939), S. 133-162, hier S. 145.
1016
Ebd., S. 148.
1017
Das führt Núñez de Cáceres vor allem darauf zurück, dass dem Futter der Schweine immer das Wasser, in dem
der Mais gewaschen wird (agua de maiz) beigesetzt wird, siehe Ebd., S. 149.
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Haus fehlen: die Reichen benutzen sie: die Armen essen sie: die Knastbrüder
und Soldaten erhalten sich mit ihnen am Leben: die Sklaven essen kaum jemals
ein anderes Nahrungsmittel. Ich bekenne, dass ich mich gut an die Arepas
gewöhnt habe, so wie ich Abneigung gegen die Caraotas empfinde, denn in
ihnen sehe ich das unverwechselbare Symbol des Unglücks, der Misere und der
Sklaverei. […] Das gewöhnlich Essen ist immer das gleiche das ganze Jahr,
[Schweine- und Rind-] Fleisch und mehr Fleisch, adobo [Salzlake,
Fleischwürze] und Caraotas, Eier und pollos flacos [dürre Hühner], verdorbener
Fisch und ayaca [hallacas – M.Z.] mit Tomate.“1018
Páez und der “Gobierno Deliberativo”
“El carácter de los venezolanos es difícil de explicar ... El interés y el egoismo los dominan: tienen talento, más que
todo imaginación: no cultivan mucho la literatura: su estudio favorito es la política [Der Charakter der Venezolaner
ist schwer zu erklären ... Das Interesse und der Egoismus beherrschen sie: sie haben Talent, mehr als alles [aber]
Imagination: sie kultivieren die Literatur nicht sehr: ihr favorisiertes Studium ist die Politik]“ 1019
Die Periode der politischen Geschichte der Postindependencia von 1830 bis
1858 in den Küstenzonen, den Städten und den Anden teilt sich in eine PáezEtappe (1830-1847/48) und in eine Monagas-Etappe (1848-1858). Die Llanos in
ihren nördlichen Teilen wurden erst im frühen 20. Jahrhundert wirklich in die
Geschichte des Nationalstaates einbezogen; Guayana „hinter Angostura/Ciudad
Bolívar“ erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach der Großstaatsphase Kolumbiens,
die aus der Rückperspektive vor allem der endgültigen Erringung und dem
äußeren Schutz der staatlichen Unabhängigkeit gedient hatte, kam es zu einer
Etappe der nationalstaatlichen Formierung, die vom Gravitationszentrum CaracasValencia ausging. Tulio Halperín Donghi hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
1830 eine Prognose für die Teilgebiete Neu-Granada und Venezuela sehr zu
Ungunsten Venezuelas ausgefallen wäre. Unter Páez gelang aber, für die
Zeitgenossen eher überraschend, eine relative und konservative Stabilisierung
1018
1019
Ebd., S. 150f.
Ebd., S. 133.
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dieser frühen nationalstaatlichen Form, durch eine ökonomische und soziale
Rekonstruktion der großen Latifundien, der sich wirtschaftlich am liberalen
Diskurs, sozial und mental aber an den Grundlinien der VorUnabhängigkeitsordnung orientierte – also eher eine Restauration war.1020
Am 13. Januar 1830 berief José Antonio Páez in seiner Eigenschaft als Jefe
Civil y Militar de Venezuela - ein Titel, den ihm Bolívar verschafft hatte - einen
Congreso Constituyente für April 1830 nach Valencia1021 ein und erklärte am 29.
Januar die separación absoluta der antigua Venezuela von Großkolumbien1022; ein
zweiter Congreso Constituyente, der noch für Großkolumbien gelten sollte (und
somit pro forma auch noch für Venezuela) trat am 20. Januar 1830 in Bogotá
zusammen. Beauftragte beider Seiten, von denen die Bogotaner hofften, eine
Einigung zwischen den konkurrierenden politischen Eliten erzielen zu können,
hatten sich am 4. April 1830 getroffen. Die Abgesandten Colombias unter der
Leitung von Sucre strebten die Integrität von Groß-Kolumbien auf Basis der
Verfassung von Cúcuta an. Die Abgesandten von Venezuela –
Verhandlungsführer Mariño – betrachteten sich als „enviados del gobierno de
Venezuela [Gesandte der Regierung von Venezuela]“. Es kam zu keiner Einigung,
was Mariño, der zu den Befürwortern der Abspaltung Venezuelas gehörte,
angestrebt hatte.1023
Im Páez-Dekret heißt es: “¡Pueblos de Venezuela! Habéis manifestado que
queréis separaros del gobierno de Bogotá, y no depender más de la autoridad de
S.E. el Libertador general Simón Bolívar [Pueblos von Venezuela! Ihr habt
kundgetan, dass ihr euch von der Regierung von Bogotá trennen wollt und nicht
mehr von der Autorität Seiner Exzellenz, des Libertadors General Simón Bolívar
abhängen wollt].”1024 Durch den Kongreß, der erst im Mai (6. Mai 1830) in der
1020
Halperín Donghi, Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart. Aus dem Spanischen
von Elke Wehr, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 218.
1021
Actas del Congreso Constituyente de 1830, 2 Bde., Caracas: Ediciones del Congreso de la República, 1979.
1022
“Proclama del Jefe Superior de Venezuela sobre separación absoluta”, Cuartel General de Valencia, 29. Januar
1830, in: Restrepo, José Manuel, Documentos Importantes de Nueva Granada, Venezuela y Colombia, 2 Bde.,
Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, 1970, Bd. II, S. 487f.
1023
Rodríguez Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. II, S. 224-225.
1024
Blanco; Azpurúa, Documentos, Bd. XIV, S. 175-180 (Dok. 4465).
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Hauptstadt Valencia wirklich zusammentrat, wurde Páez zum Chef des
provisorischen Präsidentenamts der Republik Venezuela gewählt (27. Mai). Am
30. August wurde durch Dekret formell die Verfassung Kolumbiens für Venezuela
als nicht gültig erklärt und im September 1830 sanktionierte der Kongreß die neue
Verfassung Venezuelas und damit die Trennung von Groß-Kolumbien. Die
Konstitution von Valencia galt bis 1857. José Gil Fortoul charakterisiert die durch
sie zum Ausdruck gebrachte formale Herrschaftsform als „sistema mixto de
centralismo y federación“ [gemischtes System aus Zentralismus und
Föderalismus].1025 Der Zensus für Aktivbürger ähnelt dem der früheren
Verfassungen (Besitzzensus von 100 Pesos, ab 1840 sollte auch Lesen und
Schreiben von den Aktivbürgern gefordert sein, die die eigentlichen Wahlmänner
(electores), Zensus 500 Pesos wählten), wie überhaupt vieles von der Verfassung
von Cucutá übernommen wurde1026; das Manumissionsalter für Sklaven wurde
verlängert - bis zum vollendenten 21. Lebensjahr. Insgesamt war die Verfassung
von Valencia teils konservativer, teils populistischer und stärker auf Konstruktion
eines „Venezolaners“ (wie es Bolívar schon einmal 1818 versucht hatte)
ausgerichtet. Wirklich wichtig aber war etwas anderes: mit der Verfassung von
1830 wurde der kurze revolutionäre Impetus von Angostura beendet und die
Gründungsverfassung (von Angostura/Cúcuta) ad acta gelegt. Ein Karussell von
Verfassungen begann sich zu drehen (Venezuela kommt bis heute auf über ein
Dutzend Verfassungen); seit 1857 erliess (fast) jeder neue Machthaber eine oder
mehrere neue Verfassungen. Kern all dieser Verfassungen seit 1830 war der
Schutz des Privateigentums der Eliten – das hiess im Falle Venezuelas: das große
Landeigentum.1027 Trotz aller Aktivitäten, blieb der Kern aller Verfassungen (bis
1999), ihr innerer Schrein sozusagen, die Konstruktion des Latifundiums.
Auf dem Kongreß wurde auch die Einverleibung der historischen
Großregion der Llanos insgesamt beraten, d.h., man wollte auch die traditionell zu
1025
Gil Fortoul, José, Historia Constitucional de Venezuela, 3 Bde., Caracas: Ministerio de Educación, 1953-1954,
Bd. II, S. 274f.
1026
Mariñas Otero, Las constituciones ..., S. 33.
1027
Lombardi, Venezuela ..., S. 201.
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Neu-Granada gehörigen Llanos de Casanare (mit Zentrum Pore und Achagua), wo
etwa 20000 registrierte Menschen lebten - die Llaneros cimarrones1028 hat niemand
gezählt - in das Staatsgebiet des neuen Venezuela zuschlagen und damit die alten
kolonialen Grenzen bis weit in das Territorium des heutigen Kolumbiens
überschreiten; Mariño wurden von neugranadinischer Seite vorgeworfen,
militärische Aktivitäten in dieser Richtung zu planen. Schließlich einigte man sich
aber, nach den Regeln des uti possidetis iuris (Motto: jede Elite behält die
Kontrolle über Gebiete, die 1810 einer bestimmten Verwaltungseinheit
zugehörten) zur territorialen Basis der neuen Republiken zu nehmen und größere
Konflikte zu vermeiden (siehe Karte der umstrittenen Llanogebiete zwischen
Kolumbien und Venezuela, die zugleich das Einzugsgebiet von Orinoko, Apure
und Meta markieren).1029 Damit war das Ende „der von Miranda erdachten
Republik, die Bolívar organisiert hatte“1030 besiegelt.
Besonders schwierig gestaltete sich das Verhältnis von Maracaibo, Coro
und Cumaná (Barcelona) zu diesem neuen, alten Venezuela, das jetzt offiziell und
formal wieder unter Kontrolle der Eliten von Caracas und Valencia stand. Die
Vertrauten Urdanetas, so zum Beispiel General Lucas Carvajal in Casanare, waren
von Feinden Bolívars ermordet worden. In der Auseinandersetzung um die Frage:
bei Großkolumbien bleiben oder sich Venezuela anschließen? formierten sich zwei
politische Gruppierungen der marabinischen Oberschicht - die tembleques und die
campesinos. Die Campesinos, auch yorkistas (nach einem Freimauererritus)
genannt, bestanden vor allem aus Männer alter Mantuanoeliten, die vor 1823 zu
den oligarchischen Machthabern in der Stadt gehört hatten. Sie schlossen sich
einer um 1825 von Urdaneta (ziviler Intendant del Zulia 1824-1827) gegründeten
Freimaurervereinigung der Hermanos Regeneradores de Maracaibo an. Die
Tembleques bildeten ein klientelistisches Personennetzwerk vor allem unter den
Izard, “Los cimarrones”, in: Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 36-43.
Ojer, Pablo, La década fundamental el la controversía de límites entre Venezuela y Colombia 1881-1891,
Caracas: UCAB, 1982 (= Montálban 12, Universidad Católica “Andrés Bello”), S. 7-620; siehe vor allem: Ojer,
“Las negociaciones que precedieron al arbitramento (1833-1875)”, in: Ebd., S. 11-74; Karte: Ebd., S. 7; Rodríguez
Campos (dir.), Diccionario de Historia de Venezuela, Bd. I, S. 721-723.
1030
Izard, Orejanos, cimarrones y arrochelados ..., S. 105.
1028
1029
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Emporkömmlingen (arribistas), wie sie aus Sicht der alten Oligarchie hiessen, die
sich hinter Mariño sammelten, der Militär-Generalkommandant von Maracaibo
gewesen war, also eine neue, vor allem kaufmännische und militär-bürokratische
Elite, die in enger Verbindung zu Páez und seinen Hintermännern stand. Das
sicherte dieser Tembleque-Gruppierung auch den populistischen Anstrich. Die
Tembleques nutzten die Volksstimmung gegen die alten, elitären Oligarchen unter
den Campesinos aus1031, die eher einer großkolumbianischen Lösung anhingen.
Der wichtigste Exponent der großkolumbianischen Eliten Maracaibos, Rafael
Urdaneta (und Rafael María Baralt1032), war zwischen 1830 (Mai) bis 1831 (April)
sogar durch eine Militärrevolte in Bogotá zum Diktator, Bolívar-Nachfolger und
Präsident Kolumbiens etabliert worden. Und Urdaneta hatte eine Dame aus der
sehr exklusiven Bogotaner Oberschicht geheiratet (oder war von ihr geheiratet
worden; nach der Regel: „schaut auf die Frauen, dann kennt ihr die
Eliteverbindungen“) - Dolores Vargas.1033 Urdaneta blieb nach dem endgültigen
Scheitern Groß-Kolumbiens 1832-1834 in Wartestellung im Exil auf Curazao.
Schaut man sich die Abgeordneten für den Kongreß von Valencia an, so
wird deutlich, dass die zentralen Eliten von Caracas-Valencia und Páez einen
relativ hohen Preis für die Anhängerschaft der Tembleques aus Maracaibo und
ähnlicher Gruppierungen aus anderen Städten zahlen mußten. Am Beispiel von
Maracaibo und des Departements Zulia kann auch gezeigt werden, dass die
Entscheidung für Venezuela aber auch durch erheblichen Druck von unten, durch
Manipulierung des Problems „Zentrum-Regionen“ zustande kam. Dazu muß man
immer einen Seitenblick auf den Congreso Constituyente in Bogotá werfen. Dieser
hatte am 29. April 1830 die neue Verfassung für Kolumbien proklamiert, die auch
für die venezolanischen Teile Großkolumbiens gelten sollte.
1031
Varela, Nirso, Estructura de poder político e ideal autonomista en Maracaibo en los comienzos de la República
(1830-1835), tesis presentada en Maestría en Historia de la Universidad del Zulia, 1995 (unpubliziert), S. 52
1032
Baralt, Rafael María, Resumen de la Historia de Venezuela, 2 Bde., Brujas-Paris: 1939 (Erstpublikation 1841);
Mieres, Antonio, Tres autores en la Historia de Baralt, prólogo de Arcila Farías, Caracas: Universidad Central de
Venezuela, 1966
1033
Briceño Iragorry, Mario, Vida y papeles de Urdaneta el joven, Caracas: Tipografía Americana, 1946; Vicente
A. Pinto, Urdaneta y Zulia, New York: Lutz & Scheinkmann, 1945.
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Am 5. Mai 1830 hatte der Kongreß von Bogotá den venezolanischen
Provinzen angeboten, Modifizierungen an dieser Verfassung entgegen zu nehmen.
Durch seinen Zusammentritt am 6. Mai aber hatten die Deputierten des
venezolanischen Kongresses in Valencia de facto zum Ausdruck gebracht, dass sie
die Verfassung des Kongresses von Bogotá für sich nicht als gültig erachteten.
Von den Deputierten für den Kongreß von Valencia, die bereits am ersten
Tag des Kongresses anwesend waren (6. Mai 1830), firmierten unter
Departamento del Zulia nur vier Abgeordnete, obwohl 9 gewählt waren. Es waren
aber eben in Wirklichkeit keine Leute aus Maracaibo, sondern aus Mérida (3) und
Ricardo Labastidas aus Trujillo (1). Für beide Städte war Maracaibo das, was
Caracas für Maracaibo darstellte – ein alles verschlingendes Zentrum. Sowohl die
Abgeordneten aus Mérida wie auch die aus Trujillo drangen darauf - und zwar mit
dem Hinweis, daß ihre Provinzen zu den sieben Provinzen gehört hatten, die 1811
die erste Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten – ihnen wieder den Status
von Provinzhauptstädten zu gewähren und Trujillo wie Mérida zu selbständigen
Provinzen zu erklären. Damit ging es nicht um den Namen „Provinz“ an sich, der
hatte auch in der territorialen Organisation der Verfassung von Cúcuta existiert,
sondern darum, dass die Einteilung nach Provinzen wieder die zweite Ebene unter
dem Zentralstaat bilden sollte, nicht mehr die Departements, in denen Maracaibo
Departementhauptstadt gewesen war. Und darum, dass lokale Eliten ihre
garantierten Einflussgebiete forderten. Die Provinzpolitiker brauchten also die
Unterstützung von Caracas gegen Maracaibo; deshalb auch die Formel „zentralföderalistisch“ in der Verfassung von 1830. Labastidas, ein Abkömmling des
Conquistadors und Stadtgründers von Trujillo, Francisco de Labastidas (alte
Patrizierfamilie), wurde dann auch, als die Beute von Páez 1831 verteilt werden
konnte, Gouverneur der neuen Provinz Trujillo. Ähnliches gilt für Mérida. Die
Abgeordneten von Coro (José María Tellería, Manuel Urbina) und Maracaibo
(José Eusebio Gallegos, Ramón Troconis, Juan Evangelista González) dagegen
stießen erst am 7. Mai 1830 zum Kongreß. Gallegos, der noch 1827 unter
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Urdaneta Sekretär der Intendantur gewesen war, also politisch zu den Campesinos
gehörte und 1829 den bolivarfreundlichen El Patriota del Zulia herausgegeben
hatte (mit Rafael María Baralt), konnte offensichtlich durch einen hohen Posten
auf die andere Seite gezogen werden. Er wurde 1831 Mitglied des Regierungsrates
in Caracas und übte im gleichen Jahr die Präsidentschaft aus, als Páez nicht
anwesend und der etatmäßige Vizepräsident, Diego Bautista Urbaneja, krank war.
Maracaibo, bis 1830 Hauptstadt des Departements Zulia, behielt zwar den
Provinzstatus, aber neben Mérida wurde auch Coro vom Gebiet des alten
Departements Zulia abgespalten, ab 1831 auch Trujillo; womit die anderen
Provinzen und Páez (hinter ihm der Präsident des Kongresses, Miguel Peña) vor
allem die Konkurrenz unter den beiden caracasfeindlichsten Städten und
Provinzen (Maracaibo-Coro) manipulierten.
Zwischen 1829 und 1832 herrschte de facto politisches Chaos in Maracaibo,
ehe die Tembleques ihre Abgeordneten auf die Provinzdeputation (etwa:
Länderkammer) geschickt hatten und alle wichtigen lokalen Ämter besetzen
konnten; sie regierten die Provinz faktisch gegen die alte Oligarchie von
Maracaibo, der ihre wichtigsten Symbolfigur Urdaneta verlorengegangen war.
Während dieser fast vier Jahre (1829-1832) kochte die Agitation in Maracaibo:
soll die Stadt und das Departement bei Kolumbien bleiben, soll man sich wieder
an die Royalisten wenden, soll man einen unabhängigen Staat bilden (Zulia), sogar
die Idee eines hanseatischen Modells für Maracaibo kommt auf – Maracaibo sollte
zu einem „Hamburg“ der Tierra Firme werden. Zum Schluß setzt sich jedenfalls
die venezolanische Faktion der Tembleques durch; Maracaibo wird eine der zehn,
dann elf Provinzen, die das neue alte Venezuela bilden. Aber: es kam schon
1834/35 zum Aufstand der Unterlegenen. Danach mußte die Zentralmacht der
Provinz Maracaibo und den lokalen Autoritäten in den von Maracaibo
kontrollierten Cantones, wie auch den anderen Provinzen, weitestgehende
Autonomie zugestehen.1034
1034
Urdaneta Quintero, Arlene, La revolución de las reformas en Maracaibo. Campesinos y Tembleques (18341835), Caracas: Universidad de Santa María 1989; Cardozo Galué; Urdaneta de Cardozo, “La élite de Maracaibo en
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Die Departements wurden abgeschafft. Der gesamte Titel XXIII (14
Artikel) der Verfassung von Valencia war den Rechten der Provinzen und ihrer
inneren Verwaltung gewidmete; allein der Artikel 161 der Verfassung in diesem
Titel, der 23 Abschnitte umfasst, zeigt, wie weit Páez und seine Gruppe dafür
gehen mußten, dass die Provinzdeputierten der Zentralmacht (also Páez) einen
Estado Unitario zugestanden hatten: die Provinzialdeputationen durften den von
der Zentralmacht eingesetzten Gouverneuren (Titel XXIV, 10 Artikel)
Dreiervorschläge (ternas oder en terna) für die Kantonschefs vorlegen, sie
konnten von der Kirchenautorität die Abberufung von Pfarrern „erbitten“, also
verlangen; sie waren verantwortlich für die Überwachung der lokalen
Manumisions- und Arbeitsgesetzgebung (Kontrolle der Sklaven, Peones,
Hausangestellten und Lehrlinge), sie konnten Geldmittel (Steuern und Zölle) für
Grundschulen, Wege- und Straßenbau sowie Kanälen (Infrastruktur), sprich für
Bauprojekte (Korruption) verwenden.1035
Páez berief als Minister (Secretarios de Despacho), drei Mitglieder der alten
Oligarchie, die zugleich Mitglieder der neuen konservativen Elite waren: Dr.
Miguel Peña starb schon 1833, Dr. Diego Bautista Urbaneja Sturdy (Barcelona,
16. Dezember 1782 – Caracas, 12. Januar 1856) als Minister für Äußeres und
Wirtschaft1036 und den sehr prominenten, aber wenig charismatischen Militär
Carlos Soublette.1037 Innerhalb der Regierung und an der Machtspitze existierte unter Páez’ Führung - das Bündnis zweier Próceres militares. Die Männer um
Páez, die Paecistas der sich bildenden Staatsbürokratie (son agentes de la nación
los magistrados, jueces y demás funcionarios [die Akteure der Nation sind die
Magistrate, Richter und weitere Funktionäre]: Titel I der Verfassung1038), waren
eine Mischung aus ehemaligen Royalisten, aufgestiegenen Patrioten, die nicht mit
Bolívar weitergezogen waren, und Angehörigen der alten Kolonialoligarchien.
la construcción de una identidad regional (siglos XVII-XIX), S. 157-182.
1035
Las constituciones de Venezuela ..., S. 31ff; S. 223-256.
1036
Armas Alfonzo, Rafael, El licenciado Diego Bautista Urbaneja Sturdy, Cumaná: Dirección de Cultura, 1994.
1037
Presidencia de la República, Documentos que hicieron historia ..., Bd. I, S. 369f.
1038
Las constituciones de Venezuela ..., S. 224.
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Im März 1831 wurde Páez zum konstitutionellen Präsidenten gewählt.
Dagegen erhoben sich im Oriente (Barcelona, Maturín, Cumaná, Margarita und
Guayana) General José Gregorio Monagas (Aragua de Barcelona, 4. Mai 1795 –
Maracaibo, 15. Juli 1858), zusammen mit den Generalen Andrés Rojas und José
Tadeo Monagas (Tamarindo de Amana, Maturín, 28. Oktober 1784 – Caracas, 18.
November 1868). Sie proklamierten die Gültigkeit der Verfassung von Cúcuta.
Páez griff zur Lanze und konnte die alten Waffengefährten Mariño sowie
Bermúdez zu einer Allianz gegen die Monagas bewegen. Als aber der Tod
Bolívars bekannt wurde und Urdaneta in Bogotá die Diktatur niederlegte, gelang
es wiederum Mariño, zu einer Absprache mit den Monagas zu kommen, die darauf
hinauslief, einen eigenständigen Estado de Oriente zu bilden. Staatschef sollte
Mariño sein und José Tadeo Monagas zweiter Chef. Mariño liess durch seine
Anhänger in Caracas ein Riot inszenieren, dass die weißen Eliten der Stadt - Páez
befand sich an der Spitze der Armee außerhalb der Stadt - in Angst und Schrecken
versetzte, zumal auch noch Gerüchte eines Aufstandes der Farbigen und
Schwarzen die Runde machte, in den Worten von Sir Robert Ker Porter, britischer
Konsul: „Caracas has been thrown into the greatest alarm, and apprehension, in
consequence of the discovery of a plot amongst the people of Colour and blacks to
masacre ist white inhabitants, and pillage the city“.1039 Die Unruhestifter hatten das
Gefängnis gestürmt und einige Dutzend Gefangene befreit, konnten aber noch in
der Nacht des 11. Mai 1831 durch schnell gebildete Milizen zur Ruhe gebracht
werden.1040
Durch geschicktes Ausspielen der Oriente-Caudillos vermochte Páez aber,
Mariño auszumanövrieren und die Bildung eines Oriente-Staates zu
verhindern.1041 Venezuela blieb in seiner kolonialen Form erhalten. Maríño
1039
The National Archives (TNA), Kew Gardens, UK, Foreign Office (FO) 18: General Correspondence before
1906, Republic of New Granada and Succesor States (1821-1834), 87 (im Folgenden FO 18/87): “1831 Consuls
James Henderson, Edward W.H. Schenley, Consuls Robert Sutherland, Robert Mackay, Sir Robert Ker Porter”, f.
375r-376r: Schreiben (Nr. 11/1831) von Robert Ker Porter an Viscount Palmerston aus Caracas, 16. Mai 1831, hier
f. 375r.
1040
Ebd.
1041
Parra-Pérez, Mariño y las guerras civiles, 3 Bde., Madrid: Ediciones Cultura Hispánica, 1958-1960; Vivas,
Cecilia, “La Provincia de Cumaná: su importancia en la vida económica de Venezuela (1830-1840)”, in: BANH, T.
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verschwand kurzzeitig im Exil. Die Monagas-Brüder begründen ihren Ruhm als
Páez-Herausforderer und listige Machtpolitiker, die immer gewinnen - Páez
musste ihnen mehr lokalen Einfluss und Besitz versprechen, um sie auf seine Seite
zu ziehen. Fast ohne einen Schuss abgegeben zu haben, hatte Páez Venezuela
zusammengehalten. In diesem Sinne übte Páez seine erste Präsidentschaft bis zum
Februar 1835 aus.
Im Wahlkampf des Jahres 1834 – ich greife etwas vor – setzte sich ein
genuiner Vertreter der konservativen Zivilisten, der Mediziner Dr. José María
Vargas, durch - unter anderem gegen Mariño und Soublette.1042 Páez übergab ihm
auch die Regierungsgeschäfte, obwohl er kein Anhänger einer direkten
Machtausübung durch Zivilisten war. Die Regierungszeit von Vargas sollte bis
1837 dauern. Bald zeigte sich aber, dass die Annahme der konservativen
Zivilisten, die Macht nun wieder ganz in den Händen zu haben, eine Illusion
darstellte. Die Bolivarianer erhoben sich in der Revolución de las Reformas (Juni
1835-1836) gegen die Regierung Vargas; zugleich kämpften die wichtigsten
Militärs die Vorherrschaft im Lande aus (Páez, Monagas, Mariño; Santiago
Mariño, Diego Ibarra, Pedro Briceño Méndez, José Laurencio Silva, José María
Melo, Luis Perú de Lacroix, Pedro Carujo, José Tadeo Monagas, Andrés Level de
Goda y Estanislao Rendón).1043 Die Militärs, und speziell Páez, wurden als
Tutoren jeglicher stabilen Regierungsmacht gebraucht; Páez konnte Monagas
wiederum von der Rebellion abbringen unter anderem damit, dass er ihre
militärischen Grade Monagas-Leute und die Quasi-Autonomie der Eliten des
Ostens anerkannte.
Wirtschafts- und Aussenminister wurde Santos Michelena (Maracay, 1.
November 1797 – Caracas, 12. März 1848).1044 Erste Maßnahmen des PáezRegimes betrafen das Verhältnis zur Kirche und die ökonomische
LXXII, núm. 287 (), S. 197-218.
1042
Castillo Blomquist, „La Post-Independencia“, in: Castillo Blomquist, José Tadeo Monagas ..., S. 27-52; Gómez
Tovar, Iliana, “La salud pública en el discurso social de José María Vargas. 1826-1836”, in: Tierra Firme 74, Año
19 (Abril-Junio de 2001), S. 247-260.
1043
Urdaneta Quintero, La revolución de las reformas en Maracaibo ..., passim.
1044
Carrillo Batalla, Tomás Enrique, El pensamiento económico de Santos Michelena, 4 Bde., Caracas: Academia
Nacional de Ciencias Económicas, 1994.
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Wiederherstellung des Landes, die wirtschaftlichen Maßnahmen, orientiert am
britischen Liberalismus, fanden ihren seinen besten Ausdruck in der Gründung der
Sociedad Económica de Amigos del País (SEAP) 1829.1045 Erster Direktor war
José María Vargas und stellvertretender Sekretär José María Rojas, ein kreolischer
Kaufmann des alto comercio. In den Diskursen und im Wirken oder
Zusammenwirken der SEAP mit dem Staat wird ein liberales Wirtschaftsmodell
nach außen und konservierendes Sozialmodell im Innern deutlich. Der Staat sollte
darin die Funktion haben, die notwendigen Bedingungen (vor allem durch
Gesetzgebung) für die Entfaltung des wirtschaftlichen Dynamismus schaffen, die
aber nicht allzu sehr durch Privatinitiative in der Handwerks- oder gar
Industrieproduktion geprägt sein sollte (das wünschten sich einige Liberale),
sondern von den traditionellen agricultores (Hacienda- und Hatobesitzer), die
Sklaven- und Peónarbeit ausbeuteten. Zugleich sollte der Staat die Auswüchse der
Konkurrenz zurückschneiden und Schutz für Schwachen und Alten schaffen – das
blieb für die Masse der ruralen Bevölkerung ein frommer Wunsch. Besonders eng
waren die Beziehungen zwischen Staat und SEAP zwischen 1830 und 1834, in der
so genannten Reformperiode. In dieser Periode hoffte die Páez-Regierung vor
allem Kredit und Handel wieder herzustellen. In Venezuela existierten, wie in
allen spanischen Kolonien eine Kaste der comerciantes-usurarios (Großkaufleute,
meist Spanier, die auch Kredite gaben, neben der Kirche als Kreditgeber1046) und
die Gruppe der kleineren mercaderes (Detailhändler). Diese Gruppen waren
grundsätzlich mit der Macht des spanischen Imperiums verbunden. Die großen
spanischen Kaufleute hatten das Land schon während der Bürgerkriege verlassen
oder waren 1823 des Landes verwiesen worden. Erst nach und nach musste sich
eine Gruppe von Klein- und Mittelkaufleuten (canastilleros – weil sie mit einer
Kiepe voller Handelswaren zunächst im Lande umherzogen), meist kanarischer
1045
Farías, Haydée, La sociedad económica de amigos del país, (Historia para todos/9), Caracas 1994; Cartay,
Rafael, Historia económica de Venezuela, Valencia: Vadell Hermanos 1988.
1046
Troconis de Veracochea, Ermila, La función financiera de la Iglesia colonial venezolana, Caracas: Academia
Nacional de la Historia, 1978; Troconis de Veracochea, Los censos en la Iglesia colonial venezolana, 3 Bde.,
Caracas: Academia Nacional de la Historia, 1982.
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oder karibischer Abstammung, auf die neuen Machtverhältnisse in Venezuela
1821-1826 umstellen. Ein Exponent der kanarischen Händler war Gerardo Patrullo
(Kanaren, 1770 – Caracas, ? 1821), der unter Morillo Geld mit der
Truppenversorgung gemacht und die Royalisten unterstützt hatte. Die Patrioten
enteigneten ihn 1821. Beim Wiederaufbau eines Handelsnetzes verschmolzen die
bisherigen Kasten der kreolischen und kanarischen mercaderes zu einer neuen
Gruppe von Einzelkaufleuten. Kreolischen Kaufleute, die nicht nur aus Venezuela,
sondern oft auch aus Santo Domingo stammten, gelang es aber nach 1820 nicht
oder kaum in den alto comercio, in die Gruppe der internationalen Im- und
Exporteure aufzusteigen, sondern sie bildeten Gruppen von Zwischen- und
Einzelhändlern. Dazu kamen seit 1817 ausländische Heereslieferanten, karibische
Kaufleuten und Waffenschmuggler, die meist alle ihren Ausgangspunkt in
Angostura hatten, weil sie dort 1817-1820 (über Saint Thomas, seltener über
Curaçao) Bolívars Truppen mit Waffen, Soldaten und Uniformen versorgten.1047
Einer dieser Kriegslieferanten ist vielleicht Georg Heinrich Wappäus gewesen;
eine Hamburger Reeder, der das Venezuelageschäft und sehr früh und rasch
ausbaute.1048 Erst nach und nach und gefördert von den Reformen unter Páez,
bildeten sich seit den 20er Jahren in den größeren See- und Flusshäfen
Venezuelas, wie Caracas, Puerto Cabello, Maracaibo, La Guaira, Cumaná und
Angostura, Gruppen meist ausländischer altos comerciantes an der Spitze von Imund Exporthäusern heraus. All diese Kaufleute, oft Abenteurer, hatten aber
zunächst kaum Kapital. Sie investierten nicht oder selten in Venezuela. Auch die
Kapitalakkumulation im internen Handel verlief sehr schleppend; die
Einzelhändler (canastilleros) bezogen ihre Waren von Großhändlern und
Agenten.1049 95% der Bevölkerung brauchten keinen ausländischen Handel und
normalerweise auch keinen eigentlich inneren überregionalen Handel (vom
Brito Figueroa, “A propósito del capital comercial en Venezuela postcolonial”, in: Banko, El Capital Comercial
en La Guaira y Caracas (1821-1848) …, S. 11-30, hier S. 24f.
1048
Vogt, „Die Firmengründung: Georg Heinrich Wappäus. Die Anfänge des hamburgischen Karibikhandels im
19. Jahrhundert (1805-1836), in: Vogt, Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels …, S. 111-134,
hier, S. 123.
1049
Ebd., S. 133.
1047
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Tauschhandel oder dem ganz mikroregionalen Handel auf dem Markt einer
Ortschaft mal abgesehen) – sie lebten in lokaler Subsistenzwirtschaft. Handel,
Freihandel vor allem mit anderen Staaten, brauchte der Staat, wegen der
Zolleinnahmen, wegen der Ausrüstung des Heeres und der Staatsorgane sowie
wegen des Luxus’ der Oberschichten. Vor allem aber brauchten alle
Hacendados, egal welcher politischen Ausrichtung, den Frei- und Exporthandel
mit Kaffee, Kakao, Fleisch und Häuten sowie anderen Produkten des Landes.
Deshalb hält Lombardi Caracas und – mit Abstrichen – die anderen größeren
Küstenstädte für Quasi-Faktoreien des Atlantikhandels.1050 In der Reformperiode
unternahm die Regierung viele Schritte, um den äußeren Handel und den Kredit
zu verbessern. All diese Maßnahmen verschärften die sozialen und politischen
Probleme des inneren Landes.
Macht wird diskursiv hergestellt; Herrschaft ist institutionell und strebt
danach, sich mit Gewalt zu territorialisieren, sie wird durch Personen, Apparate
(Armee, Polizei) und Institutionen repräsentiert. Páez war während der 18 Jahre
(eigentlich schon seit 1826) das Zünglein an der Waage, die Achse, um die sich
die politische Maschine Venezuelas drehte. Mit seinen Beziehungen, seinem
Einfluss auf die einfachen Menschen des Landes und seiner Position im Gefüge
der Machtklienteln sowie der lokalen Eliten gelang es ihm, sowohl aus dem
Präsidentensessel, wie auch aus dem Sattel des Pferdes, die verschiedensten Krisen
(1830/31, 1835, 1837, 1846) zu meistern. Während der Jahre 1835, 1837 und 1846
war Páez nicht einmal Präsident, aber er stellte sich an die Spitze des Heeres (oder
von Milizen) und etablierte die gestörte konstitutionelle Ordnung wieder; im
Grunde entstand hier das Modell des aus dem Militär hervorgegangenen
„populären“ Diktators und starken Mannes im Hintergrund, der als politischer
Typus das Lateinamerika des 20. Jahrhunderts prägen sollte (das 19. Jahrhundert
auch). Im besten Falle schützte ein solcher Tutor die konstitutionelle Ordnung.
Dieser konstitutionelle Caudillismo zur Sicherung von „Ruhe und Ordnung“ nach
1050
Lombardi, “The Commercial-Bureaucratic Outpost, 1830-1935”, S. 157-212.
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der Metzeleien des Krieges schien das größte Verdienst von Páez – strategisch und
historisch begründete diese Politikformation eine fatale Tradition. Páez war gewiß
ein sehr dominanter Charakter. Aber er verschaffte den neuen republikanischen
Institutionen und Gewalten zumindest in den Städten sowie im Küstengebiet und
in den Anden Respekt. In seiner Zeit gab es ein gewisses Gleichgewicht zwischen
den Institutionen und Regionen, ganz abgesehen davon, dass der neue
Konstitutionalismus und die Wahlen überhaupt funktionierten und die nationalen
Form, von Einheit kann man noch nicht sprechen, im komplizierten Wechselspiel
zwischen Zentralstaat und Regionen zunächst einmal pro forma hergestellt und
dann durch List, Drohung, geheime Bestechung und kurze Militärkonflikte über
fast zwei Jahrzehnte aufrechterhalten werden konnte. Páez erreichte diese Stellung
nicht nur weil er den größten Einfluß unter den Soldaten und Offizieren hatte, die
ihre Laufbahn während der Unabhängigkeitskämpfe begonnen hatten und weil er
mit ihnen persönliche und charismatische Klientelbeziehungen (compadrazgo,
Gevatterschaft) unterhielt, sondern auch weil in der Lage war, aus seiner
scheinbaren Schwäche, der mangelnden Bildung, seiner niedrigen Herkunft, einen
Vorteil zu machen. Páez ging nämlich Allianzen mit Einzelpersonen aus der
Gruppe der Militares (wie Carlos Soublette, einem der besten
Generalsstabsoffiziere Bolívars) oder kleinen Gruppen der wichtigsten Zivilisten
ein und ließ sich von ihnen beraten. Damit erreichte er immer wieder Vorteile
gegenüber seinen Mitkonkurrenten unter den Próceres-Militärs (wie Mariño,
Montilla oder die Brüder Ibarra, Andrés und Diego), wobei sein prononcierter
Antibolivarismus der ersten Jahre des neuen Venezuela die wichtigsten Gegner
unter den konkurrierenden Miltärs von der Macht fernhielt. Um die
konkurrierenden Militärs zu schwächen, auch aus berechtigter Angst vor
Prätorianertum, akzeptierte Páez eine Reihe antimilitärischer Maßnahmen im
Umfeld der Verfassung von 1830, die ihm eben diese Konkurrenten vom Leibe
hielten. Die wichtigste war vielleicht diejenige, die die Landtruppen Venezuelas
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auf ganze 2000 Mann begrenzte.1051 Das machte die Staatsgewalt vollständig
von Caudillos abhängig. Die Caudillos, vor allem die aus den Llanos,
rekrutierten einfach eigene Truppen aus Peones und Llaneros. Der Caudillo, der
das am besten konnte, war Páez. Gerade Páez kam so gegenüber dem frühen
republikanischen Staatswesen wirklich in die Position eines militärischen Tutors
(posición tutelar).1052
Liberale sind antiklerikal. Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und
den neuen Staaten des ehemaligen Spanisch-Amerika war schon seit 1810
kompliziert. Die Verfassung von 1830 setzte diese Tradition mit einem
laizistischen Grundtenor fort, der im Venezuela des gesamten 19. Jahrhundert
immer Anhänger fand, auch wenn die übergroße Masse der Bevölkerung die
Religion ihrer Väter auf ihre Weise praktizierte, allerdings oft vermischt mit
synkretistischen Religionen und afroamerikanischen Kulten. Die römischkatholische Kirche jedenfalls hatte bereits seit den Kriegen viel von ihrer Macht,
Besitz sowie Einfluß verloren. Die Verfassung von Valencia (1830) sprach zwar
„En el nombre de dios todopoderoso, autor y supremo legislador del universo“,
sagte über Religion aber nichts. Am 18. Februar 1834 wurde die Religionsfreiheit
proklamiert. Páez selbst ordnete zweimal das Exil für hohe Kirchenvertreter an,
darunter für den Erzbischof Ramón Ignacio Méndez (1830-1832 und 1836-bis zu
seinem Tod) und zwei Bischöfe (von Mérida und Guayana), als diese nicht auf die
neue Verfassung schwören wollten. Ramón Ignacio Méndez war ein streitbarer
Kirchenfürst, der den konservativen Patrioten angehörte und selbst mit der Lanze
in der Hand gekämpft hatte. 1828 war er auf Vorschlag von Bolívar Erzbischof
von Caracas geworden.1053 Méndez hatte sich im Parlament auch schon mal mit
Gegnern geprügelt; von ihm ist anläßlich eines Rededuells mit Antonio Leocadio
Guzmán, dem Chefliberalen, um die Staatseinmischung in Kirchendinge der
Ausspruch überliefert: „Cuando yo peleaba con la lanza por la independencia,
1051
Las constituciones de Venezuela ..., S. 250ff; Gil Fortoul, Historia Constitucional ..., Bd. II, S. 31ff
Carvallo, Próceres, Caudillos y Rebeldes ..., S. 39.
1053
Gómez Canedo, “Los franciscanos en las luchas libertadoras”, in: La Provincia franciscana de Santa Cruz de
Caracas ..., Bd. I, S. 163-171.
1052
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Usted y su padre estaban matando patriotas en Puerto Cabello [Als ich mit der
Lanze für die Unabhängigkeit kämpfte, haben Euer Ehren und Euer Vater in
Puerto Cabello Patrioten ermordet].“1054 Méndez und Páez kannten sich seit 1816;
Méndez war seit 1817 der von Bolívar eingesetzte Verantwortliche in den
Missionen von Guayana gewesen.
Unter dem Druck Santanders und seiner Anhänger hatte der Kongreß von
Groß-Kolumbien 1824 die Ley de Patronato erlassen; Bolívar war einverstanden.
Der neue Staat beanspruchte für sich die Patronatsrechte, die die katholischen
Könige Spaniens über die Kirche in Amerika ausgeübt hatten (patronato regio).
Die Bischöfe und der Erzbischof (Méndez, Arias und Talavera) weigerten sich die
Verfassung von 1830 (Valencia) zu beschwören und gingen für Jahre ins Exil. Die
Aufhebung der Klöster lief seit 1822. 1834 verfügte der venezolanische Kongreß
die Aufhebung des Kirchenzehnten (diezmo) und ließ die Pfarrer aus öffentlichen
Fonds bezahlen; da Staat und Kommunen kein Geld hatten, glich das einer
Enteignung. +++ Auch das korporative und in gewissem Sinne kommunale Land
der Kirchen, Klöster und Missionen wurde versteigert und bildete die Grundlage
für den Staat (besser formulieren). Die Missionen verfielen.1055 Auch beanspruchte
der Staat die Hoheit über die Bildung und die Bildungseinrichtungen; mit seiner
Gesetzgebung versuchte er auch die Besitzungen der Kirche aus der „toten Hand“
herauszuführen und die traditionelle Kreditfunktion (als Machtfaktor) der Kirche
zu eliminieren.1056 Das war eine Illusion. Zwar verbreiteten sich zwischen 1818
und 1830 sowie während der Reformzeit vor allem Druckgewerbe, Zeitungswesen
und der Edition von Büchern. Aber der laizistisch-liberale Staat konnte die
Bildung nicht sichern. Es gab um 1830 – für die Eliten – zwei Universitäten
(Caracas; gegründet 1721 und Mérida, gegründet 1810) sowie den Colegio
Magallanes, Historia Política de Venezuela …, Bd. II, S. 21.
Ayres, Pedro J., “Ríonegro. Descripción fisíca de las misiones del Río Negro”, San Fernando Atabapo, 1. Juni
1842, in: Las Misiones del Piritú ...; Bd. II: Expansión, florecimiento y ruina (1730-1840), S. 313-329.
1056
Rodríguez Iturbe, José, Iglesia y Estado en Venezuela, 1824-1964, Caracas: Universidad Central de Venezuela,
1968; Prien, Hans-Jürgen, “La Iglesia y la independencia. Quiebra de la iglesia patronal latinoamericana en la época
de la emanciapción oligarquíca criolla”, in: Prien, Historia del cristianismo en América Latina, Salamanca:
Ediciones Sígueme, 1985, S. 357-386; Prien, “El cristianismo como un factor en la lucha entre conservadores y
viejos liberales por un nuevo orden estatal”, in: Ebd., S. 398-406; Oliva Salas, Ramón, El patronato, el concordato,
el convenio con la Santa Sede: relaciones entre la Iglesia y el Estado en Venezuela, Caracas: Trípode, 1989.
1054
1055
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Seminario de Santa Rosa (auch in Caracas, gegründet 1696). Die Bildung der
urbanen Bevölkerung, natürlich vor allem der Oberschichten, war in der
Kolonialzeit meist durch kirchliche Konvente mit Unterstützung der Cabildos (und
des Staates) gesichert worden – mehr recht als schlecht, aber im Allgemeinen
besser als etwa in den britischen Kolonien.1057 1830 existierten noch 41 Konvente,
4 kirchliche Seminare und 6 Beaterios (Frauenklöster mit dem Recht zur
Ausbildung) für die höhere Bildung (davon drei Frauen- und drei Männerkonvente
in Caracas). Auf dem Gebiet der Primarschulbildung existierten um 1830 in ganz
Venezuela 96 Schulen; einige durch die Munizipien bezahlt, andere durch
Schulgeld (davon zwei öffentliche Schulen mit ganzen 226 Schülern, eine
Primarschule am Colegio de Santa Rosa sowie 5 Privatschulen der Primarbildung
in Caracas, eine in Chacao, bei einer Bevölkerung des Stadtkantons von 41752
Menschen, darunter 5822 Sklaven und Manumisos).1058 Kostenlos Schulbildung
wurde erst 1870 proklamiert, aber nicht durchgesetzt; im gesamten
Bildungssystem wurden noch bis 1935 nur 10% der Bevölkerung erfasst. Mit
einem Wort, der oligarchische Staat Venezuela konnte die Bildung seiner Bürger
nicht sichern; die „Erziehungsdiktatur“ im Sinne des Lesen und Schreiben-Lernens
aller Bürger war Utopie, Illusion und interessengeleitete Propaganda.1059 Ebenfalls
1834, mit der Erklärung der Religionsfreiheit, wurde die Einrichtung eines
anglikanischen Tempels und Friedhofes auf Betreiben des britischen Konsuls, Sir
Robert Ker Porter, erlaubt.1060 Ein weiteres Zeichen des Liberalismus in Religionsund Kirchenfragen war die Tolerierung einer jüdischen Gemeinde in Coro, die
immer mehr Zuzug aus dem holländischen Curaçao erhielt.1061 Die religiöse
Toleranz schockierte die katholischen Eliten. Aber sie akzeptierten die
„Familie, Erziehung, Ausbildung“, in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 5: Das Leben in
den Kolonien, hrsg. V. Schmitt, Eberhard und Beck, Thomas (=Dokumente zur europäischen Expansion, 5 Bde.,
ed. Schmitt, Eberhard, München: Verlag C.H. Beck, 1986-1888 (Bde. I-IV); Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Bd.
V)), S. 129-193.
1058
„La Venezuela de 1830 vista por los Amigos del País“, in: Díaz Sánchez, Ramón, “Evolución Social de
Venezuela”, in: Picón-Salas ; Mijares, Augusto; Díaz-Sánchez, Ramón ; Arcila Farias ; Liscano, Juan (eds.),
Venezuela Independiente 1810-1960, Caracas : Fundación Eugenio Mendoza, 1962, S. 157-342, hier S. 220-224.
1059
Morón, „Venezuela, Alemania y el tratado de 1837“, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), DeutschVenezolanische Beziehungen ..., S. 51-66, hier S. 55.
1060
Dupouy (ed.), Sir Robert Ker Porter’s Caracas Diary, 1825-1842 …, 1966, S. 774f.
1061
Fortique, José Rafael, Los motines anti-judíos de Coro, Maracaibo 1973.
1057
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antiklerikale Politik – nicht zuletzt weil ihnen den Zugriff auf Ländereien und
Vorrechte der Amtkirche erlaubten. Hier findet sich eine der Wurzeln, dass
Venezolaner tiefgläubig sind und katholisch, aber durchaus gegen die Amtskirche.
Der tiefe Schock der katholischen Familien aber zeigt sich vielleicht am besten im
Ausruf eines der Nachkommen des großen Familien, hier der Ibarra, die schon
Humboldt getroffen hat, als er die Stadt seiner Jugend um 1940 besuchte: „Im
Haus meines Großvaters gab es dreißig oder mehr Zimmer ... Caracas hatte (und
hat noch) Dutzende von großen Häusern, die im achtzehnten und im siebzehnten
Jahrhundert gebaut worden waren; einige waren zwei oder dreimal größer als das
meiner Großväter ... Das Haus meiner Großväter wurde vor Jahren verlassen,
wegen einer riesigen Hypothek. Danach beherbergte es eine zeitlang eine Gruppe
ambulanter syrischer Verkäufer, die jeden Morgen mit großen Körben auf dem
Rücken auszogen ... und Tand in ganz Caracas verkauften. Wegen irgendeinem
verborgenen Grund wurden diese (christlichen – M.Z.) Syrer „Türken“ [turcos]
genannt. Später verwandelte sich das Haus in eine protestantische Mission
(präsidiert durch Señor und Señora Pond aus Neuengland ...). Eine protestantische
Mission im Stadtpalais [mansion] der Familien Rivas (Ribas) und Ybarra (Ibarra)!
Oh Manen der göttlichen Gnade, meine gnädige und tiefgläubige katholische
Großmutter!“1062
Die Hauptakkumulationsquellen des neuen Staates und Wirtschaftssystems
waren Kirchenvermögen und billige Sklavenarbeit sowie die Arbeit der farbigen
ruralen Peones, der Männer und Frauen der Unterschichten sowie der Lehrlinge
und des Hauspersonals. Handwerk und Dienstleistung, wo oft auch Sklaven
beschäftigt waren, wurde kaum gefördert; etwas Industrie entstand erst 1842 –
Schwalben waren, wie in vielen Gegenden Lateinamerikas die zunächst recht
primitiven agroindutriellen Anlagen zur Zucker- und Rumproduktion (trapiches
und ingenios) sowie salazones (Fleischsalzereien in Unare), auch hier und da eine
Ibarra, T.R., “Mi Caracas”, in: BANH Nr. 199, Caracas (Julio-Septiembre 1967), S. 442-449, hier S. 446f.
(Abdruck des Kapitels VII aus dem Buch: Ybarra, T.R., Young Man of Caracas, New York: Garden City
Publisihing C., Inc., 1942).
1062
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Papiermanufaktur und Druckerei oder Lebensmittelfabrik; Baumwollstoffe
wurden in Hausindustrie gewebt und gefärbt.1063 Obwohl die Liberalen es
wünschten, wurde Industrie kaum gefördert, Handwerk schon gar nicht. Alles vom
einheimischen Handwerk und in den Manufakturen Hergestellte (Tabak,
Raspadura, Schaps, Eisen-, Leder-, Holz- und Tonwaren) wurde als lokale
Produktion vor allem von Unterschichten gekauft. Wer Status nachweisen wollte,
kaufte ausländische Waren. Von all dem profitierten vor allem Kaufleute, oft
ausländische sowie über Zölle und Abgaben der Staat, die Grundbesitzer und die
Staatsbürokratie sowie freie Berufe. Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde vor allem
die Exportlandwirtschaft des Kaffees und des Kakaos gefördert, der Handel und
der Export der Llanoprodukte (Häute, Trockenfleisch/Tasajo, Käse und Vieh); die
SEAP machte sich unter Autosuffizienzvorstellungen sehr stark für den Anbau
von Indigo, Weizen und für die Mehlproduktion aus Weizen (im 19. Jahrhundert
in den meisten tropischen Gebieten ein Luxus) - aber noch heute ist in Venezuela
das „Brot“-Mehl für Arepas aus Mais hergestellt. Die spanische Mehrwertsteuer,
die alcabala wurde abgeschafft, der diezmo (staatlich verwaltete Kirchensteuer)
und der estanco del tabaco1064 aufgehoben. Alle Exportzölle für Kaffee und
Baumwolle wurden abgeschafft; die von lebenden Vieh und Häuten deutlich
gesenkt. Es handelte sich um das liberale Modell der Steuersenkungen für
Exportproduzenten und Exporteure. Mit der Nachfrage nach Kaffee in Europa und
Deutschland stiegen Produktion und Export recht schnell in dieser eigentlich recht
konservativen Sozialordnung, die den Sklaven immer noch keine Freiheit und den
Unterschichten keine Titel für Land zugestand, sie aber im Grunde noch in dem
gleichen inoffiziellen Kastenstatus wie zu Kolonialzeiten zu halten suchte, was in
Bezug auf die Lohnkosten billige Landarbeitskräfte bedeuteten. Besonders
deutlich wurde die Rekonstruktion patriarchalischer Verhältnisse in den ruralen
Cartay, “Los albores de la industria en Venezuela, 1830-1899”, S. 779-788; Herrera, “¿Revolución industrial en
Venezuela?”, S. 37-55.
1064
Arcila Farías, Eduardo, Historia de un monopolio. El Estanco del Tabaco en Venezuela (1779-1833), Caracas:
Ediciones de la Facultad de Humanidades y Educacion, Instituto de Estudios Hispanoamericanos, Universidad
Central de Venezuela, 1977.
1063
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Arbeitsbeziehungen – sie waren für die bäuerliche Bevölkerung im Grunde
schlimmer als zur Kolonialzeit, weil jetzt der Druck der Krisen auf allen lastete
und Kaufleute die Konditionen bestimmten. Die Provinz-Deputationen erliessen
Regeln für Hausangestellte sowie Feldarbeit und Viehhaltung (peonaje agricola y
de crianza). Trotz oder gerade wegen der Freiheitsrhetorik der Verfassung gaben
diese lokalen Arbeitsverfassungen den Herren (señores y dueños) sehr weite
Vollmachten, unter anderem ihnen selbst oder den Mayordomos der Haciendas
das Recht, „geflohene [Peones] zu verfolgen, um sie der juristischen Autorität zu
übergeben“. Das Gesamtkonzept der Arbeitsverfassungen war darauf ausgerichtet,
die Peones einer Region an eine Hacienda zu fesseln – eine quasi Leibeigenschaft,
die der Sklaverei sehr nahe kam. Solange der Peón oder Arbeitnehmer beim Herrn
verschuldet war, musste er bei ihm bleiben und hatte kein Abzugsrecht. Sklaven
sowieso nicht. Die Herren gaben ihren Sklaven und Peones ein kleines Stück Land
auf der Hacienda (conuco), wo die Bauern Bohnen (caraotas) und Mais anbauten.
Für alles weitere, etwa den Einkauf von Hühnern oder Schweinen oder Werkzeug,
mussten die Peones Schulden machen.1065 Die cuentas (Schulden) lasteten wie
ewige Ketten auf den Peones und ihren Familien. Die extrem niedrigen Löhne der
Peones und Manumisos zwangen sie, etwa bei Tod, Heirat oder Krankheit, immer
neue Schulden beim Herrn aufzunehmen; auch für sie gab es keine billigen
Kredite. Diese Schulden vererbten sich von Generation zu Generation, in
unendlicher Kette. Seit 1830-1834 kam es zu Allianzen zwischen Kaufleuten und
Hacendados oder Hato-Besitzern. Der Kaufmann schoss dem Hacendado Kredite
vor, in Form von (wenig) Geld und recht vielen Waren. Diese Waren und
Lebensmittel, oft solche, die die Kaufleute woanders nicht mehr verkaufen
konnten, wurden in den Läden der Haciendas (tiendas de raya) überteuert
verkauft. Sicherheiten bildeten Sklaven und Land. Die Hacendados wiederum
gaben ihren Arbeitern nur einen sehr kleinen Teil des Lohnes (der oft in
Rückzahlungen verwandt werden musste) aus oder behielt gleich allen Lohn ein
Brito Figueroa, “Los esclavos de un latifundio venezolano en el siglo XIX”, in: Brito Figueroa, El problema
tierra y esclavos ..., . 251-296.
1065
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und gab nur fichas (eine Art Warengutschein für eine bestimmte Tienda) aus. Die
Bezahlung in Fichas war in Venezuela so weit verbreitet und verankert, dass noch
1937 Löhne auf dem Lande in Fichas gezahlt wurden. 1066 Kein Wunder, dass vor
allem junge Männer aus Peón-Familien sich lieber für Caudillo-Milizen
rekrutieren liessen, als ein solch elendes Leben zu führen. Zunächst aber waren
auch die Unterschichten kriegsmüde und mit dem Thema „Sozialrebellion“ und
„Kastenkrieg“ wurde vor allem diskursive Politik in Erinnerung an die Schrecken
der Guerra a muerte getrieben. Die Stabilitätpolitik von Páez konnte so wenigstens
in den Küstengebieten und Tälern das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen.
Sichtbares Zeichen war die Aufgabe des Sozialbanditen Dionisio Cisneros 1831,
der über acht Jahre lang in unmittelbares Nähe zur Hauptstadt, in dem
Haciendagebiet der Valles del Tuy, mit Unterstützung royalistischer Campesinos
als eine Art Robin Hood gewirkt hatte.
Auch auf wirtschaftlichem Gebiet gab es Erfolge. Zu den eindeutig
freihändlerischen Maßnahmen zählte die Tatsache, dass für europäische
Manufakturprodukte, wie Quinquailleriewaren, Werkzeuge, Kurzwaren, Möbel,
Stoffe (wie Leinen und Brokat), Sättel, Schuhe, Hüte, Bier, Wein, Agrartechik,
Seife, Kerzen, Musikinstrumente, aber auch Mauer- und Dachziegel sowie
Fliessen oder Segel- und Sackleinen zunächst relativ niedrige Importzölle
angesetzt waren; Abgaben wurden auch auf die Lagerung (almacenaje) von Waren
und Produkten gelegt. Die Waren, die auch aus Mitteleuropa und deutschen
Ländern stammten, wurden zunächst vor allem von Engländern und europäischen
Kaufleuten über Saint Thomas eingeführt. Die niedrigen Zölle begünstigten vor
allem große Hacendados und Kaufleute, in Caracas und anderen Hafenstädten, da
die meisten spanischen Kaufleute das Land verlassen hatten (1823), entstanden
schnell Ex- und Import-Häuser ausländischer Kaufleute. Zugleich verletzten aber
die niedrigen Zölle, die damit eben keine „Schutzzölle“ waren, Interessen der
1066
Grases, Pedro; Pérez Vila (comps.), Testimonios sobre la formación para el trabajo, 1539-1970, Caracas:
Instituto Nacional de Cooperación Educativa, 1972; Samudio A., Edda O., Sumario histórico sobre el trabajo
colonial, San Cristobál: Universidad Católica del Táchira, 1984; Ulloa, Camilo, Los oficios en Venezuela siglo XIX
y XX, Caracas: INCE, 1992.
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kleinen Manufakturproduzenten und des einheimischen Handwerkes (auch etwa
die Lebensmittel-, Seifen- und Kerzenherstellung), weil ausländische Waren, die
eh als „besser“ galten, auch noch billiger als einheimische Waren waren. Der
urbane Mittelstand und das Handwerk, der es schon in der Kolonialzeit schwer
gehabt hatte, wurden vor allem von Pardos gebildet. Sie unterlagen der Verarmung
und der weitergeführten Kastenordnung, die es auch in der neuen Ordnung schwer
machten, eine politische und wirtschaftspolitische Vertretung ihrer Interessen zu
finden.
Durch partielle protektionistische Maßnahmen, wurde versucht, die
Landwirtschaft (deren Herren die großen Hacendados waren) zu begünstigen. So
war die Einfuhr von Zucker, Rum und Tabak verboten; Rum und Tabak allerdings
mit Ausnahmen: da Flaschen noch ein teures Gut waren, durfte Rum in Flaschen
eingeführt werden; auch Zigarren aus dem berühmten Havanna-Tabak, was
wiederum die venezolanische Produktion des berühmten kolonialen
Markenproduktes Barinas-Canasta (Knaster) beeinträchtigte; ganz verboten war
die Einfuhr von Kakao und Kaffee; Mehl, Holz, Schweinefett und Butter. Das
waren aller Produkte, die meist aus den USA (oder über Jamaika bzw. die
niederländischen ABC-Inseln, Mehl auch aus Mexiko) eingeführt wurden, zahlten
ziemlich hohe Zölle (Konflikte mit USA).
Die Wiederherstellung der großen Landwirtschaft und der
Extraktionsmaschine erforderte viel Kapital. Geld- und Kreditmangel, vor allem
profane Geldknappheit, war eines der größten ökonomischen Probleme der 30er
und 40er Jahre.1067 Der wichtigste interne Kapitalgeber, die Kirche, war
ausgefallen. Ausländische Kapitalisten wollten kein Geld mehr als Staatanleihen
geben, nach den großen Anleihen für Großkolumbien und der Krise von 1825-26,
war guter Rat teuer. Auch fehlte schlicht gemünztes Geld. Banken gab es noch
nicht oder nur sehr wenige (erste Bankgründung 1839).
1067
Walter, „Der Geld- und Kreditmangel“, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 86-87.
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Geld kann ein Staat verleihen oder Privatleute; der Staat in Venezuela war
Bereicherungsquelle für hohe Beamte und Politiker und musste ausländische
Schulden bezahlen. Es kamen also nur Privatleute in Frage. Offiziell galten auf
dem Zins- und Kapitalsektor noch die spanischen Gesetze, die die Zinsen bei
maximal 6% jährlich festschrieben und die Schuldner vor Haftung mit ihrem
Besitz schützten.1068 Wenn es Kredite gab, was sehr schwer war, da die
Kreditgeber kaum ihre Schulden eintreiben lassen konnten, betrugen die
schwarzen Zinsen 60-120% jährlich. Das zeigt deutlich, wie dringend Kapital für
die Modernisierungsvorstellungen der Eliten gebraucht wurde. Um ihren liberalen
Überzeugungen über freies Marktspiels Raum zu geben, die zurückgehaltenen
Kapitalien der Kaufleute freizusetzen und Investoren ins Land zu ziehen, gab es
vor allem in der Gruppe um den zeitweiligen Wirtschaftsminister, Santos
Michelena1069 (Diego Bautista Urbaneja, José María de Rojas - Chef des
bedeutendsten kreolischen Handelshauses in La Guaira1070 - , Pedro Pablo Díaz,
Julián García) Auffassungen, die Verträge über Zinshöhen den
Vertragschließenden zu überlassen, also nach dem liberalen Urprinzip „weniger
Staat und weniger Gesetze“ zu verfahren. Wegen des Problems der fehlenden
Kapitalien und der hohen Zinsen kam es zur Ley del 10 de Abril de 1834 (auch ley
de libertad de los contratos; am 24. April 1848 durch José Tadeo Monagas
aufgehoben) genannt. Die wichtigsten Artikel (Auszüge) dieses Gesetzes lauteten:
„Verträge können frei geschlossen darüber werden, damit, um die Zahlung
jeglicher Schuldsumme liquid zu machen, der Besitz des Schuldners für die
Summe versteigert werden kann, die für sie an dem Tag und zu der Stunde
geboten werden, die zur Versteigerung festgelegt sind.
Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S.
33-89, hier S. 70.
1069
Morón, „Ein guter Minister“, in: Institut für Iberoamerika-Kunde (ed.), Deutsch-Venezolanische Beziehungen
in Vergangenheit und Gegenwart …, S. 77-78.
1070
Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, S. 158.
1068
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2. In allen anderen Verträgen, wie auch in Bezug auf den Zins, die in ihnen
ausgemacht werden, wird man, wie [hoch] er auch sei, den Willen der
Vertragspartner ausführen.
5. Der oder die Gläubiger können Bieter in der Versteigerung sein“.1071
+++ Sicherheit für die Verträge waren Land und Sklaven. Zur Kontrolle dieses
Gesetzes und zur Regelung wirtschaftlicher und kommerzieller Streitfragen und
Konflikte wurde 1836 Tribunales Mercantiles (Handelsgerichtshöfe) eingerichtet
und 1841 die Rechtsformel „de espera y quita“ (alte spanische Gesetzesformel
zum Schutz von Schuldner; im Grunde ein Moratorium in der Form von
„Aufschub und Aufhebung“ der Schulden unter bestimmten Bedingungen) per
Gesetz aufgehoben, nach dem die Schuldner von den Gläubigern, auch nach dem
Gesetz von 1834, ein generelles Moratorium hatten verlangen können. In wenigen
Jahren, in den dreißiger Jahren wurde so eine ganze Wirtschaftsmentalität im
Finanz- und Handelssektor auf atlantischen Freihandels-Liberalismus
umgeformt.1072 Der radikale Wechsel im Innern beruhte vor allem auf dem
Wechsel im Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern; von einem System,
das deutlich und entschlossen die Schuldner geschützt hatte, zu einem System, daß
ganz klar die Gläubiger bevorteilte und unterstützte. Mit der Zerstörung des
Zinsverbotes kam der Kapitalismus in Gestalt vor allem ausländischer
Handelshäuser – in einem ehemaligen Kolonialgebiet mit kolonialfeudalen
Strukturen vor allem in Bezug auf Land und Sklaven konnte er kein Eigengewächs
sein.
Bis zum Ende der dreißiger Jahre (1838) gab wohl politische Feinde
(Rebellion der Monagas, Revolución de las Reformas, Guerrillas, Llaneros vom
Apure), aber bis auf die bolivarianischen Offiziere (wie die Ibarras; Andrés wurde
erst 1845 rehabilitiert) kaum organisierten Gegner dieses neuen Systems im
wirtschaftliche Sinne und der Aufschwung war allenthalben spürbar. Sogar die
Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S.
33-89, hier S. 72.
1072
Walter, Venezuela und Deutschland (1815-1870) …, passim.
1071
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politischen Gegner lobten Páez, dass er und seine Marionetten sich nicht in die
Wirtschaft einmischten. In einer Petition der Hacendados der Valles del Tuy, unter
den Unterzeichneten befindet sich auch Tomás Lander, heißt es: „Nosotros
definiríamos por buen gobierno el que protege mucho, y persigue poco o nada“. In
den Schriften von keinem der späteren erbitterten politischen Feinde von Páez sind
zwischen 1834 und 1837 Klagen über die neue Wirtschafts-Mentalität zu finden.
Wirtschaft und Extraktionsmaschine befanden sich zumindest bis 1838 in einem
ziemlichen Aufschwung; die Zinsen sanken rasch ab, von 60% (oder gar 120%)
auf 24, 18 oder gar 12%, zuweilen sogar auf 9%1073, was auch in den
Konsularberichten nachzulesen ist. 1839 wurde der Banco Colonial Británico
(British Colonial Bank), Zweigbank der Colonial Bank in London, in Caracas
gegründet, Direktor war Leandro Miranda Andrews (1803-1886), der älteste von
Sohn Francisco de Miranda.1074 Die Bank gab Papiergeld zum Nominalwert von 5,
10, 25 und 100 Peso heraus und Kredite zu 12% jährlich aus (Schließung 1849);
dazu kam bald eine zweite Bank 1839/1841-1850, die Nationalbank mit 20:80%
Beteiligung der Regierung und des Privatsektors, auch hier besonders stark
britische Staatsbürger vertreten, wie William Ackers, ein reicher Schotte, Adolph
Wolff, nach Robert Ker Porter ein „Israelit aus Leipzig“, der britischer
Staatsbürger geworden war.1075 Beide Banken mischten sich massiv in die Politik
ein; die Nationalbank etwa gab unter anderem Páez einen Kredit von 110 000
Pesos.1076 Die Bank musste – ich greife etwas vor – 1849 geschlossen werden;
einen zweiten Versuch britisch-europäischer Investitionen im Finanzsektor gab es
mit dem Banco de Londres y Venezuela, Ltd. (1865-1867).
1837 entstand als erstes größeres Technologieprojekt die Schifffahrtslinie
Línea D Roja, gegründet durch den Briten John Boulton und die Nordamerikaner
John und Henry C. Dallett, die regelmäßig zwischen Philadelphia und New York
1073
Ebd., S. 72f.
Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela ..., passim.
1075
Pérez Vila, “El Gobierno Deliberativo. Hacendados, comerciantes y artesanos frente a la crisis, 1830-1848”, S.
33-89, hier S. 73. Zu Wolff siehe auch Walter, „Die Banken“, in: Walter, Venezuela und Deutschland (1850-1870)
..., S. 88-90, hier S. 89, FN 40. Ohne nähere Informationen über Herkunft; die besten Informationen gibt: Banko, El
capital comercial ..., S. 634-638.
1076
Harwich Vallenilla, Banca y Estado en Venezuela …, S. 25.
1074
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sowie den venezolanischen Häfen La Guaira, Puerto Cabello und Maracaibo
verkehrte und Zwischenstation in Saint Thomas und Curaçao machte; seit 1846
benutzte die Linie auch Dampfschiffe.1077 Eines der größten Probleme Venezuelas
als Exportland - die Nichtexistenz eines nationalen Schiffbaus und einer nationalen
Handelsmarine - konnte damit nicht gelöst werden. Die Rolle des maritimen
Transports übernahmen fast immer ausländische Kapitäne und Kaufleute, die
dann, wie die Wappäus oder Blohm, auch eine wichtige Rolle im Schiffbau ihrer
Heimatstädte spielten.1078 Aber nach Venezuela gekommen waren sie alle wegen
des Kaffees und wegen der Kolonialprodukte.
Unter Páez’ erster Präsidentschaft bildeten sich drei oppositionelle Gruppen,
die zum Teil Politikfelder belegten, die früher Páez mit seinen wechselnden
zentralistischen Monarchisten-Föderalisten-Separatisten-Koalitionen abgedeckt
hatte: Erstens die demócratas (Lander, Rivas Galindo, Rufino González, Pelgrón,
Manuel Quintero und andere intelectuales), gesammelt um die Zeitung El
Hércules; zweitens die Bolivarianos, Freunde und Verwandte des toten Befreiers:
Fernando Bolívar, Pedro Briceño Méndez, Justo Briceño, Perú de la Croix, Andrés
und Diego Ibarra, Dr. Reverend; die Bolivarianer strebten bis 1835 die
Wiederherstellung Großkolumbiens an. Drittens die lokalen Militares - General
Mariño1079, hinter dem Pedro Carujo de Fäden zog, und der wiederum
Beziehungen zu José Tadeo Monagas hatte, der allerdings wegen seines
bewaffneten Widerstandes gegen die Verfassung von Valencia anfangs der
dreißiger Jahre nicht gern gesehen war und deshalb Regionalpolitik in seinem
Feudum Aragua de Barcelona betrieb. Die Militares, Antipaecisten und AntiCaracas-Leute sammelten sich um die Zeitung El Republicano (Redakteur: Pedro
Carujo).1080 Die Bolivarianos, die ja ebenfalls Militärs waren, vereinigten sich bald
mit den Militares, d.h., mit der Gruppierung, der pikanterweise auch Pedro Carujo
1077
Seiler, Otto J., Südamerika Fahrt. Deutsche Linienschiffahrt nach den Ländern Lateinamerikas, der Karibik und
der Westküste Nordamerikas im Wandel der Zeiten, Herford, 1992.
1078
Matos Romero, El problema de la navegación venezolana y la economía nacional, Maracaibo: Tipografía El
País, 1938.
1079
Parra-Pérez, Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957.
1080
Díaz Sánchez, Guzmán …, Bd. I, S. 156f.
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angehört, bekannt als asesino de Bolívar (Mörder Bolívars), denn er hatte beim
Attentat im September 1828 Bolívar mit dem Dolch nur knapp verfehlt1081; von
Carujo sagte selbst ein Miguel Peña: „ese hombre, cuyo nombre no pronuncio por
temor de equivocarme [dieser Mann, dessen Namen ich nicht ausspreche aus
Angst, mich zu versprechen (wegen des Klangs von Carujo=Carajo – M.Z.)]“.1082
Die Gruppierung aus lokalen Militares und Bolivarianos revoltierte in der so
genannten Revolución de las Reformas gegen das neue Venezuela und schrieb
zum Teil die Wiederherstellung Großkolumbiens auf ihr Panier. Andrés Ibarra
setzte zusammen mit zwölf weiteren Bolivarianos am 8. Juli 1825 Jose María
Vargas als Präsident ab. Der Grund allerdings waren Konflikte der militärische
Anführer untereinander, die den Vorrang in der informellen Kandidatur, wer
„oberster Chef“ sein sollte, auskämpften; ganz im Hintergrund brodelten noch
immer die Eifersüchteleien und Konflikte der Mantuano-Elite aus dem Caracas der
Kolonialzeit.1083 Die Gegner von Páez betonten ihren Bolivarianismus, der sie
nichts kostete, aber populär war, weil sie und die hinter ihnen stehenden lokalen
Oligarchien sich duch den „demokratischen“ Wahlsieg des konservativen Dr. José
María Vargas zurückgesetzt fühlten. Mit dem Mantuano und ehemaligen Rektor
der Universidad de Caracas wollte die durch das Páez-Regime wieder erstarkte
Mantuano-Oligarchie von Caracas wieder direkt die politische Macht durch einen
Zivilisten aus ihren Reihen ausüben lassen. Die Restauration der MantuanoOrdnung kam nicht zustande. Militärische Konflikten in vielen Regionen des
Landes brachen aus – Motto: „Bolívar hätte es nicht gewollt“. Sowohl in
Maracaibo, wie auch im Osten und in Caracas/Valencia selbst kamen
separatistische Bewegungen auf, die sich unter der Forderung „Großkolumbien
wiederherstellen“, tarnten. An der Revolución nahmen viele überlebenden
Generale und Bolivarianos teil: Diego und Andrés Ibarra, Justo Briceño, Pedro
Uslar Pietri, Juan, Historia Política de Venezuela …, S. 121ff. Carujo entging 1828 der Todesstrafe nur, weil er
seine Mitverschwörer, u.a. Santander, verriet.
1082
Peru de Lacroix, Diario ..., S. 7 (Einleitung von Cornelio Hispano).
1083
Parra-Pérez, Mariño y las Guerras Civiles, Bd. I: La Revolución de Reformas, Madrid 1958, in: Parra-Pérez,
Mariño y la independencia de Venezuela, 5 Bde., Madrid: Edicones Cultura Hispánica, 1954-1957.
1081
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Briceño Méndez, Santiago Mariño, die Monagas, der Pardo-General José
Laurencio Silva, Ehemann von Bolívars Nichte Felicia Bolívar. Vargas ernannte
Páez noch schnell zum Jefe del Ejército Constitucional (Chef eines
„konstitutionellen Heeres“ – das Páez unter Llaneros und Peones erst noch
zusammenbringen musste). Dann wurde Vargas zusammen mit seinem
Vizepräsidenten Dr. Andrés Narvarte abgesetzt und in die Emigration nach Saint
Thomas gezwungen. Páez nutzte seine Einflüsse unter Llaneros und Militärs, aber
auch durch sein Geschick sowie seine Beziehungen zu den rebellierenden
Generalen und brachte die Rebellion zu einem friedlichen Abschluß. Die Macht
wurde - von Páez! - dem legitimen Präsidenten zurückgegeben. Páez profilierte
sich als Hüter der Verfassung. Vargas aber verzichtete 1836 auf sein Amt. Als
„Vizepräsident, der mit der Präsidentschaft beauftragt ist“ beschloß der Militär
Carlos Soublette, der Kandidat von Páez 1834 gewesen war, die
Präsidentschaftsperiode bis 1839.
Wir erkennen das Allianz- und Wahlmodell von Oligarchie und Páez eigentlich ein informelles Kandidatenaufstellungssystem der Oligarchien. Im
Januar dieses Jahres übergab Soublette das Präsidentenamt dem 1838 für die
Periode 1839-1843 gewählten Páez. Im Januar 1843 wechselten sich beide
Kandidaten wieder ab: Soublette übernahm die Präsidentschaft für die Jahre bis
Anfang 1847.1084 Für die nächste Präsidentschaft hatte Páez zunächst Rafael
Urdaneta vorgesehen. Der war aber 1845 während einer Reise nach Paris
gestorben. Páez wollte keine dritte Amtszeit antreten. Deshalb unterstützte er die
Kandidatur von General José Tadeo Monagas. Dieser übernahm die Macht
faktisch als „Geschöpf von Páez“ im Rahmen des informellen Machtsystems.
Dann begann Monagas aber, den Staatsdienst von Paecisten zu befreien und
jagte schließlich nach einem inszenierten Riot (Straßenkrawalle) im Januar 1848
auch den Kongreß auseinander.
1084
Arellano Moreno, Antonio, Breve historia de Venezuela 1492-1958, Caracas: 1974, S. 235-245, 255-286.
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Der oligarchische Páez-Staat wurde, schaut man sich die territorialen
Stützpunkte der Revolutionäre an, vor allem von den territorialen Flanken, von
Maracaibo (Campesinos) und von Cumaná (Mariño) her angriffen. Nach der
Niederschlagung und Befriedung der Reformrevolutionäre und nach
verschiedenen Krisen, die auf der Basis der allgemein instabilen Situation
(Sozialbanditismus und Bauernrebellionen) immer gefährlich wurden,
konzentrierten sich die Anti-Paéz-Gruppierungen auf neue Caudillos, die Brüder
Monagas, die ebenfalls noch vom Mythos des militärischen Protagonismus zehren
konnten.
Aus der ersten der Gruppen, den liberalen Demócratas formierten sich unter
Abspaltung verschiedener Gruppen zwischen 1838 und 1840 zunächst vor allem
die Liberalen um Antonio Leocadio Guzmán und Tomás Lander. Aus den
Constitucionalistas oder Paecistas, die sich in gewissem Sinne als
Wirtschaftsliberale und vor allem als Freihändler verstanden, ging die Parteiung
der Godos oder Oligarcas hervor, vor allem wegen der Feindschaft zu Bolívar und
dem Versuch, die alte Ordnung zu konservieren sowie Verbindungen nach Europa
zu halten. Die Oligarcas waren seit 1830 offiziell an der Macht; sie formierten sich
seit der zweiten Hälfte der 1830er Jahre zu Konservativen (conservadores); die
frühe Parteilandschaft Venezuelas entstand.
Die unbestrittene Symbolfigur im der System der Oligarcas oder
Conservadores war Páez, die Figur im Hintergrund nach dem Tode von Miguel
Peña (1833), Dr. Angel Quintero; Páez’ „böser Engel“ nach liberaler Diktion. Das
Motto der Konservativen lautete: Constitución, Paz y Orden; die Parteiung hatte
keine organisierte Struktur, sondern stützte sich auf den Staatsapparat (hohe
Funktionäre sozusagen Parteichefs, die Gouverneure halten das System in der
Breite und dann bei Wahlen Kampf um Posten der Alkalden und Präfekten); sozial
auf die aufgestiegene Kaufmannschaft (canastilleros) sowie ein Teil der alten
Mantuano-Oligarchie (Francisco Rodríguez del Toro); bis Anfang 1848 faktisch
Regierungspartei – alles schärfste Bolívargegner.
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Zu Propagandisten einer inneren Marktwirtschaft und des Fortschritts in
Bildung und Mechanik wurden die Liberalen, indem sie Ideen der Aufklärung und
der Revolution vom freien Individuum auf die Situation nach 1830 anwandten.
Die Liberalen, die sich erst einmal in Abgrenzung zur Erhaltung des Status Quo
im Innern mit Hilfe eines Wirtschaftsliberalismus von außen seitens der Regierung
als solche definieren mußten, stammten vorrangig aus zivilen Kreisen, die die
Kämpfe nicht selbst mitgemacht hatten sowie oft aus freimaurerischen
Geheimorganisationen und waren militant antiklerikal. Ihre Traditionslinie leiten
sie von der 1810 oder Anfang 1811 gegründeten ersten Sociedad Patriótica her.
Doktrinär waren sie über die Gruppierung des Engländers und Bentham-Schülers
Francis Hall und seine Zeitung El Anglo-Colombiano sowie Tomás Lander und
der Zeitung El Argos von Antonio Leocadio Guzmán1085 der fixen Idee der inneren
landwirtschaftlichen und handwerklichen Entwicklung verhaftet und recht
pragmatisch. Sie betrachteten allerdings Bauern, Volksreligiosität, traditionelle
Landwirtschaft (Subsistenz), Neger und Eingeborene, also die übergroße Masse
aller Venezolanerinnen und Venezolaner, als Auswüchse von „Barbarei“
(barbarie), die damit wiederum eine Reservearmee für die Konservativen
abgaben, die die alten gewachsenen Strukturen - vor allem die der Kirche und
politischen Herrschaft der alten Mantuano-Oligarchien, der Godos, die sie
begünstigten - erhalten wollten. In der Sklavenfrage allerdings trafen sich
Konservative, Kirche und Liberale (jedenfalls die meisten). Genau wegen dieser
Haltung zur Sklavenfrage und zum Kern der Produktionsbeziehungen, denen auf
dem Lande, konnte sich in Venezuela ein innerer Kapitalismus, etwa im
Handwerk, nur sehr rudimentär entwickeln. Kapitalismus drang in Venezuela vor
allem über europäische Kaufleute ein, die zunächst auch relativ wenig
Eigenkapital hatten, aber aufgrund der billigen Arbeit der Sklaven und Peones bei
einigem Geschick schnell Gewinne machten. Es kam zu einer Ausweitung des
Latifundismus, kaum zu einer Modernisierung.Nur manchmal investierten sie
1085
Bushnell, The Santander Regime ..., S. 290f.
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Kapital in Form von Krediten für die technische Modernisierung der Haciendas,
ansonsten führte der Handelskapitalismus zu einer Ausweitung und Intensivierung
der alten Abhängigkeiten in Form von Sklaverei und Peonaje. Allgemein waren
die Investitionsbedingungen für diese Art von Konservierung der kolonialen
Strukturen durch die Páez-Reformen und das Gesetz von 1834 sehr verbessert
worden. Auch der Haciendas der Liberalen empfingen Kredite, mit denen sie die
(geringen) Fixkosten für Sklaven sowie abhängige Bauern, Werkzeug,
Erfindungen, Verbrauchsgütern und Technologie aus den europäischen
monarchischen Ländern finanzierten. Die ruralen Produktionsbeziehungen, bei
denen auch die Liberalen weiterhin Sklaverei präferierten, griff dieser
Kapitalismus nicht an, ganz im Gegenteil, er konservierte sie. Früher hatten
spanische Kaufleute, der Staat (über Situados) oder die Kirche den Hacendados
Kredite gegeben. Der imperiale Staat und die spanischen Kaufleute waren nun
weg; die Kirche durch die Kriege verarmt oder durch den Staat enteignet. Die
Ländereien waren zu Vorzugspreisen an Oligarchie und hohe Staatsbeamte
vergeben worden. Also konnten nur ausländische Kaufleute Kredite geben. Die
Masse der Gewinne, die ausländische Kaufleute und Unternehmer in Venezuela
machten, wurden allerdings nicht im Lande investiert – sonst hätte Venezuela
zwischen 1830 und 1847 nicht einen Bargeldabfluss von etwa 100 Millionen
Pesos zu verzeichnen gehabt. 1086 Massierte ausländische Investitionen, die im
Lande getätigt wurden, konzentrierten sich zeitlich auf zwei Perioden (1824 bis
1836 und 1870 bis 1890) und generell auf drei Sektoren: Bergbau, öffentliche
Versorgung (Wasserversorgung, Hafenanlagen) und Transport (Flussschifffahrt
und, später, Eisenbahnen).1087 Bei beiden Versuchen der Einbindung in die
atlantische Globalisierung gewannen traditionelle Großgrundbesitzereliten und
Militärs, die der Regierung nahe standen, vor allem aber auch mit ihnen
1086
Walter, Venezuela und Deutschland (1820-1870) ..., S. 86.
Carl, George E., First among equals: Great Britain and Venezuela. 1810-1910, Syracuse: Syracuse University
Microfilms International, 1980; Daly Gimón, Carlos Eduardo, Capital extranjero en economías independientes,
Caracas: Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1988; Harwich Vallenilla, Las inversiones extranjeras en
Venezuela: siglo XIX, Caracas: Academia Nacional de Ciencias Económicas, 1992.
1087
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verbundene ausländische Kaufleute, und das Land stürzte danach in Bürgerkriege
und Diktaturen.1088
In der Konjunkturdelle 1838 kam genau wegen dieses formellen, äußeren
Kapitalismus, die andere, zivile, Parteiung der libe
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