Masterarbeit Duitse Taal en Cultuur Browns und Gilmans “The Pronouns of Power and Solidarity” Der Einfluss von Macht und Solidarität hinsichtlich der Entwicklung und Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen Raymond Bosman Master Duitse Taal en Cultuur -Variant: Taal en Ontwikkeling Studentennummer: 3330834 [email protected] Begleiter: Prof. Dr. Wolfgang Herrlitz Universiteit Utrecht 30. August 2009 Browns und Gilmans “The Pronouns of Power and Solidarity” Der Einfluss von Macht und Solidarität hinsichtlich der Entwicklung und Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen 2 Vorwort und Dank Diese Masterarbeit ist die abschließende Arbeit des Studiums Taal en Ontwikkeling – Variant Duits der Universiteit Utrecht. Sie schließt einen interessanten, erfolgreichen Zeitabschnitt des Studiums Germanistik ab. Ich danke Christina Lammer und Conny Stephan ganz herzlich für ihre hilfreichen Beiträge zur Textkorrektur und -Beratung. Ganz herzlich bedanke ich mich ebenfalls bei Herrn Prof. Dr. Wolfgang Herrlitz für die Begleitung dieser Arbeit. Berlin, im August 2009 3 Inhaltsangabe Seite Einleitung 6 Kapitel 1: Die Anredepronomen: Entstehungsgeschichte des pronominalen 10 T/V-Unterschieds - Browns und Gilmans „The Pronouns of Power and Solidarity“ 1.1 “The Pronouns of Power and Solidarity”: Einführung und Kritiken 10 1.2 The Power Semantic 12 1.3 The Solidarity Semantic 15 1.4 Gesellschaftliche Faktoren und sonstige Anredeformen 18 1.5 Gültigkeit der Theorie Brown und Gilman: Vergangenheit und Gegenwart 19 Kapitel 2: Formalisierung in den Niederlanden und Deutschland: 21 Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während der power semantic 2.1 Wie es in den Niederlanden aussah 2.1.1 Die Entwicklung der Anredepronomen 22 2.1.2 Der Einfluss des Französischen: u als V-Pronomen 27 2.1.3 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und ihr 28 Machtverhältnis 2.2 Wie es in Deutschland aussah 2.2.1 Die Entwicklung der Anredepronomen 29 2.2.2 Der Einfluss des Französischen: Sie als V-Pronomen 34 2.2.3 Verwendung des T-Pronomens und Machtdistanz innerhalb der 35 Familie 2.2.4 Titulatur in Deutschland: Zeichen der Macht 35 2.2.5 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und des 38 Machtverhältnisses 2.3 Übergangszeit: Die Gesellschaft ändert sich, Umgangsformen kaum 39 2.4 Gültigkeit Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Formalisierung 40 4 Kapitel 3: Informalisierung in den Niederlanden und Deutschland: 46 Verwendung der Anredepronomen während der solidarity semantic 3.1 Informalisierung in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg 46 3.1.1 Die jugendliche Generation 48 3.1.2 Versäulung und Entsäulung 48 3.1.3 Sich ändernde Umgangsformen: „Margriet“ und ihre 49 Beratungsrubrik 3.2 Informalisierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 3.2.1 Studentenbewegung, außerparlamentarische Opposition, 50 51 Terroristengruppe 3.3 Der Trend zur Solidarität: veränderte Anredeformen in beiden Sprachen 52 -Familie 53 -Lehrer und Schüler 54 -Studenten untereinander 56 -Studenten und Professoren 57 -Arbeitskollegen 58 -Gast und Kellner 61 3.3.1 Du-Domäne und das Anbieten des Du in Deutschland 62 3.4 Exkurs: Der Stand der heutigen pronominalen Verwendung und die 63 Zukunft: das englische you: ein Vergleich für ein neues Anredesystem? 3.5 Gültigkeit der Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der 66 Informalisierung 3.6 Schlussbemerkungen der solidarity semantic 69 Schlussfolgerung 71 Literaturverzeichnis 73 5 Einleitung Die Idee für diese Masterarbeit entstand anlässlich der unterschiedlichen Verwendung der Anredepronomen im Deutschen und im Niederländischen: der Unterschied zwischen Siezen und Duzen im Alltag. Bei der Lektüre des Themas der pronominalen Verwendung fallen zwei Punkte auf: erstens die Namen Roger Brown und Albert Gilman und ihre Untersuchung „The Pronouns of Power and Solidarity“, die in verschiedenen Werken erwähnt wird, zweitens die zwei wissenschaftlichen Forschungsgebiete, die sich mit der Problematik der Anredepronomen beschäftigen. Auf der Ebene der historischen Sprachwissenschaft beschäftigt man sich seit einigen Jahrhunderten mit der Entstehung und der Entwicklung der Anredepronomen. Auf der Ebene der Soziolinguistik wird erst seit einigen Jahrzehnten untersucht, ob und was genau gesellschaftliche Einflüsse hinsichtlich der Verwendung der Anredepronomen sind. Brown und Gilman sind wichtige Namen in Bezug auf die Forschung der Anredeformen und ihre Geschichte und haben mit ihren verschiedenen Untersuchungen wichtige Grundbegriffe bezüglich dieses Forschungsgebietes eingeführt. Sie haben laut Sprachwissenschaftlerin Friederike Braun „die nachfolgende Anredeforschung somit stark beeinflusst.”1 Die meisten Sprachen haben in der zweiten Person zwei pronominale Anredeformen. Der Unterschied zwischen diesen Formen wird derzeit durch verschiedene Wissenschaftler als vertraulich für die Singularform (wie du) betrachtet und die ursprüngliche Pluralform der zweiten Person (wie Sie) sollte man derzeit in einer offiziellen Anrede oder als Höflichkeitsklausel verwenden. Die Dichotomie der Pronomen kennzeichnet sich durch einen Bedeutungsunterschied und die richtige Form ist abhängig von der angesprochenen Person. Brown und Gilman sind in ihrer Untersuchung der Meinung, dass es sich bei der Entwicklung und der Verwendung der Anredepronomen in Sprachen, die dazu zwei Möglichkeiten haben, um einen universalen Prozess handelt: Macht und Solidarität spielen dabei die Hauptrolle. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob ihre Theorie hinsichtlich der Entwicklung und Verwendung der erwähnten Pronomen wirklich derartig allgemeingültig ist, wie sie behaupten. Dies wird anhand der pronominalen Entwicklung 1 Braun, Friederike. Die Leistungsfähigkeit der von Brown/Gilman und Brown/Ford eingeführten anredetheoretischen Kategorien bei der praktischen Analyse von Anredesystemen. In: Anredeverhalten. Hrsg. v. Werner Winter. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1984. S. 42. 6 und Verwendung in Deutschland und den Niederlanden untersucht. Es wird der Frage nachgegangen, ob und wie beide Aspekte in den zwei Ländern miteinander übereinstimmen und wie groß der Einfluss von kulturellen Faktoren wie gesellschaftlichen Veränderungen in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der Pronomen ist. Macht und Solidarität stehen auch im zentralen Forschungsinteresse dieser Arbeit. Erwartet wird, dass es in der Entwicklung und der diachronen Verwendung Unterschiede zwischen beiden Ländern gibt. Gerade, da die zwei Sprachen sich durch eine Sprachverwandtschaft kennzeichnen, ist ein diachroner Vergleich zwischen den Anredepronomen und den kulturellen Einflüssen beider Länder einerseits und der Theorie von Brown und Gilman anderseits relevant. Im ersten Kapitel wird die theoretische Grundlage zur Entstehung der Anredepronomen und der Anredewahl anhand der Macht- und Solidaritätsstruktur nach Brown und Gilman erörtert. Sie unterscheiden in ihrem Werk zwei Perioden: erstens die power semantic oder die Semantik der Macht und zweitens ab dem 19. Jh. die solidarity semantic oder die Semantik der Solidarität. Sie verwenden in ihrer Arbeit die Symbole T (tu) und V (vos). Die Symbole kennzeichnen nicht nur einen Unterschied zwischen den Pronomen der ursprünglichen zweiten Person Singular und Plural, sondern auch das Spannungsfeld der dazugehörigen Solidarität oder Gleichheit (für T) und Macht oder Unterlegenheit (für V). Dieser Unterschied ist auch in dieser Arbeit übernommen worden. Die zwei Zeiträume und ihre Kennzeichen sind der Anreiz und Ausgangspunkt dieser Arbeit. Im zweiten Kapitel folgt eine Übersicht der Entwicklung und der mündlichen Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen der zweiten Person. Sie behandelt die Periode seit der Entstehung des V-Pronomens bis etwa 1960. Es handelt sich dabei um einen Vergleich zwischen den Anredesystemen in beiden Ländern einerseits und die Gültigkeit der Theorie, so wie Brown und Gilman sie für diese Periode skizzieren, anderseits. Hinsichtlich der Untersuchung zwischen beiden Ländern wird auch untersucht, wie sich beide Gesellschaften ab dem 17. Jh. entwickelt haben und ob es einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Struktur und der Verwendung von Anredepronomen gibt. Wichtige Werke hinsichtlich der historischen Entwicklung der Anredeformen sind „Veranderingen in de Nederlandse Aanspreekvormen“ von Hanny Vermaas und von Horst Simon „Für eine grammatische Kategorie >Respekt< im Deutschen“. Anhand von diesen und anderen Arbeiten wird primär aus historischer Perspektive nachgegangen, wie die Anredepronomen sich in 7 beiden Ländern entwickelt haben und wie sie verwendet wurden. Für beide Länder wird auch untersucht, was der Einfluss des Französischen mit der Entwicklung beider pronominaler Anredesysteme zu tun hat. Obwohl es in dieser Arbeit hauptsächlich um Pronomen geht, wird hinsichtlich der deutschen pronominalen Verwendung anhand der Untersuchung „Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden“ von Horst-Volker Krumrey auch untersucht, wie das V-Pronomen und Titulatur miteinander in Verbindung stehen. Die gesellschaftlichen Ursachen, die sich auf die pronominale Verwendung beziehen, werden insbesondere anhand der Werke „Informalisering“ von dem Soziologen Cas Wouters und den „Studien über die Deutschen“ von Norbert Elias dargestellt. Dabei begründete sich Wouters Untersuchungen übrigens großenteils auf denen von Elias. Beide reden in ihren Arbeiten von den Begriffen Formalisierung und Informalisierung. Da diese zwei Begriffe hinsichtlich der Zeiträume entscheidender und treffender sind für die machtorientierte beziehungsweise solidaritätsorientierte Verwendung der Pronomen als die Begriffe power semantic und solidarity semantic von Brown und Gilman, geht es im zweiten Kapitel deswegen um die pronominale Entwicklung und Verwendung im Zeitraum der Formalisierung. Das dritte Kapitel blickt in die letzten 50 Jahre zurück, da seitdem die Informalisierung und damit die Solidarisierung in der Sprache erst merkbar angefangen hat. Die pronominalen Anredesysteme haben sich in beiden Ländern seit dem 19. Jh. nicht mehr verändert . Deswegen wird in diesem Kapitel anhand der soziologischen Sichtweise die geänderte Verwendung erörtert. Zunächst werden die gesellschaftlichen Änderungen, die die pronominale Verwendung beeinflusst haben, behandelt, um auf diese Weise die Theorie der solidarity semantic von Brown und Gilman erklären zu können und den Zusammenhang zwischen der verändernden Gesellschaft und den verändernden Anredepronomen in beiden Ländern herauszufinden. Dies passiert unter anderem anhand von dem erwähnten Werk von Elias und James Kennedys „Nieuw Babylon in aanbouw“. Drei Gesprächssituationen sind in der Arbeit von Brown und Gilman als semantische Konflikte gekennzeichnet worden. Das heißt, dass die Wahl des richtigen Pronomens zwischen Gesprächspartnern zur Zeit ihrer solidarity semantic nicht eindeutig ist, wodurch Brown und Gilman „eine generelle Lösung“ für diese Konflikte, die mit Macht und Solidarität und den zugehörigen Pronomen zu tun haben, bieten. Neben diesen drei Situationen wird anhand von drei anderen Verhältnissen zwischen 8 Gesprächspartnern in diesem Kapitel nachgegangen, ob und wie sich die Verwendung der Anredepronomen in Deutschland und den Niederlanden seit dem Zeitalter der Formalisierung differenziert haben. Die Rolle der Macht in dieser Periode und die zugenommene Solidarität innerhalb der Gesellschaft wird mit der pronominalen Verwendung verbunden. Auch wird in diesem Kapitel noch kurz auf die Frage eingegangen, ob das englische Pronomen you als Vorläufer eines möglichen simplifizierten Anredesystems für diese zwei Länder betrachtet werden kann. Diese beider Literaturuntersuchung behandelt die Entwicklung und Verwendung Hochsprachen. Die Betrachtung der niederländischen Entwicklung berücksichtigt, da sie nicht als einzeln stehend der pronominalen Entwicklung in den damaligen südlichen Niederlanden betrachtet werden kann, im zweiten Kapitel die Entwicklung im gesamten niederländischen Sprachgebiet, also einschließlich des heutigen Flanderns. Für den deutschen Sprachprozess gilt, dass es in dieser Arbeit um die Entwicklung in dem Sprachgebiet geht, das letztendlich Deutschland wurde. Im dritten Kapitel wird die Veranschaulichung der pronominalen Verwendung nur auf die Bundesrepublik begrenzt. Das zweite und dritte Kapitel werden mit einer Zwischenschlussfolgerung der erörterten Periode vollendet. Am Ende dieser Arbeit gibt es dann noch eine kurze Gesamtschlussfolgerung. 9 Kapitel 1: Die Anredepronomen: Entstehungsgeschichte des pronominalen T/V-Unterschieds – Browns und Gilmans „The Pronouns of Power and Solidarity“ 1.1 “The Pronouns of Power and Solidarity”: Einführung und Kritiken Das erwähnte Unterschiedsprinzip zwischen „vertraulich“ und „offiziell“ oder „höflich“ ist Teil der Anredegeschichte und kommt ursprünglich aus dem Lateinischen. Die Sichtweise von Roger Brown und Albert Gilman in ihrer Untersuchung „The Pronouns of Power and Solidarity“ ist dabei wichtig. Insbesondere die generellen Theorien im ersten Teil ihres Artikels, die sich auf die Entstehung und die Entwicklung der Anredepronomen beziehen, gelten als Grundlage für diese Arbeit. Ihren Gedanken in der erwähnten Untersuchung sind deswegen eingehend erörtert worden. Horst Simon hat sich in seiner Arbeit ausführlich mit der Entwicklung der deutschen Anredepronomen befasst. Ihm zufolge ist es ein Hauptverdienst, dass Brown und Gilman sprachübergreifend argumentiert haben.2 Kritiker sind allerdings der Meinung, dass sie mit ihrem Ansatz die Forschung simplifizierten und Phänomene außer Acht ließe. Friederike Braun schreibt in ihrer Arbeit, dass es einige Mängel bei der praktischen und konkreten Beschäftigung mit Anredeformen gäbe, da die Anredetheorie zu einer Interpretation in vielen Fällen nicht ausreiche, zu ungenau sei und sich sehr an (west-)europäischen Sprachen und Anredesystemen orientiere.3 Übrigens bezieht sie dies auch auf ein anderes Werk von Brown und Gilman und auf ein Werk von Brown und Ford. Ihr größter Kritikpunkt ist nicht der theoretische Ansatz, sondern die praktische Anwendung des Modells. Obwohl mehrere Wissenschaftler das Thema der Anredepronomen ausgearbeitet haben, sind Brown und Gilman der Meinung, dass die Verschiebung vom Macht- zum Solidaritätsprinzip nicht übergreifend erklärt würde. „We have found no authority who describes the general character of these many specific changes of usage: a shift from power to solidarity as the governing semantic principle“.4 In „The Pronouns of Power and Solidarity“ zeigen Brown und Gilman eine Verbindung zwischen den lateinischen Pronomen ‚Tu’ (T) und ‚Vos’ (V) und den 2 Simon, Horst. Für eine grammatische Kategorie >Respekt< im Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina. Berlin: 2002 (Linguistische Arbeiten 474). S. 6. 3 Braun, Friederike. S. 42. 4 Brown, Roger und Albert Gilman. The Pronouns of Power and Solidarity. In: Style in Language. Hrsg. v. Thomas Sebeok. Massachusetts: The M.I.T. Press, 1960. S. 261. 10 Pronomen der zweiten Person (sowohl Singular als auch Plural), die in verschiedenen (europäischen) Sprachen vorkommen. Sie sprechen von europäischen Entwicklungen und Änderungen. Zur Zeit hat nicht jede europäische Sprache, wie das Englische, einen derartigen pronominalen Unterschied. Auf die Entwicklung der englischen Anredepronomen wird in dieser Arbeit im 3. Kapitel eingehender eingegangen. Richard Dury weist in seiner Untersuchung „You and Thou in Early Modern English“ daraufhin, dass es zur Zeit ein nordatlantisches Gebiet gibt, in dem das Höflichkeitspronomen nicht vorkommt (z.B. Englisch, Irisch, Friesisch, Niederdeutsch und Flämisch), oder nur eingeschränkt verwendet wird (Norwegisch, Schwedisch, Dänisch und auch Niederländisch). In südeuropäischen Sprachgebieten hingegen wird das V-Pronomen ihm zufolge häufiger als im Norden verwendet. Laut Dury entstammt dies aus der Sprachänderung vom Lateinischen in eine nationale Sprache. „It is possible to see this as a fringe area at a distant point to the centre of original change, assuming a cultural diffusion of pronouns from Latin in southern Europe to the vernacular [in Europe].”5 Dury weist darauf hin, dass das V-Pronomen in den verschiedenen nationalen Sprachen Europas zwischen 9. Jh. (überwiegend im Süden) und 17. Jh. (überwiegend im Norden) eintrat. Er ist mehr oder weniger der Meinung, dass die heutige Abwesenheit der VPronomen mit dem späten Zeitpunkt des Eintritts zu tun hat. Obwohl er mit seiner Beobachtung keine Kritik an Brown und Gilman übt, handelt es sich hier um eine wichtige Konstatierung, da sie die „allgemeine europäische Theorie“ von Brown und Gilman nicht völlig unterstützt. Laut Brown und Gilman führt die heutige (zweigliedrige) Anrededifferenzierung, welche die meisten (europäischen) Sprachen kennen, auf das römische Reich des vierten Jh. zurück. Die Verwendung des Pluralpronomens hat bei der Anrede des Kaisers angefangen. Es gibt dazu verschiedene Theorien. Erstens gab es in dieser Epoche zwei kaiserliche Herrscher: einen im westlichen Reich (Rom) und einen im östlichen Reich (Konstantinopel). Sprach man über einen der Kaiser, wurden implizit beide Kaiser gemeint. Zweitens war der Kaiser auch auf eine andere Weise als eine Pluralperson zu betrachten, da er sein Volk repräsentierte. Sicher ist, dass der Kaiser in dieser Periode zum ersten Mal mit dem Pluralpronomen Vos -als Reflex seiner 5 Dury, Richard. You and Thou in Early Modern English: cross-linguistic perspectives. In: Germanic Language Histories ‘from Below’ (1700-2000). Hrsg. v. Stephan Espass u.a.. Berlin: Walter de Gruyter, 2007. S. 139-140. 11 Selbstbezeichnung nos- angeredet wurde: der sogenannte Pluralis majestatis. Daraufhin entstand die plurale V-Anredeform, welche sich als Machtform erklären lässt „The usage need not have been mediated by a prosaic association with actual plurality, for plurality is a very old and ubiquitous metaphor for power.“6 Die neue lateinische Anredeform wurde später auch verwendet, um andere mächtige Personen anzureden, und war ein Beweis der „Ehrfurcht“ und „Unterwürfigkeit“.7 Im Laufe der Zeit hat sich der pronominale T/V-Unterschied auch von oben nach unten in der Gesellschaft durchgesetzt. Das V-Pronomen konnte im Laufe der Zeit auch als singuläres Höflichkeitspronomen erklärt worden. „A form originally exclusively plural has been recruited historically to be used also as what is loosely called a polite singular.”8 Der genaue Zeitpunkt der Entstehung des pronominalen T/V-Unterschieds in die verschiedenen europäischen Sprachen ist nicht ganz klar. Laut Brown und Gilman hat diesen Unterschied irgendwann zwischen dem 12. und 14. Jh. in die verschiedene Sprachen eintrat. Die Entwicklungsgeschichte der Pronomen kennzeichnet sich deutlich durch zwei verschiedene Zeitalter. Ab ihrer Entstehung bis ins 19. Jh. gibt es erstens die power semantic und im Laufe dieses Jahrhunderts setzte sich den Autoren zufolge die solidarity semantic durch. Brown und Gilman haben sich gerade für die Begriffen power und solidarity entschieden, da die Pronomen eine enge Verbindung mit diesen Dimensionen haben, die als Fundament der Analysierung des gesellschaftlichen Lebens dienen. Mit dem Begriff semantic beschrieben sie eine Wechselbeziehung, die es zwischen dem verwendeten Pronomen und der objektiven Beziehung zwischen Gesprächspartnern gibt. 1.2 The Power Semantic Ab dem Mittelalter setzte sich die Pluralanrede in Europa auch in den unteren Gesellschaftsschichten weiter durch und während dieser nicht-reziproken power semantic entwickelten sich zwei Dimensionen der Anreden. -Die vertikale Statusdimension: Bei dieser Dimension gibt es ein Machtverhältnis. Vorgesetzte (superiors) erhalten das V-Pronomen (Vos), Untergeordnete (inferiors) 6 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 255. Hake vor der, Jan Arend. De aanspreekvormen in ’t Nederlandsch. Proefschrift. Utrecht: 1908. S. 13. 8 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 254. 7 12 erhalten hingegen das T-Pronomen (tu). Es handelt sich hier um einen asymmetrischen Gebrauch der Anredepronomen. -Die horizontale Statusdimension: Bei dieser Dimension gibt es kein Machtverhältnis. Gleichgestellte der Oberschicht benutzen gegenseitig das V-Pronomen, falls sie sich nicht solidarisch zueinander fühlen (equal and not solidary). Das T-Pronomen wird gegenseitig von Mitgliedern der Unterklasse verwendet (equal and solidary). Bei dieser Statusdimension handelt es sich um eine Situation, in der die Gesprächspartner mehr oder weniger gleichwertig sind: Die Anredepronomen werden symmetrisch verwendet. Die zwei Dimensionen und die dazugehörigen Anredepronomen in diesem Zeitalter zeigen Brown und Gilman schematisch folgendermaßen an. V Superiors equal and not solidary equal and solidary T T V V Inferiors T Abbildung 1: Die Dimensionen der T/V-Pronomen im Gleichgewicht Über solche Machtunterschiede und die pronominale Verwendung innerhalb der europäischen Gesellschaft sagen Brown und Gilman: “In medieval Europe, generally, the nobility said T to the common people and received V; the master of a household said T to his slave, his servant, his squire, and received V within the family, of whatever social level, parents gave T to the children and were given V.”9 Die non-reziproke pronominale T/V-Verwendung galt den Autoren zufolge während mehrerer Jahrhunderte auch für die deutschen Anredepronomen.10 Hinsichtlich der richtigen Verwendung der Anredepronomen gab es damals zwei verschiedene Kategorien, zwischen denen man wählen konnte. Die vertikale Statusdimension lässt sich eindeutig und relativ einfach erklären. Mit power wird nach Brown und Gilman gemeint: „[…] a relationship between at least two persons, and it is nonreciprocal in the sense that both cannot have power in the same area of behavior.“ 11 9 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 256. Ebd. S. 257. 11 Ebd. S. 255. 10 13 Es handelt sich bei den Machtverhältnissen dann auch nicht nur um Unterschiede zwischen Schichten. Sonstige Beispiele, die sie erwähnen, sind: older than, parent of, employer of, richer than, stronger than and nobler than.12 Brown und Gilman weisen daraufhin, dass jeder in seinem Leben verschiedene Situationen erlebt, die Machtrelationen äußern. Zwei Beispiele eines derartigen Machtverhältnisses und der dazugehörigen nicht reziproken pronominale Verwendung, die sie erwähnen, sind die Macht der Eltern und das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Etwas Ähnliches gilt auch für das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer. Die horizontale Statusdimension hingegen ist weniger eindeutig, da innerhalb dieser Dimension das Anredepronomen nicht durch Macht differenziert worden ist, sondern Gleichgewicht der entscheidende Faktor ist. Nicht nur Untergeordnete verwendeten das Höflichkeitspronomen wenn sie jemanden aus der Oberschicht anredeten, auch Mitglieder innerhalb der Oberschicht tauschten das V-Pronomen miteinander aus. Obwohl man in der Oberschicht hinsichtlich des Machtaspekts mehr oder weniger gleichwertig war, waren Mitglieder nicht bedingt solidarisch. In dieser Kategorie hatte der Machtaspekt im Vergleich zur Solidarität also (immer noch) die Oberhand. Die Ausdehnung des V-Pronomens in den höheren Schichten Europas erklären Brown und Gilman als Zeichen der Eleganz. Längere Zeit gab es hinsichtlich gegenseitiger Verwendung innerhalb einer Klasse keine richtige Regel. Im Laufe der Zeit wurde der Unterschied zwischen V und T als Formel und Intimität bezeichnet: „[…] very gradually, a distinction developed which is sometimes called the T of intimacy and the V for formality.“13 Dazu könnte man auch sagen, dass aus dieser spezifischen Verwendung des VPronomens die moderne Höflichkeitsform entstanden ist. In dieser Hinsicht ist die Höflichkeitsform zwar aus der Machtdimension entstanden, aber handelt es sich, da es zwischen Mitgliedern der Oberschicht keine oder kaum Machtunterschiede gibt, eher um Höflichkeit oder Respekt. Auch die Untergeordneten sind einander innerhalb ihrer Schicht von Geburt an gleich. Dass sie sich im Alltag auch tatsächlich miteinander verbunden fühlen, kennzeichnet sich durch die Verwendung des dazugehörigen TPronomens. In dieser Hinsicht könnte man also im Zeitraum der Machtsemantik, sei es auch relativ beschränkt, schon von Solidaritätsstrukturen reden. 12 13 Ebd. S. 257. Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 257. 14 Bis in das 19. Jh. wurde die europäische pronominale T/V-Anrede von der erwähnten power semantic bestimmt und ließ sich die richtige Verwendung des Anredepronomens innerhalb einer Schicht erstens durch Gleichheit in Macht und zweitens durch eine eventuelle Solidaritätsbeziehung kennzeichnen. Zwischen den Schichten ging es um das Existieren einer Machtungleichheit. Gesprächspartner können einander anhand des Kriteriums Macht einfach einstufen und auf diese Weise entscheiden, ob sie das V- oder das T-Pronomen verwenden sollten. Unabhängig von den horizontalen und vertikalen Dimensionen kennzeichnete sich in diesem Zeitalter das Anredesystem ‚an sich‘ jedoch durch ein bestimmtes Gleichgewicht. Gleichgewicht, da die Wahl zur richtigen Anredeform übersichtlich war und dadurch auf der Hand lag. Dies änderte sich, als der Solidarität eine wichtigere Rolle zugeschrieben wurde. 1.3 The Solidarity Semantic Der nächste Schritt der europäischen T/V-Entwicklung ist der, in dem ein neues Prinzip mit dem Machtprinzip in Konflikt gerät. Brown und Gilman nennen dieses Prinzip, das eine gleichwertige Beziehung zwischen Gesprächspartnern ausdrückt, solidarity semantic. Sie konstatieren, dass im 19. Jh. ein Rückgang a-symmetrischer Anredeverhältnisse in Gang gesetzt wurde und das Anredeverhalten sich im Laufe dieses Jahrhunderts von dem erörterten machtorientierten Prinzip zu einer auf eher Solidarität basierenden Verwendungsweise hin änderte. Die Machtstruktur und die damit zusammenhängende V-Anrede wurde durch Reziprozität und die damit zusammenhängende T-Anrede ersetzt. Den Prozess dieser Umwertung nennen Brown und Gilman solidarity semantic. Wichtiges Kennzeichen der Solidarität ist das symmetrische Verhältnis zwischen den verschiedenen Gesprächspartnern. Laut Brown und Gilman gibt es die Möglichkeit, dass Solidarität sich mittels der Frequenz eines Kontakts entwickelt. Die sogenannte like-mindedness ist der entscheidende Faktor für eine Solidaritätsbeziehung. Beispiele denen eine Solidaritätsbeziehung zugrunde liegt, sind laut Brown und Gilman Familie, Religion, Beruf und Schule. Im Gegensatz zur Machtstruktur und der zusammenhängenden Ungleichheit zwischen Gesprächspartnern handelt es sich bei der Solidaritätsbeziehung also um mögliche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Ein Grund für den Umwertungsprozess sind wichtige Ereignisse in der Geschichte. Als bekanntes Beispiel hierfür wird die Französische Revolution erwähnt. Dieses Ereignis betraf alle Bürger im Lande und schuf dadurch ein großes 15 Zusammengehörigkeitsgefühl. Da die Bürger mit der Macht der Vergangenheit abrechneten, musste das V-Pronomen an Kraft einbüßen, wodurch man das T-Pronomen hier als Revolutionspronomen betrachten könnte. Die Statusdifferenzierung hat sich laut den Autoren in neuerer Zeit unter anderem in verschiedenen europäischen Sprachen verändert: Die horizontale Dimension; die reziproke Anredemöglichkeit wurde wichtiger und Statusunterschiede wurden nicht mehr unbedingt damit ausgedrückt. Braun und Gilman sprechen über den Eintritt der Solidarität in die europäischen Anredesysteme, wodurch es eine zweite Dimension hinsichtlich der Differenzierung des Machtgleichnisses gab. Die neue Rolle der Solidarität hatte zur Folge, dass das neue System der Anredeformen sich nicht mehr durch Gleichgewicht kennzeichnete. Die bisherige begrenzte Funktion der Solidarität wurde ab diesem Moment derartig ausgedehnt, dass nicht ohne weiteres deutlich war, welches Anredepronomen Gesprächspartner untereinander verwenden sollten. Die nachfolgende Abbildung zeigt insgesamt sechs Kategorien. Die zwei neuen Kategorien, die aus der erweiterten Solidarität hervorgehen; superior and solidary (links oben) und inferior and not solidary (rechts unten) können durch die wachsende Rolle der Solidarität bei der Wahl der richtigen Anredepronomen Konfliktsituationen verursachen. Dort wo bisher das Machtverhältnis entscheidend war, galt dies nun in den meisten Fällen für die Solidaritätsbeziehung. Die Folge war, dass es in bestimmten Fällen einen unerwarteten Pronomenwechsel gab. Brown und Gilman geben die neue Verhältnisse schematisch folgendermaßen wieder. V T Superior and solidary T V Superior and not solidary Equal and solidary Equal and not solidary T V Inferior and solidary T V Inferior and not solidary V T Abbildung 2: Die Dimensionen der T/V-Anreden stehen unter Druck Die neuen Kategorien und ihre Schwierigkeiten sind von Brown und Gilman anhand von sechs Beispielen erläutert worden. In dieser Arbeit wird nur auf die Beispiele eingegangen, die in der Regel auch heutzutage noch häufig vorkommen. Dies gilt für drei Relationen, nämlich: Eltern-Kinder, Gast-Kellner und Arbeitgeber-Arbeitnehmer. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Kategorie Superior and Solidary. Man würde erwarten, dass ein Kind aufgrund von der (klassischen) vertikalen Beziehung die 16 Eltern mit dem V-Pronomen anredet. Dieses Pronomen kann verwendet werden, führt allerdings zu einem semantischen Konflikt. Dabei fordert die neu entstandene Reziprozitätsbeziehung eher das solidarische T-Pronomen (wodurch Kinder und Eltern einander mit dem T-Pronomen anreden). In dieser Kategorie entsteht deswegen eine gegenseitige T-Verwendung und auf diese Weise wird der semantische Konflikt, wie Brown und Gilman die nicht eindeutige Verwendung des Anredepronomens während der solidarity semantic nennen, aufgelöst. Die Kategorie inferior not solidary ist die andere neue Kategorie, die sich durch Schwierigkeiten kennzeichnet. Falls man von einer nicht-solidarischen Situation und ebenso auch nicht von einem Machtverhältnis redet, ist nicht immer verständlich, welches Pronomen verwendet werden muss. Beispiele dazu findet man im Servicebereich, wie in einem Restaurant (zwischen Gast und Kellner). So könnte der Gast den Kellner nicht nur mit der V-Form, sondern auch mit der T-Form anreden, obwohl es gar keine Solidaritätsbeziehung zwischen ihnen gibt. Für den Kellner gibt es hingegen nur eine auf der Hand liegende Möglichkeit: die Verwendung des VPronomens. Da die Gesprächspartner nicht solidarisch zueinander sind, ist die Lösung hier eine gegenseitige V-Verwendung. In solchen Fällen wäre eher der Begriff Höflichkeit angemessen. Ein ähnliches Problem gibt es im dritten Beispiel; der Arbeitsbeziehung. Hat der Arbeitgeber hier vormals den Arbeitnehmer mit dem TPronomen angeredet, ist diese Form ab diesem Moment offenbar nicht mehr die einzige Möglichkeit, da der Arbeitgeber nicht nur das T-Pronomen, sondern auch das VPronomen verwenden kann. Auch hier verliert das bisherige System wieder das Gleichgewicht. Da laut Brown und Gilman Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht solidarisch zueinander sind, gibt es auch im neuen Zeitraum keine gegenseitige TVerwendung. Ihre Lösung: Die Gesprächspartner sollten einander gegenseitig mit dem V-Pronomen ansprechen. In diesem Beispiel gibt es auf jeden Fall ein Machtverhältnis zwischen Gesprächspartnern. Dies bedeutet, dass dem Arbeitnehmer durch Zuweisung des V-Pronomens gleichzeitig ein neuer Status zugewiesen wird. Möglicherweise geht es auch hier wieder eher um eine Höflichkeitsform. Brown und Gilman konstatieren, dass Beziehungen wie „older than, father of, nobler than und richer than“ in diesem Bereich sowohl als T- wie als V-Beziehungen betrachtet werden können. Dies gilt ihnen zufolge auch für Gleichheitsbeziehungen wie „the same age as, the same family as, the same income as” Die Autoren beschreiben: 17 „In the degree that these relationships hold, the probability of a mutual T increases and, in the degree that they do not hold, the probability of a mutual V increases.“14 Auf diese Weise haben sie für das von ihnen selbst skizzierte Problem eine Lösung erschaffen. Macht ist dadurch nicht mehr der entscheidende Faktor. An erster Stelle entscheidet das „Solidaritätsprinzip“. Anhand einer Untersuchung unter Austauschstudenten aus Frankreich, Deutschland und Italien in Boston 1957 konstatieren Brown und Gilman, dass eine gegenseitige T-Verwendung (in Deutschland) damals unter befreundeten Studenten, befreundeten Kollegen, Mitglieder einer politischen Partei und unter Personen mit einem gleichen Hobby öfter stattfand.15 1.4 Gesellschaftliche Faktoren und sonstige Anredeformen Brown und Gilman weisen darauf hin, dass die Wirksamkeit der nonreciprocal power semantic von einem statischen, hierarchischen Staatsgefüge abhängt. Die Machtbeziehung ist innerhalb dieser Systeme von Geburt an bestimmt. Power semantic war eng mit den feudalen und grundherrschaftlichen Systemen verbunden. Dahingegen gab es in Laufe der Zeit auch Systeme mit vorwiegend symmetrischem Pronominalgebrauch, wobei Solidarität die entscheidende Dimension ist. Darüber sagen sie: The reciprocal solidarity semantic has grown with social mobility and an equalitarian ideology.16 Bemerkt werden muss, dass sie ihre Theorie der power semantic und die wachsende Solidarität in bestimmten Gesellschaften nicht deutlich miteinander verknüpfen, da sie einerseits von einer uniformen Entwicklung der power semantic bis ins 19. Jh. sprechen und anderseits zwei unterschiedliche Gesellschaften erwähnen. Deutlich wird dabei nicht, ob diese wachsende Solidarität in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Perioden stattfinden kann. Neben der pronominalen Anredemöglichkeit gibt es auch verschiedene nominale Anredeformen, die man mit Macht und Solidarität in Verbindung setzen kann. Es geht in diesen Fällen um nominale Wörter oder Wortgruppen. Dazu gibt es Titulatur, wie „Doktor“ oder „Professor“, aber auch bürgerliche Titulatur, wie „Herr/Frau“ und der Zusatz eines Namens (der Nachname 14 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 260. Ebd. S. 261. 16 Ebd. S. 264. 15 18 oder gerade der Vorname) und Verwandtschaftsbezeichnungen wie Onkel und Mutter gehören zu diesen nominalen Anredeformen. Der Unterschied zwischen der pronominalen und der nominalen Verwendung hat Brown und Gilman zufolge primär mit the degree of linguistic compulsion zu tun. Mit diesem Grad von sprachlichem Zwang beschreiben sie, inwiefern man die T/VPosition nennen muss oder vermeiden kann. Die schriftliche Kommunikation fordert beispielsweise eher als die mündliche Kommunikation die Verwendung eines Titels. Das Vermeiden eines Pronomens ist in beiden Fällen kompliziert. Die Verwendung der nominalen Anreden hat wie die Pronomenverwendung mit kulturellen Aspekten zu tun. Im offiziellen Bereich in den USA ist zum Beispiel die Verwendung des Vornamens üblicher als in Deutschland. 1.5 Gültigkeit Theorie Brown und Gilman: Vergangenheit und Gegenwart Das Vorhergehende, das auf Grundlagen von Brown und Gilman basiert ist, zeigt in großen Zügen, dass sich im Laufe der Zeit das Machtprinzip in Europa geändert hat und diese Änderung sich daraufhin auch in den verschiedenen Sprachen durchgesetzt hat. Die Anredeformen, die das Macht- bzw. Solidaritätsverhältnis zum Ausdruck bringen, äußern dies. Die erörterte pronominale Entwicklungsgeschichte kennzeichnen Brown und Gilman als eine „general semantic evolution of the pronouns“.17 Die Betrachtungsweise der power und solidarity semantic lässt sich wahrscheinlich deswegen nur durch feststehende Beziehungen kennzeichnen. Sie skizzieren ein Bild, in dem die pronominale Verwendung in Europa etwas Endgültiges ist. Raum für eine mögliche Variation gibt es in der Erörterung der Anredepronomen kaum. Auch bei den Beziehungen, die sie als Beispiel nehmen, da sie einen semantischen Konflikt beinhalten, gibt es eine feststehende Lösung: entweder Macht (V-Verwendung) oder Solidarität (T-Verwendung). Die Gedanken hinsichtlich der power semantic und der solidarity semantic, die Brown und Gilman in ihrem Artikel geäußert haben, sind die Grundlage der Fortsetzung dieser Arbeit. Obwohl sie darauf hinweisen, dass die pronominale Verwendung von der gesellschaftlichen Struktur abhängig ist, sind sie der Meinung, dass Solidarität in Europa mehr oder weniger gleichzeitig (irgendwann im 19. Jh.) der Macht folgt. 17 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 267. 19 Untersucht wird, ob und auf welche Weise sich diese „general semantic evolution“ für die niederländischen und deutschen Anredepronomen rechtfertigen lässt. In ihrem Artikel erwähnen Brown und Gilman, dass sie neben der modernen deutschen Pronomenverwendung (also der Verwendung zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels) auch das Englische, Französische, Italienische und Spanische weitgehend untersucht haben. Ob sie die frühere diachrone Entwicklung der Pronomen auch auf die genannten Sprachen gründen, ist nicht deutlich. Hinsichtlich der nicht untersuchten Sprachen argumentieren Sie: „What we have to say is then largely founded on information about these five closely related languages.”18 Dies würde implizieren, dass durch Sprachverwandtschaft hinsichtlich der diachronen pronominalen T/V-Verwendung, die Sichtweise Browns und Gilmans vorausgesetzt, kaum Unterschiede zwischen der niederländischen und deutschen pronominalen Verwendung zu erwarten sind. Den Abschnitt solidarity semantic beginnen Brown und Gilman mit den Worten: „[…] and here is our guess as to how it developed”.19 Da sie anlässlich einer sich verändernden Gesellschaft einen allgemeinen Trend zu einem solidarischen sprachlichen Umgang beschreiben, wäre es interessant, im Folgenden zu untersuchen, wie sich dieses Solidaritätsprinzip genau seit dem Eintritt der Solidarität im 19 Jh. in den Niederlanden und in Deutschland geäußert hat und ob sich dieser „guess“, die erörterte solidarity semantic, auch tatsächlich rechtfertigen lässt. Dazu ist es im Anschluss an ihren Artikel sinnvoll zu untersuchen, inwieweit der Machtaspekt seit der Veröffentlichung des Artikels 1960 noch gültig ist. Immerhin haben die sozialen Strukturen sich innerhalb der Gesellschaft gerade seit den 1960er Jahren stark geändert. Daraufhin könnte man sich fragen, in wieweit ihr Artikel, der mehrere Jahrhunderte in Kürze behandelt, seit seiner Veröffentlichung noch aktuell geblieben ist. 18 19 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 254. Ebd. S. 260. 20 Kapitel 2: Formalisierung in den Niederlanden und Deutschland: Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während der power semantic Anlässlich der dargestellten Gedanken Browns und Gilmans werden in diesem Kapitel die Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen sowie Faktoren, die damit in Verbindung stehen, untersucht. Auf diese Weise kann die Verwendbarkeit der power semantic für die Niederlande und Deutschland geprüft werden. Erstens wird, vom Ursprung des pronominalen T/V-Anredesystems bis zum Eintritt der solidarity semantic, die Anwesenheit und Verwendung der T/VAnredepronomen erörtert. Gezeigt wird noch, dass man erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. in beiden Ländern von einer richtigen solidarity semantic reden kann. Deswegen geht es in diesem Kapitel bei der power semantic um einen längeren Zeitraum als Brown und Gilman anhalten. Bei der Entstehung und Entwicklung der Anredepronomen kann man nur von der Sicht der heutigen, früheren Interpretationen und der schriftlichen Überlieferung ausgehen. Da die Verfasser in ihren Texten mit den Anredepronomen variieren, ist auch nicht immer völlig deutlich, wie die genaue pronominale Entwicklung stattgefunden hat. Deswegen ist es manchmal schwierig, die genauen früheren Machtverhältnisse darzustellen. Versucht wird, ein deutliches Bild des Anredesystems zu geben und anhand davon die pronominalen T/V-Beziehungen in beiden Ländern darzustellen. Zu gleicher Zeit wird nachgegangen, welche Übereinstimmungen und Unterschiede es zu der power semantic gibt. Laut Simon ist für eine Reihe von Sprachen geltend gemacht worden, dass ihr pronominales Anredesystem im 18. Jh. unter dem Einfluss des Französischen Wandlungen durchgeführt habe. Dies äußere sich durch die Einführung bzw. Stärkung der höflichen Anrede mit dem Pronomen der 2. Person Plural nach Vorbild der heute noch genau so funktionierenden tu-vous-Dichotomie der Prestigesprache.20 Bezüglich der Entwicklung des letzten Stadiums des niederländischen bzw. deutschen Anredesystems wird deswegen separat der Einfluss des Französischen behandelt. Hinsichtlich der deutschen Situation wird auch noch kurz auf Verwandtschaftsbeziehungen und dazugehörige Machtverhältnisse eingegangen. Auch wird die Rolle der Titulatur, im Zeitraum der Formalisierung und an der Grenze der Informalisierung, in Zusammenhang mit der Anwesenheit einer Machtbeziehung 20 Simon, Horst. S. 123-124. 21 untersucht. Es geht deswegen nicht um die damalige genaue Entwicklung und Verwendung in allen möglichen Bereichen. Hinsichtlich der niederländischen Situation fällt auf, dass zu der früheren Titulaturverwendung keine Literatur vorhanden ist. Nachdem die Entwicklung der Anredepronomen und die Rolle der Titulatur erörtert worden sind, wird genauer auf die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Schichten in der hierarchischen Gesellschaft eingegangen. Als besonders nützlich haben sich die Theorien von Cas Wouters und Norbert Elias erwiesen. Beide reden in diesem Bereich von der Prägung eines nationalen Habitus. Elias umschreibt den Begriff Habitus als ein „spezifisches Gepräge des Individuums, welches er mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt.“21 Wichtig ist die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. In dieser Arbeit geht es bei dem komplexen Begriff, der mehrere Bedeutungen hat, nur darum, wie die pronominale Verwendung in der (niederländischen und deutschen) Gesellschaft von historischen Prozessen geprägt worden ist. Man könnte auch sagen; wie sich Individuen, durch die anwesenden Strukturen, die pronominale T/V-Verwendung angeeignet haben. Nachgegangen wird also, ob die Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft einen Trend zur Formalisierung unterstützen und dadurch eine häufigere Verwendung von V-Pronomen verursachenoder nicht. Auf diese Weise kann die Gültigkeit der Theorie der power semantic genauer anhand von (allgemeinen) gesellschaftlichen Entwicklungen in zwei Ländern mit einer unterschiedlichen Geschichte und Kultur geprüft werden. 2.1 Wie es in den Niederlanden aussah 2.1.1 Die Entwicklung der Anredepronomen Die Untersuchungen der Pronomenverwendung in der niederländischen Sprache führen ins Ende des 12. zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden offizielle Texte auf Lateinisch geschrieben. Es ist möglich, dass der lateinische pronominale T/V-Unterschied direkt in die damalige Umgangssprache übernommen worden ist, wodurch die mittel- niederländischen Pronomen mit den lateinischen Pronomen und dem dazugehörigen Unterschied zwischen Macht und Solidarität korrespondieren. Der Einfluss aus dem Französischen und die da existierende Pronomen tu und vous, die ebenso eine 21 Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Einführungskurs Soziologie. 7. grundlegend überarbeitete Auflage. Hrsg. v. Hermann Korte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft, 2008. S. 74. 22 lateinische Herkunft haben, könnte, da die südlichen Niederlande an Frankreich grenzten, auch ein Grund für die Entstehung der Anredeformen im Mittelniederländischem gewesen sein. Sprachwissenschaftler Verdenius sagt dazu: „Waar de Fransen vous voor het enkelvoud in gebruik hadden genomen, gingen wij ghi zeggen“.22 Ghi war übrigens sowohl eine Mehrzahlform, als eine Höflichkeitsform. Ab der Entstehung der mittelniederländischen Anredepronomen ist die Entwicklung vielschichtig und lässt sie sich in drei Schritten zusammenfassen. Wichtig sind dabei die Sichtweisen von den niederländischen Sprachwissenschaftlern Schönfeld, Van Bree und Vermaas. Die nachfolgende Abbildung zeigt den Ursprung und die verschiedenen Kasus der mittel-niederländischen Anredepronomen. Mittelniederländisch Kasus T V Nom. du ghi/gi Gen. dijns / dijner uwes/uwer Dat. di / dij u Akk. di / dij u Abbi1dung 3: mittelniederländische T/V-Anredepronomen Es handelt sich um das urniederländische T/V System in der Zeit von 1200-1500. Das Pronomen u (im Mittelniederländischen noch nicht im Nominativ) ist das einzige Pronomen, das heutzutage immer noch verwendet wird. Der erste Schritt des sich ändernden Anredesystems ist die Verdrängung des Du. Diese Verdrängung lässt sich anhand der höfischen Literatur erklären. Sie zeigt, dass man sich im höfischen Leben ein Beispiel an der französischen Situation nahm und einander mit der Pluralform (vous) anredete. Du war einfach verallgemeinert. Im ehemaligen Holland wurde der Prozess durch die Ansiedlung der Leute aus den südlichen Niederlanden übrigens beschleunigt. Im Mittelniederländischen ist du laut Vor der Hake hauptsächlich als Äußerung in Bezug auf Freundschaft, Zärtlichkeit, Verachtung und Wut gegen Kinder; sowie in biblischen und moralisierenden Schriften verwendet worden.23 Auch Eltern verwendeten das T-Pronomen, wenn sie ihre Kinder anreden: „Een vader dudijnt zijn zoon. 22 Vermaas, Hanny. Veranderingen in de Nederlandse aanspreekvormen van de dertiende t/m de twintigste eeuw. Utrecht: LOT, 2002. S. 35. 23 Hake vor der, Jan Arend. S. 21. 23 Dit gebeurt gewoonlijk.“24 Kinder verwendeten ihm zufolge hingegen das V-Pronomen ghi. Von T-Verwendung war auch die Rede, falls ein Höhergestellter einen Untergeordneten anredete und auch wenn man zu Gott sprach. Die Beispiele zeigen, dass man die Pronomen bewusst verwendete, was darauf schließen lässt, dass es im Mittelniederländischen einen pronominalen Macht- und Solidaritätsunterschied gegeben hat. Es handelt sich in den erwähnten Beispielen sowohl um horizontale als auch vertikale Beziehungen. In dieser Periode kommt die Verwendung der Anredepronomen wahrscheinlich mit der vertikalen Statusdimension der power semantic von Brown und Gilman überein. Wie Gesprächspartner einander auf der horizontalen Ebene anredeten, ist allerdings nicht deutlich. Dieser pronominale Unterschied war jedoch nur zeitlich. So äußert der niederländische Grammatiker Van Heule seine Besorgnis um das Verschwinden des offenbar nicht geringen Bedeutungsunterschieds zwischen du und ghi. „Het onderscheyt van Du en Gy is onze Tale zeer dienstich, om dat de woorden kort zijn ende het onderscheyt groot is.“25 Die Du-Form wurde in der Literatur eine Seltenheit, denn die Verwendung von ghi als Pronomen der 2. Person Singular und Plural ist in der niederländischen Literatur am Ende des 16. Jh. die Regel. Letztendlich ist du auch in der Umgangssprache durch ghi ersetzt worden. Der nächste Schritt ist das zeitliche Verschwinden des deutlichen T/VUnterschieds und das neue Verhältnis zwischen gij und jij. In der Periode ab 17. bis 19. Jh. hat ghi „eine universale Funktion: Singular, Plural, Distanz und Vertraulichkeit oder Intimität.“26 Gerade diese universale Funktion kennzeichnet diese Periode: Der Unterschied zwischen den T- und V-Pronomen ist aus der niederländischen Sprache verschwunden, wodurch das Anredesystem sich nicht mehr durch die bisherige Dichotomie kennzeichnen lässt. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Entwicklung der Anredepronomen vom 17. Jh. bis zur Gegenwart. 24 Hake vor der, Jan Arend. S. 32. Vermaas, Hanny. (2002) S. 40. 26 Ebd. S. 40. 25 24 Kasus 17., 18. und 19. Jh. Ende19. Jh. T/V T/V ab Anfang 20. Jh. südl. NL nördl. NL T V Nom. gij gij jij (je) jij (je) u Gen. uwer/uws uws uwer - - Dat. u u jou (je) je jou* u* Akk. u u jou (je) je jou* u* Abbildung 4: T/V-Anredepronomen im 17. Jh. bis zur Gegenwart *Im Niederländischen gibt es zwei T-Pronomen: das markierte jij und das weniger markierte je. Infolge von Diphthongierung ist ghi durch gij ersetzt worden. Mehrere Jahrhunderte lang gab es einen Streit zwischen beiden Varianten. Da das südliche Gebiet während des Mittelalters die Oberhand hatte, ist auch in Holland gij –sei es nur zeitlich- das wichtigere Pronomen geworden. Die J-Formen wie jij und je sind wahrscheinlich etymologische Varianten der G-Formen. Es handelt sich dabei laut Verbree um eine nördliche Variante, die am Anfang nur in der Umgangssprache verwendet wurde. Ab dem 17. Jh. kommt je und später das betonte jij bald öfter in der Literatur des damaligen Hollands vor. Schönfeld sagt dazu, dass das Siegen der J-Formen äußert, welche Mächte in Holland Oberhand haben. Die genaue Bedeutung der universalen gij/jij-Pronomen ist nicht immer als eindeutig zu betrachten. Da die ursprüngliche Bedeutung der J- und G-Pronomen identisch ist (ghi), handelt es sich Schönfeld zufolge in beiden Fällen um ehemalige Höflichkeitspronomen. Als höfliche Anredeform wurde gij und jij im 18. und 19 Jh. zusammen mit den personenbezeichnenden Nomina „heer“ oder „mevrouw“ verwendet.27 Mit einem Bezugswort könnte man gij in diesem Zeitraum doch einigermaßen als Höflichkeitsform interpretieren. Von Vermaas ist in Possen am Ende des 17. Jh. ebenso ein Unterschied zwischen gij und jij konstatiert worden. Sie konstatiert, dass wohlhabende Eltern jij verwenden, um Kinder und Untergeordnete anzureden. Umgekehrt wurde gij, u und uw verwendet.28 Es gibt Stimmen, die der Meinung sind, dass der G/J-Unterschied nicht von dem Gesprächspartner abhängig sei, sondern von der sozialen Schicht. Die höheren Schichten würden gegenseitig gij verwenden, die niedrigen Schichten jij.29 In der untersuchten Literatur gibt es außer einigen Beispiele innerhalb der Oberschicht keine überzeugenden Beweise, die gij als generelles V-Pronomen bezeichnen. 27 Vgl. Loey van, Adolphe. Schönfelds Historische Grammatica van het Nederlands. Klankleer, vormleer, woordvorming. 6. Auflage. Zupthen: W.J. Thieme & Cie, 1959. S. 139. 28 Vermaas, Hanny. (2002) S. 42. 29 Ebd. S. 49. 25 Der letzte Schritt ist die Entstehung des u im Nominativ und die immer häufigere J-Verwendung. Laut Van Bree gab es unter Regenten den Wunsch, dass eine neue (mündliche) Höflichkeitsform im Gebrauch genommen würde, da jij/je unter dem Volk zu weit verbreitet sei.30 In der Schriftsprache was das neue V-Pronomen übrigens bereits im Gebrauch. Briefe aus dem 18. Jh. zeigen laut Vermaas, dass es üblich war, dass Kinder insbesondere in den höheren Schichten ihre Eltern damals mit dem neuen V-Pronomen anredeten. Dieses Pronomen ist: uwe Edelheid, abgekürzt Uwe Ed, Uw(e) Ed., U Ed. und U E. Die Verschiebung der Betonung hat wahrscheinlich letztendlich dafür gesorgt, dass das Pronomen als u abgekürzt worden ist. Erst am Ende des 19 Jh. wurde u nicht nur im Dativ und Akkusativ, sondern auch im Nominativ verwendet. Obwohl sich die genaue Entwicklung nicht eindeutig klären lässt, ist deutlich, dass es sich um einen langfristigen Prozess handelte. In der niederländischen Standardsprache gibt es seitdem wieder ein eindeutiges V-Pronomen. Jij ist im Laufe der Zeit durch u verdrängt worden und kommt deswegen immer häufiger nur noch in einer vertraulichen oder solidarischen Umgebung vor. Machtdistanz oder Höflichkeit hingegen werden durch die Verwendung des neuen VPronomens verdeutlicht. Die neuen J-Anredeformen haben sich, außer in den Provinzen Noord- und Zuid-Holland, erst Ende des 19. Jh. in den ganzen (heutigen) Niederlanden verbreitet. Da die verschiedenen Dialekte aus Holland, Brabant und Flandern sich in einer Standardsprache vereinigt haben und die holländischen Dialekte wichtige Einfluss hatten, sind jij/je (und u nicht nur im Dativ und Akkusativ, sondern auch im Nominativ) langsam Teile der Standardsprache geworden. Im schriftlichen Verkehr verwendete man noch lange gij/u. Die Pronomen u und jij wurden im Nominativ erst im 20. Jh. definitiv in die Schriftsprache eingeführt. Jullie ist die neue Pluralform und basiert auf die ehemalige „–lieden Form“ wie zum Beispiel gijlieden und ulieden. Der Aufschwung dieser Mehrzahlform sorgt laut Schönfeld dafür, dass jij (in geringerem Maße je) nur noch als singuläre Form verwendet wird.31 Sowie u die Funktion des V-Pronomens bekam, hat jij/je sich als „richtiges“ T-Pronomen entwickelt: jij und gij haben nicht mehr die gleiche Bedeutung. Nach mehreren Jahrhunderten kann man ab dem Anfang des 20. Jh. anhand des „modernen“ Anredesystems Macht- und Solidaritätsbeziehungen zum Ausdruck 30 Bree van, Cornelis. Leerboek voor de historische grammatica van het Nederlands. Groningen: Wolterns-Nordhoff, 1977. S. 360. 31 Vgl. Loey van, Adolphe. S. 140. 26 bringen. Durch den (erneuten) Eintritt des T/V-Unterschieds handelt es sich in der niederländische Sprache erneut (und nicht durchgehend) um eine power semantic, wie Brown und Gilman dies für die verschiedenen Sprachen behaupten. Die vertikale Statusdimension ist wieder Teil der Sprache. Wo es eine Ungleichheit zwischen Gesprächspartnern gibt, wird das V-Pronomen verwendet, auch wie vormals innerhalb der Familie, wenn die Kinder die Eltern anreden. Einander unbekannte Erwachsene verwenden, auch wenn es kein Machtverhältnis zwischen ihnen gibt, auch gegenseitig das V-Pronomen. Da Klasse nicht der entscheidende Faktor ist, kommt dies nur einigermaßen mit der horizontalen Statusdimension von Brown und Gilman überein und könnte man u nicht nur als Macht-, sondern auch als Höflichkeitspronomen betrachten. 2.1.2 Der Einfluss des Französischen: u als V-Pronomen Wie gezeigt wurde, gab es im Zeitraum vom 17. Jh. bis zum 19. Jh. keinen generellen pronominalen T/V-Unterschied im Niederländischen. Dies könnte mit dem Einfluss des Französischen zusammenhängen. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder (kulturelle und sprachliche) Kontakte zwischen den damaligen Niederlanden und Frankreich. Französisch ist im Zeitraum vom 1400 bis1800 laut Van der Sijs bei Hofe und unter den höheren Schichten in den Niederlanden die dominante Sprache.32 Dadurch kann man die Ansicht vertreten, dass der pronominale T/V-Unterschied nur in der niederländischen Volkssprache zeitlich nicht mehr vorkam und deswegen unter den höheren Schichten nicht vermisst wurde, da die Oberschichte sich auf Französisch unterhalten hat. Im 17. Jh. sind laut Van der Sijs verschiedene oft verwendete französische Lehnwörter über die höheren Schichten in die Volkssprache aufgenommen worden.33 So wurden auch nominale Anredeformen wie die Verwandtschaftsbezeichnungen „vader“ en „moeder“ mehr oder weniger durch das französische „papa“ und „mama“ ersetzt. Es gibt -wie bereits erwähnt wurde- Hinweise, dass verschiedene europäische Anredesystemen vom französischen System geprägt worden sind. Man könnte annehmen, dass dies auch für das Niederländische galt. Insbesondere, da die höheren Schichten zweisprachig waren und gezeigt wurde, dass im 19. Jh., der Periode, in der der Einfluss des Französischen abnahm, eine Höflichkeitsform unter diesen Schichten im Niederländischen vermisst wurde. Gerade dies könnte der Grund dafür sein, dass das 32 Vgl. Sijs van der, Nicoline. Leenwoordenboek. De invloed van andere talen op het Nederlands. Den Haag: Sdu Uitgevers, 1996. S. 139. 33 Ebd. S. 152. 27 V-Pronomen wieder (erneut) im Niederländischen auftaucht. Van der Sijs weist darauf hin, dass die niedrigen Schichten sich an den höheren Schichten spiegeln wollten und darum französische Worte übernahmen. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass das Volk die niederländische V-Form u aus Prestigegründen übernommen hat, wodurch das neue V-Pronomen sich in der Sprache verbreitet hat und das niederländische pronominale Anredesystem – sich wie das französische- wieder durch Dichotomie kennzeichnen lässt. 2.1.3 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und ihr Machtverhältnis Ab dem Ende des 16. Jh. bestand die herrschende Klasse nicht mehr aus König und Adel, sondern regierten die handelnden Patrizier die vereinten Niederlande. Diese neue Gruppe kennzeichnete sich im Vergleich zu dem Adel durch geringere Machtunterschiede untereinander. Im Gegensatz zur Monarchie gab es in der Republik der Niederlande nicht eine zentrale Macht. Das Regieren kennzeichnete sich insbesondere durch Überlegung und nicht durch Gewalt. Versammlungen waren die Grundlage der parlamentarischen Umgangsformen. Dieses parlamentarische Benehmen, das als höfliches Benehmen umgedeutet wurde, wurde zu einer Vorbildfunktion, die nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land übernommen worden ist. Dem niederländischen Soziologen Wouters zufolge ist dies in Kürze wie sich der niederländische Habitus entwickelt und fortgesetzt hat. 34 Die Bevölkerung hegte ihm zufolge früher und in höherem Maße Duldsamkeit und Gleichheit als die Bevölkerung, in jenen Ländern, in denen aristokratische oder militärische Modelle herrschten. Das Zentrum der Macht war in den Niederlanden immer im Hintergrund geblieben, wodurch keine Macht und keinen Glanz ausgestrahlt wurde. Dass die Anrededifferenzierung sich im Niederländischen gerade im 19. Jh. erneut durchsetzte, könnte damit zu tun haben, dass in dieser Periode eine neue Oberschicht entstand. Der größte Teil des Adels entstand erst nach dem Jahre 1815, als König Willem I den größten Teil dieses neuen Adels in diesen Stand erhoben hatte.35 Es gab damals zwei Oberschichten bestehend aus dem Adel und dem titellosen Patriziat. Weiter gab es eine große Unterschicht. Ab dem Jahre 1850 kam die Mittelklasse zustande. Die Gesellschaft änderte sich im 19. Jh., da höhere Schichten 34 35 Vgl. Wouters, Cas. Informalisering. Manieren en emoties sinds 1890. Amsterdam: Bert Bakker, 2008. S. 216-219. Vgl. Montijn, Ida. Leven op stand: 1890-1940. 7. Auflage. Amsterdam: Rap, 2003. S. 16-17. 28 sich ausdehnten und Kontakte zwischen den verschiedenen Schichten häufiger vorkamen, wodurch die Umgangsformen sich im Laufe des Jahrhunderts änderten. Man könnte sagen, dass der pronominale T/V-Unterschied genau in dieser Periode einfach aus der französischen Prestigesprache übernommen werden konnte. Die niederländische Elite kennzeichnete sich durch ihre autoritäre Hierarchie und Ständeunterschiede. Die Niederlande waren bis zu den sechziger Jahren des 20. Jh. von Klassenbewusstsein und Machtdistanz durchdrungen worden. Wichtige Gründe dafür sind laut Wouters die erst späte politische Bewusstwerdung der Arbeiterklassen und die Arbeiterbewegung, die eher Bürgertum orientiert war. Wichtig ist ihm zufolge auch, dass die Niederlande nicht an dem Ersten Weltkrieg beteiligt waren, wodurch die damals herrschende Klasse weiterregierten konnte. Der Trend zur Distinktion und Vornehmheit, die sich damals entwickelte, konnte sich innerhalb der Oberklasse deswegen noch durchsetzen.36 2.2 Wie es in Deutschland aussah 2.2.1 Die Entwicklung der Anredepronomen Die deutschen Anredepronomen kennen eine andere Entwicklungsgeschichte als die niederländischen Äquivalente. So gibt es zum Beispiel seit der Entstehung des pronominalen T/V-Systems in der deutschen Sprache neben der konstanten Singularform du immer mindestens eine V-Form. Die Entwicklung lässt sich ganz knapp folgendermaßen zusammenfassen: „Im Laufe der deutschen Sprachgeschichte hat sich […] stufenweise ein mehrgliederiges Anredepronominalparadigma aufgebaut, dass zum Zeitpunkt seiner weitesten Ausdifferenzierung in sich zusammengefallen ist und so auf den heutigen zweigliedrigen Stand reduziert wurde.“37 Die Entwicklungsgeschichte der Pronomen wird im Folgenden insbesondere anhand Simons Sichtweisen erklärt. Die Diachronie der Anredepronomen einer einzelnen Person (im Nominativ) sieht laut Simon schematisch folgendermaßen aus. 36 37 Vgl. Wouters, Cas. (2008) S. 219. Simon, Horst. S. 93. 29 Ahd.Germ. T V du früh Ggw. Mhd. 17. Jh. 18. Jh. 19.Jh. StdDt. du du du du du ihr ihr ihr er/sie Sie er/sie er/sie ihr Sie Sie Dieselben* Dieselben* Abbildung 5: Die T/V-Anredepronomen Althochdeutsch bis zu Gegenwart *Dieselben ist im 18. und 19. Jh. nur in der offiziellen Schriftsprache anwesend. Laut Vor der Hake war schon ab dem zehnten Jh. die höfliche Anrede mit dem Mehrzahlpronomen ir bei nur einer Person gängig.38 Das eingliedrige germanische Du wurde ab diesem Zeitpunkt durch ein zweigliedriges System (du und ihr) ersetzt. Ihr fungierte nicht nur als zweiten Person Plural; Textuntersuchungen zeigen Indizien dafür, dass das Pronomen auch die Funktion der Höflichkeitsform hatte. Simon zufolge stellt es damit das V-Pronomen der pronominalen T/V-Opposition im Sinne von Brown/Gilman dar.39 Gleichzeitig bemerkt Simon, dass die Verwendung eines bestimmten Anredepronomens in einer gegebenen Sprecher-Adressaten-Dyade im Mittelhochdeutschen keineswegs obligatorisch sei. Manchmal sei das eigentlich zugeteilte Pronomen durch genau das andere ersetzt worden.40 Wie die genaue Pronomenverwendung sich in der damaligen Umgangssprache verhält, ist zur Zeit -wie erwähnt- nicht zweifellos festzustellen. Hinsichtlich des pronominalen T/V-Gegensatzes ist deutlich, dass der erwähnte Poweraspekt von Brown und Gilman bei der Pronomenwahl zu einfach ist: Simon weist darauf hin, dass im Mittelhochdeutschen neben sozialen Schichtzugehörigkeit insbesondere Blutverwandtschaft aber auch relatives Alter und materielle Verhältnisse eine Rolle spielen können.41 Der nächste Entwicklungsschritt des Anredesystems fand im Laufe des 16. Jh. statt. Neben dem V-Pronomen ihr werden zwei neue V-Pronomen eingeführt: er und sie. Die neue Form trat am Anfang nur mit Antezedens, worauf sie sich beziehen, auf: sogenannte „bound form“.42 Dies sind die personenbezeichnende Nomina wie Herr, Jungfer und Vater, aber auch Eigennamen konnten zur Bezeichnung des Adressaten vorkommen. Wenn die nominale Anredeform als Subjekt des Satzes fungierte, nahm das zugehörige Verb den Wert der dritten Person an. Beispiel: Was sagt Frau Müller? 38 Vgl. Hake vor der, Jan Arend. S. 37. Simon, Horst. S. 94. 40 Ebd. S. 105-106. 41 Vgl. ebd. S. 96. 42 Ebd. S. 108. 39 30 Erst ab dem dritten Jahrzehnt des 17. Jh. traten die höflichen er/sie Anredepronomen laut Simon selbständig auf. Grund für die neuen Anredeformen (also die Nomina und letztendlich die selbständigen er/sie-Pronomen) war die immer häufigere Verwendung des ihr-Pronomens in der Gesellschaft. Da auch die Zivilbevölkerung das Pronomen verwendete und da die Zahl der potenziellen Ihr-Adressaten zunahm, verlor das exklusive Ihr laut Simon an Bedeutung.43 Der nächste Schritt war die Entwicklung von Sie als Anredepronomen. Die Entstehung dieses Phänomens, bei dem eine einzelne Person mit einer Pluralspezifikation auftritt, war schon im 15. Jh. entstanden. Simon zufolge war der Grund hierfür die häufige Verwendung von nominalen Abstrakta. Dies sind Nomina, die in ihrer eigentlichen Bedeutung menschliche Eigenschaften bezeichnen, beispielsweise Eure Majestät für gekrönte Häupter und Eure Weisheit für Gelehrte und Lehrer.44 In diesen sogenannten Abstraktnomina liegt darüber hinaus der Ursprung für die Anrede mit dem Pronomen Sie. Diese Abstraktnomina sind traditionellerweise schon damals für den Wert „dritte Person Plural“ spezifiziert worden. Simon zufolge spielte bei dieser Pronomenentwicklung wahrscheinlich verschiedene formal induzierte Ambiguitäten eine Rolle. Dadurch sei es für Interpreten nicht möglich, um alle der involvierten Abstrakta immer eindeutig einem Numerus zuzuordnen.45 So ist z.B. der Unterschied zwischen den Pronomen sie und Sie und damit die genaue Spezifikation des Pronomens nicht eindeutig. In einem Text kann Simon zufolge also eine Mischung der Anredepronomen der 3. Person vorkommen. Erst am Anfang des 18. Jh. gab es ihm zufolge eindeutig die Möglichkeit, wie heutzutage, dass eine einzelne Person mit Sie angeredet wird.46 Braun weist daraufhin, dass es sich bei dem Pronomen Sie nicht nur um eine Pluralität handele, sondern wiederum [wie er/sie] das Merkmal der dritten Person.47 Neben den erwähnten Pronomen gab es im 18. und 19. Jh. in der Schriftsprache eine komplexe engere Form, die ihren Ursprung in Artikel und Pronomen hat. Beispiele dazu sind der/die und insbesondere derselbe/dieselbe: Monsieur, ich freue mich, dass ich die Ehre habe, denselben zum andernmale zu sehen. 48 Schriftsteller konnten sich mit Hilfe dieses Pronomens (noch) höflicher ausdrücken. Gottsched nennt 1762 diese Form 43 Vgl. Simon, Horst. S. 107. Vgl. ebd. S. 110-111. 45 Vgl. ebd. S. 113. 46 Vgl. ebd. S. 114. 47 Braun, Friederike. S. 51. 48 Zit. nach Metcalf, 1938. In: Simon, Horst. S. 115. 44 31 „überhöflich“. Das höfliche Anredepronomen bezieht sich auf die Anredeform Monsieur und tritt nicht autonom auf. Es gab zurzeit drei verschiedene V-Pronomen, die ein unterschiedliches Höflichkeitsniveau zum Ausdruck bringen, und in der Schriftsprache außerdem noch die vierte Möglichkeit, die man nicht als vollständig betrachten kann. Im Paradigma der Pronomen nimmt dieselben laut Simon deswegen „eine Randposition“ ein.49 Da die V-Form seit dem 17. Jh. verschiedene Stufen kennt, hatte das deutsche Anredesystem längere Zeit keine eindeutige T/V-Dichotomie. Die folgende Abbildung illustriert gleichzeitig Gottscheds andere treffende Bezeichnungen der Anredepronomen in einer Gesamtübersicht. Höflichkeitsstufe Bezeichnung Ich bitte dich natürlich Ich bitte euch althöflich Ich bitte ihn mittelhöflich Ich bitte Sie neuhöflich Ich bitte dieselben überhöflich Abbildung 6: Die Höflichkeitsperioden nach Gottsched Das T-Pronomen du ist nach Adelung am Ende des 18 Jh. noch in folgenden Situationen verwendet worden: enge Vertraulichkeit, Dichtkunst, Verachtung und gegen Gott.50 Deutlich ist allerdings nicht, was genau mit Vertraulichkeit gemeint wird. Wenn man es mit der heutigen Vertraulichkeit vergleichen kann, sollte es um familiäre Beziehungen oder Freundschaften gehen. Das V-Pronomen würde dann nur in der Öffentlichkeit verwendet. Zum Bestehen der verschiedenen Höflichkeitspronomen sagt der Germanist Besch, der sich unter anderem mit Sprachwandel beschäftigt, dass das erweiterte Inventar der Anredepronomina die Ausdrucksform einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft sei.51 Ende des 18 Jh. wurde das aufgebaute Anredesystem mit bisher immer wieder neu eingeführten Höflichkeitspronomen allerdings wieder eingeschränkt. Im Laufe der Zeit nahm die er/sie-Höflichkeitsverwendung ab, da diese Form durch den allgemeinen Gebrauch ihren Charakter der Höflichkeit einbüßte. In der Literatur wurde die Anrede häufiger gegenüber Dienstboten verwendet. Auch in derartigen Situationen ist diese Höflichkeitsform letztendlich verschwunden. 49Simon, Horst. S. 119. Zit. nach Adelung, 1782. In: Simon, Horst. S. 116. 51 Besch, Werner. Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern. Götingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996. S. 93. 50 32 „Heute sagt man in der Stadt auch zu jedem Dienstboten „Sie“. Das früher beliebte „was will Er“ oder „wie heißt Sie“ ist völlig ungebräuchlich.“52 Franz Ebhardt, der sich während verschiedener Jahrzehnte in verschiedenen Werken mit Etiketten beschäftigt, ist 1878 der Meinung, dass gerade die Verwendung des höflichen Anredepronomens „Sie“ einen Machtunterschied zwischen Schichten bewirkt: „Höflichkeit gegen Untergebene ist das beste Zeichen von wirklicher Überlegenheit. […] Es liegt wirklich in der Höflichkeit eine zwingende Macht, der sich selbst der weniger Gebildete nicht entziehen kann.“53 Dieses Zitat zeigt, dass man Untergeordnete seiner Meinung nach nicht unbedingt mit einem T-Pronomen anreden sollte, um eine Machtbeziehung zu betonen. 1921 schreibt er, dass das V-Pronomen „den Untergebenen ein gewisses Gefühl von Genugtuung“ gibt und „hält sie besser in Schranken als das Du, dass wir nur […] im engsten Kreise der Familie zu gebrauchen gewohnt sind.“54 Das Du ist in beiden Zitaten also nicht mehr als Beispiel hinsichtlich der Geringschätzung zu betrachten und hat wahrscheinlich mittlerweile nur noch die Funktion der Vertraulichkeit bekommen. Obwohl Herrschaft und Dienstboten verschiedenen Schichten angehören, werden sie durch die gegenseitige Verwendung des V-Pronomens in der Sichtweise der power semantic Browns und Gilmans gerade aneinander gleichgesetzt. Bei dieser gegenseitigen V-Verwendung handelt es sich laut Braun nicht um eine Gleichsetzung. Sie redet in dieser Hinsicht von einem V-Pronomen „mit negativem Statusaspekt“. Laut Braun dient dies dazu, Statusunterschiede zu signalisieren, ohne dass die Distanz des V aufgegeben werden müsse. Dies, so sagt sie, im Gegensatz zum T-Gebrauch nach unten.55 Die gegenseitige V-Verwendung hat also die Funktion zum Ausdruck einer Distanz bekommen und wird deswegen auch asymmetrisch verwendet. Das Anredepronomen Sie, das bisher nur in der obersten Gesellschafsschicht verwendet wurde, wurde allmählich auch in den bürgerlichten Schichten gebraucht. Die Pronomen ihr und er/sie sind dadurch unter Druck geraten und Mitte des 19. Jh. aus der Standardsprache vollkommen weggefallen.56 In der deutschen Standardsprache verwendet man seitdem das Ur-(T)-Pronomen du und Sie als V-Pronomen. 52 Zit. nach Hoefs, 1930. In: Krumrey, Horst-Volker. Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Anstandsbüchervon 1870 bis 1970. Frankfurt: Suhrkamp, 1984. S. 415. 53 Zit. nach Ebhardt, 1878. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 406. 54 Krumrey, Horst-Volker. S. 439. 55 Braun, Friederike. S. 57. 56 Vgl. Simon, Horst. S. 121. 33 Ihr als singuläre Subjektform wird heutzutage übrigens immer noch in verschiedenen deutschen Dialekten als Höflichkeitspronomen verwendet, ebenso wie die er/sie-Anrede örtlich noch vorkommt. Dadurch kann man die Verpflichtung, sich deutlich für du oder Sie zu entscheiden, umgehen. Simon spricht in diesem Bereich von einer du/Sie Vermeidungsstrategie.57 2.2.2 Der Einfluss des Französischen: Sie als V-Pronomen Die prestigeträchtige französische Sprache, die in Deutschland insbesondere im 18. Jh. in den höheren Schichten als Vorbild galt, hatte, als das deutsche Anredesystem sich auf die Pronomen du und Sie beschränkte, eine deutliche pronominale T/VZweiteilung im Anredesystem. Dies könnte laut Simon eine der möglichen Ursachen der Verschiebung der damaligen Höflichkeitsformen im deutschen Anredesystem sein.58 Ein wichtiges Kennzeichen der deutschen Sprachentwicklung in diesem Jahrhundert war laut Von Polenz die häufige Verwendung von Fremdsprachen, insbesondere des Französischen.59 So wurde das Lateinische immer häufiger vom Hochadel und Gelehrten durch das Französische ersetzt. Französisch wurde „die Sprache des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts in Europa“.60 Das Phänomen der Mehrsprachigkeit hatte in den Oberschichten, wie Fürstenhöfe und in weltoffenen Städten angefangen. Es ging laut von Polenz in Deutschland nicht nur um Literatursprache, auch Lehrbücher und die Presse erschienen auf Französisch. Der Höhepunkt und gleichzeitig Wendepunkt des Spracheinflusses war ihm zufolge gegen Ende des 18. Jh. Die Verbreitung der Sprache war zur Zeit des 30jährigen Krieges auch in den niedrigen Schichten der Gesellschaft merkbar. Hinsichtlich der Verwendung der französischen Sprache durch das Bürgertum redet Elias von einer „höfischen Phase“ des Bürgertums, weil das Bürgertum „nach jedem dritten oder vierten deutschen Wort versucht ein französisches einzufügen, wenn sie es nicht vorzogen, sich überhaupt der französischen Sprache, der höfischen Sprache Europas, zu bedienen.“61 Die deutsche Sprache ist im 18. Jh. in verstärktem Maße durch französische Fremd- und Lehnwörter beeinflusst worden. Deutlich ist auch, dass dies für verschiedene deutsche 57 Vgl. Simon, Horst. S. 127. Vgl. ebd. S. 123. 59 Vgl. Polenz von, Peter. Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band II. 17. und 18. Jh. Berlin: Walter de Gruyter, 1994. S. 49. 60 Ebd. S. 64. 61 Elias, Norbert. Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band II. Basel: Haus zum Falken, 1939 S. 428-429. 58 34 Verwandtschaftsbezeichnungen wie Oheim und Base gilt, die in diesem Zeitraum endgültig durch die französischen Äquivalenten (Onkel und Cousine) ersetzt worden sind.62 Dass dies auch für die Entwicklung des deutschen pronominalen T/V-Systems gilt, ist als auf der Hand liegend zu betrachten. 2.2.3 Verwendung des T-Pronomens und Machtdistanz innerhalb der Familie Innerhalb der Familie wird das T-Pronomen verwendet. Dies bedeutet aber noch nicht, dass es sprachlich keinen Machtunterschied zwischen Verwandten gibt. An den Anredeformen grenzt allerdings ein bestimmte Macht- und Höflichkeitsunterschied. „Alle Bitten an Erwachsene und Eltern beginnen mit: […] Bitte, Frl. …; Bitte Vater; Für die Gewährung hat man zu danken: „Danke“!“63 Laut Adelfels 1900 mögen jüngere Geschwister „gegen die älteren respektvoll und sich manches von ihnen gefallen lassen […].“64 Diese letzte Behauptung kommt mit einem noch nicht erwähnten Beispiel von Brown und Gilman hinsichtlich semantic conflitcts überein. Bis zum 19. Jh. haben ihnen zufolge jüngere Geschwister die älteren noch mit dem V-Pronomen angeredet, umgekehrt wurde das T-Pronomen verwendet. Dieser semantic conflict änderte sich in eine gegenseitige solidarische T-Verwendung. Laut Krumrey weist Adelfels daraufhin, „dass sich die Hierarchie der Eltern-KinderBeziehung in den Beziehungen der Kinder innerhalb der Geschwisterreihe widerspiegelt.“65 Diese Beispiele zeigen, dass Machtverhältnisse sich nicht nur durch die Verwendung der Pronomen zeigen lassen. Eine pronominale T-Verwendung bedeutet, da doch von einer Machtbeziehung die Rede sein kann, deswegen nicht ausnahmelos, dass es sprachlich eine reine Solidaritätsbeziehung zwischen den Gesprächspartnern (Eltern und Kinder) gibt. 2.2.4 Titulatur in Deutschland: Zeichen der Macht/Status Die Verwendung der pronominalen Anredeformen deuten darauf hin, dass es ab der Entstehung des pronominalen T/V-Unterschieds in Deutschland in der Vergangenheit immer einen Trend zur Erweiterung des V-Pronomens gegeben hat. Die offizielle Korrespondenz fand im deutschen Sprachraum bis ins 19. Jh. weitgehend auf Französisch statt. Ab etwa 1815 verwendete man wieder vermehrt 62 Vgl. Polenz von, Peter. S. 78 und 82. Zit. nach Schicklichkeits- und Ritterspiegel, 1915. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 330. 64 Vgl. Krumrey, Horst-Volker. S. 328. 65 Ebd. S. 340. 63 35 deutsche Titulaturen, wobei man allerdings laut Spillner zunächst noch die französische Grammatik in das Deutsche einfließen ließ. Die dann erscheinenden deutschsprachigen Titulaturen seien ihm zufolge oft weniger aufwändig, aber nicht weniger unterwürfig.66 Die empfohlenen Anreden sollten sich Spillner zufolge zur Zeit der Revolution geändert haben: „Die Anredeformen haben sich für den größeren Teil des gesellschaftlichen Verkehrs auf ein überschaubares Maß gewandelt und vereinfacht.“67 Die richtige Wahl der Titulatur ist schwieriger als bei den Anredepronomen, denn man muss im Voraus schon den Rang und genauen Titel wissen. Titel sind ein Zeichen einer (relativ) hierarchisch gegliederten Gesellschaft, und beinhalten eine Machtdistanz (Status). Sie sind ein geeignetes Beispiel der vertikalen Statusdimension. Wenn beide Gesprächspartner der gleiche Rang oder Titel haben und es sich im Licht der power semantic deswegen um eine horizontale Statusdimension handeln würde, gilt für die Titelverwendung, dass sie unterlassen wird. Man verwendet dann nur gegenseitig das V-Pronomen. Dass der Titulatur im 19. und im 20. Jh. eine wichtige Rolle zugewiesen wird, zeigen verschiedene Zitate aus der Untersuchung Krumreys. Ein Zitat aus dem Jahre 1887 zeigt die gleiche Tendenz wie nachfolgendes Zitat von Ebhardt 1921: In allen Fällen, wo man zu Höhergestellten spricht und diese Stellung zu betonen wünscht, ersetzt man die Anrede >Sie< oder >Ihnen< durch den Titel. „Man sagt also […] >Wünschen Herr Oberst ein Glas Wein?< In militaristischen Kreisen ist diese Redeform allgemein gebräuchlich und auch außerhalb derselben hat sich vielfach verbreitet.“68 Es gab damals hinsichtlich der Titulatur immer noch einen Trend zur weiteren Formalisierung. Ein anderes Zitat zeigt 1933 eine Abneigung in Bezug auf die nominalen Anredeformen Deutschlands: „Damit [die Anreden] machen wir es uns in Deutschland leider immer noch unnötig schwer. Während man im Ausland längst auch in den höchsten Kreisen jeden mit seinem Namen anredet, sind wir vorläufig nur in der ersten Gesellschaft Norddeutschlands so weit. Im Übrigen plagen wir uns weiter mit der Titelfrage herum […] bittet dich aber jemand, ihn außeramtlich bei seinem Namen zu nennen, so nimm das dankbar an.“69 Auch von Franken beschäftigte sich 1951 mit den Verhaltensstandards und schlug auch die Verwendung des Familiennamens vor, wie bei rein freundschaftlichem Verkehr laut 66 Spillner, Bernd. S. 28. Ebd. S. 31. 68 Krumrey, Horst-Volker. S. 417. 69 Zit. nach Meister, 1933. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 453. 67 36 ihm schon selbstverständlich sei.70 Genau dies ist ein wichtiger Punkt: Die Verwendung der Titulatur sorgt wie die Verwendung des V-Pronomens dafür, dass die Domäne der persönlichen Beziehungen einerseits und der formellen Beziehungen anderseits behalten bleiben. Krumrey weist darauf hin, dass sich die Anrede mit dem Familiennamen im untersuchten Zeitraum (1870-1970) bereits „auf Kosten von Geburts-, Amts- und Berufsbezeichnungen“ ausgebreitet hat. Auch dies ist ein Signal, dass im Laufe des 20. Jh. Titulatur als Zeichen von Macht abnimmt. Obwohl Franken der Meinung ist, dass die Verwendung des Familiennamens eine Freundschaft zum Ausdruck bringt, könnte man sich fragen, ob es sich hier nicht nur um eine Verschiebung der Höflichkeit handelt, da die Verwendung eines Nachnamens mit dem V-Pronomen kombiniert wird. In der Zitatenübersicht Krumreys ist erst ab den 50er Jahren des 20. Jh. eine Änderung merkbar: Die Beratungen oder Kritiken hinsichtlich der Wahl der Anreden änderten sich damals. Sie sind, da die strenge Verwendung der Titel nicht mehr auf der Hand liegend ist, etwas lockerer geworden. Das nächste Zitat zum Beispiel zeigt den Einfluss der Solidarität innerhalb einer sich ändernden Beziehung: „Ränge und akademische Titel sind immer zu erwähnen. Sie dürfen erst fortgelassen werden, wenn das Verhältnis der Briefpartner freundschaftlich geworden ist oder beide den gleichen Rang oder Titel haben.“71 Die tatsächliche Verwendung lässt sich in diesem Beispiel anhand des Solidaritätsprinzips entscheiden. Immerhin: Nur wenn man den Angesprochenen gut kennt, darf man den Titel weglassen und redet man einander wahrscheinlich mit dem TPronomen an. Es ist etwas Selbstverständliches, dass innerhalb einer solidarischen Beziehung die Titulaturverwendung wegbleibt, da man sie nicht als Zeichen der Solidarität betrachten sollte. Krumrey bemerkt auch, dass sich die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten im äußeren Verhalten in der Öffentlichkeit im Laufe des Untersuchungszeitraumes vermindern. Er ist deswegen der Meinung, dass die Entwicklung der Anreden und Titulatur ebenfalls als Maßstab für das sich wandelnde Verhältnis zwischen hierarchisch definierten Beziehungen im Untersuchungszeitraum herangezogen werden kann.72 Die Umgangsformen zwischen den verschiedenen Schichten werden lockerer. Dennoch gilt sowohl für das V-Pronomen als auch für den 70 Krumrey, Horst-Volker. S. 451 und 453. Zit. nach Graudenz/Pappritz, 1956. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 427. 72 Vgl. Krumrey, Horst-Volker. S. 428. 71 37 Titulatur, dass sie in der ersten Hälfte des 20. Jh. unvermindert stark in der deutschen Sprache verwurzelt sind. 2.2.5 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und des Machtverhältnisses Der Adel hatte die politische Macht und die damit verbundene öffentliche Sphäre lange im Griff. Es war kennzeichnend für das Gebiet, dass letztendlich Deutschland wurde, dass es lange Zeit keine nationale Identität kannte. Der Adelstand und die bürgerlichen Schichten waren bis zum Jahre 1871 laut Elias stark voneinander getrennt und kannten längere Zeit separate Herrschaften: einerseits die adligen Höfe, die sich mit politischen, militaristischen und wirtschaftlichen Entscheidungen beschäftigten, und anderseits die Universitäten, die sich um den kulturellen Bereich, sowie Literatur, Philosophie und Wissenschaft kümmern. Umgangsformen und Etikette waren Elias zufolge für beide Schichten als gemeinsamer Kanon zu betrachten. Das Bürgertum war ab den letzten Jahrzehnten des 18 Jh. im kulturellen Bereich erfolgreich (Bildungsbürgertum). Gleichheit war innerhalb des Bürgertums ein zentrales Thema.73 Ab 1871 änderten sich die bisherigen Machtverhältnisse zum größten Teil. Die anwachsende Zahl der bürgerlichen Studenten, die in die Satisfaktionsfähige Gesellschaft integriert war oder Anschluss an den Adelstand suchte, machte sich laut Elias den Ehrenkanon der Oberschichten zu eigen. Der bisherige kulturbezogene Aspekt des Bürgertums nahm in der Regel stark ab. Elias umschreibt den Umschwung des Bürgertums zwischen der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jh. als einen „eindrucksvollen Gestaltwandel“. Gebunden waren die Bürgerschichten an „die Tradition des kriegerischen Ehrenkanons“ des Adels. Auch ist es laut Elias selbstverständlich, dass sie an „ein Herkommen hierarchischer Ungleichheit der Menschen, der bedingungslosen Über und Unterordnung“ gebunden waren.74 Die Macht des Adelsstandes hat laut Elias durch Vertreter des Bürgertums und der Arbeiterschaft in der Weimarer Republik abgenommen. Es waren „die Führer des nationalsozialistischen Experiments“, die endgültig „einen Schlussstrich unter den jahrhundertelangen Schichtenkampf zwischen Adel und Bürgertum“ zogen. 75 Den 73 Vgl. Elias, Norbert. Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. Und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Michael Schröter. Frankfurt: Suhrkamp, 2005 (Norbert Elias gesammelte Schriften. Bd. 11). S. 169-170. 74 Ebd. S. 170-171. 75 Ebd. S. 40. 38 nationalen Habitus, der sich seit 1871 bis 1945 in Deutschland entwickelte, charakterisiert Wouters als adligen Kriegerkodex. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein ‚erneuter‘ Mittelschichthabitus entwickelt. Die kompromisslose Haltung des kriegerischen Ehrenkanons war ab diesem Moment nicht mehr gültig. Wouters bemerkt, dass die Deutschen sich in der Öffentlichkeit immer noch ziemlich formell verhalten, insbesondere wenn es innerhalb einer Hierarchie an einer deutlichen Struktur fehlt. Auch bemerkt er, dass es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, zum Beispiel den Niederlanden und England, eine relativ große Marge zwischen formell und informell gibt.76 Man könnte sicherlich die Hinsicht vertreten, dass die formellen Umgangsformen als Nachwehen der früheren hierarchisch organisierten Gesellschaft zu betrachten sind. 2.3 Übergangszeit: Die Gesellschaft ändert sich, Umgangsformen kaum Seit dem Ende des 19. Jh. nimmt die Marge zwischen Formalität und Informalität ab. Gezeigt wurde, dass es in beiden Ländern in den Oberschichten aufsteigende Gruppen gab. Zur Zeit des Aufschwungs des Kapitalismus nehmen die Ständeunterschiede mehr und mehr ab. Es gibt am Ende dieses Jahrhunderts in den abendländischen Ländern verschiedene Gruppen der nouveau Riche, wodurch die bisherigen Herrscher die Macht mit den neuen Gruppen, die innerhalb der Gesellschaft wirtschaftlich aufsteigen, teilen müssen. Dieser Prozess entwickelt sich auch im 20. Jh. immer weiter. Wo man sich bisher von anderen Schichten fernhalten konnte, werden die verschiedenen Gruppen zurzeit immer mehr voneinander abhängig: Wouters nennt dies Interdependenznetze.77 Er weist darauf hin, dass es auch im Alltag –oft ungewollthäufiger Kontakt zwischen Leuten verschiedener Schichten gibt, wodurch es immer schwieriger wird, die Gruppen auf dem erwünschten Abstand zu halten, da man sie, zum Beispiel an der Arbeit und auf der Straße, einfach schwieriger meiden kann. Dies sorgt gleichzeitig dafür, dass die bisherige Distanz zwischen Gruppen abnimmt, und deswegen nehmen auch die Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft ab, wodurch sich langfristig auch die Umgangsformen in verschiedenen Ländern wie Deutschland und den Niederlanden änderten. Die bis dann herrschende Formalisierung kommt zum Stillstand und der Trend zur Informalisierung beginnt. Bei dieser Änderung handelt es sich nicht um eine allmähliche Änderung, sondern um einen schrittweisen Prozess, der 76 77 Vgl. Wouters, Cas. (2008) S. 159-160, 162-164. Vgl. ebd. S. 65. 39 durch Perioden von Reformalisierung abgewechselt worden ist. Seit dem Beginn dieses Prozesses gibt es zwei Zeitspannen, die eine eindeutige Informalisierung zeigen. Wouters nennt die Zwanziger Jahre sowie die Sechziger und Siebziger Jahre. Diese letzte Periode wird im nächsten Kapitel eingehend erörtert. Die Goldenen Zwanziger: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich, auch durch den zunehmenden Wohlstand, die Gesellschaft. In Deutschland fängt, wegen des Versailler Vertrages, diese Periode erst 1924 an. Es gibt eine freiere Position der Frauen und Kinder und es gibt Signale, dass sich die Umgangsformen in den Niederlanden und Deutschland änderten: Sie wurden lockerer. Das nächste Zitat aus dem Jahre 1929 zeigt ein niederländisches Beispiel: „Alle ‚stijfheid’, ‚gemaniëreerdheid’ verdween uit de samenleving, en werd vervangen door een achtelooze nonchalance, [...] Na de stijve vormelijkheid der vorige eeuw, is er tegenwoordig een reactie gaande, die tot het andere uiterste wil overslaan.”78 Es fällt in verschiedenen Zitaten in der Untersuchung Krumreys auf, dass es ab den zwanziger Jahren, einen Appell an die Jugendlichen, hinsichtlich ihrer Umgangsformen, gibt. „Besonderes junge Menschen sollten sich merken, dass es besser ist, lieber etwas zu förmlich als zu lax zu sein.“79 Offenbar hatte diese Generation Schwierigkeiten mit den herrschenden Umgangsformen. Der Schritt zur Informalisierung ist also nur von kurzer Dauer. Ab dem Jahre 1929 endet weltweit der Wohlstand und dies gilt auch für die etwas lockereren Umgangsformen in den zwei Ländern. Reformalisierung tritt ein und die vormaligen Umgangsformen treten wieder in den Alltag ein. Das Nazizeitalter in Deutschland sorgt auch dafür, dass Formalisierung sich wieder durchsetzt. 2.4 Gültigkeit Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Formalisierung Die Entwicklungsgeschichte der Anredepronomen in den Niederlanden zeigt ein anderes, weniger eindeutiges Bild als in Deutschland. Es handelt sich dabei nicht nur um Verschiebungen und Änderungen der verschiedenen Pronomen: Im Niederländischen wurde u im Dativ und Akkusativ im Laufe d0er Zeit auch im Nominativ verwendet. ‚Jij’ und ‚u’ haben unterschiedliche Entwicklungsgeschichten. 78 79 Zit. nach Kloos-Reyneke van Stuwe, 1927. In: Wouters, Cas. (2008) S. 256. Zit. nach Meister, 1933. In: Krumrey, Horst-Voker. S. 431. 40 Dem ‚jij’ gehen gij und du voran und dem ‚u’ gehen gij und ghi voran. Insbesondere deutlich wurde, dass dadurch der pronominale T/V-Unterschied bis zum Ende des 19. Jh. nicht konsequent im Niederländischen vorkommt. Im Mittelniederländischen gab es zwar diesen Unterschied, wie Brown und Gilman auch, hinsichtlich der Entstehung des pronominalen T/V-Anredesystems „somewhere between the twelfth and fourteenth centuries“ für die europäischen Sprachen behauptet haben.80 Zwischen dem 17. und 19. Jh. hingegen fehlt dieser kennzeichnende Unterschied im Allgemeinen, wodurch der pronominale T/V-Unterschied jedoch längere Zeit überhaupt kein Teil der Standardsprache war. Eine Ausnahme dazu ist, obwohl es sich nicht richtig um eine reine V-Pronomen handelt, die höfliche Form, die nur mit den Antezedens, auf den sie sich beziehen, auftreten: gij + Herr im 18. Jh. Beispiele, die in der Literatur ein Machtverhältnis oder eine vertikale Anredebeziehung zeigen, sind fast immer die zwischen Kind und Eltern. Das Fehlen einer power semantic zwischen dem 17. und 19. Jh. lässt sich einerseits erklären, da sich die niederländische Gesellschaft durch relativ hohe Maße von Gleichheit kennzeichnen ließ und da die Oberschicht sich erst relativ spät entwickelt hat. Hinsichtlich dieser Oberschicht sollte hinzugefügt werden, dass sie sich während mehrerer Jahrhunderte auf Französisch unterhielt, wodurch es annehmbar ist, dass der pronominale T/VUnterschied in der niederländischen Standardsprache längere Zeit nicht vermisst wurde. Immerhin ist das V-Pronomen zum Ausdruck von Macht oder Höflichkeit während der Geschichte gerade von der Oberschicht eingeführt worden. Das neue V-Pronomen hat sich erst ab dem Ende des 19. Jh. im Niederländischen, sowohl unter dieser Schicht als auch unter dem Volk, verbreitet, da die Oberschicht ein Pronomen zur Verdeutlichung der (besseren) Position damals vermisste. Vor dieser Zeit waren Kontakte zwischen den verschiedenen Schichten in der Regel eher als Ausnahme zu betrachten. Es gibt starke Hinweise, dass das französische System als Beispiel für das neue Anredesystem im 19.Jh. fungierte. Allerdings muss man konstatieren, dass die power semantic Browns und Gilmans für die niederländische Sprache ab dem 17. Jh., auch falls man die niederländische Gesellschaft im Licht der Theorie Browns und Gilmans schon in diesem Jahrhundert anhand der zugenommenen Solidarität und Gleichheit als eher solidarisch kennzeichnen würde, nicht zutreffend ist. Erstens war das von ihnen 80 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 255. 41 umrissen Anredesystem mit einem pronominalen T/V-Unterschied im Niederländischen völlig verschwunden und zweitens trat dieser Unterschied im Laufe der Zeit gerade wieder erneut in die Sprache ein. Es fehlt Browns und Gilmans Theorie in beiden Hinsichten an der Möglichkeit dem (zeitlichen) Vorhandensein einer anderen „höheren“ Sprache neben der Standardsprache. Der Wiedereintritt einer pronominalen Dichotomie in die Sprache stimmt außerdem nicht mit der Behauptung von Brown und Gilman überein, dass die Solidarity Semantic schon im 19 Jh. in den verschiedenen Sprachen angefangen hatte. „However, all our evidence consistently indicates that in the past century [19.Jh] the solidarity semantic has gained supremacy.”81 Obwohl die verschiedenen Schichten in dem Lande seit diesem Jahrhundert häufiger Anschluss aneinander finden, äußert sich dies in der Sprache gerade durch Machtunterschiede. Auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. existiert der (strenge) pronominale T/V-Unterschied immer noch. Obwohl es Signale gibt, dass die Umgangsformen in den zwanziger Jahren zeitlich lockerer werden, hat die Machtdistanz im Sprachgebrauch zweifellos immer noch die Oberhand und gibt es seit dem Eintritt des neuen Anredesystems keine Änderungen. Im Deutschen gab es das T-Pronomen du und seit dem 10. Jh. immer eine oder mehrere V-Varianten. Diese Pluralform könnte man vereinzelt als Höflichkeitsvariante betrachten. Kennzeichnend für das deutsche pronominale Anredesystem ist die Ausdehnung des V-Pronomens im Laufe der Zeit. Er/sie ist im 17. Jh. höflicher als ‚ihr’ und später ist Sie stärker als die er/sie-Höflichkeitsform. Anhand dieser Höflichkeitsreihenfolge und -Stufen wird deutlich, dass man immer versucht hat, ein höflicheres Anredepronomen einzuführen und zu verwenden, da höhere Kreise durch diesen Unterschied ihre gesellschaftliche Position verdeutlichen und festigen wollten. Die drei verschiedenen V-Pronomen und die schriftliche V-Form sind im 18. Jh. sowie am Anfang des 19. Jh., abhängig vom Status des Angesprochenen, nebeneinander verwendet worden. Die erwähnte Aussage Beschs, in der zum Ausdruck kommt, dass das erweiterte Inventar der Anredepronomina die Ausdruckform einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft ist, kann man mit der pronominalen Verwendung der verschiedenen V-Formen hervorragend in Verbindung bringen. Hierarchie erweist sich auch bei der Verwendung der Titulatur. Der Adel und seine Machtposition 81 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 259. 42 kennzeichneten die deutsche hierarchische Gesellschaft und die Ungleichheit der Menschen. Es geht während der deutschen power semantic eindeutig um eine erweiterte vertikale Statusdimension Browns und Gilmans. Die verschiedenen V-Pronomen, die nebeneinander verwendet wurden, sind von Brown und Gilman kurz erwähnt worden: „In German the distinction began with du and ihr but ihr gave way to er and later to Sie.“ Obwohl die Aufeinanderfolge dieser Pronomen zwar stimmt, ist das Phänomen der verschiedenen V-Pronomen, zum graduellen Ausdruck der Macht oder Höflichkeit im gleichen Zeitraum, von ihnen nicht erwähnt worden. Gerade diese verstärkte Höflichkeitsformen waren schon längere Zeit ein wichtiges Merkmal der deutschen Anredeformen und kennzeichneten die power semantic im Deutschen hervorragend. Die höheren Schichten Deutschlands sind insbesondere im 18. Jh. von der französischen Prestigesprache geprägt worden. Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu den Niederlanden ist, dass auch im Deutschen die verschiedenen V-Pronomen in diesem Zeitalter doch vorkamen. Die Übersichtlichkeit der französischen T/VPronomen könnte der Grund dafür sein, dass die verschiedenen V-Formen im Deutschen gerade abgenommen haben. So galt ebenso, dass die Titulatur in Deutschland sich zur Zeit der Französischen Revolution simplifizierte. Man könnte in dieser Hinsicht theoretisch von einem Vorboten der solidarity semantic sprechen, da die hierarchischen Anredeformen ab dem 19. Jh. nicht mehr zunehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Solidarität zunimmt. Hierarchie blieb zweifellos ein wichtiges Merkmal der deutschen Gesellschaft und dies äußert sich unvermindert in der Sprache, die solidarity semantic tritt, wie im Niederländischen also immer noch nicht ein. Der Unterschied zwischen formellen und informellen Situationen, also das öffentliche gegenüber dem privaten Leben ist schon mehrere Jahrhunderte ein entscheidender Faktor hinsichtlich der Verwendung der Anredepronomen. Das TPronomen wurde vormals auch noch zum Ausdruck der Geringschätzung verwendet. Auffallend ist jedoch die letztendliche reziproke Verwendung des Sie im Beispiel der Dienstboden. Dies zeigt, dass eine reziproke V-Verwendung auch ein Machtverhältnis andeuten kann. Sie hat diese Rolle als Distanz- oder Machtpronomen ab Ende des 19. Jh. übernommen. Das V-Pronomen drückt dadurch nicht nur die vertikale Dimension Browns und Gilmans (also von unten nach oben) aus, sondern auch das asymmetrische Verhältnis von oben nach unten. Diese letzte Beziehung klassifizieren Brown und Gilman nur als T-Verhältnis. Schließlich bringt das V-Pronomen auch die horizontale Statusdimension (Höflichkeitspronomen) zum Ausdruck. Im Privatleben, auch in der 43 Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wird nur das T-Pronomen verwendet. In diesem spezifischen Fall wurde gezeigt, dass Machtunterschiede nicht nur anhand von Pronomen gezeigt werden können. Obwohl Brown und Gilman sich in ihrem Artikel bewusst auf die Pronomen beschränken, sollte man solche Sonderfälle nicht einzelstehend betrachten, da Titulatur und sonstige nominale Anredeformen auch zum Repertoire der Macht und Solidarität gehören. Die Theorie der power semantic ist insgesamt für das deutsche Anredesystem trotzdem für zutreffend zu erklären. Obwohl es so aussieht, dass die Schichtenunterschiede in Deutschland ab Ende des 19. Jh. abnehmen und es Signale gibt, die zeigen, dass die Umgangsformen lockerer werden, gibt es auch in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts keine tatsächliche häufigere solidarische Verwendung der Pronomen als vormals. Die Verwendung der deutschen Pronomen entspricht deswegen auch nicht der Behauptung Browns und Gilmans, dass solidarity semantic schon im 19. Jh. angefangen hat. Obwohl aus soziologischer Sicht die Informalisierungswelle im 19. Jh. in Gang gesetzt wurde, lässt sich die pronominale Verwendung im Zeitalter der Informalisierung generell sicherlich nicht durch Solidarisierung kennzeichnen. Die Tatsache, dass die Informalisierung sich in den 1920er nicht durchsetzte, sorgte wahrscheinlich dafür, dass die wachsende Solidarität innerhalb der Gesellschaft sich noch nicht in beiden Sprachen durchsetzen konnte. Hingegen kommt die bisherige diachrone Entwicklung des VPronomens sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland auf jeden Fall zum Stillstand. Dies bedeutet, dass sich dieses Pronomen ab diesem Moment zum Ausdruck eines verstärkten Maß des Macht- Distanz- oder Höflichkeitsverhältnisses nicht mehr weiter entwickelt. Die pronominale Verwendung in beiden Ländern ändert sich bis in die 60er Jahre nicht. Bis zum Ende des 19. Jh. fehlte es den Anredesystemen beider Länder an einer ständigen oder eindeutigen pronominalen T/V-Dichotomie, wie Brown und Gilman dies für die verschiedenen Sprachen behaupten. Eine Übereinstimmung zwischen den pronominalen Anredesystemen in beiden Ländern ist übrigens die langsame Entwicklung bis zur modernen V-Form: Sie bzw. u. Erst am Ende des 19. Jh. gibt es nach mehreren Jahrhunderte unterschiedlicher Entwicklung beider Systeme gleichzeitig- eine eindeutige Übereinstimmung zwischen beiden pronominalen T/VAnredesystemen. Obwohl die pronominale Verwendung in der Praxis nicht genau miteinander übereinstimmt, gibt es jedoch, wie im Französischen oder trotz des Französischen eine deutliche Trennung zwischen dem T- und dem V-Pronomen. Es gibt 44 verschiedene Forscher, die der Meinung sind, dass die Anredesysteme verschiedener Länder damals von der europäischen Prestigesprache Französisch geprägt worden sind. Brown und Gilman schenken dieser Tatsache in ihrem Werk gar keine Beachtung. Gerade der Einfluss des französischen Anredesystem war, in der Zeit, dass Französisch in den Oberschichten eine dominante Sprache war, für die Entwicklung der V- Pronomen und deswegen zur Entstehung der modernen pronominalen Anredesystemen in beiden Ländern wichtig. 45 Kapitel 3: Informalisierung in den Niederlanden und Deutschland: Verwendung der Anredepronomen während der solidarity semantic Umgangsformen und Anredepronomen haben sich im Laufe der Zeit geändert. Gesellschaftliche Entwicklungen und Einflüsse aus anderen Sprachen sind als Anlass dieser Änderungen zu betrachten. Gegen Ende des 19. Jh. hatte das Anredesystem in beiden Ländern die Form gefunden, die wir heutzutage immer noch kennen: das TPronomen: jij oder du und das V-Pronomen: u oder Sie. Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass sich die Pronomen und ihre Verwendung in beiden Ländern unterschiedlich entwickelt haben und einander deswegen nicht immer ähnelten. Deutlich wurde auch, dass die power semantic trotz kurzer Zeiträume der Informalisierung im 20. Jh. immer noch gängig ist. Die letzte Phase der power semantic dauerte von Ende des 19. Jh. bis zu den 60-er Jahren des 20. Jh. Während dieser Periode hat die pronominale Verwendung sich in beiden Ländern nicht sichtlich geändert. Danach änderte sich die Verwendung jedoch. Brown und Gilman reden im Allgemeinen von gesellschaftlichen Ereignissen, die solche Veränderungen der Umgangsformen in Gang setzten können. In Deutschland und den Niederlanden gilt die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges als eine Periode der starken gesellschaftliche Umwürfe. Diese haben eine „spontane“ Zunahme des T-Pronomens mit sich gebracht, was die förmlichen Umgangsformen zurückdrängte. Nachdem die gesellschaftlichen Entwicklungen untersucht worden sind, werden die Pronominalen Verschiebungen anhand der semantic conflicts erörtert, sodass der Frage nachgegangen werden kann, ob die Theorie der solidarity semantic dem Trend zur Solidarität und den dadurch ändernden Anredeformen in beiden Ländern entspricht. 3.1 Informalisierung in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg Die Übergangsphase der Umgangsformen im 20. Jh., insbesondere in den 60er und 70er Jahren, bezeichnet Wouters als „verburgerlijking van arbeiders“. Die Arbeiterklasse entwickelt einen neuen Lebensstil, der jener der Mittelschicht stets mehr ähnelt. Umgekehrt fand die „verarbeiderlijking van burgers“ statt. Die Machtverhältnisse und der dazugehörige Wunsch der Oberschichten, sich von den niedrigen Schichten unterscheiden, nahmen ab. Durch diese Entwicklung hat sich die Bürgerschaft auch teilweise an die lockeren Umgangsformen der niedrigeren Schichten 46 angepasst. In dieser Übergangsphase sind laut Wouters die verschiedenen Klassen und ihre Umgangsformen zusammengewachsen.82 Auch Elias umschreibt die Tendenz, dass sowohl die Bürger als auch die Arbeiter zusammenwachsen, was er als die Abnahme der Kontraste bezeichnet.83 Obwohl Solidarität zugunsten von Machtunterschieden zunahm, muss man gleichzeitig konstatieren, dass auch der Individualismus in diesem Zeitraum wichtiger wurde. Über die Sprachverwendung, die sich seit den 60er Jahren infolge gesellschaftlicher Änderungen entwickelt hat, sagt Van der Sijs: „Het verzet tegen het gevestigde gezag, uitte zich mede in het taalgebruik, dat vrijer en minder officieel werd. Er ontstond een grotere tolerantie tegenover […] informeel taalgebruik […].”84 Auch Van Bree konstatiert, dass der Demokratisierungsprozess in den Niederlanden die Verwendung der Anredepronomen beeinflusst. Es handelt sich ihm zufolge immer mehr um Gleichgestellte. Er stellt die These auf, dass unter Gleichgestellten viel mehr von Duzen als von Siezen die Rede sei und dass der ur-niederländische Gebrauch die Eltern zu Siezen, sich häufiger in Duzen änderte.85 Der Anstieg des Duzens hat nicht unbedingt mit gesellschaftlichen Änderungen innerhalb des Landes zu tun. Sprachwissenschaftlerin Daan äußert die Meinung, dass der Anstieg dieser J-Formen mit dem Einfluss des englischen you zusammenhänge, da diese Sprache die niederländische Sprache mehr und mehr prägen würde.86 Obwohl diese Annahme zur Zeit der Informalisierung öfter erwähnt worden ist, sind dazu keine überzeugenden Beweise zu finden. Zwei wichtige Ursachen liegen den Änderungen der Umgangsformen und der pronominalen Verwendung in den Niederlanden seit dem Zweiten Weltkrieg zugrunde: Erstens die jugendliche Generation und zweitens die ontzuiling (Entsäulung), die die Informalisierungswelle innerhalb der ganzen Gesellschaft allmählich beschleunigt haben. 82 Vgl. Wouters, Cas. Van minnen en sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Proefschrift. Amsterdam: 1990. S. 42-43. 83 Vgl. ebd. S. 43. 84 Van der Sijs, Nicoline. S. 23. 85 Bree van, Cornelis. S. 361. 86 Vermaas, Hanny. (2002) S. 59. 47 3.1.1 Die jugendliche Generation Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hat die jugendliche Generation laut Historiker James Kennedy im Bereich der Moralität eine gleichgültige Haltung. Die deutsche Besetzung hat Erziehungsexperten zufolge insbesondere die Jugendlichen geistig zerrüttet. Die neue Generation war laut Kennedy duldsamer und skeptischer als ihre Eltern: Sie verweigerten sich der traditionellen Rollenverteilung und versuchten sich von den Denkbildern ihrer Eltern zu trennen.87 Dazu sagt Historiker de Rooy: „De moderne jeugd had een eigen weg naar volwassenheid gekozen en dat moest worden gerespecteerd.”88 Die Jugendlichen hatten im Nachkriegswohlstandsstaat ein relativ hohes Einkommen und waren selbständiger als Generationen vor ihnen. Sie sind Kennedy zufolge durch die Popkultur aus London und New York beeinflusst worden und haben den informellen Jargon der anglo-amerikanischen Jugendkultur aufgepickt. Die Jugendrebellion fand in einem Zeitraum statt, als Erwachsene sich gelegentlich an die Jugendlichen anpassten. Nicht nur Soziologen, Psychologen, Jugendpfleger und Dozenten, sondern auch Geistliche und Politiker zeigten Kennedy zufolge Sympathie für die Ideale der Jugendlichen. Die Jugendlichen sind ihm zufolge als Träger der sozialen Reform betrachtet worden.89 Insgesamt verhalten die Jugendliche sich freier und aus der Sicht der Erwachsenen geht es öfter nicht mehr um Unterschiede zwischen den Generationen, sondern um Gleichheit. 3.1.2 Versäulung und Entsäulung Die niederländische Gesellschaft wurde im 20. Jh. von (religiösen) Subkulturen beherrscht. Orthodoxe, katholische aber auch sozialistische und liberale Strömungen bildeten eigene Vereine wie omroepen (Rundfunkvereine), Jugendvereine, Gewerkschaften und Schulen. In der Regel gab es kaum Kontakt zwischen den verschiedenen Strömungen. Das Alltagsleben war um die verschiedenen, separaten Strömungen und zugehörigen Säulen organisiert worden. Dies lässt sich mit dem Betriff verzuiling (Versäulung) zusammenfassen.90 Die Säulen waren von einer kleinen Gruppe der Regenten (Vertreter der politischen Parteien, Tageszeitungen, Kirchen) 87 Vgl. Kennedy, James. Nieuw Babylon in aanbouw. Nederland in de jaren zestig. Amsterdam: Boom, 1995. S. 42-44. 88 Ebd. S. 44. 89 Ebd. S. 128. 90 Vgl. ebd. S. 26. 48 angeführt worden. Bis in die sechziger Jahre haben die Eliten ihre Macht ausgeübt. Da sie sich laut Kennedy gegen die Reform der 60er Jahre gar nicht gesperrt haben, konnten die Reformen in hohem Tempo stattfinden.91 Die bisherige Formalisierung ist durch Informalisierung ersetzt worden. Die Niederländer wurden unabhängiger und gleichzeitig wurden sie auch wohlhabender. Der Einfluss der Kirche nahm in den 50er und 60er Jahre ab, die Säkularisation tritt ein. Die anhand von (religiösen) Säulen organisierte Gesellschaft änderte sich: Die ontzuiling (Entsäulung) ist eine Tatsache. Die Folge des Prozesses der ontzuiling war, dass die bisherigen Säulen das Leben der Niederländer immer weniger bestimmte, die Segmentierung der Gesellschaft abnahm und die Umgangsformen lockerer wurden. Die 60er werden laut Wouters durch Emanzipation und Widerstand gekennzeichnet: „De verhouding tussen ouders en kinderen, mannen en vrouwen, ouderen en jongeren, professoren en studenten, werkgevers en werknemers […] werden vanaf de tweede helft vanaf de jaren zestig gekenmerkt door openlijke spanningen.”92 3.1.3 Sich ändernde Umgangsformen: „Margriet“ und ihre Beratungsrubrik Ein alltäglicher Beweis des Informalisierungsprozesses in den Niederlanden ist laut der „Amsterdams Sociologisch Tijdschrift“ die Zeitschrift „Margriet“. In der Beratungsrubrik „Margriet weet raad“ könne man die Starke Veränderung der Umgangsformen und moralischen Wertezwischen 1938-1978 nachverfolgen, so die Verfasser des Artikels Brinkgreve und Korzec. Dies gilt beispielsweise für das hierarchische Verhältnis, das zwischen Eltern und Kindern abgenommen hat. Bis Ende der 60er Jahre wird ein eingesendetes Problem zweifellos zugunsten der damals noch mächtigen Eltern beantwortet, zum Beispiel: „Jouw ouders willen het niet en daarmee is de kous af“. 93 Einige Jahre später hingegen werden die Eltern auf die Eigenständigkeit ihrer Kinder aufmerksam gemacht und ab diesem Moment wird, wie verschiedene Beispiele zeigen, gerade zugunsten von den Kindern beraten. Etwas Ähnliches gilt für die Probleme einer anderen Kategorie: Geschehnisse, die sich auf die Entsäulung beziehen. In den 70er Jahren sind Angelegenheiten, die mit den verschiedenen Religionen zutun haben (wie die Heirat 91 Vgl. Kennedy, James. S. 13-14. Wouters, Cas. (1990). S. 128. 93 Brinkgreve, Christine und Michel Korzec. ‚Margriet weet raad’. Gevoel, gedrag, moraal in Nederland 1938-1978. Culturele veranderingen in Nederland: Analyse en interpretatie van een adviesrubriek. Utrecht: 1978 (Aula boeken/ Het wetenschappelijke pocketboek 636). S. 52. 92 49 zwischen Andersgläubigen) kein unüberwindbares Problem mehr: höchstens noch ein Hindernis. In der Beratungsrubrik erfahren Leser, wie Dienstmädchen und sonstige Arbeitnehmer Schwierigkeiten mit den Standesunterschieden und den damit zusammenhängenden Anredeunterschieden haben. Margriet beriet ihre Leserinnen in den 40er und 50er Jahren dies „einfach zu akzeptieren“. Derartige Probleme haben sich langsam aber sicher aufgelöst. Es kann gesagt werden, dass die Verschiebung der Beratungsschwerpunkt zeigt, dass die Machtdimensionen im Allgemeinen nur noch eine geringe Rolle spielen und widerspiegelt der Hang zur Solidarität zwischen den Menschen. 3.2 Informalisierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Im Laufe des 20. Jh. haben sich Machtunterschiede zwischen verschiedenen Gruppen verringert. Beispiele, die Elias erwähnt, sind unter anderen das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen den älteren und jüngeren Generationen und von Regierenden und Regierten. Als erstaunlich betrachtet er die stärke Auftriebsbewegung der ehemaligen Außenseitergruppen. Er weist darauf hin, dass der Wandel in Machtverhältnissen insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jh. „eine weitgehende Verunsicherung vieler Menschen“ auslöst: Es geht ihm zufolge um eine wachsende Statusunsicherheit und um Identitätssuche. 94 Elias konstatiert, dass es einen Unterschied gebe zwischen der älteren Generation, die noch eine mehr oder weniger lange Periode ihres Lebens vor dem Kriege verbrach haben, und den jüngeren Generation, die erst nach dem Kriege geboren wurde. Bei den letzteren begegne man ganz bewussten Versuchen, die Formalität des Verhaltens weiter abzubauen. Ihm zufolge gehe die Tendenz –teils ungewollt, teils gewollt- in die Richtung auf gleiches Verhalten in allen Lebenslagen.95 Verschiedene Autoren der Anstandsbücher empfinden nach dem Zweiten Weltkrieg Widerwillen gegen die sich ändernden gesellschaftlichen Umgangsformen und versuchen die vorherigen Umgangsformen aufrechtzuerhalten: 94 95 Vgl. Elias, Norbert. (2005) S. 41-42. Vgl. ebd. S. 47. 50 In unserer heutigen Massengesellschaft verwischen sich alle Grenzen zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand. […] Vielleicht können neue gültige Sitten erwachsen, wenn jeder sich erst wieder der tatsächlichen >Rolle< bewusst ist, die er in der Welt zu spielen hat.96 Hier äußert sich laut Krumrey eine Unsicherheit, da die bisherigen Umgangsformen der höheren Schichten abnehmen. Auch die Anredeformen änderten sich. Dazu sagt Spillner, dass in der damaligen Bundesrepublik Deutschland in der Zeit nach 1968 politisch bedingt einen verblüffend schnellen Wandel in den mündlichen Anredekonventionen gebe.97 Der bestimmende Faktor dazu sind die 68er Bewegungen, die die 60er Jahre geprägt haben. Im Folgenden wird die Rolle der Studentenbewegung im ehemaligen Westdeutschland beleuchtet. 3.2.1 Studentenbewegung, außerparlamentarische Opposition, Terroristengruppe Bei den Studentenprosteten ging es nicht nur um Reformen und schlechte Studienbedingungen. Mehr als anderswo ging es Elias zufolge in Westdeutschland um die Generationsproblematik bürgerlicher Gruppen. Junge Menschen bürgerlicher Herkunft sind nach einer langen Periode der Hitlerherrschaft auf der Suche nach neuer Sinngebung. Zwei Aspekte, die Elias auflistet, die mit dem Sinnhunger zusammenhängen, sind Säkularisierung und Anhebung des Wohlstands. Die Lehre von Marx spielte unter den Studentenbewegungen und in der außerparlamentarischen Opposition der 60er und 70er Jahre eine wichtige Rolle. Sie unterstützte die verschiedenen Ideale, die die Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg anstrebten. Die jüngere Generation hat sich laut Elias nicht mit der Nazizeit identifizieren können, wodurch das Gefühl „Wir hatten nichts damit zu tun“ die jüngere Generation von der älteren, „die etwas damit zu tun hatten“ trenne.98 Die Autorität der älteren Generation ist Elias zufolge von den Studenten nicht anerkannt worden. Es sind jedoch die älteren, die im Land die Autorität haben, etwas wozu sich die jüngere Generation keinen Zugang verschaffen kann. Außerparteiliche Formen der Opposition waren meistens die einzige Möglichkeit um Idealen nachzustreben. Die bürgerlichen Jugendlichen haben versucht, sich von dem herrschenden Regime und damit vom kapitalistischen System zu befreien. Durch ein neues System, das sie „gewöhnlich durch den Begriff Sozialismus kennzeichneten“ sollte auch „das Gespenst des 96 Zit. nach Andreae, 1963. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 428. Spillner, Bernd. S. 28. 98 Elias, Norbert. (2005) S. 63. 97 51 Faschismus endgültig vertrieben werden können.“99 Als sich das „erträumte Ziel“, wie Elias dies nennt, nicht erfüllt hatte, änderte sich die Haltung der Jugendlichen. Die Dynamik des Protests habe ihm zufolge zur Verstärkung der Gewalt beim Zusammenprall aufbegehrender Gruppen mit den Vertretern des staatlichen Gewaltmonopols geführt.100 Der Tumult, verursacht durch bürgerliche Jugendliche aufgrund gesellschaftlicher Fragen, lässt sich durch eine Suche nach Freiheit erklären: Man wollte sich von autoritären Zwängen und Unterdrückung losmachen. 3.3 Der Trend zur Solidarität: veränderte Anredeformen in beiden Sprachen Gezeigt wurde, dass die jüngere Generation in beiden Ländern eine wichtige Rolle hinsichtlich der sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse und der Umgangsformen spielten: Die Informalisierungswelle begann merkbar. Im Anschluss an Browns und Gilmans Theorie der solidarity semantic werden verschiedene Typen sozialer Beziehungen weiter spezifiziert, um somit auf dieser Grundlage die Verwendung des Pronomens und den dazugehörigen Macht- beziehungsweise. Solidaritätsaspekt zu erläutern. Dabei geht es um die drei im ersten Kapitel erwähnten Machtsituationen, die jeder Mensch in seinem Leben erlebt, und um die Beispiele der semantischen Konflikte. Im ersten Falle geht es um die pronominale Verwendung zwischen 1) Eltern-Kind, 2) Schüler-Lehrer und 3) Arbeitnehmer-Arbeitgeber. Diese drei Beziehungen werden in diesem Kapitel aus einer erweiterten Perspektive betrachtet, nämlich: 1. -Familie 2.- Lehrer und Schüler -Studenten und Professoren -Studenten untereinander 3.-Arbeitskollegen Das Eltern-Kindverhältnis und das zwischen Arbeitskollegen (eigentlich das zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) sind im ersten Kapitel auch zwei der Beispiele, die einen semantischen Konflikt beinhalten. Das dritte Beispiel eines semantischen Konflikts, das auch erörtert wird, ist die Beziehung zwischen Gast und Kellner. 99 Ebd. S. 375. Vgl. Elias, Norbert. (2005) S. 375. 100 52 Erarbeitet wird, ob und wie sich die verschiedenen Beziehungen während der Informalisierung ab den 60er Jahren in beiden Ländern geändert haben. Die Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern werden anhand von den Begriffen superior und solidarity kategorisiert. Schließlich werden auch verschiedene spezifische Du-Domäne in Deutschland erörtert. Es muss verdeutlicht werden, dass es in diesem Abschnitt um die üblichen Verwendung des Pronomens oder den merkbaren Trend geht. Am Ende des Abschnitts werden die verschiedenen Beziehungen in einer Abbildung dargestellt. Familie Schon im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass es hinsichtlich der pronominalen Verwendung zwischen Eltern und Kindern in Deutschland eine Solidaritätsbeziehung gab, die die Verwendung des T-Pronomens mit sich führte. Der semantische Konflikt zwischen Eltern und Kindern, den Brown und Gilman als Beispiel nennen, gibt es, da es schon immer eine solidarische Beziehung zwischen ihnen gibt, in Deutschland nicht. Auch andere Familienmitglieder sind von der jüngeren Generation mit dem TPronomen angeredet worden, was beweist, dass innerhalb der Familie der Solidaritätsbeziehung wichtiger wurde als die Machtverhältnisse zwischen einzeln. Verwandtschaftsbeziehungen können mit nominalen Anredeformen kombiniert werden (beispielsweise Oma, Papa). Man könnte die These aufstellen, dass es sich hier in gewisser Weise um eine Zwischenform der Macht oder Höflichkeit handelt, da man das T-Pronomen mit personenbezeichnenden Nomina kombiniert, wie dies auch im 16 Jh. (mit dem V-Pronomen) aus Höflichkeitsgründen üblich war. Immerhin würden Kinder hingegen beispielsweise den Neffen oder den Bruder nicht mit der nominalen Anredeform ansprechen. Da die nominalen Anredeformen kein Teil der Untersuchung sind, wird dies nicht näher untersucht. Die Anredeformen zwischen Kindern und Eltern haben sich in den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 20. Jh. drastisch geändert. Wie gezeigt wurde, änderte sich die Rolle der Eltern. Ihre Machtposition wurde schwächer. Ging es bis etwa 1960 um den Machtunterschied (vertikale Statusbeziehung der power semantic) zwischen den Generationen, handelt es sich danach allmählich mehr um eine Solidaritätsbeziehung zwischen Kindern und Eltern. Es ist seitdem dann auch immer weniger die Rede von einem Machtverhältnis, das sich also in der veränderten pronominalen Verwendung äußert. Damit endete dieser semantic conflict, wie Brown 53 und Gilman die ungleiche pronominale Verwendung im 19. Jh. bezeichneten. Die Initiative zur gegenseitigen T-Verwendung kam nicht nur von den Kindern, sondern auch von den Eltern, die versucht haben Generationskonflikte zu vermeiden und sich für ein solidarisches Verhältnis entschieden haben. Verschiedene säkulare, progressive und traditionelle Zeitschriften und Zeitungen unterstützten laut Kennedy die lockeren Umgangsformen zwischen Eltern und Kindern. 1960 durften ihm zufolge 38 Prozent der Kinder ihre Eltern duzen.101 Eine eingehende Untersuchung von Vermaas, die sie in ihrer Arbeit „Veranderingen in de Nederlandse aanspreekvormen van de dertiende t/m de twintigste eeuw“ veröffentlicht, zeigt, dass 86 Prozent der jüngeren Generation (15 bis 18 Jahre) die Eltern 1985 duzten. Die Eltern selbst verwendeten derzeit zu fast 50 Prozent das T-Pronomen bei ihren Eltern. Der Trend zur Solidarisierung ist diachron deutlich anwesend. Es gibt auch Ausnahmen: In religiösen Kreisen zum Beispiel siezen Kinder ihre Eltern eher, da die Machtverhältnisse und Traditionen dies von ihnen verlangen. Kohz merkt in seiner Untersuchung „Markiertheit, Normalität und Natürlichkeit von Anredeformen“ eine abweichende Verwendungsmöglichkeit des TPronomens auf. Ihm zufolge sei eine beleidigend intendierte pronominale Anrede mit T im Deutschen innerhalb der Familie nicht möglich, im Niederländischen jedoch sehr wohl.102 Er zielt damit wahrscheinlich auf das T-Pronomen, wie man dies laut Vor der Hake im auch Mittelniederländischen als „Wut gegen Kinder“ verwendete. Die Auffassung Kohzs kann mittlerweile als veraltet betrachtet werden. Kindern in den Niederlanden werden andere Familienmitglieder, wie Onkel, Tante oder Oma nicht immer rücksichtlos mit dem T-Pronomen anreden. Auch hier gibt es sich meistens die Verwendung einer Verwandtschaftsbezeichnung. Diese Beziehung ist auch aus der vertikalen Statusbeziehung hervorgegangen und ist als allgemeine Höflichkeitsform immer noch da. Auffallend ist, dass das eventuelle VPronomen mit dem Vornamen verwendet wird: „Tante Maria haben Sie…?“ Lehrer und Schüler Die Anredepronomen, die Lehrer in Deutschland bei Schülern verwenden, passt sich an das Alter der Unterwiesenen an. In der Unter- und Mittelstufe werden Schüler ohne Ausnahme von den Lehrern geduzt. Sobald sie jedoch in der Oberstufe sind, wird 101 102 Vgl. Kennedy, James. S. 129. Kohz, Armin. Markiertheit, Normalität und Natürlichkeit von Anredeformen. In: Anredeverhalten. Hrsg. v. Werner Winter. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1984. S. 32. 54 das V-Pronomen verwendet. Im letzten Falle wird auch oft der Nachname verwendet. Die klassische vertikale Statusdimension Browns und Gilmans ändert sich also in ein reziprokes V-Verhältnis. Der Schüler kann ab diesem Moment in der neuen Kategorie Superior/Inferior and not solidary eingestuft werden. Meistens wird währenddessen jedoch eine halbvertrauliche Variante gebraucht: Bei der Anrede wird der Vorname mit Sie kombiniert. Laut Spillner seien die Konventionen an den Schulen heute lockerer geworden. Man nehme den Unterschied nicht mehr so genau. Man verfahre weniger nach bürokratischem Erlassen; eher nach persönlichem Konsens. Der Gebrauch der Anredeform „Du“ nehme zu.103 Dieses Bild unterstützt Besch mit einer Untersuchung in den neuen Bundesländern. Sportlehrer wählten demnach meist das T-Pronomen als Anrede, da sie in diesem Fachbereich das V-Pronomen als hinderlich empfänden.104 Insbesondere jüngere Lehrkräfte würden ihm zufolge gegenüber ihren älteren Kollegen das T-Pronomen bevorzugen. Schüler werden in den Niederlanden ausnahmslos geduzt und nur mit dem Vorname angeredet. Die deutsche Zwischenform (Vornahmen wird mit dem Pronomen Sie kombiniert) existiert in diesem Land nicht. In zunehmendem Maße, so zeigt Vermaas, duzen auch immer mehr Schüler ihren Lehrer. Hat die ältere Generation den Lehrer immer gesiezt, machen dies zur Zeit der Untersuchung in den achtziger Jahren noch 82% der Schüler. Die junge Generation verwende laut Vermaas außerdem häufiger den Vornamen des Lehrers. Das Duzen des Lehrers an der Schule hätte vor allem, so zeigt die Untersuchung, unter nicht-religiösen Schülern und unter Jugendlichen mit einer guten Ausbildung zugenommen. Außerdem käme es öfters bei Jungen als bei Mädchen vor. In einer ihrer jüngeren Arbeiten sagt Vermaas hingegen, dass das Duzen im Unterricht rückläufig sei. Allgemeine Argumente zur Handhabung des V-Pronomens an der Schule sind: „Respekt erzeugen, ausreichende Distanz und Normen und Werte“.105 Möglicherweise zielt sie auf eine neue Formalisierung. Laut Vermaas erlauben junge akademisch ausgebildete Lehrer in den Niederlanden das Duzen eher als ihre nicht-akademisch ausgebildeten Kollegen. Ebenso wie höher ausgebildete Schüler mehr duzen, erfahren höher ausgebildete Lehrer dies weniger als Problem. Dieses Beispiel zeigt, dass Machtdistanz in den Niederlanden eine niedrigere Rolle als in 103 Spillner, Bernd. S. 21. Vgl. Besch, Werner. S. 64. 105 Vermaas, Hanny. (2004) S. 39. 104 55 Deutschland spielt. Wie in Deutschland handelt es sich um die Beziehung superior/inferior and not solidary zwischen Lehrern und Schülern. Studenten untereinander Bis Ende des 60er Jahre galt unter Studierenden an den Universitäten, wenn sie nicht schon miteinander befreundet waren oder einander schon kannten, ein obligatorisches Sie. Über die Studenten von damals sagt Elias, dass sie vor dem Ersten Weltkrieg aus wohlhabenden Mittelklassen kamen und zumeist einer Studentenverbindung, oft einer schlagenden Verbindung, angehörten. In diesen Verbindungen werden die Studenten „genau wie im Militär, an eine von außen kontrollierte Disziplin gewöhnt.“106 Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, waren die bürgerlichen Studenten Teil der Satisfaktionsfähigen Gesellschaft. Dass Studenten vorher das V-Pronomen untereinander verwendeten, da sie nicht solidarisch zueinander sind, könnte anhand dieses elitären Hintergrundes erklärt worden. Es handelte sich hier immer noch um die horizontale Statusdimension der power semantic. Unter den Studenten der Nachkriegsgeneration änderte sich dieser Brauch. Studieren war nicht mehr nur den Mitgliedern der Mittelklassen vorbehalten: die Studentenpopulation änderte sich. Das Zurücktreten der Verbindungen sorgt für eine Machtverlagerung zugunsten der verbindungsfreien Studenten und bedeutet laut Elias „einen massiven Schub der Individualisierung, eine Emanzipation von der formellen Gruppendisziplin.“107 Laut Elias begegnet man unter deutschen Studenten der Nachkriegsgeneration weithin einem generationsspezifischen Misstrauen gegenüber der älteren Generationen. Wie erwähnt konnte die jüngere Generation sich nicht mit der Nazizeit und der Rolle der älteren Generation identifizieren. Elias ist der Meinung, dass die starke egalitäre Tendenz bei den heranwachsenden Generationen unter anderem im studentischen Duzen zum Ausdruck komme.108 Man kann konstatieren, dass sie durch den abgenommen Einfluss der Verbindungen und durch den gemeinsamen Kampf solidarisch zueinander geworden sind. Die Änderung bezüglich der Umgangsformen und den damit zusammenhängenden Anredepronomen gab es in Deutschland erst nach den Studentenprotesten 1968. An einer westdeutschen Universität hat sich die 106 Elias, Norbert. (2005) S. 58. Ebd. S. 65. 108 Ebd. S. 63. 107 56 gegenseitige T-Verwendung unter Studenten einer Untersuchung zufolge folgendermaßen gezeigt: „Im WS 70/71 duzten sich wenige Studenten untereinander, dies waren Verwandten, ehemalige Mitschüler, […] Studenten die linken Studentenvereinigungen angehörten. […]. Im WS 73/74 duzen sich alle Studenten des Seminars ohne Ausnahme .109 Duzen unter Studierenden hat in den Niederlanden schon früher als in Deutschland angefangen. Klikspaan hat dies bereits 1841 untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass Studierende gegenseitig das T-Pronomen verwendeten, jedoch gij gebrauchten, falls sie keine nahe Bindung zueinander haben wollten.110 Gij wird in diesem Beispiel als V-Pronomen angedeutet. Leider wurde Klikspaans Ergebnis nur kurz erörtert, wodurch die Wiedergabe eines möglichen spezifischeren pronominalen T/V-Unterschieds, wie auch im zweiten Kapitel angedeutet wurde, nicht möglich ist. Obwohl auch in den Niederlanden galt, dass studieren vor einigen Jahrzehnten nur den höheren Schichten der Bevölkerung möglich war, fällt auf, dass das Solidaritätsprinzip zwischen den Studenten in den Niederlanden bedeutend früher seinen Anfang genommen hat. Ob die Abwesenheit eines V-Pronomen oder gesellschaftliche Faktoren der T-Verwendung zugrunde liegen ist undeutlich. Equal and solidary ist in beiden Ländern die (neue) Beziehung unter Studenten. Studenten und Professoren Studenten werden in Deutschland von den Professoren gesiezt, in der Regel in Kombination der Verwendung des Nachnamens. Eine Form, die erst in jüngerer Zeit auftritt, ist auch hier die halbvertrauliche Variante: Vorname und V-Pronomen. Laut Elias gebe es unter jüngeren Dozenten und Professoren auch Zeichen einer deutlichen Informalisierungstendenz und zugleich eines größeren Machtanspruchs der Studenten im Verhältnis zu den Professoren.111 In den Niederlanden hingegen siezen Professoren die Studenten nur ausnahmsweise. Die Zeit, dass ein Professor oder ein Lehrer in den Niederlanden den Nachnamen eines Studenten (oder eines Schülers) verwendete, ist schon lange vorbei. Nur die ältere Generation, die Vermaas in ihrer Untersuchung nennt, hat dies gelegentlich erfahren. Professoren werden in Deutschland von den Studenten immer mit dem V-Pronomen angesprochen. Auch in den Niederlanden ist 109 Besch, Werner. S. 22. Vgl. Halteren van, Bronger. Het pronomen in het Nederlandsch der zestiende eeuw. Proefschirft. Groningen: 1906. S. 52. 111 Elias, Norbert. (2005) S. 63. 110 57 die Verwendung dieses Pronomens meistens die Regel. Die Verwendung der Titulatur spielt insbesondere bei der schriftlichen Anrede eines Akademikers in Deutschland immer noch eine wichtige Rolle. Respekt kommt auf dieser Weise verstärkt zum Ausdruck. Zur Zeit der Studentenproteste hat die Verwendung der Titulatur stark abgenommen. Die damit einhergehende Titelverweigerung durch Studenten sei laut Besch anfänglich stark als Affront empfunden.112 Machtverhältnisse und Respekt zwischen Studenten und Professoren gibt es allerdings in beiden Ländern. Die Beziehung lässt sich durch inferior/superior and not solidary kennzeichnen. Die Umgangsformen zwischen ihnen sind allerdings in den Niederlanden weniger formell. Arbeitskollegen In einem deutschen Anstandsbuch schreibt Hans Martin 1949, dass das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergegebenen sich an der Arbeit seit dem Krieg gewandelt hat. Der Angestellte will ihm zufolge fühlen, dass der Vorgesetzten den Wert seiner Arbeit erkennt und dass er als ein geschätzter Mitarbeiter behandelt wird. Der Vorgesetzte sollte auch im Dienst kameradschaftlich sein. Er sagt noch dazu: „Sie verlieren dadurch nicht an Respekt, wenn Sie einem Untergebenen, der in einer persönlichen Angelegenheit zu Ihnen kommt, die Hand reichen und ihm Platz anbieten […].“113 Die Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und- nehmer sind seit 1945 nach der Interpretation Krumreys erschüttert und sind von Anomie gekennzeichnet. Durch den Wiederaufbau der zerstörten oder verlagerten Betriebe sind die Vorgesetzten ihm zufolge in eine abhängige Situation geraten. Er sagt, dass es damals in Deutschland noch an gesicherten ökonomischen und politischen Verhältnissen gefehlt habe. Dadurch gibt es „ein verstärktes Werben von Individuen die nach traditionellen Machtpositionen streben, um Vertrauen von Angehörigen unterer Schichten einsetzt, das sich in einem Wandel der Verhaltensstandarde niederschlägt.“114 Dennoch sind die pronominale Verwendung unter Vorgesetzten und Untergebenen immer noch stark hierarchisch orientiert. Spillner zufolge können Kollegen auf horizontaler Ebene untereinander recht ungezwungen das T-Pronomen verwenden. Wenn es ein vertikales Verhältnis gibt, also in Gesprächen unter Kollegen, 112 Besch, Werner. S. 21. Krumrey, Horst-Volker. S. 446. 114 Ebd. S. 446. 113 58 die auf unterschiedlichen Ebenen arbeiten, gibt es bezüglich der Anrede in der Regel eine nicht reziproke pronominale Verwendung. Eine nominale Anredeform kann auch mit einer nominalen Anredeform, wie Herr Direktor und/oder Nachnahme, kombiniert worden. Obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Kollegen, die zum Beispiel schon mehr als 20 Jahre zusammenarbeiten, einander noch immer gegenseitig mit dem V-Pronomen anreden, ist in diesem Bereich bezüglich der Umgangsformen eine Veränderung spürbar. Spillner konstatiert, dass jüngere Arbeitnehmer in zunehmendem Maße weniger Probleme mit dem T-Pronomen haben als die ältere Generation. Für Angehörige der jungen Generation sei diese Form freier, ungezwungener und unproblematischer als der Gebrauch des förmlichen Sie. Die ältere Generation dagegen finde Siezen solange nicht irgendeine nähere persönliche Beziehung bestehe die neutralere Form, die „normale“ Anrede unter Erwachsenen. Diese ältere Generation ist ihm zufolge der Meinung, dass „ein vertrauliches „Du“ oft zu Konflikten führen könne in dienstlicher Umgebung, wo es Vorgesetzte und Untergebene gebe.115 Bekanntschaften zwischen Kollegen spielen bei der Anrede nur eine geringe Rolle. Obwohl diese These nicht wirklich unterbaut wird, könnte man, ausgehend von Spillners Erfahrungen unter der jugendlichen Generation, von einem Trend zugunsten des Solidaritätspronomens sprechen. Die Verwendung des richtigen Anredepronomens am Arbeitsplatz ist in Deutschland kein unbeachtetes Thema. Es ist oft in verschiedenen Anstandsbüchern und Betratungsrubriken erörtert worden. Es gibt die Möglichkeit, das Du nur für einen Abend anzubieten: das situationsbedingte “Brüderschafts/Schwesternschafts-Du”. Ein Problem, dass beim Angebot des Du vonseiten des Vorgesetzten auftreten kann, ist die Rückkehr zum Sie. Im Falle, dass der Mitarbeiter das Du annimmt, muss er in der formellen Arbeitssituation wieder vorsichtig mit der Verwendung des T-Pronomens sein, da nur der Vorgesetzte entscheidet, ob das T-Pronomen tatsächlich Bestand hat. Position und Alter oder Generation sind für die Wahl des Anredepronomens wichtige Faktoren. Im Falle, dass man sich für das V-Pronomen entscheidet, wird dies in der Regel, unabhängig der horizontalen oder vertikalen Beziehung, gegenseitig verwendet. Es handelt sich bei einer gegenseitigen V-Verwendung entweder um inferior/superior and not solidary oder um equal and not solidary. Im Falle einer gegenseitigen T-Verwendung ist die Beziehung equal and solidary. 115 Spillner, Bernd. S. 23. 59 In den Niederlanden sind die Anredeformen am Arbeitsplatz im Vergleich zu Deutschland unterschiedlich. Hier steht an Stelle einer eventuellen Machtdimension die Solidaritätsdimension normalerweise im Vordergrund. Das grundsätzliche Duzen im Alltag in anderen Bereichen trägt dazu entscheidend bei. Das Duzen am Arbeitsplatz ist ein Beispiel für eine Situation, wie sie früher eher undenkbar war. Es handelt sich in diesem Fall auch wieder um eine Verschiebung in den letzten Jahrzehnten. Dass die Anredeformen sich geändert haben zeigt auch das nächste Zitat aus dem Jahre 1983 aus einem Anstandsbuch Frans Grosvelds: Op ons werk ... hebben we dikwijls, man of vrouw, twee petten klaarliggen die bij verschillende situaties passen. Noemen we elkaar bij de voornaam, eventueel ook onze chefs, dan heeft een buitenstaander daar niets mee te maken. Dat tutoyeren of niet is dus in het dagelijks leven niet meer zozeer een kwestie van onderscheid tussen mensen (man/vrouw, ouder/jonger, hoger/lager), maar van onderscheid tussen situaties (formeel/informeel, zakelijk/privé, afschermen/openen van de persoonlijke levenssfeer).116 Grosveld zeigt mit diesem Zitat, dass im Laufe der Zeit eine Verschiebung von Unterschieden zwischen Menschen, also Machtunterschiede, zu Unterschieden zwischen Situationen stattgefunden hat. Dies bedeutet, dass man sich von der Situation abhängig entscheiden kann, ob man das V-Pronomen oder das T-Pronomen verwendet und dass die früheren Machtunterschiede mehr oder weniger in den Hintergrund geraten sind. Die Solidaritätsdimension hat seit den 60er Jahren an Boden gewonnen. Das Zitat zeigt eine Teilung, wie Wouters auch für die deutsche pronominale T/VVerwendung kennzeichnete: Privatleben als Kontrast zur Öffentlichkeit. Vermaas sagt diesbezüglich über die heutigen Umgangsformen unter Arbeitskollegen, dass Siezen nur während formeller Situationen oft die Regel sei und das Duzen die alltägliche Anredeform bleibe.117 Der Trend zur Solidarisierung hat sich weiter durchgesetzt. Bei älteren Kollegen ist gegenseitiges Siezen ebenfalls nicht ungewöhnlich. Dies hat jedoch mehr mit dem Höflichkeitskodex dieser Generation als mit einem Machtunterschied zu tun. Zum größten Teil kann man jedoch von equal and solidary reden. Die Verwendung der nominalen Anredeformen ist unter Kollegen in den Niederlanden während der solidarity semantic doch außergewöhnlich geworden. 116 117 Wouters, Cas. (1990) S. 133. Vermaas, Hanny. (2004) S. 44-45. 60 Gast und Kellner Beziehungen wie Gast und Kellner lassen sich entweder durch Macht oder Solidarität entscheiden. Da die Gesprächspartner einander in der Regel nur ein Mal treffen werden, ist der Charakter dieser Beziehung unterschiedlich von den vorgenannten Situationen. Obwohl es während der Ständegesellschaft in beiden Ländern bestimmt möglich war, dass der Kellner als dienstbare Person mit dem TPronomen angeredet wurde, was eine vertikale Statusbeziehung andeutet, war das VPronomen zum Ausdruck einer Distanz, sowie das Beispiel der Dienstboten zeigte, auch eine Möglichkeit. Zur Zeit der Informalisierung ist in Deutschland die Wahl des Pronomens eindeutiger und da es sich nicht um eine vertrauliche Beziehung handelt, wird gegenseitig das V-Pronomen verwendet (equal and not solidary), dies eventuell in Kombination mit der nominalen Anredeform Herr oder Frau, beispielsweise Frau Kellnerin. Sind beide Gesprächspartner einer jüngeren Generation, dann ist eine gegenseitige T-Verwendung (equal and solidary) auch möglich. Die gegenseitige VVerwendung galt vor einigen Jahrzehnten auch für die Niederlande, was sich mittlerweile geändert hat. Auch eine gegenseitige T-Verwendung gehört wie eine asymmetrische Verwendung mittlerweile zu den Möglichkeiten. Im letzten Falle spricht der Kellner den Gast häufiger mit dem V-Pronomen an als umgekehrt. Alter spielt bei der Wahl des Pronomens wiederum eine entscheidende Rolle. Die korrekte Verwendung der Anredepronomen könnte in unbekannten Situationen, wie diese, eher für Schwierigkeiten sorgen, da die Wahl weniger eindeutig ist. Die in diesem Abschnitt erörterten Verhältnisse zwischen Gesprächspartnern ist in nachfolgenden Abbildungen per Land schematisch dargestellt worden. V Superior and solidary T V Superior and not solidary V Professor Lehrer Eltern Equal and solidary Equal and not solidary T V Arbeitskollegen Gast und Kellner Studenten Kind Student T Inferior and solidary T V Schüler Inferior and not solidary T Abbildung 7: Die solidarity semantic zur Zeit der Informalisierung in Deutschland 61 V Superior and solidary T V Superior and not solidary V Professor/Lehrer Eltern Gast Equal and solidary Equal and not solidary T V Studenten Arbeitskollegen Kind Kellner Student/Schüler T Inferior and solidary T V Inferior and not solidary T Abbildung 8: Die solidarity semantic zur Zeit der Informalisierung in den Niederlanden 3.3.1 Du-Domäne und das Anbieten des Du in Deutschland Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass eine T-Verwendung im Zeitalter der Informalisierung in Deutschland nicht so auf der Hand liegend ist wie in den Niederlanden. Hierarchie spielt immer noch eine relativ große Rolle und das VPronomen ist in der Öffentlichkeit üblich. Außer den Verwandtschaftsbeziehungen und dem „modernen Duzen“ unter Studenten gibt es bestimmte Situationen, wie politischen Parteien, in denen der Gebrauch des T-Pronomens nicht ungewöhnlich ist. Obwohl Gesprächspartner einander nicht unbedingt persönlich kennen, dominiert hier in den öffentlichen Beziehungen die Rolle der Solidarität. Hier werde laut Spillner aufgrund einer tradierten Norm prinzipiell geduzt.118 In einer sozialen Gruppe wie einer Arbeiterbewegung oder Gewerkschaft ist die Anrede „Du“ Ausdruck von Gemeinschaft und Solidarität. Sie fällt übrigens oft mit einer nominalen Anredeform wie „Genosse“ oder „Kamerad“ zusammen. Spillner erwähnt bezüglich dieses solidarischen Du-Gebrauchs, dass dieser im Gegensatz zum „jugendlichen“ Du wahrscheinlich zurückgeht.119 Eine Erklärung dafür wird von ihm jedoch nicht gegeben. Obwohl man auf den ersten Blick nicht erwarten würde, dass sich das Siezen gegenüber dem Duzen durchsetzt, kann dies durch einen Trend zur Individualisierung innerhalb der Gesellschaft erklärt werden. Die klassischen Ausgangspunkte der politischen Parteien und insbesondere der Arbeiterbewegungen, wie zum Beispiel Ausdruck von Gemeinsamkeit, gleicher Gesinnung und gleichen Idealen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschicht, sind heute nicht mehr von solcher Wichtigkeit. Ein solidarisches Du in diesen Bewegungen ist darum nicht mehr zwingend notwendig und könnte rückläufig sein. 118 119 Spillner, Bernd. S. 22. Vgl. ebd. S. 22. 62 Einige andere Beispiele von Spillner die einen solidarischen Du-Gebrauch in Deutschland zeigen sind Vereine, kleinere religiöse Gemeinschaften, Stammtische und Fußballvereine. Grob gesagt handelt es sich bei den letzten Beispielen um Freizeitoder Gemeinsamkeitsbeschäftigungen. Auch Brown und Gilman erwähnen anlässlich ihrer eigenen Untersuchung aus 1957 unter Austauschstudenten, die in diesem Abschnitt erwähnten T-Bereiche. Im Deutschen wird auch Gott geduzt. Obwohl Gott, wie bereits erwähnt, Von der Hake zufolge vor einigen Jahrhunderten auch im Niederländischen geduzt wurde, ist davon nicht mehr die Rede. Trotz des allgemeinen Trends der häufigeren Verwendung des T-Pronomens gilt die Solidarisierung noch nicht im religiösen Bereich. Schließlich noch eine Bemerkung über den Wechsel der Pronomen in Deutschland: Das Ritual des Du-anbieten, das Brüderschafttrinken, das unter „Arbeitskollegen erwähnt wurde, kann auch in anderen Situationen, die einen Übergang vom V-Pronomen zum T-Pronomen darstellt vorkommen. Spillner zufolge gibt es hierzu „(meist ungeschriebene) Regeln und Konventionen.“120 Dabei handelt es sich um hierarchische Muster: Ältere dürfen einer jüngeren Person das Du anbieten. Früher galt auch, dass nur ein Mann einer Frau das Du anbieten konnte und nur ein Höherstehender das Recht dazu hatte. Spillner weist schließlich darauf hin, dass der Übergang zum Du oft mit einem Ritual verbunden ist, wie zum Beispiel „Sich die Hand reichen“ „Anstoßen“ oder „Brüderschaft trinken“. 3.4 Exkurs: Der Stand der heutigen pronominalen Verwendung und die Zukunft: das englische you: ein Vergleich für ein neues Anredesystem? Waren in der Zeit der Formalisierung die höheren Bürgerschichten für die Einführung des V-Pronomens verantwortlich, ist in der heutigen Zeit der Informalisieurung die jüngere Generation für die Verbreitung des T-Pronomens verantwortlich. Außerdem stellt sich hinsichtlich beider Länder die Frage, ob es auf lange Sicht eine Tendenz zur Verwendung von nur einem Pronomen gibt. Wie gezeigt wurde, gibt es in beiden Ländern eine häufigere Verwendung des T-Pronomens. In diesem Abschnitt wird, unabhängig des Artikels Browns und Gilmans, in groben Zügen untersucht, ob sich ein mögliches zukünftiges universales Pronomen mit dem englischen Universalpronomen you vergleichen lässt. Wie sieht die pronominale 120 Spillner, Bernd. S. 23. 63 Verwendung heutzutage aus? Besch zufolge ist die heutige deutsche Grundverteilung des T- und V-Pronomens vertraulich gegen höflich.121 Er konstatiert, dass der Aspekt der Macht in heutiger Anrede stark zurücktrete.122 Diese genaue Teilung war vormals laut Vermaas auch in den Niederlanden der entscheidende Faktor, um entweder das Toder das V-Pronomen zu verwenden. Anlässlich ihrer Untersuchung konstatiert Vermaas in einem Interview, dass dies derzeit im Niederländischen nicht mehr der genaue Unterschied ist. Die Dimensionen Höflichkeit und Vertraulichkeit sind laut Vermaas nicht ganz verschwunden, aber sie seien zur Zeit kein absoluter Gegensatz mehr und bestimmen nicht mehr den Unterschied zwischen jij en u.123 Status, Solidarität und Formalität sind die heutigen Kriterien hinsichtlich der Verwendung des Pronomens. Sie weist darauf hin, dass Solidarität die Oberhand bekommen hat. Status und Formalität sind deswegen weniger wichtig geworden und die Verwendung des TPronomens hat zugenommen. Dazu sagt sie: „Blijkbaar hebben er sociaal- maatschappelijke veranderingen plaatsgevonden die de Waardering van de drie dimensies hebben beïnvloed.” 124 Dennoch ist sie der Meinung, dass das V-Pronomen nicht verschwinden wird, da das Solidaritätsgefühl der siebziger Jahre wieder abnehme. Sie erwartet, dass im sachlichen Bereich die Verwendung des u wieder zunehme.125 In Deutschland hält man immer noch stärker an den traditionellen Anredeformen fest. Die Verwendung des VPronomens ist da auch bedeutend wichtiger. Wenn man sich außerdem irre und die falsche Anrede einer Persönlichkeit wähle, könne dies laut Spillner ungeahnte Folgen haben, da der Angesprochene sich beleidigt fühlen könne. Ihm zufolge gebe es die Möglichkeit, dass langjährige Geschäftsbeziehungen abrupt enden und Feindschaften entstehen können.126 Falls der Trend zur Solidarisierung im Deutschen oder Niederländischen sich im Laufe der Zeit doch soweit durchsetzt, dass ein universales Pronomen entstehen würde, würde es dann ein Äquivalent des you in beiden Sprachen geben? Die Darstellung der Entwicklung der englischen Pronomen der zweiten Person findet anhand von der Untersuchung „You and thou in Early Modern Englisch“ von Richard Dury statt und behandelt den Vergleich der früheren Entwicklung des Pronomens. Der Eintritt einer 121 Vgl. Besch, Werner. S. 8. Ebd. S. 13. 123 Salemans, Ben. Steeds minder mensen zeggen u. In Taalschrift. Juni/juli 2005. S. 1. 124 Ebd. S. 2. 125 Ebd. S. 3-4. 126 Spillner, Bernd. S. 9. 122 64 Höflichkeitsform in die englische Sprache (und der damit zusammenhängende pronominale T/V-Unterschied) hat ihm zufolge mit dem Einfluss aus dem Französischen zu tun. Die Einführung eines V-Pronomens charakterisiert er als „a good example of conscious language change from above.“127 Man hatte anfänglich nur Aristokraten mit dem V-Pronomen angeredet. Es war im 14 Jh. zwar üblich, dass Höhergestellte erwarteten, das V-Pronomen you zu erhalten; Niedrigergestellte verwendeten hingegen oft noch das T-Pronomen thou. Ein Jahrhundert später gab es häufiger den asymmetrischen Gebrauch der Anredepronomen, sodass –wie während der power semantic Browns und Gilmans- Höhergestellte tatsächlich das V-Pronomen erhalten und Niedrigergestellte mit dem T-Pronomen angeredet wurden. Längere Zeit wurde das singuläre you als reines V-Pronomen verwendet. Die Ausdehnung von you als V-Pronomens zum T-Pronomen war Dury zufolge ein langfristiges Projekt und hat sich wahrscheinlich erst am Anfang des 17. Jh. größtenteils vollzogen. Die Verbreitung des V-Pronomens fiel möglicherweise mit der gleichzeitigen Abwärtsverbreitung der mit dem V-Pronomen assoziierten nominalen Anredeformen wie „Sir’, „Madam“ „Mr.“ Und „Mrs.“ zusammen.128 Es handelte sich in der Zeit deutlich um eine Zunahme der Höflichkeit in der Sprache. Auch hier haben die niedrigen Schichten die würdigen Titel aus Statusgründen imitiert. „As with other examples of sociolinguistic evolution, it is the members of the rising class that adopt new forms most quickly [...].”129 Über das letztendliche Fehlen des T-Pronomens im Neuenglischen wird gesagt, dass dies mit der Wichtigkeit der Privatsphäre zu tun hat, da you eine Distanz erschafft die nicht die Intimität, die bei der Verwendung einer T-Form bemerkt wird, mitteilt. England war im 16. Jh. möglicherweise eine „non-contact“ Kultur wodurch die Verwendung des T-Pronomens thou eingeschränkt worden ist.130 In Deutschland sah man bis ins 18. Jh. eine Distanztendenz, da immer mehr Höflichkeitspronomen nebeneinander verwendet werden, doch die Stelle des TPronomens ist nicht von der Höflichkeitsform eingenommen worden. In der niederländischen Sprache war erst wieder im 19. Jh. eine Höflichkeitsform anstelle des bereits mehreren Jahrhunderten existierenden universalen Pronomens gij entstanden. 127 Dury, Richard. S. 140. Vgl. ebd. S. 141. 129 Ebd. S. 142. 130 Vgl. ebd. S. 141. 128 65 Da gij und you beide ursprünglich V-Pronomen sind, sind beide gut miteinander zu vergleichen. In Deutschland und den Niederlanden ist das letztendliche V-Pronomen auch von den Mittel- und Unterschichten übernommen worden. Im Gegensatz zu dem pronominalen Unterschied im Deutschen und Niederländischen ist deutlich, dass der Simplifikationsprozess sich im Englischen bereits völlig vollzogen hat. Die Simplifikation hat in einer Umgebung der Formalisierung stattgefunden und hatte deswegen mit der Ausdehnung des V-Pronomens you angefangen. Da das Pronomen durch das Volk übernommen wurde, ist das T-Pronomen deswegen letztendlich vollständig durch das V-Pronomen ersetzt worden. Genau dies ist ein wichtiger Unterschied zu der heutigen Änderung der pronominalen Verwendung in Deutschland und den Niederlanden. In der heutigen Lage der Informalisierung geht es da, falls man schon endgültig von Simplifikation reden kann, um eine entgegengesetzte Entwicklung: die Ausdehnung des T-Pronomens. Dabei geht es in Deutschland um einen Prozess, der sich eher nur unter jugendlichen Generationen, die deutlich solidarisch zueinander sind, stattfindet. Das V-Pronomen bleibt zwischen den meisten Gesprächspartnern immer noch wohlbehalten. Der Prozess findet in den Niederlanden eher unter allen Schichten der Bevölkerung statt, wodurch auch Machtverhältnisse, die früher durch das VPronomen gekennzeichnet wurden, verschwinden. Der Einfluss der jugendlichen Generation sollte dabei doch betont werden. Ein reiner Vergleich mit dem englischen Pronomen you ist aus semantischer Perspektive deswegen nicht selbstverständlich. Die wichtigste Übereinstimmung ist nur, dass es langfristig die Möglichkeit gäbe, dass sich der pronominale T/V-Unterschied in beiden Ländern wie im Englischen verwischen wird. Die Frage wäre, ob der heutige Trend der Informalisierung die in der Zeit der Formalisierung entstandenen V-Pronomen wieder aufhebt. 3.5 Gültigkeit der Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Informalisierung Die gesellschaftlichen Verhältnisse, Traditionen und formellen Beziehungen änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg, was sich in beiden Ländern auf die formellen Beziehungen auswirkte. Es gab seit den 60er Jahren eine recht deutliche Verschiebung der Umgangs- und Anredeformen. Sogar etwas Alltägliches wie die Beratungsrubrik der „Margriet“ zeigt die Grundlage der ändernden pronominalen Verwendung: die Verschiebung der traditionellen Machtverhältnisse. 66 Für die Niederlande waren der jugendlichen Generation und der Entsäulung die Änderungen innerhalb der Gesellschaft anzurechnen. Das T-Pronomen setzte sich zum Nachteil des V-Pronomens durch. Machtverhältnisse wurden im Vergleich zu Deutschland durchgreifender durch lockere Umgangsformen, die eher solidarisch orientiert sind, ersetzt. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb verschiedener Beziehungen das T-Pronomen gegenseitig verwendet wird, was vormals undenkbar war. Neben der Eltern-Kinderbeziehung, in den Niederlanden ein richtiges Beispiel der heutigen superior/inferior and solidary, kommt dies insbesondere auch unter Arbeitskollegen vor. Diese letzte Beziehung wird immer öfter als Maßstab equal and solidary genommen. Ein wichtiger Unterschied zu Deutschland ist, dass die Solidarisierung sich in der ganzen Gesellschaft stärker durchgesetzt hat. Wouters Urteil über die informelleren Umgangsformen fasst die Entwicklung in den Niederlanden wie folgt zusammen: „Bürger verschiedener Schichten, Generationen und Geschlechter benehmen sich seit einigen Jahrzehnten hinsichtlich der Umgangsformen informeller zueinander. Man hat auf verschie-denen Ebenen angefangen einander zu duzen: Kinder und Eltern, Untergeordnete und Über-geordnete aber auch Leute, die einander gar nicht kennen.“131 Obwohl dies nicht bedeutet, dass das T-Pronomen immer verwendet werden kann, wurde in den verschiedenen Beziehungen gezeigt, dass die solidarische Verwendung üblicher geworden ist. In Deutschland führten die Studentenproteste der 68er Bewegung eine Welle der Solidarisierung untereinander mit sich, da die Studenten angefangen haben, untereinander ausnahmslos das T-Pronomen zu verwenden, was zuvor undenkbar war. Dies gilt, sei es in geringerem Maße, auch für die Verwendung des T-Pronomens unter gleichgestellten Arbeitskollegen. Es gibt in beiden Fällen eine Verschiebung von equal and not solidary zu equal and solidary. Die pronominale Verwendung am Arbeitsplatz lässt sich in geringerem Maße als in den Niederlanden von Solidarität entscheiden. Die vertikalen Beziehungen und die gegenseitige Verwendung des V-Pronomens spielen in diesem Bereich noch eine wichtige Rolle. In Deutschland gibt es auch im neuen Zeitalter der Informalisierung eine gegenseitige Verwendung des V-Pronomens zwischen Professoren und Studenten, wie Schülern der Oberstufe und Lehrern. Machtdistanz und die Tradition, einander in der Öffentlichkeit derartig anzureden sind Gründe dazu. 131 Wouters, Cas. (1990). S. 29. 67 Die Lösungen der semantischen Konflikte Browns und Gilmans im 19. Jh., zur Zeit ihrer solidarity semantic, entsprechen in Deutschland sowohl damals als auch zur Zeit der Informalisierung des 20. Jh. genau ihre Lösung. Lösung B&G 19. Jh. Ab den 1960er Informalis. Ende 19.Jh. Formalisierung Deutschland Niederlande Deutschland Niederlande Eltern T T T V T T Kind Arbeitgeber V V V V T V V TV Arbeitnehmer Gast V V Kellner Abbildung 9: Die Lösungen der semantischen Konflikte und die Pronominale Wahl in Deutschland und den Niederlanden am Ende des 19. Jh. und ab den 1960ern In den Niederlanden kommt das T-Pronomen in allen drei Beziehungen ab den 60er Jahren immer häufiger vor. Zwischen Gast und Kellner, aber auch -falls sie noch an der traditionellen Ungleichheit festhalten- zwischen Eltern und Kind kann es durch ungleiche pronominale Verwendung semantic conflicts geben. Im vorherigen Kapitel wurde klar, dass während der Formalisierung das Anredesystem und die pronominale Verwendung bis zum Ende des 19. Jh. in beiden Ländern unterschiedlich zu betrachten war. Ab diesem Moment sind die Anredesysteme, da sie beide eine deutliche Dichotomie zeigen, identisch. Durch den Aufschwung des V-Pronomens in den Niederlanden gilt dies bis in die 60er Jahre zum größten Teil auch für die Verwendung der T/V-Pronomen in den meisten Gesprächsbeziehungen. Ein wichtiger Unterschied zu der Theorie Browns und Gilmans ist die Periode des Anfangs der solidarity semantic in Deutschland und den Niederlanden. Die 60er Jahre sollte man, sicher in der heutigen Sichtweise, als Trennlinie der power semantic und solidarity semantic betrachten. Dies bedeutet, dass die solidarity semantic im Kontext dieser Arbeit erst nach der Veröffentlichung des Artikels Browns und Gilmans stattfand. Der Trend zur solidarischen Verwendung der Pronomen entspricht in beiden Ländern -inhaltlich- der solidarity semantic Browns und Gilmans. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Ländern ist, dass die pronominale Verwendung in den Niederlanden eher implizit entschieden wird, da Solidarität in vielen Fällen die 68 Ausgangsposition der Pronominalwahl ist. Falls es keinen deutlichen Grund das VPronomen zu verwenden gibt, wird das T-Pronomen verwendet. Die Entscheidung ist deswegen kaum wohl überlegt worden. In Deutschland hingegen handelt es sich gerade um eine ganz bewusste, explizite Verwendung des spezifischen Pronomens. Nicht nur anhand der traditionellen vertikalen Beziehung oder der gegenseitigen V-Beziehung sondern auch anhand einer traditionellen geprägten Solidarität wie unter Mitgliedern der politischen Parteien wird bewusst das geeignete Pronomen verwendet. Der Unterschied zwischen den Ländern lässt sich einfach erklären. Die Informalisierung und die dazugehörige gegenseitige Verwendung des T-Pronomens hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Niederlanden deutlich schneller als in Deutschland entwickelt, wodurch die Verwendung des Pronomens lockerer und freier geworden ist. Auf der Ebene der Verwendung muss man konstatieren, dass es verschiedene Unterschiede zwischen den Ländern gibt, wodurch sich eine generelle Theorie hinsichtlich einer solidarischen Verwendung der Anredepronomen schwierig in die Praxis umsetzen lässt. Die Umgangsformen haben sich in beiden Ländern insbesondere durch Zutun der jüngeren Generation geändert. Diese Generation verabschiedete sich von der bisherigen Machtüberlegenheit der älteren Generation. Elias redet von dem „Zerbrechen all dieser Formalitäten, nicht allein im Verkehr der Generationen, sondern im Verkehr der Menschen überhaupt.“132 Anlässlich ihrer Untersuchung 1957 unter Austauschstudenten konstatieren Brown und Gilman eine ähnliche Tendenz. „We believe this is the direction of current change because it summarizes what our informants tell us about the pronoun usage of the “young people” as opposed to that of older people.” 133 Obwohl die häufigere T-Verwendung, auf jeden Fall in Deutschland und den Niederlanden, erst seit den 60er Jahren merkbar stattgefunden hat, haben Brown und Gilman dies anlässlich ihrer Untersuchung schon früher in Deutschland konstatiert. Der Grund könnte sein, dass es sich in ihrer Untersuchung um eine homogene, und deswegen nicht repräsentative, Gruppe gebildeter junger Männer handelt. 3.6 Schlussbemerkungen der solidarity semantic Wie die pronominale Entwicklung in der Zukunft aussehen wird, ist fraglich. Deutlich wurde, dass die Informalisierung sich in den Niederlanden bisher bedeutend 132 133 Vgl. Elias, Norbert. S. 165. Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 261. 69 schneller als in Deutschland durchgesetzt hat. Die Chance, dass durch weitergehende Informalisierung die pronominale Dichotomie in beiden Sprachen verschwindet, ist gering. Aus der heutigen Sicht gilt dies stärker für Deutschland. Was den semantischen Ursprung betrifft kann man ein eventuell universales Pronomen nicht rücksichtslos mit dem englischen „Äquivalent“ vergleichen, da es damals um die Ausdehnung des VPronomens ging. Es wäre auf jeden Fall sinnvoll und interessant zu forschen, ob und auf welche Weise der Sprachkontakt mit dem Englischen die pronominale Verwendung in Ländern mit einem pronominalen Unterschied beeinflusst. Da die Machtverhältnisse im Zeitalter der Informalisierung in beiden Ländern abnehmen, könnte man sich fragen, ob der Begriff „power“ bei dem V-Pronomen nicht mittlerweile ungültig ist und nuanciert werden sollte. Obwohl der genaue Unterschied zwischen den Begriffen Macht und Höflichkeit außerhalb des Bereichs dieser Arbeit liegt, kann man hinsichtlich des V-Pronomens immer weniger von einer reinen Machtbeziehung ausgehen. Wie festgestellt wurde, handelt es sich im solidarischen Zeitraum an erster Stelle oft nicht mehr um die Macht, die der Angesprochene ausüben kann, sondern immer häufiger um die Solidarität, die es mit ihm gibt. Das deutsche VPronomen umschreibt Spillner zum Beispiel „als Form des offiziellen Umgangs, der persönlichen Distanz, der förmlichen Kommunikation, des offiziellen gesellschaftlichen Verkehrs.“134 Diese Definition enthält keine Spuren von reiner Macht. Für beide Länder, insbesondere für die Niederlande, könnte man das Pronomen nuancierter als Distanz- oder Höflichkeitspronomen betrachten. Deswegen könnte man aus der heutigen Sicht zur Zeit der Informalisierung hinsichtlich des Titels der Arbeit Browns und Gilmans besser von „The Pronouns of Politeness and Solidarity“ sprechen. In Verlängerung ihrer Arbeit sollte untersucht werden, wie sich die pronominale Entwicklung seit den 60er Jahren in anderen Ländern entwickelt hat. Im Vergleich zu Deutschland gehören, wie Dury behauptet, die Niederlande zum nordatlantischen Gebiet, da die Verwendung des V-Pronomens eingeschränkt ist. Auch spricht Dury von einer unterschiedlichen pronominalen Verwendung zwischen Nord- und Südeuropa. Inwieweit ist das V-Pronomen in den verschiedenen Sprachen Europas noch anwesend und in welchen Fällen wird es noch verwendet? Kurzum: Wie sieht die solidarity semantic seit der Veröffentlichung von „The Pronouns of Power and Solidarity“ europaweit aus? 134 Spillner, Bernd. S. 21. 70 Schlussfolgerung Dass die Entwicklung und Verwendung der T/V-Pronomen nicht für beide untersuchten Sprachen gleichermaßen gültig ist, wie man anhand der Untersuchung Browns und Gilmans erwarten würde, ist eingehend erörtert worden. Die wichtigsten Konstatierungen hinsichtlich ihrer Theorie und die Ergebnisse der deutschen und niederländischen Pronomen werden hier der Reihe nach durchgegangen. In beiden untersuchten Sprachen gibt es seit der Entstehung der dichotomen Anredesysteme bis ins 17. Jh. einen Bedeutungsunterschied zwischen dem T- und dem V-Pronomen. Dies stimmt mit der Theorie der power semanic Browns und Gilmans überein. Vom 17. Jh. bis ins 19. Jh. kennzeichnete sich die niederländische pronominale Entwicklung durch das vorübergehende Verschwinden dieses Unterschieds. Im Deutschen sind der Aufschwung und die Abschwächung der verschiedenen VPronomen kennzeichnend. Im letzten Fall erhält sich die T/V-Dichotomie zwar aufrecht, aber beide Entwicklungen berücksichtigt die Theorie von Brown und Gilman nicht. Gezeigt wurde, dass die gesellschaftlichen Geschehnisse, die die Macht- und Solidaritätsverhältnisse zum Ausdruck bringen, in beiden Ländern unterschiedlich sind. Die Bemerkung Browns und Gilmans, dass die Wirksamkeit der nicht-reziproken power semantic von einem statischen, hierarchischen Staatsgefüge abhängt, erklärt, wenn die soziologischen Faktoren berücksichtigt werden, warum ihre Theorie der power semantic der deutschen pronominalen Entwicklung und Verwendung in dieser Periode gut entsprechen würde, der niederländischen dagegen wegen des völligen Verschwindens und Wiedereintritts des pronominalen Unterschieds bedeutend weniger. Hinsichtlich der Rückkehr des V-Pronomens im Niederländischen und der Reduzierung der verschiedenen V-Ebenen in Deutschland spielt der Einfluss des Französischen eine wichtige Rolle. Da diese Sprache hinsichtlich der Entwicklung des pronominalen Systems für „eine Reihe von Sprachen“ wichtig war, ist es umso auffallender, dass dieser Aspekt der Entwicklung der europäischen Anredeformen in der Untersuchung von Brown und Gilman nicht berücksichtigt wurde. Seit dem Ende des 19. Jh. gab es in beiden Ländern ein pronominales T/VSystem, das sich wieder deutlich durch Dichotomie kennzeichnet. Die Verwendung der Anredepronomen ähnelt sich relativ stark, ist aber nicht identisch: Beide Länder kennen eine eigene Auslegung der Macht- und Solidaritätsverhältnisse. Während nach Brown und Gilman die solidarity semantic im Laufe des 19. Jh. angefangen hat, ist die 71 Gesellschaft und die pronominale Verwendung in Deutschland und den Niederlanden jedoch immer noch weitgehend auf Machtunterschieden basiert. Die Trennungslinien zwischen den zwei Perioden lag in beiden Ländern erst nach dem Zweiten Weltkrieg und entspricht deswegen stärker den Perioden von Formalisierung und Informalisierung nach Elias und Wouters. In den Niederlanden sind bezüglich der pronominalen Verwendung die 1960er als Wendepunkt zu betrachten. In allen beschriebenen Gesprächssituationen hat das VPronomen, zum Teil sehr, an Boden verloren. Gesellschaftliche Änderungen sind, auch zur Zeit der Informalisierung, die treibende Kraft hinsichtlich eines sich ändernden Macht- und Solidaritätsverhältnisses und der dazugehörigen pronominalen Verwendung. Diese Tendenz gibt es seitdem auch in Deutschland, jedoch in einem geringeren Maße, da die Machtverhältnisse und Höflichkeit stets noch eine größere Rolle spielen. Die Zunahme des T-Pronomens hat erst nach der Veröffentlichung des Artikels Browns und Gilmans stattgefunden und seitdem verschiebt sich die Bedeutung des V-Pronomens öfter von einem reinen Machtpronomen zu einem Höflichkeitspronomen. Ihre Grundlage der Macht und Solidarität in „The Pronouns of Power and Solidarity“ ist als einflussreich zu bezeichnen. Das Problem ist, dass die genauere Auslegung der Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während der power semantic und der solidarity semantic in beiden Ländern nicht immer (ausreichend) anhand der Theorie Browns und Gilmans erklärt werden kann, da beide Aspekte oft zu stark von ihrer allgemeinen Erklärungstheorie abweichen. Sogar die Erwähnung, dass die Art der Gesellschaft mit der power semantic beziehungsweise solidarity semantic in Verbindung steht, reicht nicht, um die pronominale Entwicklung und Verwendung zu erklären. Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren und die dadurch möglichen starken Abweichungen hinsichtlich dieser zwei Aspekte hätten in ihrem Werk deutlich mehr im Vordergrund stehen müssen. Immerhin bestimmten und bestimmen gerade diese Faktoren das Maß der Formalisierung beziehungsweise Informalisierung und dadurch die spezifische Entwicklung und Verwendung dieses wichtigen soziolinguistischen Phänomens in einem Land und seiner Sprache. Selbstverständlich gilt dies nicht nur für die Pronomen der zwei untersuchten Sprachen. Deswegen muss man akzeptieren, dass die Theorie Browns und Gilmans nur in groben Zügen auf einzelne Sprachen anwendbar ist und sich selber genauer ein Bild davon erschaffen, wie sich die Pronomen tatsächlich entwickelt haben. Genau dies gilt auch für die Verwendungsweise. 72 Literaturverzeichnis Besch, Werner. Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996. Brown, Roger und Albert Gilman. The Pronouns of Power and Solidarity. In: Style in Language. Hrsg. v. Thomas Sebeok. Massachusetts: The M.I.T. Press, 1960. S. 253-276. Braun, Friederike. Die Leistungsfähigkeit der von Brown/Gilman und Brown/Ford eingeführten anredetheoretischen Kategorien bei der praktischen Analyse von Anredesystemen. In: Anredeverhalten. Hrsg. v. Werner Winter. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1984. S. 41-72. Bree van, Cornelis. 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