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Masterarbeit Duitse Taal en Cultuur
Browns und Gilmans “The Pronouns of Power and Solidarity”
Der Einfluss von Macht und Solidarität hinsichtlich der
Entwicklung und Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen
Raymond Bosman
Master Duitse Taal en Cultuur
-Variant: Taal en Ontwikkeling
Studentennummer: 3330834
[email protected]
Begleiter: Prof. Dr. Wolfgang Herrlitz
Universiteit Utrecht
30. August 2009
Browns und Gilmans “The Pronouns of Power and Solidarity”
Der Einfluss von Macht und Solidarität hinsichtlich der
Entwicklung und Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen
2
Vorwort und Dank
Diese Masterarbeit ist die abschließende Arbeit des Studiums Taal en Ontwikkeling –
Variant Duits der Universiteit Utrecht. Sie schließt einen interessanten, erfolgreichen
Zeitabschnitt des Studiums Germanistik ab. Ich danke Christina Lammer und Conny
Stephan ganz herzlich für ihre hilfreichen Beiträge zur Textkorrektur und -Beratung.
Ganz herzlich bedanke ich mich ebenfalls bei Herrn Prof. Dr. Wolfgang Herrlitz für die
Begleitung dieser Arbeit.
Berlin, im August 2009
3
Inhaltsangabe
Seite
Einleitung
6
Kapitel 1: Die Anredepronomen: Entstehungsgeschichte des pronominalen 10
T/V-Unterschieds - Browns und Gilmans „The Pronouns
of Power and Solidarity“
1.1 “The Pronouns of Power and Solidarity”: Einführung und Kritiken
10
1.2 The Power Semantic
12
1.3 The Solidarity Semantic
15
1.4 Gesellschaftliche Faktoren und sonstige Anredeformen
18
1.5 Gültigkeit der Theorie Brown und Gilman: Vergangenheit und Gegenwart
19
Kapitel 2: Formalisierung in den Niederlanden und Deutschland:
21
Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während
der power semantic
2.1 Wie es in den Niederlanden aussah
2.1.1 Die Entwicklung der Anredepronomen
22
2.1.2 Der Einfluss des Französischen: u als V-Pronomen
27
2.1.3 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und ihr
28
Machtverhältnis
2.2 Wie es in Deutschland aussah
2.2.1 Die Entwicklung der Anredepronomen
29
2.2.2 Der Einfluss des Französischen: Sie als V-Pronomen
34
2.2.3 Verwendung des T-Pronomens und Machtdistanz innerhalb der
35
Familie
2.2.4 Titulatur in Deutschland: Zeichen der Macht
35
2.2.5 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und des
38
Machtverhältnisses
2.3 Übergangszeit: Die Gesellschaft ändert sich, Umgangsformen kaum
39
2.4 Gültigkeit Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Formalisierung
40
4
Kapitel 3: Informalisierung in den Niederlanden und Deutschland:
46
Verwendung der Anredepronomen während der
solidarity semantic
3.1 Informalisierung in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg
46
3.1.1 Die jugendliche Generation
48
3.1.2 Versäulung und Entsäulung
48
3.1.3 Sich ändernde Umgangsformen: „Margriet“ und ihre
49
Beratungsrubrik
3.2 Informalisierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
3.2.1 Studentenbewegung, außerparlamentarische Opposition,
50
51
Terroristengruppe
3.3 Der Trend zur Solidarität: veränderte Anredeformen in beiden Sprachen
52
-Familie
53
-Lehrer und Schüler
54
-Studenten untereinander
56
-Studenten und Professoren
57
-Arbeitskollegen
58
-Gast und Kellner
61
3.3.1 Du-Domäne und das Anbieten des Du in Deutschland
62
3.4 Exkurs: Der Stand der heutigen pronominalen Verwendung und die
63
Zukunft: das englische you: ein Vergleich für ein neues
Anredesystem?
3.5 Gültigkeit der Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der
66
Informalisierung
3.6 Schlussbemerkungen der solidarity semantic
69
Schlussfolgerung
71
Literaturverzeichnis
73
5
Einleitung
Die Idee für diese Masterarbeit entstand anlässlich der unterschiedlichen
Verwendung der Anredepronomen im Deutschen und im Niederländischen: der
Unterschied zwischen Siezen und Duzen im Alltag. Bei der Lektüre des Themas der
pronominalen Verwendung fallen zwei Punkte auf: erstens die Namen Roger Brown
und Albert Gilman und ihre Untersuchung „The Pronouns of Power and Solidarity“, die
in verschiedenen Werken erwähnt wird, zweitens die zwei wissenschaftlichen
Forschungsgebiete, die sich mit der Problematik der Anredepronomen beschäftigen.
Auf der Ebene der historischen Sprachwissenschaft beschäftigt man sich seit einigen
Jahrhunderten mit der Entstehung und der Entwicklung der Anredepronomen. Auf der
Ebene der Soziolinguistik wird erst seit einigen Jahrzehnten untersucht, ob und was
genau gesellschaftliche Einflüsse hinsichtlich der Verwendung der Anredepronomen
sind.
Brown und Gilman sind wichtige Namen in Bezug auf die Forschung der
Anredeformen und ihre Geschichte und haben mit ihren verschiedenen Untersuchungen
wichtige Grundbegriffe bezüglich dieses Forschungsgebietes eingeführt. Sie haben laut
Sprachwissenschaftlerin Friederike Braun „die nachfolgende Anredeforschung somit
stark beeinflusst.”1 Die meisten Sprachen haben in der zweiten Person zwei
pronominale Anredeformen. Der Unterschied zwischen diesen Formen wird derzeit
durch verschiedene Wissenschaftler als vertraulich für die Singularform (wie du)
betrachtet und die ursprüngliche Pluralform der zweiten Person (wie Sie) sollte man
derzeit in einer offiziellen Anrede oder als Höflichkeitsklausel verwenden. Die
Dichotomie der Pronomen kennzeichnet sich durch einen Bedeutungsunterschied und
die richtige Form ist abhängig von der angesprochenen Person. Brown und Gilman sind
in ihrer Untersuchung der Meinung, dass es sich bei der Entwicklung und der
Verwendung der Anredepronomen in Sprachen, die dazu zwei Möglichkeiten haben, um
einen universalen Prozess handelt: Macht und Solidarität spielen dabei die Hauptrolle.
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob ihre Theorie hinsichtlich der
Entwicklung
und
Verwendung
der
erwähnten
Pronomen
wirklich
derartig
allgemeingültig ist, wie sie behaupten. Dies wird anhand der pronominalen Entwicklung
1
Braun, Friederike. Die Leistungsfähigkeit der von Brown/Gilman und Brown/Ford eingeführten
anredetheoretischen Kategorien bei der praktischen Analyse von Anredesystemen. In: Anredeverhalten. Hrsg. v.
Werner Winter. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1984. S. 42.
6
und Verwendung in Deutschland und den Niederlanden untersucht. Es wird der Frage
nachgegangen, ob und wie beide Aspekte in den zwei Ländern miteinander
übereinstimmen und wie groß der Einfluss von kulturellen Faktoren wie
gesellschaftlichen Veränderungen in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der
Pronomen ist. Macht und Solidarität stehen auch im zentralen Forschungsinteresse
dieser Arbeit. Erwartet wird, dass es in der Entwicklung und der diachronen
Verwendung Unterschiede zwischen beiden Ländern gibt. Gerade, da die zwei Sprachen
sich durch eine Sprachverwandtschaft kennzeichnen, ist ein diachroner Vergleich
zwischen den Anredepronomen und den kulturellen Einflüssen beider Länder einerseits
und der Theorie von Brown und Gilman anderseits relevant.
Im ersten Kapitel wird die theoretische Grundlage zur Entstehung der
Anredepronomen und der Anredewahl anhand der Macht- und Solidaritätsstruktur nach
Brown und Gilman erörtert. Sie unterscheiden in ihrem Werk zwei Perioden: erstens die
power semantic oder die Semantik der Macht und zweitens ab dem 19. Jh. die solidarity
semantic oder die Semantik der Solidarität. Sie verwenden in ihrer Arbeit die Symbole
T (tu) und V (vos). Die Symbole kennzeichnen nicht nur einen Unterschied zwischen
den Pronomen der ursprünglichen zweiten Person Singular und Plural, sondern auch das
Spannungsfeld der dazugehörigen Solidarität oder Gleichheit (für T) und Macht oder
Unterlegenheit (für V). Dieser Unterschied ist auch in dieser Arbeit übernommen
worden. Die zwei Zeiträume und ihre Kennzeichen sind der Anreiz und Ausgangspunkt
dieser Arbeit.
Im zweiten Kapitel folgt eine Übersicht der Entwicklung und der mündlichen
Verwendung der niederländischen und deutschen Pronomen der zweiten Person. Sie
behandelt die Periode seit der Entstehung des V-Pronomens bis etwa 1960. Es handelt
sich dabei um einen Vergleich zwischen den Anredesystemen in beiden Ländern
einerseits und die Gültigkeit der Theorie, so wie Brown und Gilman sie für diese
Periode skizzieren, anderseits. Hinsichtlich der Untersuchung zwischen beiden Ländern
wird auch untersucht, wie sich beide Gesellschaften ab dem 17. Jh. entwickelt haben
und ob es einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Struktur und der
Verwendung von Anredepronomen gibt. Wichtige Werke hinsichtlich der historischen
Entwicklung
der
Anredeformen
sind
„Veranderingen
in
de
Nederlandse
Aanspreekvormen“ von Hanny Vermaas und von Horst Simon „Für eine grammatische
Kategorie >Respekt< im Deutschen“. Anhand von diesen und anderen Arbeiten wird
primär aus historischer Perspektive nachgegangen, wie die Anredepronomen sich in
7
beiden Ländern entwickelt haben und wie sie verwendet wurden. Für beide Länder wird
auch untersucht, was der Einfluss des Französischen mit der Entwicklung beider
pronominaler Anredesysteme zu tun hat. Obwohl es in dieser Arbeit hauptsächlich um
Pronomen geht, wird hinsichtlich der deutschen pronominalen Verwendung anhand der
Untersuchung „Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden“ von Horst-Volker
Krumrey auch untersucht, wie das V-Pronomen und Titulatur miteinander in
Verbindung stehen.
Die gesellschaftlichen Ursachen, die sich auf die pronominale Verwendung
beziehen, werden insbesondere anhand der Werke „Informalisering“ von dem
Soziologen Cas Wouters und den „Studien über die Deutschen“ von Norbert Elias
dargestellt. Dabei begründete sich Wouters Untersuchungen übrigens großenteils auf
denen von Elias. Beide reden in ihren Arbeiten von den Begriffen Formalisierung und
Informalisierung. Da diese zwei Begriffe hinsichtlich der Zeiträume entscheidender und
treffender sind für die machtorientierte beziehungsweise solidaritätsorientierte
Verwendung der Pronomen als die Begriffe power semantic und solidarity semantic von
Brown und Gilman, geht es im zweiten Kapitel deswegen um die pronominale
Entwicklung und Verwendung im Zeitraum der Formalisierung.
Das dritte Kapitel blickt in die letzten 50 Jahre zurück, da seitdem die
Informalisierung und damit die Solidarisierung in der Sprache erst merkbar angefangen
hat. Die pronominalen Anredesysteme haben sich in beiden Ländern seit dem 19. Jh.
nicht mehr verändert . Deswegen wird in diesem Kapitel anhand der soziologischen
Sichtweise die geänderte Verwendung erörtert. Zunächst werden die gesellschaftlichen
Änderungen, die die pronominale Verwendung beeinflusst haben, behandelt, um auf
diese Weise die Theorie der solidarity semantic von Brown und Gilman erklären zu
können und den Zusammenhang zwischen der verändernden Gesellschaft und den
verändernden Anredepronomen in beiden Ländern herauszufinden. Dies passiert unter
anderem anhand von dem erwähnten Werk von Elias und James Kennedys „Nieuw
Babylon in aanbouw“.
Drei Gesprächssituationen sind in der Arbeit von Brown und Gilman als
semantische Konflikte gekennzeichnet worden. Das heißt, dass die Wahl des richtigen
Pronomens zwischen Gesprächspartnern zur Zeit ihrer solidarity semantic nicht
eindeutig ist, wodurch Brown und Gilman „eine generelle Lösung“ für diese Konflikte,
die mit Macht und Solidarität und den zugehörigen Pronomen zu tun haben, bieten.
Neben diesen drei Situationen wird anhand von drei anderen Verhältnissen zwischen
8
Gesprächspartnern in diesem Kapitel nachgegangen, ob und wie sich die Verwendung
der Anredepronomen in Deutschland und den Niederlanden seit dem Zeitalter der
Formalisierung differenziert haben. Die Rolle der Macht in dieser Periode und die
zugenommene Solidarität innerhalb der Gesellschaft wird mit der pronominalen
Verwendung verbunden. Auch wird in diesem Kapitel noch kurz auf die Frage
eingegangen, ob das englische Pronomen you als Vorläufer eines möglichen
simplifizierten Anredesystems für diese zwei Länder betrachtet werden kann.
Diese
beider
Literaturuntersuchung behandelt die Entwicklung und Verwendung
Hochsprachen.
Die
Betrachtung
der
niederländischen
Entwicklung
berücksichtigt, da sie nicht als einzeln stehend der pronominalen Entwicklung in den
damaligen südlichen Niederlanden betrachtet werden kann, im zweiten Kapitel die
Entwicklung im gesamten niederländischen Sprachgebiet, also einschließlich des
heutigen Flanderns. Für den deutschen Sprachprozess gilt, dass es in dieser Arbeit um
die Entwicklung in dem Sprachgebiet geht, das letztendlich Deutschland wurde. Im
dritten Kapitel wird die Veranschaulichung der pronominalen Verwendung nur auf die
Bundesrepublik begrenzt. Das zweite und dritte Kapitel werden mit einer
Zwischenschlussfolgerung der erörterten Periode vollendet. Am Ende dieser Arbeit gibt
es dann noch eine kurze Gesamtschlussfolgerung.
9
Kapitel 1: Die Anredepronomen: Entstehungsgeschichte des pronominalen
T/V-Unterschieds – Browns und Gilmans „The Pronouns of Power
and Solidarity“
1.1 “The Pronouns of Power and Solidarity”: Einführung und Kritiken
Das erwähnte Unterschiedsprinzip zwischen „vertraulich“ und „offiziell“ oder
„höflich“ ist Teil der Anredegeschichte und kommt ursprünglich aus dem Lateinischen.
Die Sichtweise von Roger Brown und Albert Gilman in ihrer Untersuchung „The
Pronouns of Power and Solidarity“ ist dabei wichtig. Insbesondere die generellen
Theorien im ersten Teil ihres Artikels, die sich auf die Entstehung und die Entwicklung
der Anredepronomen beziehen, gelten als Grundlage für diese Arbeit. Ihren Gedanken
in der erwähnten Untersuchung sind deswegen eingehend erörtert worden.
Horst Simon hat sich in seiner Arbeit ausführlich mit der Entwicklung der
deutschen Anredepronomen befasst. Ihm zufolge ist es ein Hauptverdienst, dass Brown
und Gilman sprachübergreifend argumentiert haben.2 Kritiker sind allerdings der
Meinung, dass sie mit ihrem Ansatz die Forschung simplifizierten und Phänomene
außer Acht ließe. Friederike Braun schreibt in ihrer Arbeit, dass es einige Mängel bei
der praktischen und konkreten Beschäftigung mit Anredeformen gäbe, da die
Anredetheorie zu einer Interpretation in vielen Fällen nicht ausreiche, zu ungenau sei
und sich sehr an (west-)europäischen Sprachen und Anredesystemen orientiere.3
Übrigens bezieht sie dies auch auf ein anderes Werk von Brown und Gilman und auf ein
Werk von Brown und Ford. Ihr größter Kritikpunkt ist nicht der theoretische Ansatz,
sondern die praktische Anwendung des Modells.
Obwohl
mehrere
Wissenschaftler
das
Thema
der
Anredepronomen
ausgearbeitet haben, sind Brown und Gilman der Meinung, dass die Verschiebung vom
Macht- zum Solidaritätsprinzip nicht übergreifend erklärt würde.
„We have found no authority who describes the general character of these many specific
changes of usage: a shift from power to solidarity as the governing semantic principle“.4
In „The Pronouns of Power and Solidarity“ zeigen Brown und Gilman eine
Verbindung zwischen den lateinischen Pronomen ‚Tu’ (T) und ‚Vos’ (V) und den
2
Simon, Horst. Für eine grammatische Kategorie >Respekt< im Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie
der deutschen Anredepronomina. Berlin: 2002 (Linguistische Arbeiten 474). S. 6.
3 Braun, Friederike. S. 42.
4 Brown, Roger und Albert Gilman. The Pronouns of Power and Solidarity. In: Style in Language. Hrsg. v. Thomas
Sebeok. Massachusetts: The M.I.T. Press, 1960. S. 261.
10
Pronomen der zweiten Person (sowohl Singular als auch Plural), die in verschiedenen
(europäischen) Sprachen vorkommen. Sie sprechen von europäischen Entwicklungen
und Änderungen.
Zur Zeit hat nicht jede europäische Sprache, wie das Englische, einen derartigen
pronominalen Unterschied. Auf die Entwicklung der englischen Anredepronomen wird
in dieser Arbeit im 3. Kapitel eingehender eingegangen.
Richard Dury weist in seiner Untersuchung „You and Thou in Early Modern
English“ daraufhin, dass es zur Zeit ein nordatlantisches Gebiet gibt, in dem das
Höflichkeitspronomen nicht vorkommt (z.B. Englisch, Irisch, Friesisch, Niederdeutsch
und Flämisch), oder nur eingeschränkt verwendet wird (Norwegisch, Schwedisch,
Dänisch und auch Niederländisch). In südeuropäischen Sprachgebieten hingegen wird
das V-Pronomen ihm zufolge häufiger als im Norden verwendet. Laut Dury entstammt
dies aus der Sprachänderung vom Lateinischen in eine nationale Sprache.
„It is possible to see this as a fringe area at a distant point to the centre of original
change, assuming a cultural diffusion of pronouns from Latin in southern Europe to the
vernacular [in Europe].”5
Dury weist darauf hin, dass das V-Pronomen in den verschiedenen nationalen Sprachen
Europas zwischen 9. Jh. (überwiegend im Süden) und 17. Jh. (überwiegend im Norden)
eintrat. Er ist mehr oder weniger der Meinung, dass die heutige Abwesenheit der VPronomen mit dem späten Zeitpunkt des Eintritts zu tun hat. Obwohl er mit seiner
Beobachtung keine Kritik an Brown und Gilman übt, handelt es sich hier um eine
wichtige Konstatierung, da sie die „allgemeine europäische Theorie“ von Brown und
Gilman nicht völlig unterstützt.
Laut
Brown
und
Gilman
führt
die
heutige
(zweigliedrige)
Anrededifferenzierung, welche die meisten (europäischen) Sprachen kennen, auf das
römische Reich des vierten Jh. zurück. Die Verwendung des Pluralpronomens hat bei
der Anrede des Kaisers angefangen. Es gibt dazu verschiedene Theorien. Erstens gab es
in dieser Epoche zwei kaiserliche Herrscher: einen im westlichen Reich (Rom) und
einen im östlichen Reich (Konstantinopel). Sprach man über einen der Kaiser, wurden
implizit beide Kaiser gemeint. Zweitens war der Kaiser auch auf eine andere Weise als
eine Pluralperson zu betrachten, da er sein Volk repräsentierte. Sicher ist, dass der
Kaiser in dieser Periode zum ersten Mal mit dem Pluralpronomen Vos -als Reflex seiner
5
Dury, Richard. You and Thou in Early Modern English: cross-linguistic perspectives. In: Germanic Language
Histories ‘from Below’ (1700-2000). Hrsg. v. Stephan Espass u.a.. Berlin: Walter de Gruyter, 2007. S. 139-140.
11
Selbstbezeichnung nos- angeredet wurde: der sogenannte Pluralis majestatis. Daraufhin
entstand die plurale V-Anredeform, welche sich als Machtform erklären lässt
„The usage need not have been mediated by a prosaic association with actual plurality,
for plurality is a very old and ubiquitous metaphor for power.“6
Die neue lateinische Anredeform wurde später auch verwendet, um andere mächtige
Personen anzureden, und war ein Beweis der „Ehrfurcht“ und „Unterwürfigkeit“.7 Im
Laufe der Zeit hat sich der pronominale T/V-Unterschied auch von oben nach unten in
der Gesellschaft durchgesetzt. Das V-Pronomen konnte im Laufe der Zeit auch als
singuläres Höflichkeitspronomen erklärt worden.
„A form originally exclusively plural has been recruited historically to be used also as
what is loosely called a polite singular.”8
Der genaue Zeitpunkt der Entstehung des pronominalen T/V-Unterschieds in die
verschiedenen europäischen Sprachen ist nicht ganz klar. Laut Brown und Gilman hat
diesen Unterschied irgendwann zwischen dem 12. und 14. Jh. in die verschiedene
Sprachen eintrat. Die Entwicklungsgeschichte der Pronomen kennzeichnet sich deutlich
durch zwei verschiedene Zeitalter. Ab ihrer Entstehung bis ins 19. Jh. gibt es erstens die
power semantic und im Laufe dieses Jahrhunderts setzte sich den Autoren zufolge die
solidarity semantic durch. Brown und Gilman haben sich gerade für die Begriffen
power und solidarity entschieden, da die Pronomen eine enge Verbindung mit diesen
Dimensionen haben, die als Fundament der Analysierung des gesellschaftlichen Lebens
dienen. Mit dem Begriff semantic beschrieben sie eine Wechselbeziehung, die es
zwischen dem verwendeten Pronomen und der objektiven Beziehung zwischen
Gesprächspartnern gibt.
1.2 The Power Semantic
Ab dem Mittelalter setzte sich die Pluralanrede in Europa auch in den unteren
Gesellschaftsschichten weiter durch und während dieser nicht-reziproken power
semantic entwickelten sich zwei Dimensionen der Anreden.
-Die vertikale Statusdimension: Bei dieser Dimension gibt es ein Machtverhältnis.
Vorgesetzte (superiors) erhalten das V-Pronomen (Vos), Untergeordnete (inferiors)
6
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 255.
Hake vor der, Jan Arend. De aanspreekvormen in ’t Nederlandsch. Proefschrift. Utrecht: 1908. S. 13.
8 Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 254.
7
12
erhalten hingegen das T-Pronomen (tu). Es handelt sich hier um einen asymmetrischen
Gebrauch der Anredepronomen.
-Die horizontale Statusdimension: Bei dieser Dimension gibt es kein Machtverhältnis.
Gleichgestellte der Oberschicht benutzen gegenseitig das V-Pronomen, falls sie sich
nicht solidarisch zueinander fühlen (equal and not solidary). Das T-Pronomen wird
gegenseitig von Mitgliedern der Unterklasse verwendet (equal and solidary). Bei dieser
Statusdimension handelt es sich um eine Situation, in der die Gesprächspartner mehr
oder weniger gleichwertig sind: Die Anredepronomen werden symmetrisch verwendet.
Die zwei Dimensionen und die dazugehörigen Anredepronomen in diesem Zeitalter
zeigen Brown und Gilman schematisch folgendermaßen an.
V
Superiors
equal and not
solidary
equal and solidary
T
T
V
V
Inferiors
T
Abbildung 1: Die Dimensionen der T/V-Pronomen im Gleichgewicht
Über solche Machtunterschiede und die pronominale Verwendung innerhalb der
europäischen Gesellschaft sagen Brown und Gilman:
“In medieval Europe, generally, the nobility said T to the common people and received
V; the master of a household said T to his slave, his servant, his squire, and received V
within the family, of whatever social level, parents gave T to the children and were
given V.”9
Die non-reziproke pronominale T/V-Verwendung galt den Autoren zufolge während
mehrerer Jahrhunderte auch für die deutschen Anredepronomen.10
Hinsichtlich der richtigen Verwendung der Anredepronomen gab es damals zwei
verschiedene Kategorien, zwischen denen man wählen konnte. Die vertikale
Statusdimension lässt sich eindeutig und relativ einfach erklären. Mit power wird nach
Brown und Gilman gemeint:
„[…] a relationship between at least two persons, and it is nonreciprocal in the sense that
both cannot have power in the same area of behavior.“ 11
9
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 256.
Ebd. S. 257.
11 Ebd. S. 255.
10
13
Es handelt sich bei den Machtverhältnissen dann auch nicht nur um Unterschiede
zwischen Schichten. Sonstige Beispiele, die sie erwähnen, sind: older than, parent of,
employer of, richer than, stronger than and nobler than.12 Brown und Gilman weisen
daraufhin, dass jeder in seinem Leben verschiedene Situationen erlebt, die
Machtrelationen äußern. Zwei Beispiele eines derartigen Machtverhältnisses und der
dazugehörigen nicht reziproken pronominale Verwendung, die sie erwähnen, sind die
Macht der Eltern und das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Etwas
Ähnliches gilt auch für das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer.
Die horizontale Statusdimension hingegen ist weniger eindeutig, da innerhalb
dieser Dimension das Anredepronomen nicht durch Macht differenziert worden ist,
sondern Gleichgewicht der entscheidende Faktor ist. Nicht nur Untergeordnete
verwendeten das Höflichkeitspronomen wenn sie jemanden aus der Oberschicht
anredeten, auch Mitglieder innerhalb der Oberschicht tauschten das V-Pronomen
miteinander aus. Obwohl man in der Oberschicht hinsichtlich des Machtaspekts mehr
oder weniger gleichwertig war, waren Mitglieder nicht bedingt solidarisch. In dieser
Kategorie hatte der Machtaspekt im Vergleich zur Solidarität also (immer noch) die
Oberhand. Die Ausdehnung des V-Pronomens in den höheren Schichten Europas
erklären Brown und Gilman als Zeichen der Eleganz.
Längere Zeit gab es hinsichtlich gegenseitiger Verwendung innerhalb einer
Klasse keine richtige Regel. Im Laufe der Zeit wurde der Unterschied zwischen V und
T als Formel und Intimität bezeichnet:
„[…] very gradually, a distinction developed which is sometimes called the T of
intimacy and the V for formality.“13
Dazu könnte man auch sagen, dass aus dieser spezifischen Verwendung des VPronomens die moderne Höflichkeitsform entstanden ist. In dieser Hinsicht ist die
Höflichkeitsform zwar aus der Machtdimension entstanden, aber handelt es sich, da es
zwischen Mitgliedern der Oberschicht keine oder kaum Machtunterschiede gibt, eher
um Höflichkeit oder Respekt. Auch die Untergeordneten sind einander innerhalb ihrer
Schicht von Geburt an gleich. Dass sie sich im Alltag auch tatsächlich miteinander
verbunden fühlen, kennzeichnet sich durch die Verwendung des dazugehörigen TPronomens. In dieser Hinsicht könnte man also im Zeitraum der Machtsemantik, sei es
auch relativ beschränkt, schon von Solidaritätsstrukturen reden.
12
13
Ebd. S. 257.
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 257.
14
Bis in das 19. Jh. wurde die europäische pronominale T/V-Anrede von der
erwähnten power semantic bestimmt und ließ sich die richtige Verwendung des
Anredepronomens innerhalb einer Schicht erstens durch Gleichheit in Macht und
zweitens durch eine eventuelle Solidaritätsbeziehung kennzeichnen. Zwischen den
Schichten ging es um das Existieren einer Machtungleichheit. Gesprächspartner können
einander anhand des Kriteriums Macht einfach einstufen und auf diese Weise
entscheiden, ob sie das V- oder das T-Pronomen verwenden sollten. Unabhängig von
den horizontalen und vertikalen Dimensionen kennzeichnete sich in diesem Zeitalter das
Anredesystem ‚an sich‘ jedoch durch ein bestimmtes Gleichgewicht. Gleichgewicht, da
die Wahl zur richtigen Anredeform übersichtlich war und dadurch auf der Hand lag.
Dies änderte sich, als der Solidarität eine wichtigere Rolle zugeschrieben wurde.
1.3 The Solidarity Semantic
Der nächste Schritt der europäischen T/V-Entwicklung ist der, in dem ein neues
Prinzip mit dem Machtprinzip in Konflikt gerät. Brown und Gilman nennen dieses
Prinzip, das eine gleichwertige Beziehung zwischen Gesprächspartnern ausdrückt,
solidarity semantic. Sie konstatieren, dass im 19. Jh. ein Rückgang a-symmetrischer
Anredeverhältnisse in Gang gesetzt wurde und das Anredeverhalten sich im Laufe
dieses Jahrhunderts von dem erörterten machtorientierten Prinzip zu einer auf eher
Solidarität basierenden Verwendungsweise hin änderte. Die Machtstruktur und die
damit zusammenhängende V-Anrede wurde durch Reziprozität und die damit
zusammenhängende T-Anrede ersetzt. Den Prozess dieser Umwertung nennen Brown
und Gilman solidarity semantic. Wichtiges Kennzeichen der Solidarität ist das
symmetrische Verhältnis zwischen den verschiedenen Gesprächspartnern. Laut Brown
und Gilman gibt es die Möglichkeit, dass Solidarität sich mittels der Frequenz eines
Kontakts entwickelt. Die sogenannte like-mindedness ist der entscheidende Faktor für
eine Solidaritätsbeziehung. Beispiele denen eine Solidaritätsbeziehung zugrunde liegt,
sind laut Brown und Gilman Familie, Religion, Beruf und Schule. Im Gegensatz zur
Machtstruktur und der zusammenhängenden Ungleichheit zwischen Gesprächspartnern
handelt es sich bei der Solidaritätsbeziehung also um mögliche Gemeinsamkeiten
zwischen ihnen.
Ein Grund für den Umwertungsprozess sind wichtige Ereignisse in der
Geschichte. Als bekanntes Beispiel hierfür wird die Französische Revolution erwähnt.
Dieses Ereignis betraf alle Bürger im Lande und schuf dadurch ein großes
15
Zusammengehörigkeitsgefühl. Da die Bürger mit der Macht der Vergangenheit
abrechneten, musste das V-Pronomen an Kraft einbüßen, wodurch man das T-Pronomen
hier als Revolutionspronomen betrachten könnte.
Die Statusdifferenzierung hat sich laut den Autoren in neuerer Zeit unter
anderem in verschiedenen europäischen Sprachen verändert: Die horizontale
Dimension; die reziproke Anredemöglichkeit wurde wichtiger und Statusunterschiede
wurden nicht mehr unbedingt damit ausgedrückt. Braun und Gilman sprechen über den
Eintritt der Solidarität in die europäischen Anredesysteme, wodurch es eine zweite
Dimension hinsichtlich der Differenzierung des Machtgleichnisses gab. Die neue Rolle
der Solidarität hatte zur Folge, dass das neue System der Anredeformen sich nicht mehr
durch Gleichgewicht kennzeichnete. Die bisherige begrenzte Funktion der Solidarität
wurde ab diesem Moment derartig ausgedehnt, dass nicht ohne weiteres deutlich war,
welches Anredepronomen Gesprächspartner untereinander verwenden sollten. Die
nachfolgende Abbildung zeigt insgesamt sechs Kategorien. Die zwei neuen Kategorien,
die aus der erweiterten Solidarität hervorgehen; superior and solidary (links oben) und
inferior and not solidary (rechts unten) können durch die wachsende Rolle der
Solidarität
bei
der
Wahl
der richtigen
Anredepronomen Konfliktsituationen
verursachen. Dort wo bisher das Machtverhältnis entscheidend war, galt dies nun in den
meisten Fällen für die Solidaritätsbeziehung. Die Folge war, dass es in bestimmten
Fällen einen unerwarteten Pronomenwechsel gab. Brown und Gilman geben die neue
Verhältnisse schematisch folgendermaßen wieder.
V
T
Superior and solidary
T
V
Superior and not solidary
Equal and solidary
Equal and not solidary
T
V
Inferior and solidary
T
V
Inferior and not solidary
V
T
Abbildung 2: Die Dimensionen der T/V-Anreden stehen unter Druck
Die neuen Kategorien und ihre Schwierigkeiten sind von Brown und Gilman anhand
von sechs Beispielen erläutert worden. In dieser Arbeit wird nur auf die Beispiele
eingegangen, die in der Regel auch heutzutage noch häufig vorkommen. Dies gilt für
drei Relationen, nämlich: Eltern-Kinder, Gast-Kellner und Arbeitgeber-Arbeitnehmer.
Das erste Beispiel bezieht sich auf die Kategorie Superior and Solidary. Man
würde erwarten, dass ein Kind aufgrund von der (klassischen) vertikalen Beziehung die
16
Eltern mit dem V-Pronomen anredet. Dieses Pronomen kann verwendet werden, führt
allerdings zu einem semantischen Konflikt. Dabei fordert die neu entstandene
Reziprozitätsbeziehung eher das solidarische T-Pronomen (wodurch Kinder und Eltern
einander mit dem T-Pronomen anreden). In dieser Kategorie entsteht deswegen eine
gegenseitige T-Verwendung und auf diese Weise wird der semantische Konflikt, wie
Brown und Gilman die nicht eindeutige Verwendung des Anredepronomens während
der solidarity semantic nennen, aufgelöst.
Die Kategorie inferior not solidary ist die andere neue Kategorie, die sich durch
Schwierigkeiten kennzeichnet. Falls man von einer nicht-solidarischen Situation und
ebenso auch nicht von einem Machtverhältnis redet, ist nicht immer verständlich,
welches Pronomen verwendet werden muss. Beispiele dazu findet man im
Servicebereich, wie in einem Restaurant (zwischen Gast und Kellner). So könnte der
Gast den Kellner nicht nur mit der V-Form, sondern auch mit der T-Form anreden,
obwohl es gar keine Solidaritätsbeziehung zwischen ihnen gibt. Für den Kellner gibt es
hingegen nur eine auf der Hand liegende Möglichkeit: die Verwendung des VPronomens. Da die Gesprächspartner nicht solidarisch zueinander sind, ist die Lösung
hier eine gegenseitige V-Verwendung. In solchen Fällen wäre eher der Begriff
Höflichkeit angemessen. Ein ähnliches Problem gibt es im dritten Beispiel; der
Arbeitsbeziehung. Hat der Arbeitgeber hier vormals den Arbeitnehmer mit dem TPronomen angeredet, ist diese Form ab diesem Moment offenbar nicht mehr die einzige
Möglichkeit, da der Arbeitgeber nicht nur das T-Pronomen, sondern auch das VPronomen verwenden kann. Auch hier verliert das bisherige System wieder das
Gleichgewicht. Da laut Brown und Gilman Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht
solidarisch zueinander sind, gibt es auch im neuen Zeitraum keine gegenseitige TVerwendung. Ihre Lösung: Die Gesprächspartner sollten einander gegenseitig mit dem
V-Pronomen ansprechen. In diesem Beispiel gibt es auf jeden Fall ein Machtverhältnis
zwischen Gesprächspartnern. Dies bedeutet, dass dem Arbeitnehmer durch Zuweisung
des V-Pronomens gleichzeitig ein neuer Status zugewiesen wird. Möglicherweise geht
es auch hier wieder eher um eine Höflichkeitsform.
Brown und Gilman konstatieren, dass Beziehungen wie „older than, father of,
nobler than und richer than“ in diesem Bereich sowohl als T- wie als V-Beziehungen
betrachtet werden können. Dies gilt ihnen zufolge auch für Gleichheitsbeziehungen wie
„the same age as, the same family as, the same income as” Die Autoren beschreiben:
17
„In the degree that these relationships hold, the probability of a mutual T increases and,
in the degree that they do not hold, the probability of a mutual V increases.“14
Auf diese Weise haben sie für das von ihnen selbst skizzierte Problem eine Lösung
erschaffen. Macht ist dadurch nicht mehr der entscheidende Faktor. An erster Stelle
entscheidet das „Solidaritätsprinzip“.
Anhand einer Untersuchung unter Austauschstudenten aus Frankreich,
Deutschland und Italien in Boston 1957 konstatieren Brown und Gilman, dass eine
gegenseitige T-Verwendung (in Deutschland) damals unter befreundeten Studenten,
befreundeten Kollegen, Mitglieder einer politischen Partei und unter Personen mit
einem gleichen Hobby öfter stattfand.15
1.4 Gesellschaftliche Faktoren und sonstige Anredeformen
Brown und Gilman weisen darauf hin, dass die Wirksamkeit der nonreciprocal
power semantic von einem statischen, hierarchischen Staatsgefüge abhängt. Die
Machtbeziehung ist innerhalb dieser Systeme von Geburt an bestimmt. Power semantic
war eng mit den feudalen und grundherrschaftlichen Systemen verbunden. Dahingegen
gab es in Laufe der Zeit auch Systeme mit vorwiegend symmetrischem Pronominalgebrauch, wobei Solidarität die entscheidende Dimension ist. Darüber sagen sie:
The reciprocal solidarity semantic has grown with social mobility and an equalitarian
ideology.16
Bemerkt werden muss, dass sie ihre Theorie der power semantic und die wachsende
Solidarität in bestimmten Gesellschaften nicht deutlich miteinander verknüpfen, da sie
einerseits von einer uniformen Entwicklung der power semantic bis ins 19. Jh. sprechen
und anderseits zwei unterschiedliche Gesellschaften erwähnen. Deutlich wird dabei
nicht,
ob
diese
wachsende
Solidarität
in
den
verschiedenen
Ländern
in
unterschiedlichen Perioden stattfinden kann.
Neben der pronominalen Anredemöglichkeit gibt es auch verschiedene nominale
Anredeformen, die man mit Macht und Solidarität in Verbindung setzen kann. Es geht
in diesen Fällen um nominale Wörter oder Wortgruppen. Dazu gibt es Titulatur, wie
„Doktor“ oder „Professor“, aber auch bürgerliche Titulatur, wie „Herr/Frau“ und der
Zusatz
eines
Namens
(der
Nachname
14
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 260.
Ebd. S. 261.
16 Ebd. S. 264.
15
18
oder
gerade
der
Vorname)
und
Verwandtschaftsbezeichnungen wie Onkel und Mutter gehören zu diesen nominalen
Anredeformen.
Der Unterschied zwischen der pronominalen und der nominalen Verwendung
hat Brown und Gilman zufolge primär mit the degree of linguistic compulsion zu tun.
Mit diesem Grad von sprachlichem Zwang beschreiben sie, inwiefern man die T/VPosition nennen muss oder vermeiden kann. Die schriftliche Kommunikation fordert
beispielsweise eher als die mündliche Kommunikation die Verwendung eines Titels.
Das Vermeiden eines Pronomens ist in beiden Fällen kompliziert. Die Verwendung der
nominalen Anreden hat wie die Pronomenverwendung mit kulturellen Aspekten zu tun.
Im offiziellen Bereich in den USA ist zum Beispiel die Verwendung des Vornamens
üblicher als in Deutschland.
1.5 Gültigkeit Theorie Brown und Gilman: Vergangenheit und Gegenwart
Das Vorhergehende, das auf Grundlagen von Brown und Gilman basiert ist,
zeigt in großen Zügen, dass sich im Laufe der Zeit das Machtprinzip in Europa geändert
hat und diese Änderung sich daraufhin auch in den verschiedenen Sprachen
durchgesetzt hat. Die Anredeformen, die das Macht- bzw. Solidaritätsverhältnis zum
Ausdruck bringen, äußern dies. Die erörterte pronominale Entwicklungsgeschichte
kennzeichnen Brown und Gilman als eine „general semantic evolution of the
pronouns“.17 Die Betrachtungsweise der power und solidarity semantic lässt sich
wahrscheinlich deswegen nur durch feststehende Beziehungen kennzeichnen. Sie
skizzieren ein Bild, in dem die pronominale Verwendung in Europa etwas Endgültiges
ist. Raum für eine mögliche Variation gibt es in der Erörterung der Anredepronomen
kaum. Auch bei den Beziehungen, die sie als Beispiel nehmen, da sie einen
semantischen Konflikt beinhalten, gibt es eine feststehende Lösung: entweder Macht
(V-Verwendung) oder Solidarität (T-Verwendung).
Die Gedanken hinsichtlich der power semantic und der solidarity semantic, die
Brown und Gilman in ihrem Artikel geäußert haben, sind die Grundlage der Fortsetzung
dieser Arbeit. Obwohl sie darauf hinweisen, dass die pronominale Verwendung von der
gesellschaftlichen Struktur abhängig ist, sind sie der Meinung, dass Solidarität in
Europa mehr oder weniger gleichzeitig (irgendwann im 19. Jh.) der Macht folgt.
17
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 267.
19
Untersucht wird, ob und auf welche Weise sich diese „general semantic evolution“ für
die niederländischen und deutschen Anredepronomen rechtfertigen lässt. In ihrem
Artikel erwähnen Brown und Gilman, dass sie neben der modernen deutschen
Pronomenverwendung (also der Verwendung zur Zeit der Veröffentlichung des
Artikels) auch das Englische, Französische, Italienische und Spanische weitgehend
untersucht haben. Ob sie die frühere diachrone Entwicklung der Pronomen auch auf die
genannten Sprachen gründen, ist nicht deutlich. Hinsichtlich der nicht untersuchten
Sprachen argumentieren Sie:
„What we have to say is then largely founded on information about these five closely
related languages.”18
Dies würde implizieren, dass durch Sprachverwandtschaft hinsichtlich der diachronen
pronominalen T/V-Verwendung, die Sichtweise Browns und Gilmans vorausgesetzt,
kaum Unterschiede zwischen der niederländischen und deutschen pronominalen
Verwendung zu erwarten sind.
Den Abschnitt solidarity semantic beginnen Brown und Gilman mit den Worten:
„[…] and here is our guess as to how it developed”.19
Da sie anlässlich einer sich verändernden Gesellschaft einen allgemeinen Trend zu
einem solidarischen sprachlichen Umgang beschreiben, wäre es interessant, im
Folgenden zu untersuchen, wie sich dieses Solidaritätsprinzip genau seit dem Eintritt
der Solidarität im 19 Jh. in den Niederlanden und in Deutschland geäußert hat und ob
sich dieser „guess“, die erörterte solidarity semantic, auch tatsächlich rechtfertigen lässt.
Dazu ist es im Anschluss an ihren Artikel sinnvoll zu untersuchen, inwieweit der
Machtaspekt seit der Veröffentlichung des Artikels 1960 noch gültig ist. Immerhin
haben die sozialen Strukturen sich innerhalb der Gesellschaft gerade seit den 1960er
Jahren stark geändert. Daraufhin könnte man sich fragen, in wieweit ihr Artikel, der
mehrere Jahrhunderte in Kürze behandelt, seit seiner Veröffentlichung noch aktuell
geblieben ist.
18
19
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 254.
Ebd. S. 260.
20
Kapitel 2: Formalisierung in den Niederlanden und Deutschland:
Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während der power semantic
Anlässlich der dargestellten Gedanken Browns und Gilmans werden in diesem
Kapitel die Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen sowie Faktoren, die
damit in Verbindung stehen, untersucht. Auf diese Weise kann die Verwendbarkeit der
power semantic für die Niederlande und Deutschland geprüft werden.
Erstens wird, vom Ursprung des pronominalen T/V-Anredesystems bis zum
Eintritt der solidarity semantic, die Anwesenheit und Verwendung der T/VAnredepronomen erörtert. Gezeigt wird noch, dass man erst in der zweiten Hälfte des
20. Jh. in beiden Ländern von einer richtigen solidarity semantic reden kann. Deswegen
geht es in diesem Kapitel bei der power semantic um einen längeren Zeitraum als
Brown und Gilman anhalten. Bei der Entstehung und Entwicklung der Anredepronomen
kann man nur von der Sicht der heutigen, früheren Interpretationen und der schriftlichen
Überlieferung ausgehen. Da die Verfasser in ihren Texten mit den Anredepronomen
variieren, ist auch nicht immer völlig deutlich, wie die genaue pronominale
Entwicklung stattgefunden hat. Deswegen ist es manchmal schwierig, die genauen
früheren Machtverhältnisse darzustellen. Versucht wird, ein deutliches Bild des
Anredesystems zu geben und anhand davon die pronominalen T/V-Beziehungen in
beiden Ländern darzustellen. Zu gleicher Zeit wird nachgegangen, welche
Übereinstimmungen und Unterschiede es zu der power semantic gibt.
Laut Simon ist für eine Reihe von Sprachen geltend gemacht worden, dass ihr
pronominales Anredesystem im 18. Jh. unter dem Einfluss des Französischen
Wandlungen durchgeführt habe. Dies äußere sich durch die Einführung bzw. Stärkung
der höflichen Anrede mit dem Pronomen der 2. Person Plural nach Vorbild der heute
noch genau so funktionierenden tu-vous-Dichotomie der Prestigesprache.20 Bezüglich
der Entwicklung des letzten Stadiums des niederländischen bzw. deutschen
Anredesystems wird deswegen separat der Einfluss des Französischen behandelt.
Hinsichtlich
der
deutschen
Situation
wird
auch
noch
kurz
auf
Verwandtschaftsbeziehungen und dazugehörige Machtverhältnisse eingegangen. Auch
wird die Rolle der Titulatur, im Zeitraum der Formalisierung und an der Grenze der
Informalisierung, in Zusammenhang mit der Anwesenheit einer Machtbeziehung
20
Simon, Horst. S. 123-124.
21
untersucht. Es geht deswegen nicht um die damalige genaue Entwicklung und
Verwendung in allen möglichen Bereichen. Hinsichtlich der niederländischen Situation
fällt auf, dass zu der früheren Titulaturverwendung keine Literatur vorhanden ist.
Nachdem die Entwicklung der Anredepronomen und die Rolle der Titulatur
erörtert worden sind, wird genauer auf die Entstehung und Entwicklung der
verschiedenen Schichten in der hierarchischen Gesellschaft eingegangen. Als
besonders nützlich haben sich die Theorien von Cas Wouters und Norbert Elias
erwiesen. Beide reden in diesem Bereich von der Prägung eines nationalen Habitus.
Elias umschreibt den Begriff Habitus als ein „spezifisches Gepräge des Individuums,
welches er mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt.“21 Wichtig ist die
Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. In dieser Arbeit geht es bei
dem komplexen Begriff, der mehrere Bedeutungen hat, nur darum, wie die
pronominale Verwendung in der (niederländischen und deutschen) Gesellschaft von
historischen Prozessen geprägt worden ist. Man könnte auch sagen; wie sich
Individuen, durch die anwesenden Strukturen, die pronominale T/V-Verwendung
angeeignet
haben.
Nachgegangen
wird
also,
ob
die
Macht-
und
Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft einen Trend zur Formalisierung
unterstützen und dadurch eine häufigere Verwendung von V-Pronomen verursachenoder nicht. Auf diese Weise kann die Gültigkeit der Theorie der power semantic
genauer anhand von (allgemeinen) gesellschaftlichen Entwicklungen in zwei Ländern
mit einer unterschiedlichen Geschichte und Kultur geprüft werden.
2.1 Wie es in den Niederlanden aussah
2.1.1 Die Entwicklung der Anredepronomen
Die Untersuchungen der Pronomenverwendung in der niederländischen Sprache führen
ins Ende des 12. zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden offizielle Texte auf Lateinisch
geschrieben. Es ist möglich, dass der lateinische pronominale T/V-Unterschied direkt in
die damalige Umgangssprache
übernommen worden ist, wodurch die mittel-
niederländischen Pronomen mit den lateinischen Pronomen und dem dazugehörigen
Unterschied zwischen Macht und Solidarität korrespondieren. Der Einfluss aus dem
Französischen und die da existierende Pronomen tu und vous, die ebenso eine
21
Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Einführungskurs Soziologie. 7. grundlegend überarbeitete Auflage.
Hrsg. v. Hermann Korte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft, 2008. S. 74.
22
lateinische Herkunft haben, könnte, da die südlichen Niederlande an Frankreich
grenzten,
auch
ein
Grund
für
die
Entstehung
der
Anredeformen
im
Mittelniederländischem gewesen sein. Sprachwissenschaftler Verdenius sagt dazu:
„Waar de Fransen vous voor het enkelvoud in gebruik hadden genomen, gingen wij ghi
zeggen“.22
Ghi war übrigens sowohl eine Mehrzahlform, als eine Höflichkeitsform.
Ab der Entstehung der mittelniederländischen Anredepronomen ist die
Entwicklung vielschichtig und lässt sie sich in drei Schritten zusammenfassen. Wichtig
sind dabei die Sichtweisen von den niederländischen Sprachwissenschaftlern
Schönfeld, Van Bree und Vermaas.
Die nachfolgende Abbildung zeigt den Ursprung und die verschiedenen Kasus
der mittel-niederländischen Anredepronomen.
Mittelniederländisch
Kasus
T
V
Nom.
du
ghi/gi
Gen.
dijns / dijner
uwes/uwer
Dat.
di / dij
u
Akk.
di / dij
u
Abbi1dung 3: mittelniederländische T/V-Anredepronomen
Es handelt sich um das urniederländische T/V System in der Zeit von 1200-1500. Das
Pronomen u (im Mittelniederländischen noch nicht im Nominativ) ist das einzige
Pronomen, das heutzutage immer noch verwendet wird.
Der erste Schritt des sich ändernden Anredesystems ist die Verdrängung des Du.
Diese Verdrängung lässt sich anhand der höfischen Literatur erklären. Sie zeigt, dass
man sich im höfischen Leben ein Beispiel an der französischen Situation nahm und
einander mit der Pluralform (vous) anredete. Du war einfach verallgemeinert. Im
ehemaligen Holland wurde der Prozess durch die Ansiedlung der Leute aus den
südlichen Niederlanden übrigens beschleunigt.
Im Mittelniederländischen ist du laut Vor der Hake hauptsächlich als Äußerung
in Bezug auf Freundschaft, Zärtlichkeit, Verachtung und Wut gegen Kinder; sowie in
biblischen
und
moralisierenden
Schriften
verwendet
worden.23
Auch
Eltern
verwendeten das T-Pronomen, wenn sie ihre Kinder anreden: „Een vader dudijnt zijn zoon.
22
Vermaas, Hanny. Veranderingen in de Nederlandse aanspreekvormen van de dertiende t/m de twintigste eeuw.
Utrecht: LOT, 2002. S. 35.
23 Hake vor der, Jan Arend. S. 21.
23
Dit gebeurt gewoonlijk.“24
Kinder verwendeten ihm zufolge hingegen das V-Pronomen ghi.
Von T-Verwendung war auch die Rede, falls ein Höhergestellter einen Untergeordneten
anredete und auch wenn man zu Gott sprach. Die Beispiele zeigen, dass man die
Pronomen
bewusst
verwendete,
was
darauf
schließen
lässt,
dass
es
im
Mittelniederländischen einen pronominalen Macht- und Solidaritätsunterschied gegeben
hat. Es handelt sich in den erwähnten Beispielen sowohl um horizontale als auch
vertikale Beziehungen. In dieser Periode kommt die Verwendung der Anredepronomen
wahrscheinlich mit der vertikalen Statusdimension der power semantic von Brown und
Gilman überein. Wie Gesprächspartner einander auf der horizontalen Ebene anredeten,
ist allerdings nicht deutlich.
Dieser pronominale Unterschied war jedoch nur zeitlich. So äußert der
niederländische Grammatiker Van Heule seine Besorgnis um das Verschwinden des
offenbar nicht geringen Bedeutungsunterschieds zwischen du und ghi.
„Het onderscheyt van Du en Gy is onze Tale zeer dienstich, om dat de woorden kort zijn
ende het onderscheyt groot is.“25
Die Du-Form wurde in der Literatur eine Seltenheit, denn die Verwendung von
ghi als Pronomen der 2. Person Singular und Plural ist in der niederländischen Literatur
am Ende des 16. Jh. die Regel. Letztendlich ist du auch in der Umgangssprache durch
ghi ersetzt worden.
Der nächste Schritt ist das zeitliche Verschwinden des deutlichen T/VUnterschieds und das neue Verhältnis zwischen gij und jij. In der Periode ab 17. bis 19.
Jh. hat ghi „eine universale Funktion: Singular, Plural, Distanz und Vertraulichkeit
oder Intimität.“26 Gerade diese universale Funktion kennzeichnet diese Periode: Der
Unterschied zwischen den T- und V-Pronomen ist aus der niederländischen Sprache
verschwunden, wodurch das Anredesystem sich nicht mehr durch die bisherige
Dichotomie kennzeichnen lässt. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Entwicklung
der Anredepronomen vom 17. Jh. bis zur Gegenwart.
24
Hake vor der, Jan Arend. S. 32.
Vermaas, Hanny. (2002) S. 40.
26 Ebd. S. 40.
25
24
Kasus
17., 18. und 19. Jh.
Ende19. Jh.
T/V
T/V
ab Anfang 20. Jh.
südl. NL
nördl. NL
T
V
Nom.
gij
gij
jij (je)
jij (je)
u
Gen.
uwer/uws
uws
uwer
-
-
Dat.
u
u
jou (je)
je jou*
u*
Akk.
u
u
jou (je)
je jou*
u*
Abbildung 4: T/V-Anredepronomen im 17. Jh. bis zur Gegenwart
*Im Niederländischen gibt es zwei T-Pronomen: das markierte jij und das weniger markierte je.
Infolge von Diphthongierung ist ghi durch gij ersetzt worden. Mehrere
Jahrhunderte lang gab es einen Streit zwischen beiden Varianten. Da das südliche
Gebiet während des Mittelalters die Oberhand hatte, ist auch in Holland gij –sei es nur
zeitlich- das wichtigere Pronomen geworden.
Die J-Formen wie jij und je sind wahrscheinlich etymologische Varianten der
G-Formen. Es handelt sich dabei laut Verbree um eine nördliche Variante, die am
Anfang nur in der Umgangssprache verwendet wurde. Ab dem 17. Jh. kommt je und
später das betonte jij bald öfter in der Literatur des damaligen Hollands vor. Schönfeld
sagt dazu, dass das Siegen der J-Formen äußert, welche Mächte in Holland Oberhand
haben. Die genaue Bedeutung der universalen gij/jij-Pronomen ist nicht immer als
eindeutig zu betrachten. Da die ursprüngliche Bedeutung der J- und G-Pronomen
identisch ist (ghi), handelt es sich Schönfeld zufolge in beiden Fällen um ehemalige
Höflichkeitspronomen. Als höfliche Anredeform wurde gij und jij im 18. und 19 Jh.
zusammen mit den personenbezeichnenden Nomina „heer“ oder „mevrouw“
verwendet.27 Mit einem Bezugswort könnte man gij in diesem Zeitraum doch
einigermaßen als Höflichkeitsform interpretieren. Von Vermaas ist in Possen am Ende
des 17. Jh. ebenso ein Unterschied zwischen gij und jij konstatiert worden. Sie
konstatiert, dass wohlhabende Eltern jij verwenden, um Kinder und Untergeordnete
anzureden. Umgekehrt wurde gij, u und uw verwendet.28 Es gibt Stimmen, die der
Meinung sind, dass der G/J-Unterschied nicht von dem Gesprächspartner abhängig sei,
sondern von der sozialen Schicht. Die höheren Schichten würden gegenseitig gij
verwenden, die niedrigen Schichten jij.29 In der untersuchten Literatur gibt es außer
einigen Beispiele innerhalb der Oberschicht keine überzeugenden Beweise, die gij als
generelles V-Pronomen bezeichnen.
27
Vgl. Loey van, Adolphe. Schönfelds Historische Grammatica van het Nederlands. Klankleer, vormleer,
woordvorming. 6. Auflage. Zupthen: W.J. Thieme & Cie, 1959. S. 139.
28 Vermaas, Hanny. (2002) S. 42.
29 Ebd. S. 49.
25
Der letzte Schritt ist die Entstehung des u im Nominativ und die immer
häufigere J-Verwendung. Laut Van Bree gab es unter Regenten den Wunsch, dass eine
neue (mündliche) Höflichkeitsform im Gebrauch genommen würde, da jij/je unter dem
Volk zu weit verbreitet sei.30 In der Schriftsprache was das neue V-Pronomen übrigens
bereits im Gebrauch. Briefe aus dem 18. Jh. zeigen laut Vermaas, dass es üblich war,
dass Kinder insbesondere in den höheren Schichten ihre Eltern damals mit dem neuen
V-Pronomen anredeten. Dieses Pronomen ist: uwe Edelheid, abgekürzt Uwe Ed, Uw(e)
Ed., U Ed. und U E. Die Verschiebung der Betonung hat wahrscheinlich letztendlich
dafür gesorgt, dass das Pronomen als u abgekürzt worden ist. Erst am Ende des 19 Jh.
wurde u nicht nur im Dativ und Akkusativ, sondern auch im Nominativ verwendet.
Obwohl sich die genaue Entwicklung nicht eindeutig klären lässt, ist deutlich, dass es
sich um einen langfristigen Prozess handelte. In der niederländischen Standardsprache
gibt es seitdem wieder ein eindeutiges V-Pronomen.
Jij ist im Laufe der Zeit durch u verdrängt worden und kommt deswegen immer
häufiger nur noch in einer vertraulichen oder solidarischen Umgebung vor.
Machtdistanz oder Höflichkeit hingegen werden durch die Verwendung des neuen VPronomens verdeutlicht. Die neuen J-Anredeformen haben sich, außer in den
Provinzen Noord- und Zuid-Holland, erst Ende des 19. Jh. in den ganzen (heutigen)
Niederlanden verbreitet. Da die verschiedenen Dialekte aus Holland, Brabant und
Flandern sich in einer Standardsprache vereinigt haben und die holländischen Dialekte
wichtige Einfluss hatten, sind jij/je (und u nicht nur im Dativ und Akkusativ, sondern
auch im Nominativ) langsam Teile der Standardsprache geworden. Im schriftlichen
Verkehr verwendete man noch lange gij/u. Die Pronomen u und jij wurden im
Nominativ erst im 20. Jh. definitiv in die Schriftsprache eingeführt.
Jullie ist die neue Pluralform und basiert auf die ehemalige „–lieden Form“ wie
zum Beispiel gijlieden und ulieden. Der Aufschwung dieser Mehrzahlform sorgt laut
Schönfeld dafür, dass jij (in geringerem Maße je) nur noch als singuläre Form
verwendet wird.31 Sowie u die Funktion des V-Pronomens bekam, hat jij/je sich als
„richtiges“ T-Pronomen entwickelt: jij und gij haben nicht mehr die gleiche Bedeutung.
Nach mehreren Jahrhunderten kann man ab dem Anfang des 20. Jh. anhand des
„modernen“ Anredesystems Macht- und Solidaritätsbeziehungen zum Ausdruck
30
Bree van, Cornelis. Leerboek voor de historische grammatica van het Nederlands. Groningen:
Wolterns-Nordhoff, 1977. S. 360.
31
Vgl. Loey van, Adolphe. S. 140.
26
bringen. Durch den (erneuten) Eintritt des T/V-Unterschieds handelt es sich in der
niederländische Sprache erneut (und nicht durchgehend) um eine power semantic, wie
Brown und Gilman dies für die verschiedenen Sprachen behaupten. Die vertikale
Statusdimension ist wieder Teil der Sprache. Wo es eine Ungleichheit zwischen
Gesprächspartnern gibt, wird das V-Pronomen verwendet, auch wie vormals innerhalb
der Familie, wenn die Kinder die Eltern anreden. Einander unbekannte Erwachsene
verwenden, auch wenn es kein Machtverhältnis zwischen ihnen gibt, auch gegenseitig
das V-Pronomen. Da Klasse nicht der entscheidende Faktor ist, kommt dies nur
einigermaßen mit der horizontalen Statusdimension von Brown und Gilman überein und
könnte man u nicht nur als Macht-, sondern auch als Höflichkeitspronomen betrachten.
2.1.2 Der Einfluss des Französischen: u als V-Pronomen
Wie gezeigt wurde, gab es im Zeitraum vom 17. Jh. bis zum 19. Jh. keinen generellen
pronominalen T/V-Unterschied im Niederländischen. Dies könnte mit dem Einfluss des
Französischen zusammenhängen. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder (kulturelle
und sprachliche) Kontakte zwischen den damaligen Niederlanden und Frankreich.
Französisch ist im Zeitraum vom 1400 bis1800 laut Van der Sijs bei Hofe und unter den
höheren Schichten in den Niederlanden die dominante Sprache.32 Dadurch kann man die
Ansicht vertreten, dass der pronominale T/V-Unterschied nur in der niederländischen
Volkssprache zeitlich nicht mehr vorkam und deswegen unter den höheren Schichten
nicht vermisst wurde, da die Oberschichte sich auf Französisch unterhalten hat.
Im 17. Jh. sind laut Van der Sijs verschiedene oft verwendete französische
Lehnwörter über die höheren Schichten in die Volkssprache aufgenommen worden.33
So wurden auch nominale Anredeformen wie die Verwandtschaftsbezeichnungen
„vader“ en „moeder“ mehr oder weniger durch das französische „papa“ und „mama“
ersetzt. Es gibt -wie bereits erwähnt wurde- Hinweise, dass verschiedene europäische
Anredesystemen vom französischen System geprägt worden sind. Man könnte
annehmen, dass dies auch für das Niederländische galt. Insbesondere, da die höheren
Schichten zweisprachig waren und gezeigt wurde, dass im 19. Jh., der Periode, in der
der Einfluss des Französischen abnahm, eine Höflichkeitsform unter diesen Schichten
im Niederländischen vermisst wurde. Gerade dies könnte der Grund dafür sein, dass das
32
Vgl. Sijs van der, Nicoline. Leenwoordenboek. De invloed van andere talen op het Nederlands. Den Haag: Sdu
Uitgevers, 1996. S. 139.
33
Ebd. S. 152.
27
V-Pronomen wieder (erneut) im Niederländischen auftaucht. Van der Sijs weist darauf
hin, dass die niedrigen Schichten sich an den höheren Schichten spiegeln wollten und
darum französische Worte übernahmen. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass das
Volk die niederländische V-Form u aus Prestigegründen übernommen hat, wodurch das
neue V-Pronomen sich in der Sprache verbreitet hat und das niederländische
pronominale Anredesystem – sich wie das französische- wieder durch Dichotomie
kennzeichnen lässt.
2.1.3 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und ihr Machtverhältnis
Ab dem Ende des 16. Jh. bestand die herrschende Klasse nicht mehr aus König
und Adel, sondern regierten die handelnden Patrizier die vereinten Niederlande. Diese
neue Gruppe kennzeichnete sich im Vergleich zu dem Adel durch geringere
Machtunterschiede untereinander. Im Gegensatz zur Monarchie gab es in der Republik
der Niederlande nicht eine zentrale Macht. Das Regieren kennzeichnete sich
insbesondere durch Überlegung und nicht durch Gewalt. Versammlungen waren die
Grundlage
der
parlamentarischen
Umgangsformen.
Dieses
parlamentarische
Benehmen, das als höfliches Benehmen umgedeutet wurde, wurde zu einer
Vorbildfunktion, die nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land
übernommen worden ist. Dem niederländischen Soziologen Wouters zufolge ist dies in
Kürze wie sich der niederländische Habitus entwickelt und fortgesetzt hat.
34
Die
Bevölkerung hegte ihm zufolge früher und in höherem Maße Duldsamkeit und
Gleichheit als die Bevölkerung, in jenen Ländern, in denen aristokratische oder
militärische Modelle herrschten. Das Zentrum der Macht war in den Niederlanden
immer im Hintergrund geblieben, wodurch keine Macht und keinen Glanz ausgestrahlt
wurde.
Dass die Anrededifferenzierung sich im Niederländischen gerade im 19. Jh.
erneut durchsetzte, könnte damit zu tun haben, dass in dieser Periode eine neue
Oberschicht entstand. Der größte Teil des Adels entstand erst nach dem Jahre 1815, als
König Willem I den größten Teil dieses neuen Adels in diesen Stand erhoben hatte.35
Es gab damals zwei Oberschichten bestehend aus dem Adel und dem titellosen
Patriziat. Weiter gab es eine große Unterschicht. Ab dem Jahre 1850 kam die
Mittelklasse zustande. Die Gesellschaft änderte sich im 19. Jh., da höhere Schichten
34
35
Vgl. Wouters, Cas. Informalisering. Manieren en emoties sinds 1890. Amsterdam: Bert Bakker, 2008. S. 216-219.
Vgl. Montijn, Ida. Leven op stand: 1890-1940. 7. Auflage. Amsterdam: Rap, 2003. S. 16-17.
28
sich ausdehnten und Kontakte zwischen den verschiedenen Schichten häufiger
vorkamen, wodurch die Umgangsformen sich im Laufe des Jahrhunderts änderten.
Man könnte sagen, dass der pronominale T/V-Unterschied genau in dieser Periode
einfach aus der französischen Prestigesprache übernommen werden konnte.
Die niederländische Elite kennzeichnete sich durch ihre autoritäre Hierarchie
und Ständeunterschiede. Die Niederlande waren bis zu den sechziger Jahren des 20. Jh.
von Klassenbewusstsein und Machtdistanz durchdrungen worden. Wichtige Gründe
dafür sind laut Wouters die erst späte politische Bewusstwerdung der Arbeiterklassen
und die Arbeiterbewegung, die eher Bürgertum orientiert war. Wichtig ist ihm zufolge
auch, dass die Niederlande nicht an dem Ersten Weltkrieg beteiligt waren, wodurch die
damals herrschende Klasse weiterregierten konnte. Der Trend zur Distinktion und
Vornehmheit, die sich damals entwickelte, konnte sich innerhalb der Oberklasse
deswegen noch durchsetzen.36
2.2 Wie es in Deutschland aussah
2.2.1 Die Entwicklung der Anredepronomen
Die deutschen Anredepronomen kennen eine andere Entwicklungsgeschichte als
die niederländischen Äquivalente. So gibt es zum Beispiel seit der Entstehung des
pronominalen T/V-Systems in der deutschen Sprache neben der konstanten
Singularform du immer mindestens eine V-Form. Die Entwicklung lässt sich ganz
knapp folgendermaßen zusammenfassen:
„Im Laufe der deutschen Sprachgeschichte hat sich […] stufenweise ein mehrgliederiges
Anredepronominalparadigma aufgebaut, dass zum Zeitpunkt seiner weitesten Ausdifferenzierung in sich zusammengefallen ist und so auf den heutigen zweigliedrigen
Stand reduziert wurde.“37
Die Entwicklungsgeschichte der Pronomen wird im Folgenden insbesondere anhand
Simons Sichtweisen erklärt. Die Diachronie der Anredepronomen einer einzelnen
Person (im Nominativ) sieht laut Simon schematisch folgendermaßen aus.
36
37
Vgl. Wouters, Cas. (2008) S. 219.
Simon, Horst. S. 93.
29
Ahd.Germ.
T
V
du
früh
Ggw.
Mhd.
17. Jh.
18. Jh.
19.Jh.
StdDt.
du
du
du
du
du
ihr
ihr
ihr
er/sie
Sie
er/sie
er/sie
ihr
Sie
Sie
Dieselben* Dieselben*
Abbildung 5: Die T/V-Anredepronomen Althochdeutsch bis zu Gegenwart
*Dieselben ist im 18. und 19. Jh. nur in der offiziellen Schriftsprache anwesend.
Laut Vor der Hake war schon ab dem zehnten Jh. die höfliche Anrede mit dem
Mehrzahlpronomen ir bei nur einer Person gängig.38 Das eingliedrige germanische Du
wurde ab diesem Zeitpunkt durch ein zweigliedriges System (du und ihr) ersetzt. Ihr
fungierte nicht nur als zweiten Person Plural; Textuntersuchungen zeigen Indizien
dafür, dass das Pronomen auch die Funktion der Höflichkeitsform hatte. Simon zufolge
stellt es damit das V-Pronomen der pronominalen T/V-Opposition im Sinne von
Brown/Gilman dar.39 Gleichzeitig bemerkt Simon, dass die Verwendung eines
bestimmten Anredepronomens in einer gegebenen Sprecher-Adressaten-Dyade im
Mittelhochdeutschen keineswegs obligatorisch sei. Manchmal sei das eigentlich
zugeteilte Pronomen durch genau das andere ersetzt worden.40 Wie die genaue
Pronomenverwendung sich in der damaligen Umgangssprache verhält, ist zur Zeit -wie
erwähnt- nicht zweifellos festzustellen. Hinsichtlich des pronominalen T/V-Gegensatzes
ist deutlich, dass der erwähnte Poweraspekt von Brown und Gilman bei der
Pronomenwahl zu einfach ist: Simon weist darauf hin, dass im Mittelhochdeutschen
neben sozialen Schichtzugehörigkeit insbesondere Blutverwandtschaft aber auch
relatives Alter und materielle Verhältnisse eine Rolle spielen können.41
Der nächste Entwicklungsschritt des Anredesystems fand im Laufe des 16. Jh.
statt. Neben dem V-Pronomen ihr werden zwei neue V-Pronomen eingeführt: er und
sie. Die neue Form trat am Anfang nur mit Antezedens, worauf sie sich beziehen, auf:
sogenannte „bound form“.42 Dies sind die personenbezeichnende Nomina wie Herr,
Jungfer und Vater, aber auch Eigennamen konnten zur Bezeichnung des Adressaten
vorkommen. Wenn die nominale Anredeform als Subjekt des Satzes fungierte, nahm
das zugehörige Verb den Wert der dritten Person an. Beispiel: Was sagt Frau Müller?
38
Vgl. Hake vor der, Jan Arend. S. 37.
Simon, Horst. S. 94.
40 Ebd. S. 105-106.
41 Vgl. ebd. S. 96.
42 Ebd. S. 108.
39
30
Erst ab dem dritten Jahrzehnt des 17. Jh. traten die höflichen er/sie Anredepronomen
laut Simon selbständig auf. Grund für die neuen Anredeformen (also die Nomina und
letztendlich die selbständigen er/sie-Pronomen) war die immer häufigere Verwendung
des ihr-Pronomens in der Gesellschaft. Da auch die Zivilbevölkerung das Pronomen
verwendete und da die Zahl der potenziellen Ihr-Adressaten zunahm, verlor das
exklusive Ihr laut Simon an Bedeutung.43
Der nächste Schritt war die Entwicklung von Sie als Anredepronomen. Die
Entstehung
dieses
Phänomens,
bei
dem
eine
einzelne
Person
mit
einer
Pluralspezifikation auftritt, war schon im 15. Jh. entstanden. Simon zufolge war der
Grund hierfür die häufige Verwendung von nominalen Abstrakta. Dies sind Nomina,
die in ihrer eigentlichen
Bedeutung menschliche Eigenschaften bezeichnen,
beispielsweise Eure Majestät für gekrönte Häupter und Eure Weisheit für Gelehrte und
Lehrer.44 In diesen sogenannten Abstraktnomina liegt darüber hinaus der Ursprung für
die Anrede mit dem Pronomen Sie. Diese Abstraktnomina sind traditionellerweise
schon damals für den Wert „dritte Person Plural“ spezifiziert worden. Simon zufolge
spielte bei dieser Pronomenentwicklung wahrscheinlich verschiedene formal induzierte
Ambiguitäten eine Rolle. Dadurch sei es für Interpreten nicht möglich, um alle der
involvierten Abstrakta immer eindeutig einem Numerus zuzuordnen.45 So ist z.B. der
Unterschied zwischen den Pronomen sie und Sie und damit die genaue Spezifikation des
Pronomens nicht eindeutig. In einem Text kann Simon zufolge also eine Mischung der
Anredepronomen der 3. Person vorkommen. Erst am Anfang des 18. Jh. gab es ihm
zufolge eindeutig die Möglichkeit, wie heutzutage, dass eine einzelne Person mit Sie
angeredet wird.46 Braun weist daraufhin, dass es sich bei dem Pronomen Sie nicht nur
um eine Pluralität handele, sondern wiederum [wie er/sie] das Merkmal der dritten
Person.47
Neben den erwähnten Pronomen gab es im 18. und 19. Jh. in der Schriftsprache
eine komplexe engere Form, die ihren Ursprung in Artikel und Pronomen hat. Beispiele
dazu sind der/die und insbesondere derselbe/dieselbe: Monsieur, ich freue mich, dass ich die
Ehre habe, denselben zum andernmale zu sehen. 48
Schriftsteller konnten sich mit Hilfe dieses
Pronomens (noch) höflicher ausdrücken. Gottsched nennt 1762 diese Form
43
Vgl. Simon, Horst. S. 107.
Vgl. ebd. S. 110-111.
45 Vgl. ebd. S. 113.
46 Vgl. ebd. S. 114.
47 Braun, Friederike. S. 51.
48 Zit. nach Metcalf, 1938. In: Simon, Horst. S. 115.
44
31
„überhöflich“. Das höfliche Anredepronomen bezieht sich auf die Anredeform
Monsieur und tritt nicht autonom auf. Es gab zurzeit drei verschiedene V-Pronomen, die
ein unterschiedliches Höflichkeitsniveau zum Ausdruck bringen, und in der
Schriftsprache außerdem noch die vierte Möglichkeit, die man nicht als vollständig
betrachten kann. Im Paradigma der Pronomen nimmt dieselben laut Simon deswegen
„eine Randposition“ ein.49 Da die V-Form seit dem 17. Jh. verschiedene Stufen kennt,
hatte das deutsche Anredesystem längere Zeit keine eindeutige T/V-Dichotomie. Die
folgende Abbildung illustriert gleichzeitig Gottscheds andere treffende Bezeichnungen
der Anredepronomen in einer Gesamtübersicht.
Höflichkeitsstufe
Bezeichnung
Ich bitte dich
natürlich
Ich bitte euch
althöflich
Ich bitte ihn
mittelhöflich
Ich bitte Sie
neuhöflich
Ich bitte dieselben
überhöflich
Abbildung 6: Die Höflichkeitsperioden nach Gottsched
Das T-Pronomen du ist nach Adelung am Ende des 18 Jh. noch in folgenden
Situationen verwendet worden: enge Vertraulichkeit, Dichtkunst, Verachtung und gegen
Gott.50 Deutlich ist allerdings nicht, was genau mit Vertraulichkeit gemeint wird. Wenn
man es mit der heutigen Vertraulichkeit vergleichen kann, sollte es um familiäre
Beziehungen oder Freundschaften gehen. Das V-Pronomen würde dann nur in der
Öffentlichkeit verwendet. Zum Bestehen der verschiedenen Höflichkeitspronomen sagt
der Germanist Besch, der sich unter anderem mit Sprachwandel beschäftigt, dass das
erweiterte Inventar der Anredepronomina die Ausdrucksform einer hierarchisch
gegliederten Gesellschaft sei.51
Ende des 18 Jh. wurde das aufgebaute Anredesystem mit bisher immer wieder
neu eingeführten Höflichkeitspronomen allerdings wieder eingeschränkt. Im Laufe der
Zeit nahm die er/sie-Höflichkeitsverwendung ab, da diese Form durch den allgemeinen
Gebrauch ihren Charakter der Höflichkeit einbüßte. In der Literatur wurde die Anrede
häufiger gegenüber Dienstboten verwendet. Auch in derartigen Situationen ist diese
Höflichkeitsform letztendlich verschwunden.
49Simon,
Horst. S. 119.
Zit. nach Adelung, 1782. In: Simon, Horst. S. 116.
51 Besch, Werner. Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern. Götingen: Vandenhoeck
und Ruprecht, 1996. S. 93.
50
32
„Heute sagt man in der Stadt auch zu jedem Dienstboten „Sie“. Das früher beliebte
„was will Er“ oder „wie heißt Sie“ ist völlig ungebräuchlich.“52
Franz Ebhardt, der sich während verschiedener Jahrzehnte in verschiedenen Werken mit
Etiketten beschäftigt, ist 1878 der Meinung, dass gerade die Verwendung des höflichen
Anredepronomens „Sie“ einen Machtunterschied zwischen Schichten bewirkt:
„Höflichkeit gegen Untergebene ist das beste Zeichen von wirklicher Überlegenheit.
[…] Es liegt wirklich in der Höflichkeit eine zwingende Macht, der sich selbst der
weniger Gebildete nicht entziehen kann.“53
Dieses Zitat zeigt, dass man Untergeordnete seiner Meinung nach nicht unbedingt mit
einem T-Pronomen anreden sollte, um eine Machtbeziehung zu betonen. 1921 schreibt
er, dass das V-Pronomen „den Untergebenen ein gewisses Gefühl von Genugtuung“
gibt und „hält sie besser in Schranken als das Du, dass wir nur […] im engsten Kreise
der Familie zu gebrauchen gewohnt sind.“54 Das Du ist in beiden Zitaten also nicht
mehr als Beispiel hinsichtlich der Geringschätzung zu betrachten und hat
wahrscheinlich mittlerweile nur noch die Funktion der Vertraulichkeit bekommen.
Obwohl Herrschaft und Dienstboten verschiedenen Schichten angehören,
werden sie durch die gegenseitige Verwendung des V-Pronomens in der Sichtweise der
power semantic Browns und Gilmans gerade aneinander gleichgesetzt. Bei dieser
gegenseitigen V-Verwendung handelt es sich laut Braun nicht um eine Gleichsetzung.
Sie redet in dieser Hinsicht von einem V-Pronomen „mit negativem Statusaspekt“. Laut
Braun dient dies dazu, Statusunterschiede zu signalisieren, ohne dass die Distanz des V
aufgegeben werden müsse. Dies, so sagt sie, im Gegensatz zum T-Gebrauch nach
unten.55 Die gegenseitige V-Verwendung hat also die Funktion zum Ausdruck einer
Distanz bekommen und wird deswegen auch asymmetrisch verwendet.
Das Anredepronomen Sie, das bisher nur in der obersten Gesellschafsschicht
verwendet wurde, wurde allmählich auch in den bürgerlichten Schichten gebraucht. Die
Pronomen ihr und er/sie sind dadurch unter Druck geraten und Mitte des 19. Jh. aus der
Standardsprache vollkommen weggefallen.56 In der deutschen Standardsprache
verwendet man seitdem das Ur-(T)-Pronomen du und Sie als V-Pronomen.
52
Zit. nach Hoefs, 1930. In: Krumrey, Horst-Volker. Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine
soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Anstandsbüchervon 1870 bis 1970.
Frankfurt: Suhrkamp, 1984. S. 415.
53 Zit. nach Ebhardt, 1878. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 406.
54 Krumrey, Horst-Volker. S. 439.
55 Braun, Friederike. S. 57.
56 Vgl. Simon, Horst. S. 121.
33
Ihr als singuläre Subjektform wird heutzutage übrigens immer noch in
verschiedenen deutschen Dialekten als Höflichkeitspronomen verwendet, ebenso wie
die er/sie-Anrede örtlich noch vorkommt. Dadurch kann man die Verpflichtung, sich
deutlich für du oder Sie zu entscheiden, umgehen. Simon spricht in diesem Bereich von
einer du/Sie Vermeidungsstrategie.57
2.2.2 Der Einfluss des Französischen: Sie als V-Pronomen
Die prestigeträchtige französische Sprache, die in Deutschland insbesondere im
18. Jh. in den höheren Schichten als Vorbild galt, hatte, als das deutsche Anredesystem
sich auf die Pronomen du und Sie beschränkte, eine deutliche pronominale T/VZweiteilung im Anredesystem. Dies könnte laut Simon eine der möglichen Ursachen
der Verschiebung der damaligen Höflichkeitsformen im deutschen Anredesystem sein.58
Ein wichtiges Kennzeichen der deutschen Sprachentwicklung in diesem Jahrhundert
war laut Von Polenz die häufige Verwendung von Fremdsprachen, insbesondere des
Französischen.59 So wurde das Lateinische immer häufiger vom Hochadel und
Gelehrten durch das Französische ersetzt. Französisch wurde „die Sprache des
wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts in Europa“.60 Das Phänomen der
Mehrsprachigkeit hatte in den Oberschichten, wie Fürstenhöfe und in weltoffenen
Städten angefangen. Es ging laut von Polenz in Deutschland nicht nur um
Literatursprache, auch Lehrbücher und die Presse erschienen auf Französisch. Der
Höhepunkt und gleichzeitig Wendepunkt des Spracheinflusses war ihm zufolge gegen
Ende des 18. Jh. Die Verbreitung der Sprache war zur Zeit des 30jährigen Krieges auch
in den niedrigen Schichten der Gesellschaft merkbar.
Hinsichtlich der Verwendung der französischen Sprache durch das Bürgertum
redet Elias von einer „höfischen Phase“ des Bürgertums, weil das Bürgertum
„nach jedem dritten oder vierten deutschen Wort versucht ein französisches einzufügen,
wenn sie es nicht vorzogen, sich überhaupt der französischen Sprache, der höfischen
Sprache Europas, zu bedienen.“61
Die deutsche Sprache ist im 18. Jh. in verstärktem Maße durch französische Fremd- und
Lehnwörter beeinflusst worden. Deutlich ist auch, dass dies für verschiedene deutsche
57
Vgl. Simon, Horst. S. 127.
Vgl. ebd. S. 123.
59 Vgl. Polenz von, Peter. Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band II. 17. und 18. Jh.
Berlin: Walter de Gruyter, 1994. S. 49.
60 Ebd. S. 64.
61 Elias, Norbert. Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band II.
Basel: Haus zum Falken, 1939 S. 428-429.
58
34
Verwandtschaftsbezeichnungen wie Oheim und Base gilt, die in diesem Zeitraum
endgültig durch die französischen Äquivalenten (Onkel und Cousine) ersetzt worden
sind.62 Dass dies auch für die Entwicklung des deutschen pronominalen T/V-Systems
gilt, ist als auf der Hand liegend zu betrachten.
2.2.3 Verwendung des T-Pronomens und Machtdistanz innerhalb der Familie
Innerhalb der Familie wird das T-Pronomen verwendet. Dies bedeutet aber noch nicht,
dass es sprachlich keinen Machtunterschied zwischen Verwandten gibt. An den
Anredeformen grenzt allerdings ein bestimmte Macht- und Höflichkeitsunterschied.
„Alle Bitten an Erwachsene und Eltern beginnen mit: […] Bitte, Frl. …; Bitte Vater;
Für die Gewährung hat man zu danken: „Danke“!“63
Laut Adelfels 1900 mögen jüngere Geschwister „gegen die älteren respektvoll und sich
manches von ihnen gefallen lassen […].“64 Diese letzte Behauptung kommt mit einem
noch nicht erwähnten Beispiel von Brown und Gilman hinsichtlich semantic conflitcts
überein. Bis zum 19. Jh. haben ihnen zufolge jüngere Geschwister die älteren noch mit
dem V-Pronomen angeredet, umgekehrt wurde das T-Pronomen verwendet. Dieser
semantic conflict änderte sich in eine gegenseitige solidarische T-Verwendung. Laut
Krumrey weist Adelfels daraufhin, „dass sich die Hierarchie der Eltern-KinderBeziehung in den Beziehungen der Kinder innerhalb der Geschwisterreihe
widerspiegelt.“65 Diese Beispiele zeigen, dass Machtverhältnisse sich nicht nur durch
die Verwendung der Pronomen zeigen lassen. Eine pronominale T-Verwendung
bedeutet, da doch von einer Machtbeziehung die Rede sein kann, deswegen nicht
ausnahmelos, dass es sprachlich eine reine Solidaritätsbeziehung zwischen den
Gesprächspartnern (Eltern und Kinder) gibt.
2.2.4 Titulatur in Deutschland: Zeichen der Macht/Status
Die Verwendung der pronominalen Anredeformen deuten darauf hin, dass es ab
der Entstehung des
pronominalen T/V-Unterschieds in Deutschland in der
Vergangenheit immer einen Trend zur Erweiterung des V-Pronomens gegeben hat.
Die offizielle Korrespondenz fand im deutschen Sprachraum bis ins 19. Jh.
weitgehend auf Französisch statt. Ab etwa 1815 verwendete man wieder vermehrt
62
Vgl. Polenz von, Peter. S. 78 und 82.
Zit. nach Schicklichkeits- und Ritterspiegel, 1915. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 330.
64 Vgl. Krumrey, Horst-Volker. S. 328.
65 Ebd. S. 340.
63
35
deutsche Titulaturen, wobei man allerdings laut Spillner zunächst noch die französische
Grammatik in das Deutsche einfließen ließ. Die dann erscheinenden deutschsprachigen
Titulaturen seien ihm zufolge oft weniger aufwändig, aber nicht weniger unterwürfig.66
Die empfohlenen Anreden sollten sich Spillner zufolge zur Zeit der Revolution geändert
haben: „Die Anredeformen haben sich für den größeren Teil des gesellschaftlichen
Verkehrs auf ein überschaubares Maß gewandelt und vereinfacht.“67
Die richtige Wahl der Titulatur ist schwieriger als bei den Anredepronomen,
denn man muss im Voraus schon den Rang und genauen Titel wissen. Titel sind ein
Zeichen einer (relativ) hierarchisch gegliederten Gesellschaft, und beinhalten eine
Machtdistanz (Status). Sie sind ein geeignetes Beispiel der vertikalen Statusdimension.
Wenn beide Gesprächspartner der gleiche Rang oder Titel haben und es sich im Licht
der power semantic deswegen um eine horizontale Statusdimension handeln würde, gilt
für die Titelverwendung, dass sie unterlassen wird. Man verwendet dann nur
gegenseitig das V-Pronomen.
Dass der Titulatur im 19. und im 20. Jh. eine wichtige Rolle zugewiesen wird,
zeigen verschiedene Zitate aus der Untersuchung Krumreys. Ein Zitat aus dem Jahre
1887 zeigt die gleiche Tendenz wie nachfolgendes Zitat von Ebhardt 1921:
In allen Fällen, wo man zu Höhergestellten spricht und diese Stellung zu betonen
wünscht, ersetzt man die Anrede >Sie< oder >Ihnen< durch den Titel. „Man sagt also
[…] >Wünschen Herr Oberst ein Glas Wein?< In militaristischen Kreisen ist diese
Redeform allgemein gebräuchlich und auch außerhalb derselben hat sich vielfach
verbreitet.“68
Es gab damals hinsichtlich der Titulatur immer noch einen Trend zur weiteren
Formalisierung. Ein anderes Zitat zeigt 1933 eine Abneigung in Bezug auf die
nominalen Anredeformen Deutschlands:
„Damit [die Anreden] machen wir es uns in Deutschland leider immer noch unnötig
schwer. Während man im Ausland längst auch in den höchsten Kreisen jeden mit seinem
Namen anredet, sind wir vorläufig nur in der ersten Gesellschaft Norddeutschlands so
weit. Im Übrigen plagen wir uns weiter mit der Titelfrage herum […] bittet dich aber
jemand, ihn außeramtlich bei seinem Namen zu nennen, so nimm das dankbar an.“69
Auch von Franken beschäftigte sich 1951 mit den Verhaltensstandards und schlug auch
die Verwendung des Familiennamens vor, wie bei rein freundschaftlichem Verkehr laut
66
Spillner, Bernd. S. 28.
Ebd. S. 31.
68 Krumrey, Horst-Volker. S. 417.
69 Zit. nach Meister, 1933. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 453.
67
36
ihm schon selbstverständlich sei.70 Genau dies ist ein wichtiger Punkt: Die Verwendung
der Titulatur sorgt wie die Verwendung des V-Pronomens dafür, dass die Domäne der
persönlichen Beziehungen einerseits und der formellen Beziehungen anderseits behalten
bleiben. Krumrey weist darauf hin, dass sich die Anrede mit dem Familiennamen im
untersuchten Zeitraum (1870-1970) bereits „auf Kosten von Geburts-, Amts- und
Berufsbezeichnungen“ ausgebreitet hat. Auch dies ist ein Signal, dass im Laufe des 20.
Jh. Titulatur als Zeichen von Macht abnimmt. Obwohl Franken der Meinung ist, dass
die Verwendung des Familiennamens eine Freundschaft zum Ausdruck bringt, könnte
man sich fragen, ob es sich hier nicht nur um eine Verschiebung der Höflichkeit
handelt, da die Verwendung eines Nachnamens mit dem V-Pronomen kombiniert wird.
In der Zitatenübersicht Krumreys ist erst ab den 50er Jahren des 20. Jh. eine
Änderung merkbar: Die Beratungen oder Kritiken hinsichtlich der Wahl der Anreden
änderten sich damals. Sie sind, da die strenge Verwendung der Titel nicht mehr auf der
Hand liegend ist, etwas lockerer geworden. Das nächste Zitat zum Beispiel zeigt den
Einfluss der Solidarität innerhalb einer sich ändernden Beziehung:
„Ränge und akademische Titel sind immer zu erwähnen. Sie dürfen erst fortgelassen
werden, wenn das Verhältnis der Briefpartner freundschaftlich geworden ist oder beide
den gleichen Rang oder Titel haben.“71
Die
tatsächliche
Verwendung
lässt
sich
in
diesem
Beispiel
anhand
des
Solidaritätsprinzips entscheiden. Immerhin: Nur wenn man den Angesprochenen gut
kennt, darf man den Titel weglassen und redet man einander wahrscheinlich mit dem TPronomen an. Es ist etwas Selbstverständliches, dass innerhalb einer solidarischen
Beziehung die Titulaturverwendung wegbleibt, da man sie nicht als Zeichen der
Solidarität betrachten sollte.
Krumrey bemerkt auch, dass sich die Unterschiede zwischen den sozialen
Schichten
im
äußeren
Verhalten
in
der
Öffentlichkeit
im
Laufe
des
Untersuchungszeitraumes vermindern. Er ist deswegen der Meinung, dass die
Entwicklung der Anreden und Titulatur ebenfalls als Maßstab für das sich wandelnde
Verhältnis zwischen hierarchisch definierten Beziehungen im Untersuchungszeitraum
herangezogen werden kann.72 Die Umgangsformen zwischen den verschiedenen
Schichten werden lockerer. Dennoch gilt sowohl für das V-Pronomen als auch für den
70
Krumrey, Horst-Volker. S. 451 und 453.
Zit. nach Graudenz/Pappritz, 1956. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 427.
72 Vgl. Krumrey, Horst-Volker. S. 428.
71
37
Titulatur, dass sie in der ersten Hälfte des 20. Jh. unvermindert stark in der deutschen
Sprache verwurzelt sind.
2.2.5 Die Entwicklung der Bevölkerungsschichten und des Machtverhältnisses
Der Adel hatte die politische Macht und die damit verbundene öffentliche
Sphäre lange im Griff. Es war kennzeichnend für das Gebiet, dass letztendlich
Deutschland wurde, dass es lange Zeit keine nationale Identität kannte.
Der Adelstand und die bürgerlichen Schichten waren bis zum Jahre 1871 laut
Elias stark voneinander getrennt und kannten längere Zeit separate Herrschaften:
einerseits die adligen Höfe, die sich mit politischen, militaristischen und
wirtschaftlichen Entscheidungen beschäftigten, und anderseits die Universitäten, die
sich um den kulturellen Bereich, sowie Literatur, Philosophie und Wissenschaft
kümmern. Umgangsformen und Etikette waren Elias zufolge für beide Schichten als
gemeinsamer Kanon zu betrachten. Das Bürgertum war ab den letzten Jahrzehnten des
18 Jh. im kulturellen Bereich erfolgreich (Bildungsbürgertum). Gleichheit war innerhalb
des Bürgertums ein zentrales Thema.73
Ab 1871 änderten sich die bisherigen Machtverhältnisse zum größten Teil. Die
anwachsende Zahl der bürgerlichen Studenten, die in die Satisfaktionsfähige
Gesellschaft integriert war oder Anschluss an den Adelstand suchte, machte sich laut
Elias den Ehrenkanon der Oberschichten zu eigen. Der bisherige kulturbezogene Aspekt
des Bürgertums nahm in der Regel stark ab. Elias umschreibt den Umschwung des
Bürgertums zwischen der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jh. als einen
„eindrucksvollen Gestaltwandel“. Gebunden waren die Bürgerschichten an „die
Tradition des kriegerischen Ehrenkanons“ des Adels. Auch ist es laut Elias
selbstverständlich, dass sie an „ein Herkommen hierarchischer Ungleichheit der
Menschen, der bedingungslosen Über und Unterordnung“ gebunden waren.74 Die Macht
des Adelsstandes hat laut Elias durch Vertreter des Bürgertums und der Arbeiterschaft
in
der
Weimarer
Republik
abgenommen.
Es
waren
„die
Führer
des
nationalsozialistischen Experiments“, die endgültig „einen Schlussstrich unter den
jahrhundertelangen Schichtenkampf zwischen Adel und Bürgertum“ zogen. 75 Den
73
Vgl. Elias, Norbert. Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. Und 20.
Jahrhundert. Hrsg. v. Michael Schröter. Frankfurt: Suhrkamp, 2005 (Norbert Elias gesammelte Schriften. Bd. 11).
S. 169-170.
74 Ebd. S. 170-171.
75 Ebd. S. 40.
38
nationalen Habitus, der sich seit 1871 bis 1945 in Deutschland entwickelte,
charakterisiert Wouters als adligen Kriegerkodex. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg hat
sich ein ‚erneuter‘ Mittelschichthabitus entwickelt. Die kompromisslose Haltung des
kriegerischen Ehrenkanons war ab diesem Moment nicht mehr gültig. Wouters bemerkt,
dass die Deutschen sich in der Öffentlichkeit immer noch ziemlich formell verhalten,
insbesondere wenn es innerhalb einer Hierarchie an einer deutlichen Struktur fehlt.
Auch bemerkt er, dass es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, zum
Beispiel den Niederlanden und England, eine relativ große Marge zwischen formell
und informell gibt.76 Man könnte sicherlich die Hinsicht vertreten, dass die formellen
Umgangsformen als Nachwehen der früheren hierarchisch organisierten Gesellschaft zu
betrachten sind.
2.3 Übergangszeit: Die Gesellschaft ändert sich, Umgangsformen kaum
Seit dem Ende des 19. Jh. nimmt die Marge zwischen Formalität und
Informalität ab. Gezeigt wurde, dass es in beiden Ländern in den Oberschichten
aufsteigende Gruppen gab. Zur Zeit des Aufschwungs des Kapitalismus nehmen die
Ständeunterschiede mehr und mehr ab. Es gibt am Ende dieses Jahrhunderts in den
abendländischen Ländern verschiedene Gruppen der nouveau Riche, wodurch die
bisherigen Herrscher die Macht mit den neuen Gruppen, die innerhalb der Gesellschaft
wirtschaftlich aufsteigen, teilen müssen. Dieser Prozess entwickelt sich auch im 20. Jh.
immer weiter. Wo man sich bisher von anderen Schichten fernhalten konnte, werden
die verschiedenen Gruppen zurzeit immer mehr voneinander abhängig: Wouters nennt
dies Interdependenznetze.77 Er weist darauf hin, dass es auch im Alltag –oft ungewollthäufiger Kontakt zwischen Leuten verschiedener Schichten gibt, wodurch es immer
schwieriger wird, die Gruppen auf dem erwünschten Abstand zu halten, da man sie,
zum Beispiel an der Arbeit und auf der Straße, einfach schwieriger meiden kann. Dies
sorgt gleichzeitig dafür, dass die bisherige Distanz zwischen Gruppen abnimmt, und
deswegen nehmen auch die Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft ab, wodurch
sich langfristig auch die Umgangsformen in verschiedenen Ländern wie Deutschland
und den Niederlanden änderten. Die bis dann herrschende Formalisierung kommt zum
Stillstand und der Trend zur Informalisierung beginnt. Bei dieser Änderung handelt es
sich nicht um eine allmähliche Änderung, sondern um einen schrittweisen Prozess, der
76
77
Vgl. Wouters, Cas. (2008) S. 159-160, 162-164.
Vgl. ebd. S. 65.
39
durch Perioden von Reformalisierung abgewechselt worden ist. Seit dem Beginn dieses
Prozesses gibt es zwei Zeitspannen, die eine eindeutige Informalisierung zeigen.
Wouters nennt die Zwanziger Jahre sowie die Sechziger und Siebziger Jahre. Diese
letzte Periode wird im nächsten Kapitel eingehend erörtert.
Die Goldenen Zwanziger: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich, auch
durch den zunehmenden Wohlstand, die Gesellschaft. In Deutschland fängt, wegen des
Versailler Vertrages, diese Periode erst 1924 an. Es gibt eine freiere Position der
Frauen und Kinder und es gibt Signale, dass sich die Umgangsformen in den
Niederlanden und Deutschland änderten: Sie wurden lockerer. Das nächste Zitat aus
dem Jahre 1929 zeigt ein niederländisches Beispiel:
„Alle ‚stijfheid’, ‚gemaniëreerdheid’ verdween uit de samenleving, en werd vervangen
door een achtelooze nonchalance, [...] Na de stijve vormelijkheid der vorige eeuw, is
er tegenwoordig een reactie gaande, die tot het andere uiterste wil overslaan.”78
Es fällt in verschiedenen Zitaten in der Untersuchung Krumreys auf, dass es ab den
zwanziger
Jahren,
einen
Appell
an
die
Jugendlichen,
hinsichtlich
ihrer
Umgangsformen, gibt.
„Besonderes junge Menschen sollten sich merken, dass es besser ist, lieber etwas zu
förmlich als zu lax zu sein.“79
Offenbar
hatte
diese
Generation
Schwierigkeiten
mit
den
herrschenden
Umgangsformen.
Der Schritt zur Informalisierung ist also nur von kurzer Dauer. Ab dem Jahre
1929 endet weltweit der Wohlstand und dies gilt auch für die etwas lockereren
Umgangsformen in den zwei Ländern. Reformalisierung tritt ein und die vormaligen
Umgangsformen treten wieder in den Alltag ein. Das Nazizeitalter in Deutschland sorgt
auch dafür, dass Formalisierung sich wieder durchsetzt.
2.4 Gültigkeit Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Formalisierung
Die Entwicklungsgeschichte der Anredepronomen in den Niederlanden zeigt ein
anderes, weniger eindeutiges Bild als in Deutschland. Es handelt sich dabei nicht nur
um
Verschiebungen
und
Änderungen
der
verschiedenen
Pronomen:
Im
Niederländischen wurde u im Dativ und Akkusativ im Laufe d0er Zeit auch im
Nominativ verwendet. ‚Jij’ und ‚u’ haben unterschiedliche Entwicklungsgeschichten.
78
79
Zit. nach Kloos-Reyneke van Stuwe, 1927. In: Wouters, Cas. (2008) S. 256.
Zit. nach Meister, 1933. In: Krumrey, Horst-Voker. S. 431.
40
Dem ‚jij’ gehen gij und du voran und dem ‚u’ gehen gij und ghi voran. Insbesondere
deutlich wurde, dass dadurch der pronominale T/V-Unterschied bis zum Ende des 19.
Jh. nicht konsequent im Niederländischen vorkommt. Im Mittelniederländischen gab es
zwar diesen Unterschied, wie Brown und Gilman auch, hinsichtlich der Entstehung des
pronominalen T/V-Anredesystems „somewhere between the twelfth and fourteenth
centuries“ für die europäischen Sprachen behauptet haben.80 Zwischen dem 17. und 19.
Jh. hingegen fehlt dieser kennzeichnende Unterschied im Allgemeinen, wodurch der
pronominale T/V-Unterschied jedoch längere Zeit überhaupt kein Teil der
Standardsprache war. Eine Ausnahme dazu ist, obwohl es sich nicht richtig um eine
reine V-Pronomen handelt, die höfliche Form, die nur mit den Antezedens, auf den sie
sich beziehen, auftreten: gij + Herr im 18. Jh.
Beispiele, die in der Literatur ein Machtverhältnis oder eine vertikale
Anredebeziehung zeigen, sind fast immer die zwischen Kind und Eltern. Das Fehlen
einer power semantic zwischen dem 17. und 19. Jh. lässt sich einerseits erklären, da sich
die niederländische Gesellschaft durch relativ hohe Maße von Gleichheit kennzeichnen
ließ und da die Oberschicht sich erst relativ spät entwickelt hat. Hinsichtlich dieser
Oberschicht sollte hinzugefügt werden, dass sie sich während mehrerer Jahrhunderte auf
Französisch unterhielt, wodurch es annehmbar ist, dass der pronominale T/VUnterschied in der niederländischen Standardsprache längere Zeit nicht vermisst wurde.
Immerhin ist das V-Pronomen zum Ausdruck von Macht oder Höflichkeit während der
Geschichte gerade von der Oberschicht eingeführt worden. Das neue V-Pronomen hat
sich erst ab dem Ende des 19. Jh. im Niederländischen, sowohl unter dieser Schicht als
auch unter dem Volk, verbreitet, da die Oberschicht ein Pronomen zur Verdeutlichung
der (besseren) Position damals vermisste. Vor dieser Zeit waren Kontakte zwischen den
verschiedenen Schichten in der Regel eher als Ausnahme zu betrachten. Es gibt starke
Hinweise, dass das französische System als Beispiel für das neue Anredesystem im
19.Jh. fungierte.
Allerdings muss man konstatieren, dass die power semantic Browns und
Gilmans für die niederländische Sprache ab dem 17. Jh., auch falls man die
niederländische Gesellschaft im Licht der Theorie Browns und Gilmans schon in
diesem Jahrhundert anhand der zugenommenen Solidarität und Gleichheit als eher
solidarisch kennzeichnen würde, nicht zutreffend ist. Erstens war das von ihnen
80
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 255.
41
umrissen Anredesystem mit einem pronominalen T/V-Unterschied im Niederländischen
völlig verschwunden und zweitens trat dieser Unterschied im Laufe der Zeit gerade
wieder erneut in die Sprache ein. Es fehlt Browns und Gilmans Theorie in beiden
Hinsichten an der Möglichkeit dem (zeitlichen) Vorhandensein einer anderen „höheren“
Sprache neben der Standardsprache. Der Wiedereintritt einer pronominalen Dichotomie
in die Sprache stimmt außerdem nicht mit der Behauptung von Brown und Gilman
überein, dass die Solidarity Semantic schon im 19 Jh. in den verschiedenen Sprachen
angefangen hatte.
„However, all our evidence consistently indicates that in the past century [19.Jh] the
solidarity semantic has gained supremacy.”81
Obwohl die verschiedenen Schichten in dem Lande seit diesem Jahrhundert häufiger
Anschluss aneinander finden, äußert sich dies in der Sprache gerade durch
Machtunterschiede. Auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. existiert der (strenge)
pronominale T/V-Unterschied immer noch. Obwohl es Signale gibt, dass die
Umgangsformen in den zwanziger Jahren zeitlich lockerer werden, hat die Machtdistanz
im Sprachgebrauch zweifellos immer noch die Oberhand und gibt es seit dem Eintritt
des neuen Anredesystems keine Änderungen.
Im Deutschen gab es das T-Pronomen du und seit dem 10. Jh. immer eine oder
mehrere V-Varianten. Diese Pluralform könnte man vereinzelt als Höflichkeitsvariante
betrachten. Kennzeichnend für das deutsche pronominale Anredesystem ist die
Ausdehnung des V-Pronomens im Laufe der Zeit. Er/sie ist im 17. Jh. höflicher als ‚ihr’
und
später
ist
Sie
stärker
als
die
er/sie-Höflichkeitsform.
Anhand
dieser
Höflichkeitsreihenfolge und -Stufen wird deutlich, dass man immer versucht hat, ein
höflicheres Anredepronomen einzuführen und zu verwenden, da höhere Kreise durch
diesen Unterschied ihre gesellschaftliche Position verdeutlichen und festigen wollten.
Die drei verschiedenen V-Pronomen und die schriftliche V-Form sind im 18. Jh.
sowie am Anfang des 19. Jh., abhängig vom Status des Angesprochenen, nebeneinander
verwendet worden. Die erwähnte Aussage Beschs, in der zum Ausdruck kommt, dass
das erweiterte Inventar der Anredepronomina die Ausdruckform einer hierarchisch
gegliederten Gesellschaft ist, kann man mit der pronominalen Verwendung der
verschiedenen V-Formen hervorragend in Verbindung bringen. Hierarchie erweist sich
auch bei der Verwendung der Titulatur. Der Adel und seine Machtposition
81
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 259.
42
kennzeichneten die deutsche hierarchische Gesellschaft und die Ungleichheit der
Menschen. Es geht während der deutschen power semantic eindeutig um eine erweiterte
vertikale Statusdimension Browns und Gilmans. Die verschiedenen V-Pronomen, die
nebeneinander verwendet wurden, sind von Brown und Gilman kurz erwähnt worden:
„In German the distinction began with du and ihr but ihr gave way to er and later to Sie.“
Obwohl die Aufeinanderfolge dieser Pronomen zwar stimmt, ist das Phänomen der
verschiedenen V-Pronomen, zum graduellen Ausdruck der Macht oder Höflichkeit im
gleichen Zeitraum, von ihnen nicht erwähnt worden. Gerade diese verstärkte
Höflichkeitsformen waren schon längere Zeit ein wichtiges Merkmal der deutschen
Anredeformen und kennzeichneten die power semantic im Deutschen hervorragend.
Die höheren Schichten Deutschlands sind insbesondere im 18. Jh. von der
französischen Prestigesprache geprägt worden. Ein wichtiger Unterschied im Vergleich
zu den Niederlanden ist, dass auch im Deutschen die verschiedenen V-Pronomen in
diesem Zeitalter doch vorkamen. Die Übersichtlichkeit der französischen T/VPronomen könnte der Grund dafür sein, dass die verschiedenen V-Formen im
Deutschen gerade abgenommen haben. So galt ebenso, dass die Titulatur in
Deutschland sich zur Zeit der Französischen Revolution simplifizierte. Man könnte in
dieser Hinsicht theoretisch von einem Vorboten der solidarity semantic sprechen, da die
hierarchischen Anredeformen ab dem 19. Jh. nicht mehr zunehmen. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass die Solidarität zunimmt. Hierarchie blieb zweifellos ein wichtiges
Merkmal der deutschen Gesellschaft und dies äußert sich unvermindert in der Sprache,
die solidarity semantic tritt, wie im Niederländischen also immer noch nicht ein.
Der Unterschied zwischen formellen und informellen Situationen, also das
öffentliche gegenüber dem privaten Leben ist schon mehrere Jahrhunderte ein
entscheidender Faktor hinsichtlich der Verwendung der Anredepronomen. Das TPronomen wurde vormals auch noch zum Ausdruck der Geringschätzung verwendet.
Auffallend ist jedoch die letztendliche reziproke Verwendung des Sie im Beispiel der
Dienstboden. Dies zeigt, dass eine reziproke V-Verwendung auch ein Machtverhältnis
andeuten kann. Sie hat diese Rolle als Distanz- oder Machtpronomen ab Ende des 19.
Jh. übernommen. Das V-Pronomen drückt dadurch nicht nur die vertikale Dimension
Browns und Gilmans (also von unten nach oben) aus, sondern auch das asymmetrische
Verhältnis von oben nach unten. Diese letzte Beziehung klassifizieren Brown und
Gilman nur als T-Verhältnis. Schließlich bringt das V-Pronomen auch die horizontale
Statusdimension (Höflichkeitspronomen) zum Ausdruck. Im Privatleben, auch in der
43
Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wird nur das T-Pronomen verwendet. In
diesem spezifischen Fall wurde gezeigt, dass Machtunterschiede nicht nur anhand von
Pronomen gezeigt werden können. Obwohl Brown und Gilman sich in ihrem Artikel
bewusst auf die Pronomen beschränken, sollte man solche Sonderfälle nicht
einzelstehend betrachten, da Titulatur und sonstige nominale Anredeformen auch zum
Repertoire der Macht und Solidarität gehören. Die Theorie der power semantic ist
insgesamt für das deutsche Anredesystem trotzdem für zutreffend zu erklären.
Obwohl es so aussieht, dass die Schichtenunterschiede in Deutschland ab Ende
des 19. Jh. abnehmen und es Signale gibt, die zeigen, dass die Umgangsformen lockerer
werden, gibt es auch in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts keine
tatsächliche häufigere solidarische Verwendung der Pronomen als vormals. Die
Verwendung der deutschen Pronomen entspricht deswegen auch nicht der Behauptung
Browns und Gilmans, dass solidarity semantic schon im 19. Jh. angefangen hat.
Obwohl aus soziologischer Sicht die Informalisierungswelle im 19. Jh. in Gang
gesetzt wurde, lässt sich die pronominale Verwendung im Zeitalter der Informalisierung
generell sicherlich nicht durch Solidarisierung kennzeichnen. Die Tatsache, dass die
Informalisierung sich in den 1920er nicht durchsetzte, sorgte wahrscheinlich dafür, dass
die wachsende Solidarität innerhalb der Gesellschaft sich noch nicht in beiden Sprachen
durchsetzen konnte. Hingegen kommt die bisherige diachrone Entwicklung des VPronomens sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland auf jeden Fall zum
Stillstand. Dies bedeutet, dass sich dieses Pronomen ab diesem Moment zum Ausdruck
eines verstärkten Maß des Macht- Distanz- oder Höflichkeitsverhältnisses nicht mehr
weiter entwickelt. Die pronominale Verwendung in beiden Ländern ändert sich bis in
die 60er Jahre nicht.
Bis zum Ende des 19. Jh. fehlte es den Anredesystemen beider Länder an einer
ständigen oder eindeutigen pronominalen T/V-Dichotomie, wie Brown und Gilman dies
für die verschiedenen Sprachen behaupten. Eine Übereinstimmung zwischen den
pronominalen Anredesystemen in beiden Ländern ist übrigens die langsame
Entwicklung bis zur modernen V-Form: Sie bzw. u. Erst am Ende des 19. Jh. gibt es
nach mehreren Jahrhunderte unterschiedlicher Entwicklung beider Systeme gleichzeitig- eine eindeutige Übereinstimmung zwischen beiden pronominalen T/VAnredesystemen. Obwohl die pronominale Verwendung in der Praxis nicht genau
miteinander übereinstimmt, gibt es jedoch, wie im Französischen oder trotz des
Französischen eine deutliche Trennung zwischen dem T- und dem V-Pronomen. Es gibt
44
verschiedene Forscher, die der Meinung sind, dass die Anredesysteme verschiedener
Länder damals von der europäischen Prestigesprache Französisch geprägt worden sind.
Brown und Gilman schenken dieser Tatsache in ihrem Werk gar keine Beachtung.
Gerade der Einfluss des französischen Anredesystem war, in der Zeit, dass Französisch
in den
Oberschichten eine dominante Sprache war, für die Entwicklung der V-
Pronomen und deswegen zur Entstehung der modernen pronominalen Anredesystemen
in beiden Ländern wichtig.
45
Kapitel 3: Informalisierung in den Niederlanden und Deutschland:
Verwendung der Anredepronomen während der solidarity semantic
Umgangsformen und Anredepronomen haben sich im Laufe der Zeit geändert.
Gesellschaftliche Entwicklungen und Einflüsse aus anderen Sprachen sind als Anlass
dieser Änderungen zu betrachten. Gegen Ende des 19. Jh. hatte das Anredesystem in
beiden Ländern die Form gefunden, die wir heutzutage immer noch kennen: das TPronomen: jij oder du und das V-Pronomen: u oder Sie. Im vorigen Kapitel wurde
deutlich, dass sich die Pronomen und ihre Verwendung in beiden Ländern
unterschiedlich entwickelt haben und einander deswegen nicht immer ähnelten.
Deutlich wurde auch, dass die power semantic trotz kurzer Zeiträume der
Informalisierung im 20. Jh. immer noch gängig ist. Die letzte Phase der power
semantic dauerte von Ende des 19. Jh. bis zu den 60-er Jahren des 20. Jh. Während
dieser Periode hat die pronominale Verwendung sich in beiden Ländern nicht sichtlich
geändert.
Danach änderte sich die Verwendung jedoch. Brown und Gilman reden im
Allgemeinen von gesellschaftlichen Ereignissen, die solche Veränderungen der
Umgangsformen in Gang setzten können. In Deutschland und den Niederlanden gilt die
Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges als eine Periode der starken gesellschaftliche
Umwürfe. Diese haben eine „spontane“ Zunahme des T-Pronomens mit sich gebracht,
was die förmlichen Umgangsformen zurückdrängte. Nachdem die gesellschaftlichen
Entwicklungen untersucht worden sind, werden die Pronominalen Verschiebungen
anhand der semantic conflicts erörtert, sodass der Frage nachgegangen werden kann, ob
die Theorie der solidarity semantic dem Trend zur Solidarität und den dadurch
ändernden Anredeformen in beiden Ländern entspricht.
3.1 Informalisierung in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Übergangsphase der Umgangsformen im 20. Jh., insbesondere in den 60er
und 70er Jahren, bezeichnet Wouters als „verburgerlijking van arbeiders“. Die
Arbeiterklasse entwickelt einen neuen Lebensstil, der jener der Mittelschicht stets mehr
ähnelt.
Umgekehrt
fand
die
„verarbeiderlijking
van
burgers“
statt.
Die
Machtverhältnisse und der dazugehörige Wunsch der Oberschichten, sich von den
niedrigen Schichten unterscheiden, nahmen ab. Durch diese Entwicklung hat sich die
Bürgerschaft auch teilweise an die lockeren Umgangsformen der niedrigeren Schichten
46
angepasst. In dieser Übergangsphase sind laut Wouters die verschiedenen Klassen und
ihre Umgangsformen zusammengewachsen.82 Auch Elias umschreibt die Tendenz, dass
sowohl die Bürger als auch die Arbeiter zusammenwachsen, was er als die Abnahme
der Kontraste bezeichnet.83 Obwohl Solidarität zugunsten von Machtunterschieden
zunahm, muss man gleichzeitig konstatieren, dass auch der Individualismus in diesem
Zeitraum wichtiger wurde.
Über die Sprachverwendung, die sich seit den 60er Jahren infolge
gesellschaftlicher Änderungen entwickelt hat, sagt Van der Sijs:
„Het verzet tegen het gevestigde gezag, uitte zich mede in het taalgebruik, dat vrijer en
minder officieel werd. Er ontstond een grotere tolerantie tegenover […] informeel
taalgebruik […].”84
Auch Van Bree konstatiert, dass der Demokratisierungsprozess in den Niederlanden die
Verwendung der Anredepronomen beeinflusst. Es handelt sich ihm zufolge immer
mehr um Gleichgestellte. Er stellt die These auf, dass unter Gleichgestellten viel mehr
von Duzen als von Siezen die Rede sei und dass der ur-niederländische Gebrauch die
Eltern zu Siezen, sich häufiger in Duzen änderte.85 Der Anstieg des Duzens hat nicht
unbedingt mit gesellschaftlichen Änderungen innerhalb des Landes zu tun.
Sprachwissenschaftlerin Daan äußert die Meinung, dass der Anstieg dieser J-Formen
mit dem Einfluss des englischen you zusammenhänge, da diese Sprache die
niederländische Sprache mehr und mehr prägen würde.86 Obwohl diese Annahme zur
Zeit der Informalisierung öfter erwähnt worden ist, sind dazu keine überzeugenden
Beweise zu finden.
Zwei wichtige Ursachen liegen den Änderungen der Umgangsformen und der
pronominalen Verwendung in den Niederlanden seit dem Zweiten Weltkrieg zugrunde:
Erstens die jugendliche Generation und zweitens die ontzuiling (Entsäulung), die die
Informalisierungswelle innerhalb der ganzen Gesellschaft allmählich beschleunigt
haben.
82
Vgl. Wouters, Cas. Van minnen en sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Proefschrift.
Amsterdam: 1990. S. 42-43.
83 Vgl. ebd. S. 43.
84 Van der Sijs, Nicoline. S. 23.
85 Bree van, Cornelis. S. 361.
86 Vermaas, Hanny. (2002) S. 59.
47
3.1.1 Die jugendliche Generation
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hat die jugendliche Generation laut
Historiker James Kennedy im Bereich der Moralität eine gleichgültige Haltung. Die
deutsche Besetzung hat Erziehungsexperten zufolge insbesondere die Jugendlichen
geistig zerrüttet. Die neue Generation war laut Kennedy duldsamer und skeptischer als
ihre Eltern: Sie verweigerten sich der traditionellen Rollenverteilung und versuchten
sich von den Denkbildern ihrer Eltern zu trennen.87 Dazu sagt Historiker de Rooy:
„De moderne jeugd had een eigen weg naar volwassenheid gekozen en dat moest
worden gerespecteerd.”88
Die Jugendlichen hatten im Nachkriegswohlstandsstaat ein relativ hohes Einkommen
und waren selbständiger als Generationen vor ihnen. Sie sind Kennedy zufolge durch
die Popkultur aus London und New York beeinflusst worden und haben den
informellen Jargon der anglo-amerikanischen Jugendkultur aufgepickt.
Die Jugendrebellion fand in einem Zeitraum statt, als Erwachsene sich
gelegentlich an die Jugendlichen anpassten. Nicht nur Soziologen, Psychologen,
Jugendpfleger und Dozenten, sondern auch Geistliche und Politiker zeigten Kennedy
zufolge Sympathie für die Ideale der Jugendlichen. Die Jugendlichen sind ihm zufolge
als Träger der sozialen Reform betrachtet worden.89 Insgesamt verhalten die
Jugendliche sich freier und aus der Sicht der Erwachsenen geht es öfter nicht mehr um
Unterschiede zwischen den Generationen, sondern um Gleichheit.
3.1.2 Versäulung und Entsäulung
Die niederländische Gesellschaft wurde im 20. Jh. von (religiösen) Subkulturen
beherrscht. Orthodoxe, katholische aber auch sozialistische und liberale Strömungen
bildeten
eigene
Vereine
wie
omroepen
(Rundfunkvereine),
Jugendvereine,
Gewerkschaften und Schulen. In der Regel gab es kaum Kontakt zwischen den
verschiedenen Strömungen. Das Alltagsleben war um die verschiedenen, separaten
Strömungen und zugehörigen Säulen organisiert worden. Dies lässt sich mit dem
Betriff verzuiling (Versäulung) zusammenfassen.90 Die Säulen waren von einer kleinen
Gruppe der Regenten (Vertreter der politischen Parteien, Tageszeitungen, Kirchen)
87
Vgl. Kennedy, James. Nieuw Babylon in aanbouw. Nederland in de jaren zestig. Amsterdam: Boom, 1995.
S. 42-44.
88 Ebd. S. 44.
89 Ebd. S. 128.
90 Vgl. ebd. S. 26.
48
angeführt worden. Bis in die sechziger Jahre haben die Eliten ihre Macht ausgeübt. Da
sie sich laut Kennedy gegen die Reform der 60er Jahre gar nicht gesperrt haben,
konnten die Reformen in hohem Tempo stattfinden.91
Die bisherige Formalisierung ist durch Informalisierung ersetzt worden. Die
Niederländer wurden unabhängiger und gleichzeitig wurden sie auch wohlhabender.
Der Einfluss der Kirche nahm in den 50er und 60er Jahre ab, die Säkularisation tritt
ein. Die anhand von (religiösen) Säulen organisierte Gesellschaft änderte sich: Die
ontzuiling (Entsäulung) ist eine Tatsache. Die Folge des Prozesses der ontzuiling war,
dass die bisherigen Säulen das Leben der Niederländer immer weniger bestimmte, die
Segmentierung der Gesellschaft abnahm und die Umgangsformen lockerer wurden. Die
60er werden laut Wouters durch Emanzipation und Widerstand gekennzeichnet:
„De verhouding tussen ouders en kinderen, mannen en vrouwen, ouderen en jongeren,
professoren en studenten, werkgevers en werknemers […] werden vanaf de tweede helft
vanaf de jaren zestig gekenmerkt door openlijke spanningen.”92
3.1.3 Sich ändernde Umgangsformen: „Margriet“ und ihre Beratungsrubrik
Ein alltäglicher Beweis des Informalisierungsprozesses in den Niederlanden ist laut der
„Amsterdams
Sociologisch
Tijdschrift“
die
Zeitschrift
„Margriet“.
In
der
Beratungsrubrik „Margriet weet raad“ könne man die Starke Veränderung der
Umgangsformen und moralischen Wertezwischen 1938-1978 nachverfolgen, so die
Verfasser des Artikels Brinkgreve und Korzec.
Dies gilt beispielsweise für das hierarchische Verhältnis, das zwischen Eltern
und Kindern abgenommen hat. Bis Ende der 60er Jahre wird ein eingesendetes
Problem zweifellos zugunsten der damals noch mächtigen Eltern beantwortet, zum
Beispiel: „Jouw ouders willen het niet en daarmee is de kous af“. 93 Einige Jahre später hingegen
werden die Eltern auf die Eigenständigkeit ihrer Kinder aufmerksam gemacht und ab
diesem Moment wird, wie verschiedene Beispiele zeigen, gerade zugunsten von den
Kindern beraten. Etwas Ähnliches gilt für die Probleme einer anderen Kategorie:
Geschehnisse, die sich auf die Entsäulung beziehen. In den 70er Jahren sind
Angelegenheiten, die mit den verschiedenen Religionen zutun haben (wie die Heirat
91
Vgl. Kennedy, James. S. 13-14.
Wouters, Cas. (1990). S. 128.
93 Brinkgreve, Christine und Michel Korzec. ‚Margriet weet raad’. Gevoel, gedrag, moraal in Nederland 1938-1978.
Culturele veranderingen in Nederland: Analyse en interpretatie van een adviesrubriek. Utrecht: 1978 (Aula boeken/
Het wetenschappelijke pocketboek 636). S. 52.
92
49
zwischen Andersgläubigen) kein unüberwindbares Problem mehr: höchstens noch ein
Hindernis.
In der Beratungsrubrik erfahren Leser, wie Dienstmädchen und sonstige
Arbeitnehmer Schwierigkeiten mit den Standesunterschieden und den damit
zusammenhängenden Anredeunterschieden haben. Margriet beriet ihre Leserinnen in
den 40er und 50er Jahren dies „einfach zu akzeptieren“. Derartige Probleme haben sich
langsam aber sicher aufgelöst. Es kann gesagt werden, dass die Verschiebung der
Beratungsschwerpunkt zeigt, dass die Machtdimensionen im Allgemeinen nur noch
eine geringe Rolle spielen und widerspiegelt der Hang zur Solidarität zwischen den
Menschen.
3.2 Informalisierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
Im Laufe des 20. Jh. haben sich Machtunterschiede zwischen verschiedenen
Gruppen verringert. Beispiele, die Elias erwähnt, sind unter anderen das Verhältnis
zwischen Männern und Frauen, zwischen den älteren und jüngeren Generationen und
von Regierenden und Regierten.
Als erstaunlich betrachtet er die stärke
Auftriebsbewegung der ehemaligen Außenseitergruppen. Er weist darauf hin, dass der
Wandel in Machtverhältnissen insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jh. „eine
weitgehende Verunsicherung vieler Menschen“ auslöst: Es geht ihm zufolge um eine
wachsende Statusunsicherheit und um Identitätssuche. 94
Elias konstatiert, dass es einen Unterschied gebe zwischen der älteren
Generation, die noch eine mehr oder weniger lange Periode ihres Lebens vor dem
Kriege verbrach haben, und den jüngeren Generation, die erst nach dem Kriege
geboren wurde. Bei den letzteren begegne man ganz bewussten Versuchen, die
Formalität des Verhaltens weiter abzubauen. Ihm zufolge gehe die Tendenz –teils
ungewollt, teils gewollt- in die Richtung auf gleiches Verhalten in allen Lebenslagen.95
Verschiedene Autoren der Anstandsbücher empfinden nach dem Zweiten
Weltkrieg Widerwillen gegen die sich ändernden gesellschaftlichen Umgangsformen
und versuchen die vorherigen Umgangsformen aufrechtzuerhalten:
94
95
Vgl. Elias, Norbert. (2005) S. 41-42.
Vgl. ebd. S. 47.
50
In unserer heutigen Massengesellschaft verwischen sich alle Grenzen zwischen Mensch
und Mensch, Stand und Stand. […] Vielleicht können neue gültige Sitten erwachsen,
wenn jeder sich erst wieder der tatsächlichen >Rolle< bewusst ist, die er in der Welt zu
spielen hat.96
Hier äußert sich laut Krumrey eine Unsicherheit, da die bisherigen Umgangsformen der höheren
Schichten abnehmen. Auch die Anredeformen änderten sich. Dazu sagt Spillner, dass in
der damaligen Bundesrepublik Deutschland in der Zeit nach 1968 politisch bedingt
einen verblüffend schnellen Wandel in den mündlichen Anredekonventionen gebe.97
Der bestimmende Faktor dazu sind die 68er Bewegungen, die die 60er Jahre geprägt
haben. Im Folgenden wird die Rolle der Studentenbewegung im ehemaligen
Westdeutschland beleuchtet.
3.2.1 Studentenbewegung, außerparlamentarische Opposition, Terroristengruppe
Bei den Studentenprosteten ging es nicht nur um Reformen und schlechte
Studienbedingungen. Mehr als anderswo ging es Elias zufolge in Westdeutschland um
die Generationsproblematik bürgerlicher Gruppen. Junge Menschen bürgerlicher
Herkunft sind nach einer langen Periode der Hitlerherrschaft auf der Suche nach neuer
Sinngebung.
Zwei
Aspekte,
die Elias auflistet,
die
mit
dem Sinnhunger
zusammenhängen, sind Säkularisierung und Anhebung des Wohlstands. Die Lehre von
Marx spielte unter den Studentenbewegungen und in der außerparlamentarischen
Opposition der 60er und 70er Jahre eine wichtige Rolle. Sie unterstützte die
verschiedenen Ideale, die die Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg anstrebten.
Die jüngere Generation hat sich laut Elias nicht mit der Nazizeit identifizieren
können, wodurch das Gefühl „Wir hatten nichts damit zu tun“ die jüngere Generation
von der älteren, „die etwas damit zu tun hatten“ trenne.98 Die Autorität der älteren
Generation ist Elias zufolge von den Studenten nicht anerkannt worden. Es sind jedoch
die älteren, die im Land die Autorität haben, etwas wozu sich die jüngere Generation
keinen Zugang verschaffen kann. Außerparteiliche Formen der Opposition waren
meistens die einzige Möglichkeit um Idealen nachzustreben. Die bürgerlichen
Jugendlichen haben versucht, sich von dem herrschenden Regime und damit vom
kapitalistischen System zu befreien. Durch ein neues System, das sie „gewöhnlich
durch den Begriff Sozialismus kennzeichneten“ sollte auch „das Gespenst des
96
Zit. nach Andreae, 1963. In: Krumrey, Horst-Volker. S. 428.
Spillner, Bernd. S. 28.
98 Elias, Norbert. (2005) S. 63.
97
51
Faschismus endgültig vertrieben werden können.“99 Als sich das „erträumte Ziel“, wie
Elias dies nennt, nicht erfüllt hatte, änderte sich die Haltung der Jugendlichen. Die
Dynamik des Protests habe ihm zufolge zur Verstärkung der Gewalt beim
Zusammenprall aufbegehrender Gruppen mit den Vertretern des staatlichen
Gewaltmonopols geführt.100
Der
Tumult,
verursacht
durch
bürgerliche
Jugendliche
aufgrund
gesellschaftlicher Fragen, lässt sich durch eine Suche nach Freiheit erklären: Man
wollte sich von autoritären Zwängen und Unterdrückung losmachen.
3.3 Der Trend zur Solidarität: veränderte Anredeformen in beiden Sprachen
Gezeigt wurde, dass die jüngere Generation in beiden Ländern eine wichtige
Rolle hinsichtlich der sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse und der
Umgangsformen spielten: Die Informalisierungswelle begann merkbar. Im Anschluss
an Browns und Gilmans Theorie der solidarity semantic werden verschiedene Typen
sozialer Beziehungen weiter spezifiziert, um somit auf dieser Grundlage die
Verwendung des Pronomens und den dazugehörigen Macht- beziehungsweise.
Solidaritätsaspekt zu erläutern. Dabei geht es um die drei im ersten Kapitel erwähnten
Machtsituationen, die jeder Mensch in seinem Leben erlebt, und um die Beispiele der
semantischen Konflikte. Im ersten Falle geht es um die pronominale Verwendung
zwischen 1) Eltern-Kind, 2) Schüler-Lehrer und 3) Arbeitnehmer-Arbeitgeber. Diese
drei Beziehungen werden in diesem Kapitel aus einer erweiterten Perspektive
betrachtet, nämlich:
1. -Familie
2.- Lehrer und Schüler
-Studenten und Professoren
-Studenten untereinander
3.-Arbeitskollegen
Das Eltern-Kindverhältnis und das zwischen Arbeitskollegen (eigentlich das
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) sind im ersten Kapitel auch zwei der
Beispiele, die einen semantischen Konflikt beinhalten. Das dritte Beispiel eines
semantischen Konflikts, das auch erörtert wird, ist die Beziehung zwischen Gast und
Kellner.
99
Ebd. S. 375.
Vgl. Elias, Norbert. (2005) S. 375.
100
52
Erarbeitet wird, ob und wie sich die verschiedenen Beziehungen während der
Informalisierung ab den 60er Jahren in beiden Ländern geändert haben. Die
Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern werden anhand von den Begriffen
superior und solidarity kategorisiert. Schließlich werden auch verschiedene spezifische
Du-Domäne in Deutschland erörtert. Es muss verdeutlicht werden, dass es in diesem
Abschnitt um die üblichen Verwendung des Pronomens oder den merkbaren Trend geht.
Am Ende des Abschnitts werden die verschiedenen Beziehungen in einer Abbildung
dargestellt.
Familie
Schon im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass es hinsichtlich der pronominalen
Verwendung zwischen Eltern und Kindern in Deutschland eine Solidaritätsbeziehung
gab, die die Verwendung des T-Pronomens mit sich führte. Der semantische Konflikt
zwischen Eltern und Kindern, den Brown und Gilman als Beispiel nennen, gibt es, da es
schon immer eine solidarische Beziehung zwischen ihnen gibt, in Deutschland nicht.
Auch andere Familienmitglieder sind von der jüngeren Generation mit dem TPronomen angeredet worden, was beweist, dass innerhalb der Familie der
Solidaritätsbeziehung wichtiger wurde als die Machtverhältnisse zwischen einzeln.
Verwandtschaftsbeziehungen können mit nominalen Anredeformen kombiniert werden
(beispielsweise Oma, Papa). Man könnte die These aufstellen, dass es sich hier in
gewisser Weise um eine Zwischenform der Macht oder Höflichkeit handelt, da man das
T-Pronomen mit personenbezeichnenden Nomina kombiniert, wie dies auch im 16 Jh.
(mit dem V-Pronomen) aus Höflichkeitsgründen üblich war. Immerhin würden Kinder
hingegen beispielsweise den Neffen oder den Bruder nicht mit der nominalen
Anredeform ansprechen. Da die nominalen Anredeformen kein Teil der Untersuchung
sind, wird dies nicht näher untersucht.
Die Anredeformen zwischen Kindern und Eltern haben sich in den
Niederlanden in der zweiten Hälfte des 20. Jh. drastisch geändert. Wie gezeigt wurde,
änderte sich die Rolle der Eltern. Ihre Machtposition wurde schwächer. Ging es bis
etwa 1960 um den Machtunterschied (vertikale Statusbeziehung der power semantic)
zwischen den Generationen, handelt es sich danach allmählich mehr um eine
Solidaritätsbeziehung zwischen Kindern und Eltern. Es ist seitdem dann auch immer
weniger die Rede von einem Machtverhältnis, das sich also in der veränderten
pronominalen Verwendung äußert. Damit endete dieser semantic conflict, wie Brown
53
und Gilman die ungleiche pronominale Verwendung im 19. Jh. bezeichneten. Die
Initiative zur gegenseitigen T-Verwendung kam nicht nur von den Kindern, sondern
auch von den Eltern, die versucht haben Generationskonflikte zu vermeiden und sich
für ein solidarisches Verhältnis entschieden haben. Verschiedene säkulare, progressive
und traditionelle Zeitschriften und Zeitungen unterstützten laut Kennedy die lockeren
Umgangsformen zwischen Eltern und Kindern. 1960 durften ihm zufolge 38 Prozent
der Kinder ihre Eltern duzen.101 Eine eingehende Untersuchung von Vermaas, die sie in
ihrer Arbeit „Veranderingen in de Nederlandse aanspreekvormen van de dertiende t/m
de twintigste eeuw“ veröffentlicht, zeigt, dass 86 Prozent der jüngeren Generation (15
bis 18 Jahre) die Eltern 1985 duzten. Die Eltern selbst verwendeten derzeit zu fast 50
Prozent das T-Pronomen bei ihren Eltern. Der Trend zur Solidarisierung ist diachron
deutlich anwesend. Es gibt auch Ausnahmen: In religiösen Kreisen zum Beispiel siezen
Kinder ihre Eltern eher, da die Machtverhältnisse und Traditionen dies von ihnen
verlangen. Kohz merkt in seiner Untersuchung „Markiertheit, Normalität und
Natürlichkeit von Anredeformen“ eine abweichende Verwendungsmöglichkeit des TPronomens auf. Ihm zufolge sei eine beleidigend intendierte pronominale Anrede mit T
im Deutschen innerhalb der Familie nicht möglich, im Niederländischen jedoch sehr
wohl.102 Er zielt damit wahrscheinlich auf das T-Pronomen, wie man dies laut Vor der
Hake im auch Mittelniederländischen als „Wut gegen Kinder“ verwendete. Die
Auffassung Kohzs kann mittlerweile als veraltet betrachtet werden.
Kindern in den Niederlanden werden andere Familienmitglieder, wie Onkel,
Tante oder Oma nicht immer rücksichtlos mit dem T-Pronomen anreden. Auch hier
gibt es sich meistens die Verwendung einer Verwandtschaftsbezeichnung. Diese
Beziehung ist auch aus der vertikalen Statusbeziehung hervorgegangen und ist als
allgemeine Höflichkeitsform immer noch da. Auffallend ist, dass das eventuelle VPronomen mit dem Vornamen verwendet wird: „Tante Maria haben Sie…?“
Lehrer und Schüler
Die Anredepronomen, die Lehrer in Deutschland bei Schülern verwenden, passt
sich an das Alter der Unterwiesenen an. In der Unter- und Mittelstufe werden Schüler
ohne Ausnahme von den Lehrern geduzt. Sobald sie jedoch in der Oberstufe sind, wird
101
102
Vgl. Kennedy, James. S. 129.
Kohz, Armin. Markiertheit, Normalität und Natürlichkeit von Anredeformen. In: Anredeverhalten. Hrsg. v.
Werner Winter. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1984. S. 32.
54
das V-Pronomen verwendet. Im letzten Falle wird auch oft der Nachname verwendet.
Die klassische vertikale Statusdimension Browns und Gilmans ändert sich also in ein
reziprokes V-Verhältnis. Der Schüler kann ab diesem Moment in der neuen Kategorie
Superior/Inferior and not solidary eingestuft werden. Meistens wird währenddessen
jedoch eine halbvertrauliche Variante gebraucht: Bei der Anrede wird der Vorname mit
Sie kombiniert. Laut Spillner seien die Konventionen an den Schulen heute lockerer
geworden. Man nehme den Unterschied nicht mehr so genau. Man verfahre weniger
nach bürokratischem Erlassen; eher nach persönlichem Konsens. Der Gebrauch der
Anredeform „Du“ nehme zu.103 Dieses Bild unterstützt Besch mit einer Untersuchung
in den neuen Bundesländern. Sportlehrer wählten demnach meist das T-Pronomen als
Anrede, da sie in diesem Fachbereich das V-Pronomen als hinderlich empfänden.104
Insbesondere jüngere Lehrkräfte würden ihm zufolge gegenüber ihren älteren Kollegen
das T-Pronomen bevorzugen.
Schüler werden in den Niederlanden ausnahmslos geduzt und nur mit dem
Vorname angeredet. Die deutsche Zwischenform (Vornahmen wird mit dem Pronomen
Sie kombiniert) existiert in diesem Land nicht. In zunehmendem Maße, so zeigt
Vermaas, duzen auch immer mehr Schüler ihren Lehrer. Hat die ältere Generation den
Lehrer immer gesiezt, machen dies zur Zeit der Untersuchung in den achtziger Jahren
noch 82% der Schüler. Die junge Generation verwende laut Vermaas außerdem häufiger
den Vornamen des Lehrers. Das Duzen des Lehrers an der Schule hätte vor allem, so
zeigt die Untersuchung, unter nicht-religiösen Schülern und unter Jugendlichen mit
einer guten Ausbildung zugenommen. Außerdem käme es öfters bei Jungen als bei
Mädchen vor. In einer ihrer jüngeren Arbeiten sagt Vermaas hingegen, dass das Duzen
im Unterricht rückläufig sei. Allgemeine Argumente zur Handhabung des V-Pronomens
an der Schule sind: „Respekt erzeugen, ausreichende Distanz und Normen und
Werte“.105 Möglicherweise zielt sie auf eine neue Formalisierung. Laut Vermaas
erlauben junge akademisch ausgebildete Lehrer in den Niederlanden das Duzen eher als
ihre nicht-akademisch ausgebildeten Kollegen. Ebenso wie höher ausgebildete Schüler
mehr duzen, erfahren höher ausgebildete Lehrer dies weniger als Problem. Dieses
Beispiel zeigt, dass Machtdistanz in den Niederlanden eine niedrigere Rolle als in
103
Spillner, Bernd. S. 21.
Vgl. Besch, Werner. S. 64.
105 Vermaas, Hanny. (2004) S. 39.
104
55
Deutschland spielt. Wie in Deutschland handelt es sich um die Beziehung
superior/inferior and not solidary zwischen Lehrern und Schülern.
Studenten untereinander
Bis Ende des 60er Jahre galt unter Studierenden an den Universitäten, wenn sie
nicht schon miteinander befreundet waren oder einander schon kannten, ein
obligatorisches Sie. Über die Studenten von damals sagt Elias, dass sie vor dem Ersten
Weltkrieg
aus
wohlhabenden
Mittelklassen
kamen
und
zumeist
einer
Studentenverbindung, oft einer schlagenden Verbindung, angehörten. In diesen
Verbindungen werden die Studenten „genau wie im Militär, an eine von außen
kontrollierte Disziplin gewöhnt.“106 Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, waren die
bürgerlichen Studenten Teil der Satisfaktionsfähigen Gesellschaft. Dass Studenten
vorher das V-Pronomen untereinander verwendeten, da sie nicht solidarisch zueinander
sind, könnte anhand dieses elitären Hintergrundes erklärt worden. Es handelte sich hier
immer noch um die horizontale Statusdimension der power semantic.
Unter den Studenten der Nachkriegsgeneration änderte sich dieser Brauch.
Studieren war nicht mehr nur den Mitgliedern der Mittelklassen vorbehalten: die
Studentenpopulation änderte sich. Das Zurücktreten der Verbindungen sorgt für eine
Machtverlagerung zugunsten der verbindungsfreien Studenten und bedeutet laut Elias
„einen massiven Schub der Individualisierung, eine Emanzipation von der formellen
Gruppendisziplin.“107 Laut Elias begegnet man unter deutschen Studenten der
Nachkriegsgeneration weithin einem generationsspezifischen Misstrauen gegenüber
der älteren Generationen. Wie erwähnt konnte die jüngere Generation sich nicht mit der
Nazizeit und der Rolle der älteren Generation identifizieren. Elias ist der Meinung, dass
die starke egalitäre Tendenz bei den heranwachsenden Generationen unter anderem im
studentischen Duzen zum Ausdruck komme.108 Man kann konstatieren, dass sie durch
den abgenommen Einfluss der Verbindungen und durch den gemeinsamen Kampf
solidarisch zueinander geworden sind. Die Änderung bezüglich der Umgangsformen
und den damit zusammenhängenden Anredepronomen gab es in Deutschland erst nach
den Studentenprotesten 1968. An einer westdeutschen Universität hat sich die
106
Elias, Norbert. (2005) S. 58.
Ebd. S. 65.
108 Ebd. S. 63.
107
56
gegenseitige
T-Verwendung
unter
Studenten
einer
Untersuchung
zufolge
folgendermaßen gezeigt:
„Im WS 70/71 duzten sich wenige Studenten untereinander, dies waren Verwandten,
ehemalige Mitschüler, […] Studenten die linken Studentenvereinigungen angehörten.
[…]. Im WS 73/74 duzen sich alle Studenten des Seminars ohne Ausnahme .109
Duzen unter Studierenden hat in den Niederlanden schon früher als in
Deutschland angefangen. Klikspaan hat dies bereits 1841 untersucht und kam zu dem
Ergebnis, dass Studierende gegenseitig das T-Pronomen verwendeten, jedoch gij
gebrauchten, falls sie keine nahe Bindung zueinander haben wollten.110 Gij wird in
diesem Beispiel als V-Pronomen angedeutet. Leider wurde Klikspaans Ergebnis nur
kurz erörtert, wodurch die Wiedergabe eines möglichen spezifischeren pronominalen
T/V-Unterschieds, wie auch im zweiten Kapitel angedeutet wurde, nicht möglich ist.
Obwohl auch in den Niederlanden galt, dass studieren vor einigen Jahrzehnten nur den
höheren Schichten der Bevölkerung möglich war, fällt auf, dass das Solidaritätsprinzip
zwischen den Studenten in den Niederlanden bedeutend früher seinen Anfang
genommen hat. Ob die Abwesenheit eines V-Pronomen oder gesellschaftliche Faktoren
der T-Verwendung zugrunde liegen ist undeutlich. Equal and solidary ist in beiden
Ländern die (neue) Beziehung unter Studenten.
Studenten und Professoren
Studenten werden in Deutschland von den Professoren gesiezt, in der Regel in
Kombination der Verwendung des Nachnamens. Eine Form, die erst in jüngerer Zeit
auftritt, ist auch hier die halbvertrauliche Variante: Vorname und V-Pronomen. Laut
Elias gebe es unter jüngeren Dozenten und Professoren auch Zeichen einer deutlichen
Informalisierungstendenz und zugleich eines größeren Machtanspruchs der Studenten
im Verhältnis zu den Professoren.111 In den Niederlanden hingegen siezen Professoren
die Studenten nur ausnahmsweise. Die Zeit, dass ein Professor oder ein Lehrer in den
Niederlanden den Nachnamen eines Studenten (oder eines Schülers) verwendete, ist
schon lange vorbei. Nur die ältere Generation, die Vermaas in ihrer Untersuchung
nennt, hat dies gelegentlich erfahren. Professoren werden in Deutschland von den
Studenten immer mit dem V-Pronomen angesprochen. Auch in den Niederlanden ist
109
Besch, Werner. S. 22.
Vgl. Halteren van, Bronger. Het pronomen in het Nederlandsch der zestiende eeuw. Proefschirft. Groningen:
1906. S. 52.
111 Elias, Norbert. (2005) S. 63.
110
57
die Verwendung dieses Pronomens meistens die Regel. Die Verwendung der Titulatur
spielt insbesondere bei der schriftlichen Anrede eines Akademikers in Deutschland
immer noch eine wichtige Rolle. Respekt kommt auf dieser Weise verstärkt zum
Ausdruck. Zur Zeit der Studentenproteste hat die Verwendung der Titulatur stark
abgenommen. Die damit einhergehende Titelverweigerung durch Studenten sei laut
Besch anfänglich stark als Affront empfunden.112
Machtverhältnisse und Respekt zwischen Studenten und Professoren gibt es
allerdings in beiden Ländern. Die Beziehung lässt sich durch inferior/superior and not
solidary kennzeichnen. Die Umgangsformen zwischen ihnen sind allerdings in den
Niederlanden weniger formell.
Arbeitskollegen
In einem deutschen Anstandsbuch schreibt Hans Martin 1949, dass das Verhältnis
zwischen Vorgesetzten und Untergegebenen sich an der Arbeit seit dem Krieg
gewandelt hat. Der Angestellte will ihm zufolge fühlen, dass der Vorgesetzten den Wert
seiner Arbeit erkennt und dass er als ein geschätzter Mitarbeiter behandelt wird. Der
Vorgesetzte sollte auch im Dienst kameradschaftlich sein. Er sagt noch dazu:
„Sie verlieren dadurch nicht an Respekt, wenn Sie einem Untergebenen, der in einer persönlichen Angelegenheit zu Ihnen kommt, die Hand reichen und ihm Platz anbieten
[…].“113
Die Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und- nehmer sind seit 1945 nach der
Interpretation Krumreys erschüttert und sind von Anomie gekennzeichnet. Durch den
Wiederaufbau der zerstörten oder verlagerten Betriebe sind die Vorgesetzten ihm
zufolge in eine abhängige Situation geraten. Er sagt, dass es damals in Deutschland
noch an gesicherten ökonomischen und politischen Verhältnissen gefehlt habe. Dadurch
gibt es „ein verstärktes Werben von Individuen die nach traditionellen Machtpositionen
streben, um Vertrauen von Angehörigen unterer Schichten einsetzt, das sich in einem
Wandel der Verhaltensstandarde niederschlägt.“114
Dennoch sind
die pronominale Verwendung unter Vorgesetzten und
Untergebenen immer noch stark hierarchisch orientiert. Spillner zufolge können
Kollegen auf horizontaler Ebene untereinander recht ungezwungen das T-Pronomen
verwenden. Wenn es ein vertikales Verhältnis gibt, also in Gesprächen unter Kollegen,
112
Besch, Werner. S. 21.
Krumrey, Horst-Volker. S. 446.
114 Ebd. S. 446.
113
58
die auf unterschiedlichen Ebenen arbeiten, gibt es bezüglich der Anrede in der Regel
eine nicht reziproke pronominale Verwendung. Eine nominale Anredeform kann auch
mit einer nominalen Anredeform, wie Herr Direktor und/oder Nachnahme, kombiniert
worden. Obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Kollegen, die zum Beispiel schon mehr
als 20 Jahre zusammenarbeiten, einander noch immer gegenseitig mit dem V-Pronomen
anreden, ist in diesem Bereich bezüglich der Umgangsformen eine Veränderung
spürbar. Spillner konstatiert, dass jüngere Arbeitnehmer in zunehmendem Maße
weniger Probleme mit dem T-Pronomen haben als die ältere Generation. Für
Angehörige der jungen Generation sei diese Form freier, ungezwungener und
unproblematischer als der Gebrauch des förmlichen Sie. Die ältere Generation dagegen
finde Siezen solange nicht irgendeine nähere persönliche Beziehung bestehe die
neutralere Form, die „normale“ Anrede unter Erwachsenen. Diese ältere Generation ist
ihm zufolge der Meinung, dass „ein vertrauliches „Du“ oft zu Konflikten führen könne
in
dienstlicher
Umgebung,
wo
es
Vorgesetzte
und
Untergebene
gebe.115
Bekanntschaften zwischen Kollegen spielen bei der Anrede nur eine geringe Rolle.
Obwohl diese These nicht wirklich unterbaut wird, könnte man, ausgehend von
Spillners Erfahrungen unter der jugendlichen Generation, von einem Trend zugunsten
des Solidaritätspronomens sprechen.
Die Verwendung des richtigen Anredepronomens am Arbeitsplatz ist in
Deutschland kein unbeachtetes Thema. Es ist oft in verschiedenen Anstandsbüchern
und Betratungsrubriken erörtert worden. Es gibt die Möglichkeit, das Du nur für einen
Abend anzubieten: das situationsbedingte “Brüderschafts/Schwesternschafts-Du”. Ein
Problem, dass beim Angebot des Du vonseiten des Vorgesetzten auftreten kann, ist die
Rückkehr zum Sie. Im Falle, dass der Mitarbeiter das Du annimmt, muss er in der
formellen Arbeitssituation wieder vorsichtig mit der Verwendung des T-Pronomens
sein, da nur der Vorgesetzte entscheidet, ob das T-Pronomen tatsächlich Bestand hat.
Position und Alter oder Generation sind für die Wahl des Anredepronomens
wichtige Faktoren. Im Falle, dass man sich für das V-Pronomen entscheidet, wird dies
in der Regel, unabhängig der horizontalen oder vertikalen Beziehung, gegenseitig
verwendet. Es handelt sich bei einer gegenseitigen V-Verwendung entweder um
inferior/superior and not solidary oder um equal and not solidary. Im Falle einer
gegenseitigen T-Verwendung ist die Beziehung equal and solidary.
115
Spillner, Bernd. S. 23.
59
In den Niederlanden sind die Anredeformen am Arbeitsplatz im Vergleich zu
Deutschland unterschiedlich. Hier steht an Stelle einer eventuellen Machtdimension die
Solidaritätsdimension normalerweise im Vordergrund. Das grundsätzliche Duzen im
Alltag in anderen Bereichen trägt dazu entscheidend bei. Das Duzen am Arbeitsplatz ist
ein Beispiel für eine Situation, wie sie früher eher undenkbar war. Es handelt sich in
diesem Fall auch wieder um eine Verschiebung in den letzten Jahrzehnten. Dass die
Anredeformen sich geändert haben zeigt auch das nächste Zitat aus dem Jahre 1983 aus
einem Anstandsbuch Frans Grosvelds:
Op ons werk ... hebben we dikwijls, man of vrouw, twee petten klaarliggen die bij verschillende situaties passen. Noemen we elkaar bij de voornaam, eventueel ook onze
chefs, dan heeft een buitenstaander daar niets mee te maken. Dat tutoyeren of niet is dus
in het dagelijks leven niet meer zozeer een kwestie van onderscheid tussen mensen
(man/vrouw, ouder/jonger, hoger/lager), maar van onderscheid tussen situaties
(formeel/informeel, zakelijk/privé, afschermen/openen van de persoonlijke
levenssfeer).116
Grosveld zeigt mit diesem Zitat, dass im Laufe der Zeit eine Verschiebung von
Unterschieden zwischen Menschen, also Machtunterschiede, zu Unterschieden
zwischen Situationen stattgefunden hat. Dies bedeutet, dass man sich von der Situation
abhängig entscheiden kann, ob man das V-Pronomen oder das T-Pronomen verwendet
und dass die früheren Machtunterschiede mehr oder weniger in den Hintergrund
geraten sind. Die Solidaritätsdimension hat seit den 60er Jahren an Boden gewonnen.
Das Zitat zeigt eine Teilung, wie Wouters auch für die deutsche pronominale T/VVerwendung kennzeichnete: Privatleben als Kontrast zur Öffentlichkeit.
Vermaas sagt diesbezüglich über die heutigen Umgangsformen unter
Arbeitskollegen, dass Siezen nur während formeller Situationen oft die Regel sei und
das Duzen die alltägliche Anredeform bleibe.117 Der Trend zur Solidarisierung hat sich
weiter durchgesetzt. Bei älteren Kollegen ist gegenseitiges Siezen ebenfalls nicht
ungewöhnlich. Dies hat jedoch mehr mit dem Höflichkeitskodex dieser Generation als
mit einem Machtunterschied zu tun. Zum größten Teil kann man jedoch von equal and
solidary reden. Die Verwendung der nominalen Anredeformen ist unter Kollegen in
den Niederlanden während der solidarity semantic doch außergewöhnlich geworden.
116
117
Wouters, Cas. (1990) S. 133.
Vermaas, Hanny. (2004) S. 44-45.
60
Gast und Kellner
Beziehungen wie Gast und Kellner lassen sich entweder durch Macht oder
Solidarität entscheiden. Da die Gesprächspartner einander in der Regel nur ein Mal
treffen werden, ist der Charakter dieser Beziehung unterschiedlich von den
vorgenannten Situationen. Obwohl es während der Ständegesellschaft in beiden
Ländern bestimmt möglich war, dass der Kellner als dienstbare Person mit dem TPronomen angeredet wurde, was eine vertikale Statusbeziehung andeutet, war das VPronomen zum Ausdruck einer Distanz, sowie das Beispiel der Dienstboten zeigte,
auch eine Möglichkeit. Zur Zeit der Informalisierung ist in Deutschland die Wahl des
Pronomens eindeutiger und da es sich nicht um eine vertrauliche Beziehung handelt,
wird gegenseitig das V-Pronomen verwendet (equal and not solidary), dies eventuell in
Kombination mit der nominalen Anredeform Herr oder Frau, beispielsweise Frau
Kellnerin. Sind beide Gesprächspartner einer jüngeren Generation, dann ist eine
gegenseitige T-Verwendung (equal and solidary) auch möglich. Die gegenseitige VVerwendung galt vor einigen Jahrzehnten auch für die Niederlande, was sich
mittlerweile geändert hat. Auch eine gegenseitige T-Verwendung gehört wie eine
asymmetrische Verwendung mittlerweile zu den Möglichkeiten. Im letzten Falle
spricht der Kellner den Gast häufiger mit dem V-Pronomen an als umgekehrt. Alter
spielt bei der Wahl des Pronomens wiederum eine entscheidende Rolle. Die korrekte
Verwendung der Anredepronomen könnte in unbekannten Situationen, wie diese, eher
für Schwierigkeiten sorgen, da die Wahl weniger eindeutig ist.
Die in diesem Abschnitt erörterten Verhältnisse zwischen Gesprächspartnern ist
in nachfolgenden Abbildungen per Land schematisch dargestellt worden.
V
Superior and solidary
T
V
Superior and not solidary
V
Professor
Lehrer
Eltern
Equal and solidary
Equal and not solidary
T
V
Arbeitskollegen
Gast und Kellner
Studenten
Kind
Student
T
Inferior and solidary
T
V
Schüler
Inferior and not solidary
T
Abbildung 7: Die solidarity semantic zur Zeit der Informalisierung in Deutschland
61
V
Superior and solidary
T
V
Superior and not solidary
V
Professor/Lehrer
Eltern
Gast
Equal and solidary
Equal and not solidary
T
V
Studenten
Arbeitskollegen
Kind
Kellner
Student/Schüler
T
Inferior and solidary
T
V
Inferior and not solidary
T
Abbildung 8: Die solidarity semantic zur Zeit der Informalisierung in den Niederlanden
3.3.1 Du-Domäne und das Anbieten des Du in Deutschland
Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass eine T-Verwendung im Zeitalter der
Informalisierung in Deutschland nicht so auf der Hand liegend ist wie in den
Niederlanden. Hierarchie spielt immer noch eine relativ große Rolle und das VPronomen ist in der Öffentlichkeit üblich. Außer den Verwandtschaftsbeziehungen und
dem „modernen Duzen“ unter Studenten gibt es bestimmte Situationen, wie politischen
Parteien, in denen der Gebrauch des T-Pronomens nicht ungewöhnlich ist. Obwohl
Gesprächspartner einander nicht unbedingt persönlich kennen, dominiert hier in den
öffentlichen Beziehungen die Rolle der Solidarität. Hier werde laut Spillner aufgrund
einer tradierten Norm prinzipiell geduzt.118 In einer sozialen Gruppe wie einer
Arbeiterbewegung oder Gewerkschaft ist die Anrede „Du“ Ausdruck von
Gemeinschaft und Solidarität. Sie fällt übrigens oft mit einer nominalen Anredeform
wie „Genosse“ oder „Kamerad“ zusammen. Spillner erwähnt bezüglich dieses
solidarischen Du-Gebrauchs, dass dieser im Gegensatz zum „jugendlichen“ Du
wahrscheinlich zurückgeht.119 Eine Erklärung dafür wird von ihm jedoch nicht
gegeben. Obwohl man auf den ersten Blick nicht erwarten würde, dass sich das Siezen
gegenüber dem Duzen durchsetzt, kann dies durch einen Trend zur Individualisierung
innerhalb der Gesellschaft erklärt werden. Die klassischen Ausgangspunkte der
politischen Parteien und insbesondere der Arbeiterbewegungen, wie zum Beispiel
Ausdruck von Gemeinsamkeit, gleicher Gesinnung und gleichen Idealen zur
Verbesserung der Lage der Arbeiterschicht, sind heute nicht mehr von solcher
Wichtigkeit. Ein solidarisches Du in diesen Bewegungen ist darum nicht mehr
zwingend notwendig und könnte rückläufig sein.
118
119
Spillner, Bernd. S. 22.
Vgl. ebd. S. 22.
62
Einige andere Beispiele von Spillner die einen solidarischen Du-Gebrauch in
Deutschland zeigen sind Vereine, kleinere religiöse Gemeinschaften, Stammtische und
Fußballvereine. Grob gesagt handelt es sich bei den letzten Beispielen um Freizeitoder Gemeinsamkeitsbeschäftigungen. Auch Brown und Gilman erwähnen anlässlich
ihrer eigenen Untersuchung aus 1957 unter Austauschstudenten, die in diesem
Abschnitt erwähnten T-Bereiche. Im Deutschen wird auch Gott geduzt. Obwohl Gott,
wie bereits erwähnt, Von der Hake zufolge vor einigen Jahrhunderten auch im
Niederländischen geduzt wurde, ist davon nicht mehr die Rede. Trotz des allgemeinen
Trends der häufigeren Verwendung des T-Pronomens gilt die Solidarisierung noch
nicht im religiösen Bereich.
Schließlich noch eine Bemerkung über den Wechsel der Pronomen in
Deutschland: Das Ritual des Du-anbieten, das Brüderschafttrinken, das unter
„Arbeitskollegen erwähnt wurde, kann auch in anderen Situationen, die einen
Übergang vom V-Pronomen zum T-Pronomen darstellt vorkommen. Spillner zufolge
gibt es hierzu „(meist ungeschriebene) Regeln und Konventionen.“120 Dabei handelt es
sich um hierarchische Muster: Ältere dürfen einer jüngeren Person das Du anbieten.
Früher galt auch, dass nur ein Mann einer Frau das Du anbieten konnte und nur ein
Höherstehender das Recht dazu hatte. Spillner weist schließlich darauf hin, dass der
Übergang zum Du oft mit einem Ritual verbunden ist, wie zum Beispiel „Sich die
Hand reichen“ „Anstoßen“ oder „Brüderschaft trinken“.
3.4 Exkurs: Der Stand der heutigen pronominalen Verwendung und die Zukunft:
das englische you: ein Vergleich für ein neues Anredesystem?
Waren in der Zeit der Formalisierung die höheren Bürgerschichten für die
Einführung des V-Pronomens verantwortlich, ist in der heutigen Zeit der
Informalisieurung die jüngere Generation für die Verbreitung des T-Pronomens
verantwortlich. Außerdem stellt sich hinsichtlich beider Länder die Frage, ob es auf
lange Sicht eine Tendenz zur Verwendung von nur einem Pronomen gibt. Wie gezeigt
wurde, gibt es in beiden Ländern eine häufigere Verwendung des T-Pronomens. In
diesem Abschnitt wird, unabhängig des Artikels Browns und Gilmans, in groben Zügen
untersucht, ob sich ein mögliches zukünftiges universales Pronomen mit dem
englischen Universalpronomen you vergleichen lässt. Wie sieht die pronominale
120
Spillner, Bernd. S. 23.
63
Verwendung heutzutage aus? Besch zufolge ist die heutige deutsche Grundverteilung
des T- und V-Pronomens vertraulich gegen höflich.121 Er konstatiert, dass der Aspekt
der Macht in heutiger Anrede stark zurücktrete.122 Diese genaue Teilung war vormals
laut Vermaas auch in den Niederlanden der entscheidende Faktor, um entweder das Toder das V-Pronomen zu verwenden. Anlässlich ihrer Untersuchung konstatiert
Vermaas in einem Interview, dass dies derzeit im Niederländischen nicht mehr der
genaue Unterschied ist. Die Dimensionen Höflichkeit und Vertraulichkeit sind laut
Vermaas nicht ganz verschwunden, aber sie seien zur Zeit kein absoluter Gegensatz
mehr und bestimmen nicht mehr den Unterschied zwischen jij en u.123 Status, Solidarität
und Formalität sind die heutigen Kriterien hinsichtlich der Verwendung des Pronomens.
Sie weist darauf hin, dass Solidarität die Oberhand bekommen hat. Status und
Formalität sind deswegen weniger wichtig geworden und die Verwendung des TPronomens hat zugenommen. Dazu sagt sie:
„Blijkbaar hebben er sociaal- maatschappelijke veranderingen plaatsgevonden die de
Waardering van de drie dimensies hebben beïnvloed.” 124
Dennoch ist sie der Meinung, dass das V-Pronomen nicht verschwinden wird, da das
Solidaritätsgefühl der siebziger Jahre wieder abnehme. Sie erwartet, dass im sachlichen
Bereich die Verwendung des u wieder zunehme.125 In Deutschland hält man immer
noch stärker an den traditionellen Anredeformen fest. Die Verwendung des VPronomens ist da auch bedeutend wichtiger. Wenn man sich außerdem irre und die
falsche Anrede einer Persönlichkeit wähle, könne dies laut Spillner ungeahnte Folgen
haben, da der Angesprochene sich beleidigt fühlen könne. Ihm zufolge gebe es die
Möglichkeit, dass langjährige Geschäftsbeziehungen abrupt enden und Feindschaften
entstehen können.126
Falls der Trend zur Solidarisierung im Deutschen oder Niederländischen sich im
Laufe der Zeit doch soweit durchsetzt, dass ein universales Pronomen entstehen würde,
würde es dann ein Äquivalent des you in beiden Sprachen geben? Die Darstellung der
Entwicklung der englischen Pronomen der zweiten Person findet anhand von der
Untersuchung „You and thou in Early Modern Englisch“ von Richard Dury statt und
behandelt den Vergleich der früheren Entwicklung des Pronomens. Der Eintritt einer
121
Vgl. Besch, Werner. S. 8.
Ebd. S. 13.
123 Salemans, Ben. Steeds minder mensen zeggen u. In Taalschrift. Juni/juli 2005. S. 1.
124 Ebd. S. 2.
125 Ebd. S. 3-4.
126 Spillner, Bernd. S. 9.
122
64
Höflichkeitsform in die englische Sprache (und der damit zusammenhängende
pronominale T/V-Unterschied) hat ihm zufolge mit dem Einfluss aus dem
Französischen zu tun. Die Einführung eines V-Pronomens charakterisiert er als „a good
example of conscious language change from above.“127 Man hatte anfänglich nur
Aristokraten mit dem V-Pronomen angeredet. Es war im 14 Jh. zwar üblich, dass
Höhergestellte erwarteten, das V-Pronomen you zu erhalten; Niedrigergestellte
verwendeten hingegen oft noch das T-Pronomen thou. Ein Jahrhundert später gab es
häufiger den asymmetrischen Gebrauch der Anredepronomen, sodass –wie während der
power semantic Browns und Gilmans- Höhergestellte tatsächlich das V-Pronomen
erhalten und Niedrigergestellte mit dem T-Pronomen angeredet wurden. Längere Zeit
wurde das singuläre you als reines V-Pronomen verwendet. Die Ausdehnung von you
als V-Pronomens zum T-Pronomen war Dury zufolge ein langfristiges Projekt und hat
sich wahrscheinlich erst am Anfang des 17. Jh. größtenteils vollzogen.
Die Verbreitung des V-Pronomens fiel möglicherweise mit der gleichzeitigen
Abwärtsverbreitung der mit dem V-Pronomen assoziierten nominalen Anredeformen
wie „Sir’, „Madam“ „Mr.“ Und „Mrs.“ zusammen.128 Es handelte sich in der Zeit
deutlich um eine Zunahme der Höflichkeit in der Sprache. Auch hier haben die
niedrigen Schichten die würdigen Titel aus Statusgründen imitiert.
„As with other examples of sociolinguistic evolution, it is the members of the rising
class that adopt new forms most quickly [...].”129
Über das letztendliche Fehlen des T-Pronomens im Neuenglischen wird gesagt, dass
dies mit der Wichtigkeit der Privatsphäre zu tun hat, da you eine Distanz erschafft die
nicht die Intimität, die bei der Verwendung einer T-Form bemerkt wird, mitteilt.
England war im 16. Jh. möglicherweise eine „non-contact“ Kultur wodurch die
Verwendung des T-Pronomens thou eingeschränkt worden ist.130
In Deutschland sah man bis ins 18. Jh. eine Distanztendenz, da immer mehr
Höflichkeitspronomen nebeneinander verwendet werden, doch die Stelle des TPronomens ist nicht von der Höflichkeitsform eingenommen worden. In der
niederländischen Sprache war erst wieder im 19. Jh. eine Höflichkeitsform anstelle des
bereits mehreren Jahrhunderten existierenden universalen Pronomens gij entstanden.
127
Dury, Richard. S. 140.
Vgl. ebd. S. 141.
129 Ebd. S. 142.
130 Vgl. ebd. S. 141.
128
65
Da gij und you beide ursprünglich V-Pronomen sind, sind beide gut miteinander zu
vergleichen.
In Deutschland und den Niederlanden ist das letztendliche V-Pronomen auch
von den Mittel- und Unterschichten übernommen worden. Im Gegensatz zu dem
pronominalen Unterschied im Deutschen und Niederländischen ist deutlich, dass der
Simplifikationsprozess sich im Englischen bereits völlig vollzogen hat. Die
Simplifikation hat in einer Umgebung der Formalisierung stattgefunden und hatte
deswegen mit der Ausdehnung des V-Pronomens you angefangen. Da das Pronomen
durch das Volk übernommen wurde, ist das T-Pronomen deswegen letztendlich
vollständig durch das V-Pronomen ersetzt worden. Genau dies ist ein wichtiger
Unterschied zu der heutigen Änderung der pronominalen Verwendung in Deutschland
und den Niederlanden. In der heutigen Lage der Informalisierung geht es da, falls man
schon endgültig von Simplifikation reden kann, um eine entgegengesetzte Entwicklung:
die Ausdehnung des T-Pronomens. Dabei geht es in Deutschland um einen Prozess, der
sich eher nur unter jugendlichen Generationen, die deutlich solidarisch zueinander sind,
stattfindet. Das V-Pronomen bleibt zwischen den meisten Gesprächspartnern immer
noch wohlbehalten. Der Prozess findet in den Niederlanden eher unter allen Schichten
der Bevölkerung statt, wodurch auch Machtverhältnisse, die früher durch das VPronomen gekennzeichnet wurden, verschwinden. Der Einfluss der
jugendlichen
Generation sollte dabei doch betont werden. Ein reiner Vergleich mit dem englischen
Pronomen you ist aus semantischer Perspektive deswegen nicht selbstverständlich. Die
wichtigste Übereinstimmung ist nur, dass es langfristig die Möglichkeit gäbe, dass sich
der pronominale T/V-Unterschied in beiden Ländern wie im Englischen verwischen
wird. Die Frage wäre, ob der heutige Trend der Informalisierung die in der Zeit der
Formalisierung entstandenen V-Pronomen wieder aufhebt.
3.5 Gültigkeit der Theorie Browns und Gilmans im Zeitalter der Informalisierung
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, Traditionen und formellen Beziehungen
änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg, was sich in beiden Ländern auf die
formellen Beziehungen auswirkte. Es gab seit den 60er Jahren eine recht deutliche
Verschiebung der Umgangs- und Anredeformen. Sogar etwas Alltägliches wie die
Beratungsrubrik der „Margriet“ zeigt die Grundlage der ändernden pronominalen
Verwendung: die Verschiebung der traditionellen Machtverhältnisse.
66
Für die Niederlande waren der jugendlichen Generation und der Entsäulung die
Änderungen innerhalb der Gesellschaft anzurechnen. Das T-Pronomen setzte sich zum
Nachteil des V-Pronomens durch. Machtverhältnisse wurden im Vergleich zu
Deutschland durchgreifender durch lockere Umgangsformen, die eher solidarisch
orientiert sind, ersetzt. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb verschiedener Beziehungen
das T-Pronomen gegenseitig verwendet wird, was vormals undenkbar war. Neben der
Eltern-Kinderbeziehung, in den Niederlanden ein richtiges Beispiel der heutigen
superior/inferior and solidary, kommt dies insbesondere auch unter Arbeitskollegen
vor. Diese letzte Beziehung wird immer öfter als Maßstab equal and solidary
genommen. Ein wichtiger Unterschied zu Deutschland ist, dass die Solidarisierung sich
in der ganzen Gesellschaft stärker durchgesetzt hat. Wouters Urteil über die
informelleren Umgangsformen fasst die Entwicklung in den Niederlanden wie folgt
zusammen:
„Bürger verschiedener Schichten, Generationen und Geschlechter benehmen sich seit
einigen Jahrzehnten hinsichtlich der Umgangsformen informeller zueinander. Man hat
auf verschie-denen Ebenen angefangen einander zu duzen: Kinder und Eltern,
Untergeordnete und Über-geordnete aber auch Leute, die einander gar nicht kennen.“131
Obwohl dies nicht bedeutet, dass das T-Pronomen immer verwendet werden kann,
wurde in den verschiedenen Beziehungen gezeigt, dass die solidarische Verwendung
üblicher geworden ist.
In Deutschland führten die Studentenproteste der 68er Bewegung eine Welle
der Solidarisierung untereinander mit sich, da die Studenten angefangen haben,
untereinander ausnahmslos das T-Pronomen zu verwenden, was zuvor undenkbar war.
Dies gilt, sei es in geringerem Maße, auch für die Verwendung des T-Pronomens unter
gleichgestellten Arbeitskollegen. Es gibt in beiden Fällen eine Verschiebung von equal
and not solidary zu equal and solidary. Die pronominale Verwendung am Arbeitsplatz
lässt sich in geringerem Maße als in den Niederlanden von Solidarität entscheiden. Die
vertikalen Beziehungen und die gegenseitige Verwendung des V-Pronomens spielen in
diesem Bereich noch eine wichtige Rolle. In Deutschland gibt es auch im neuen
Zeitalter der Informalisierung eine gegenseitige Verwendung des V-Pronomens
zwischen Professoren und Studenten, wie Schülern der Oberstufe und Lehrern.
Machtdistanz und die Tradition, einander in der Öffentlichkeit derartig anzureden sind
Gründe dazu.
131
Wouters, Cas. (1990). S. 29.
67
Die Lösungen der semantischen Konflikte Browns und Gilmans im 19. Jh., zur
Zeit ihrer solidarity semantic, entsprechen in Deutschland sowohl damals als auch zur
Zeit der Informalisierung des 20. Jh. genau ihre Lösung.
Lösung
B&G
19. Jh.
Ab
den
1960er
Informalis.
Ende 19.Jh.
Formalisierung
Deutschland
Niederlande Deutschland Niederlande
Eltern
T
T
T V
T
T
Kind
Arbeitgeber
V
V
V
V
T
V
V
TV
Arbeitnehmer
Gast
V
V
Kellner
Abbildung 9: Die Lösungen der semantischen Konflikte und die Pronominale Wahl in
Deutschland und den Niederlanden am Ende des 19. Jh. und ab den 1960ern
In den Niederlanden kommt das T-Pronomen in allen drei Beziehungen ab den 60er
Jahren immer häufiger vor. Zwischen Gast und Kellner, aber auch -falls sie noch an der
traditionellen Ungleichheit festhalten- zwischen Eltern und Kind kann es durch
ungleiche pronominale Verwendung semantic conflicts geben.
Im vorherigen Kapitel wurde klar, dass während der Formalisierung das
Anredesystem und die pronominale Verwendung bis zum Ende des 19. Jh. in beiden
Ländern unterschiedlich zu betrachten war. Ab diesem Moment sind die
Anredesysteme, da sie beide eine deutliche Dichotomie zeigen, identisch. Durch den
Aufschwung des V-Pronomens in den Niederlanden gilt dies bis in die 60er Jahre zum
größten Teil auch für die Verwendung der T/V-Pronomen in den meisten
Gesprächsbeziehungen.
Ein wichtiger Unterschied zu der Theorie Browns und Gilmans ist die Periode
des Anfangs der solidarity semantic in Deutschland und den Niederlanden. Die 60er
Jahre sollte man, sicher in der heutigen Sichtweise, als Trennlinie der power semantic
und solidarity semantic betrachten. Dies bedeutet, dass die solidarity semantic im
Kontext dieser Arbeit erst nach der Veröffentlichung des Artikels Browns und Gilmans
stattfand. Der Trend zur solidarischen Verwendung der Pronomen entspricht in beiden
Ländern -inhaltlich- der solidarity semantic Browns und Gilmans. Ein wichtiger
Unterschied zwischen den Ländern ist, dass die pronominale Verwendung in den
Niederlanden eher implizit entschieden wird, da Solidarität in vielen Fällen die
68
Ausgangsposition der Pronominalwahl ist. Falls es keinen deutlichen Grund das VPronomen zu verwenden gibt, wird das T-Pronomen verwendet. Die Entscheidung ist
deswegen kaum wohl überlegt worden. In Deutschland hingegen handelt es sich gerade
um eine ganz bewusste, explizite Verwendung des spezifischen Pronomens. Nicht nur
anhand der traditionellen vertikalen Beziehung oder der gegenseitigen V-Beziehung
sondern auch anhand einer traditionellen geprägten Solidarität wie unter Mitgliedern
der politischen Parteien wird bewusst das geeignete Pronomen verwendet. Der
Unterschied zwischen den Ländern lässt sich einfach erklären. Die Informalisierung
und die dazugehörige gegenseitige Verwendung des T-Pronomens hat sich in den
letzten Jahrzehnten in den Niederlanden deutlich schneller als in Deutschland
entwickelt, wodurch die Verwendung des Pronomens lockerer und freier geworden ist.
Auf der Ebene der Verwendung muss man konstatieren, dass es verschiedene
Unterschiede zwischen den Ländern gibt, wodurch sich eine generelle Theorie
hinsichtlich einer solidarischen Verwendung der Anredepronomen schwierig in die
Praxis umsetzen lässt.
Die Umgangsformen haben sich in beiden Ländern insbesondere durch Zutun
der jüngeren Generation geändert. Diese Generation verabschiedete sich von der
bisherigen Machtüberlegenheit der älteren Generation. Elias redet von dem „Zerbrechen
all dieser Formalitäten, nicht allein im Verkehr der Generationen, sondern im Verkehr
der
Menschen
überhaupt.“132
Anlässlich
ihrer
Untersuchung
1957
unter
Austauschstudenten konstatieren Brown und Gilman eine ähnliche Tendenz.
„We believe this is the direction of current change because it summarizes what our informants
tell us about the pronoun usage of the “young people” as opposed to that of older people.” 133
Obwohl die häufigere T-Verwendung, auf jeden Fall in Deutschland und den
Niederlanden, erst seit den 60er Jahren merkbar stattgefunden hat, haben Brown und
Gilman dies anlässlich ihrer Untersuchung schon früher in Deutschland konstatiert. Der
Grund könnte sein, dass es sich in ihrer Untersuchung um eine homogene, und
deswegen nicht repräsentative, Gruppe gebildeter junger Männer handelt.
3.6 Schlussbemerkungen der solidarity semantic
Wie die pronominale Entwicklung in der Zukunft aussehen wird, ist fraglich.
Deutlich wurde, dass die Informalisierung sich in den Niederlanden bisher bedeutend
132
133
Vgl. Elias, Norbert. S. 165.
Brown, Roger und Gilman, Albert. S. 261.
69
schneller als in Deutschland durchgesetzt hat. Die Chance, dass durch weitergehende
Informalisierung die pronominale Dichotomie in beiden Sprachen verschwindet, ist
gering. Aus der heutigen Sicht gilt dies stärker für Deutschland. Was den semantischen
Ursprung betrifft kann man ein eventuell universales Pronomen nicht rücksichtslos mit
dem englischen „Äquivalent“ vergleichen, da es damals um die Ausdehnung des VPronomens ging. Es wäre auf jeden Fall sinnvoll und interessant zu forschen, ob und
auf welche Weise der Sprachkontakt mit dem Englischen die pronominale Verwendung
in Ländern mit einem pronominalen Unterschied beeinflusst.
Da die Machtverhältnisse im Zeitalter der Informalisierung in beiden Ländern
abnehmen, könnte man sich fragen, ob der Begriff „power“ bei dem V-Pronomen nicht
mittlerweile ungültig ist und nuanciert werden sollte. Obwohl der genaue Unterschied
zwischen den Begriffen Macht und Höflichkeit außerhalb des Bereichs dieser Arbeit
liegt, kann man hinsichtlich des V-Pronomens immer weniger von einer reinen
Machtbeziehung ausgehen. Wie festgestellt wurde, handelt es sich im solidarischen
Zeitraum an erster Stelle oft nicht mehr um die Macht, die der Angesprochene ausüben
kann, sondern immer häufiger um die Solidarität, die es mit ihm gibt. Das deutsche VPronomen umschreibt Spillner zum Beispiel „als Form des offiziellen Umgangs, der
persönlichen
Distanz,
der
förmlichen
Kommunikation,
des
offiziellen
gesellschaftlichen Verkehrs.“134 Diese Definition enthält keine Spuren von reiner
Macht. Für beide Länder, insbesondere für die Niederlande, könnte man das Pronomen
nuancierter als Distanz- oder Höflichkeitspronomen betrachten. Deswegen könnte man
aus der heutigen Sicht zur Zeit der Informalisierung hinsichtlich des Titels der Arbeit
Browns und Gilmans besser von „The Pronouns of Politeness and Solidarity“ sprechen.
In Verlängerung ihrer Arbeit sollte untersucht werden, wie sich die pronominale
Entwicklung seit den 60er Jahren in anderen Ländern entwickelt hat. Im Vergleich zu
Deutschland gehören, wie Dury behauptet, die Niederlande zum nordatlantischen
Gebiet, da die Verwendung des V-Pronomens eingeschränkt ist. Auch spricht Dury von
einer unterschiedlichen pronominalen Verwendung zwischen Nord- und Südeuropa.
Inwieweit ist das V-Pronomen in den verschiedenen Sprachen Europas noch anwesend
und in welchen Fällen wird es noch verwendet? Kurzum: Wie sieht die solidarity
semantic seit der Veröffentlichung von „The Pronouns of Power and Solidarity“
europaweit aus?
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Spillner, Bernd. S. 21.
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Schlussfolgerung
Dass die Entwicklung und Verwendung der T/V-Pronomen nicht für beide
untersuchten Sprachen gleichermaßen gültig ist, wie man anhand der Untersuchung
Browns und Gilmans erwarten würde, ist eingehend erörtert worden. Die wichtigsten
Konstatierungen hinsichtlich ihrer Theorie und die Ergebnisse der deutschen und
niederländischen Pronomen werden hier der Reihe nach durchgegangen.
In beiden untersuchten Sprachen gibt es seit der Entstehung der dichotomen
Anredesysteme bis ins 17. Jh. einen Bedeutungsunterschied zwischen dem T- und dem
V-Pronomen. Dies stimmt mit der Theorie der power semanic Browns und Gilmans
überein. Vom 17. Jh. bis ins 19. Jh. kennzeichnete sich die niederländische pronominale
Entwicklung durch das vorübergehende Verschwinden dieses Unterschieds. Im
Deutschen sind der Aufschwung und die Abschwächung der verschiedenen VPronomen kennzeichnend. Im letzten Fall erhält sich die T/V-Dichotomie zwar aufrecht,
aber beide Entwicklungen berücksichtigt die Theorie von Brown und Gilman nicht.
Gezeigt wurde, dass die gesellschaftlichen Geschehnisse, die die Macht- und
Solidaritätsverhältnisse zum Ausdruck bringen, in beiden Ländern unterschiedlich sind.
Die Bemerkung Browns und Gilmans, dass die Wirksamkeit der nicht-reziproken power
semantic von einem statischen, hierarchischen Staatsgefüge abhängt, erklärt, wenn die
soziologischen Faktoren berücksichtigt werden, warum ihre Theorie der power semantic
der deutschen pronominalen Entwicklung und Verwendung in dieser Periode gut
entsprechen würde, der niederländischen dagegen wegen des völligen Verschwindens
und Wiedereintritts des pronominalen Unterschieds bedeutend weniger.
Hinsichtlich der Rückkehr des V-Pronomens im Niederländischen und der
Reduzierung der verschiedenen V-Ebenen in Deutschland spielt der Einfluss des
Französischen eine wichtige Rolle. Da diese Sprache hinsichtlich der Entwicklung des
pronominalen Systems für „eine Reihe von Sprachen“ wichtig war, ist es umso
auffallender, dass dieser Aspekt der Entwicklung der europäischen Anredeformen in der
Untersuchung von Brown und Gilman nicht berücksichtigt wurde.
Seit dem Ende des 19. Jh. gab es in beiden Ländern ein pronominales T/VSystem, das sich wieder deutlich durch Dichotomie kennzeichnet. Die Verwendung der
Anredepronomen ähnelt sich relativ stark, ist aber nicht identisch: Beide Länder kennen
eine eigene Auslegung der Macht- und Solidaritätsverhältnisse. Während nach Brown
und Gilman die solidarity semantic im Laufe des 19. Jh. angefangen hat, ist die
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Gesellschaft und die pronominale Verwendung in Deutschland und den Niederlanden
jedoch immer noch weitgehend auf Machtunterschieden basiert. Die Trennungslinien
zwischen den zwei Perioden lag in beiden Ländern erst nach dem Zweiten Weltkrieg
und entspricht deswegen stärker den Perioden von Formalisierung und Informalisierung
nach Elias und Wouters.
In den Niederlanden sind bezüglich der pronominalen Verwendung die 1960er
als Wendepunkt zu betrachten. In allen beschriebenen Gesprächssituationen hat das VPronomen, zum Teil sehr, an Boden verloren. Gesellschaftliche Änderungen sind, auch
zur Zeit der Informalisierung, die treibende Kraft hinsichtlich eines sich ändernden
Macht-
und
Solidaritätsverhältnisses
und
der
dazugehörigen
pronominalen
Verwendung. Diese Tendenz gibt es seitdem auch in Deutschland, jedoch in einem
geringeren Maße, da die Machtverhältnisse und Höflichkeit stets noch eine größere
Rolle spielen. Die Zunahme des T-Pronomens hat erst nach der Veröffentlichung des
Artikels Browns und Gilmans stattgefunden und seitdem verschiebt sich die Bedeutung
des
V-Pronomens
öfter
von
einem
reinen
Machtpronomen
zu
einem
Höflichkeitspronomen.
Ihre Grundlage der Macht und Solidarität in „The Pronouns of Power and
Solidarity“ ist als einflussreich zu bezeichnen. Das Problem ist, dass die genauere
Auslegung der Entwicklung und Verwendung der Anredepronomen während der power
semantic und der solidarity semantic in beiden Ländern nicht immer (ausreichend)
anhand der Theorie Browns und Gilmans erklärt werden kann, da beide Aspekte oft zu
stark von ihrer allgemeinen Erklärungstheorie abweichen. Sogar die Erwähnung, dass
die Art der Gesellschaft mit der power semantic beziehungsweise solidarity semantic in
Verbindung steht, reicht nicht, um die pronominale Entwicklung und Verwendung zu
erklären. Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren und die dadurch möglichen starken
Abweichungen hinsichtlich dieser zwei Aspekte hätten in ihrem Werk deutlich mehr im
Vordergrund stehen müssen. Immerhin bestimmten und bestimmen gerade diese
Faktoren das Maß der Formalisierung beziehungsweise Informalisierung und dadurch
die spezifische Entwicklung und Verwendung dieses wichtigen soziolinguistischen
Phänomens in einem Land und seiner Sprache. Selbstverständlich gilt dies nicht nur für
die Pronomen der zwei untersuchten Sprachen. Deswegen muss man akzeptieren, dass
die Theorie Browns und Gilmans nur in groben Zügen auf einzelne Sprachen
anwendbar ist und sich selber genauer ein Bild davon erschaffen, wie sich die Pronomen
tatsächlich entwickelt haben. Genau dies gilt auch für die Verwendungsweise.
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