Zur Definition des Begriffs "Lebewesen".

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„Obgleich er uns sehr nahe geht,
ist der Begriff des Lebens niemals klar definiert worden,
weder in der Geschichte der Wissenschaften,
noch in der Geschichte der Philosophie“
(Pichot 1993, 5, übers. v. K. A.)
Zur Definition des Begriffs „Lebewesen“
Peter Singer, Grenzfälle und ein mentalistischer
Ansatz
Karim Akerma
I.
Hirnbezogene Todeskriterien:
Bequeme Fiktion oder Stein des Denkanstoßes?
II. Die Frage nach einer Definierbarkeit des Wortes „Definieren“.
Entdeckungen und Definitionen, Planeten und Lebewesen
III. Argumentationslogische Überlegenheit der mentalistischen
Definition des Lebensendes. Archimedischer Ausgangspunkt
IV. Körpertausch und monophysische Zwillinge (Dicephalie)
V. Ein Einwand: Essentiell sind wir Personen und hören dann auf
zu existieren, wenn wir aufhören, als Person zu existieren
VI. Essentiell sind wir psycho-physische Einheiten
VII. Der Versuch, „Leben“ zu definieren
VIII. Konsequenzen für unseren Begriffshaushalt
IX. Statt „Tote“ oder „Hirntote“: Die Körper
oder funktionierenden Organismen Verstorbener
X. Ein bloßes Spiel mit Worten? Benennungen und Handlungen
I. Hirnbezogene Todeskriterien:
Bequeme Fiktion oder Stein des Denkanstoßes?
Das sogenannte „Hirntod“-Kriterium ist ein Todeskriterium, an dem sich nicht nur die
Geister scheiden, sondern auch die Definitionen eminent folgeträchtiger – weil handlungsleitender – Begriffe wie „Lebensende“, „Lebensbeginn“ oder „Lebewesen“. Peter
Singer gehört zu den Philosophen, die sich zu diesem Problemkomplex nachhallend zu
Wort gemeldet haben. Ihm eilt der Ruf voraus, tradierte Vorstellungen, Einstellungen
und Ausdrucksweisen zu „Leben und Tod“ ad acta legen zu wollen. Nachfolgende
Ausführungen demonstrieren indes, dass diese Charakterisierung nur mit Blick auf
Karim Akerma
Singers Wertlehre zutrifft. Die seiner Bioethik implizite Ontologie des Lebendigen
hingegen – seine Einteilung der uns in der Welt begegnenden Entitäten nach unbelebt
und lebendig – bleibt überlieferten Vorstellungen verpflichtet und hält sich an Vorgaben der Alltagssprache. Neben der revisionären Wertlehre steht eine konservative
Ontologie.
In der so genannten „Hirntod“-Konstellation erkennt Singer eine Grenzsituation
des Lebens, in welcher der Patient zwar noch lebendig sei, das eigene Leben für den
Betreffenden jedoch keinen Wert mehr habe. In dieser Wertlosigkeit des eigenen
Lebens für den „Hirntoten“ selbst gründet Singers Plädoyer dafür, dass es moralisch
vertretbar sei, ihn zu töten und ihm Organe zu entnehmen, um diese anderen Patienten
zur Verfügung zu stellen, deren Leben wertvoll ist.
Eine Redeweise, der zufolge „Hirntote“ keine lebenden Menschen repräsentieren,
ist laut Singer nichts weiter als eine bequeme Fiktion, um an dringend benötigte Organe
zu gelangen, die andernfalls vergeudet würden. Bei einer Fiktion handelt es sich um
eine als falsch betrachtete wissenschaftliche Vorstellung, an der man aus praktischen
Gründen festhält. Laut Singer bedienen wir uns in der Transplantationsmedizin einer
Terminologie, die unseren Handlungen nicht entspricht, sondern sie kaschiert. Singer
spricht vom „Rückzug auf eine bequeme Fiktion, die ein offensichtlich lebendes Wesen
aus rechtlicher Sicht zu einem nicht lebenden macht.“ (Singer 1998, 109) 1 Jeder wisse
oder sehe doch – so Singer unisono mit anderen Kritikern des „Hirntod“-Kriteriums –,
dass „Hirntote“ lebende Menschen sind. Man tue jedoch so, als seien sie bereits tot,
weil man sich nicht getraut, das geltende Tötungsverbot zu unterspülen. Unter Rekurs
auf eine „Grenze der Empfindungsfähigkeit“ unternimmt Singer die moraltheoretische
Rechtfertigung dieses Schrittes: „Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig,
Freude oder Glück zu erfahren, dann gibt es nichts zu berücksichtigen.“ (Singer 1994,
85)
Als eine bequeme Fiktion gilt das „Hirntodkriterium“ Singer auch deshalb, weil
die industrialisierten Gesellschaften, in denen es gilt, es nicht ganz ernst nehmen.
Nähme man dieses Todeskriterium ernst, so müsste man Abschied nehmen von einer
tradierten biologischen oder organismischen Todesdefinition und eine Neudefinition
adoptieren. Da „Hirntote“ funktionierende Organismen sind, wäre das „Hirntod“Konzept nur dann schlüssig, wenn man diesem am Funktionieren des Gehirns
orientierten Todeskriterium eine bewusstseinsorientierte Todesdefinition an die Seite
stellte. Es sei jedoch nicht einzusehen, warum man „den irreversiblen Verlust jeder
1 Erläuternd: „Der Gedanke, dass jemand tot ist, wenn sein Gehirn tot ist, ist bestenfalls ziemlich
merkwürdig. Menschen sind nicht die einzigen Lebewesen auf der Welt. Alle Lebewesen sterben
einmal, und im allgemeinen können wir erkennen, wann sie lebendig und wann sie tot sind. Ist die
Unterscheidung zwischen Leben und Tod denn nicht so grundlegend, dass ein Mensch dann als tot
gelten sollte, wenn wir auch einen Hund, einen Papagei, eine Garnele, eine Auster, eine Eiche oder
einen Kohlkopf als tot bezeichnen würden? Doch was ist hier das gemeinsame Element?“ (Singer
1998, 26) Singers – philosophisch ohnmächtiger – Appell an die vermeintliche Evidenz der
Anschauung erinnert an denjenigen Wittgensteins, wenn dieser uns dazu auffordert, versuchsweise
einem Stein Empfindungen zuzuschreiben, um dann auszuführen: „Und nun schau auf eine zappelnde
Fliege, und sofort ist diese Schwierigkeit verschwunden und der Schmerz scheint hier angreifen zu
können, wo vorher alles gegen ihn, sozusagen glatt war.“ (Wittgenstein, 370)
2
Organismen u
Bewusstseinsfähigkeit als Kriterium für den Tod des Organismus“ (Singer 1998, 109)
auffassen sollte.
An der mit dem Wort „Hirntod“ bezeichneten Grenze glaubt Singer eine Position
diesseits des Lebens einnehmen zu können, die es uns gestattet, weiterhin von den
Segnungen der Transplantationsmedizin zu profitieren, ohne dies um den Preis einer
revisionären Ontologie tun zu müssen. Wie auch andere Kritiker des „Hirntod“Kriteriums, wendet er sich gegen eine dem „Hirntod“-Kriterium inhärente Neu- oder
Umdefinition des Todes – gegen ein Zu-Tode-Definieren oder Totreden.
Mit ihrer Einschätzung, wonach das „Hirntod“-Kriterium nur in Kombination mit
einer mentalistischen Definition des Lebensendes sinnvoll ist, haben Singer und andere
Kritiker durchaus recht: Da menschliche Organismen mit irreversiblem Hirnversagen
bei spezifischer intensivmedizinischer Versorgung – insbesondere künstlicher Beatmung – über Wochen bis Jahre hinweg als integrierte Ganze funktionieren können,
kommt man unter der Voraussetzung einer am funktionierenden Organismus orientierten Definition des Wortes „Lebewesen“ nicht umhin, künstlich beatmete Patienten
mit irreversiblem Hirnversagen als lebendig zu betrachten.
Um uns zu dem Geständnis zu ermuntern, dass in unseren Gesellschaften im
Zuge von Organtransplantationen Menschen zu fremdnützigen Zwecken getötet
werden, bietet Singer jene moraltheoretische Hilfestellung, für die er berüchtigt ist. Er
teilt uns mit, nicht jeder lebende Mensch sei von gleichem Wert und empfiehlt den
Abschied vom Prinzip der Heiligkeit oder Unantastbarkeit menschlichen Lebens:
„M. E. begannen die Schwierigkeiten mit der Hinwendung zum Hirntodkriterium.
[…] Es war von Anfang an unsolide. Probleme werden so gut wie nie per Neudefinition gelöst […]. Wir müssen von vorne beginnen […] und die intellektuelle Zwangsjacke der traditionellen Annahme ablegen, wonach jegliches menschliche Leben von
gleichem Wert ist.“ (Singer 1999, 297)
Von seinem organismischen Standpunkt aus liegt für Singer nahe:
„Statt solche Fiktionen anzuerkennen, sollten wir einsehen, dass die Tatsache, dass ein
Wesen menschlich und lebendig ist, uns als solche noch nichts darüber sagt, ob es
falsch ist, diesem Wesen das Leben zu nehmen.“ (Singer 1998, 109) 2
Singers Denken erweist sich als konsequent, indem er von seiner organismusorientierten Warte aus das Hirn-Todeskriterium verwirft. Folgerichtig deckt er eine Inkonsequenz auf, die noch deutlicher zutage tritt, wenn man sich die Lebensdefinition aus
einem Lehrbuch der Biologie vor Augen hält und sie neben das „Hirntod-Kriterium“
stellt: „Lebewesen sind diejenigen Naturkörper, die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren.“ (Czihak et al. 1990,
1) Sofern zutreffend ist, dass sogenannte Hirntote „Naturkörper“ sind, „die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren”, müssen sie nach Maßgabe der eben zitierten Definition des Wortes
2
Freilich ist es – bei genauem Betracht – nicht durchführbar, einem Lebewesen „das Leben“ zu
nehmen, da es mit seinem Tode irreversibel aufhört, als Entität zu existieren, der etwas genommen
worden sein könnte. Offenbar können einer jeglichen Entität nur solche Eigenschaften genommen
werden, nach deren Wegfall die betreffende Entität fortexistiert.
3
Karim Akerma
„Lebewesen“ als lebende Wesen angesehen werden. Wer solche Naturkörper im Zuge
von Organentnahmen zerstört, tötet sie, wenn die eben zitierte Definition gilt.
Zwischen biologischen Lebensdefinitionen einerseits und weltweit gesetzlich verankerten hirnbezogenen Todeskriterien andererseits klafft ein unvermittelter Hiatus.
Singer stellt uns vor die Alternative, entweder (bei organismischer Lebensdefinition) das „Hirntodkriterium“ zu verabschieden und zum traditionellen, am irreversiblen
Versagen von Herz und Kreislauf orientierten Kriterium für das Ende eines Lebens
zurückzukehren oder aber das „Hirntodkriterium“ beizubehalten und ihm eine
bewusstseinsorientierte Todesdefinition zuzuordnen.
Während Singer für die erste Alternative plädiert und die Möglichkeit einer
Begründbarkeit der mentalistischen Definition des Lebensendes verneint 3, werde ich
für die zweite Alternative argumentieren. Ich werde zu zeigen versuchen, dass die von
Singer und anderen Kritikern hirnorientierter Todeskriterien nicht weiter in Betracht
gezogene mentalistische Todesdefinition der organismischen Todesdefinition argumentationslogisch überlegen ist.
II. Die Frage nach einer Definierbarkeit des Wortes
„Definieren“. Entdeckungen und Definitionen,
Planeten und Lebewesen
Bevor dies in Angriff genommen werden kann, ist die Frage aufzuwerfen, was wir tun,
wenn wir ein Wort definieren. Damit steht die Frage nach einer Definition des Wortes
„definieren“ im Raum. Vielleicht können wir uns dahingehend einigen, dass wir, wenn
wir ein Wort definieren wollen, bemüht sind, die Extension und die Intension des
betreffenden Wortes zu bestimmen. Die Extension entspricht der Wortweite. Darunter
sind alle Dinge oder Vorgänge zu verstehen, auf die ein Wort korrekt verweist. Die
Intension eines Wortes bezieht sich auf die Eigenschaften, die eine Entität oder Vorgang aufweisen muss, soll ein bestimmtes Wort korrekt auf diese Entität oder diesen
Vorgang angewendet werden.
Aus aktuellem Anlass ist das Wort „Planet“ für eine weitergehende Erörterung des
Definierens gut geeignet. Im Altertum und bis in die Neuzeit hinein waren fünf Planeten oder Wandelsterne bekannt (Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn). Was ein Planet
ist, war offensichtlich: Der Blick mit bloßem Auge zum Himmel offenbarte es. Nach
der Erfindung des Fernrohrs machte Galilei Entdeckungen, die eine von Cusanus,
Kopernikus und Bruno theoretisch längst eingeleitete theoretische Revision des Weltbilds bestätigten (für Näheres vgl. Akerma 2002).
1930 wurde mit Pluto der vorerst letzte Planet entdeckt. Über Jahrzehnte hinweg
war die Auskunft, unser Sonnensystem enthalte neun Planeten, gültiges Schulwissen.
Im Jahr 2003 geriet dieses Schulwissen ins Wanken. Im Kuiper-Gürtel jenseits der
3 „Wenn sich auch keine tragfähige Grundlage finden lässt, Menschen für tot zu erklären, die das
Bewusstsein endgültig verloren haben oder niemals eines hatten, könnten wir doch in der Lage sein,
eine Rechtfertigung dafür zu finden, ihr Leben zu beenden.“ (Singer 1998, 60)
4
Organismen u
Plutobahn entdeckten Astronomen des Palomar-Observatoriums in Kalifornien einen
Himmelskörper, der mit 2400 km Durchmesser wenig größer ist als Pluto, aber 27 %
mehr Masse aufweist. Namensgeberin wurde Eris, die Göttin des Streits. Denn die
Entdeckung gab Anlass zur Debatte, ob es sich beim neuen Himmelskörper um einen
genuin neuen Planeten handele oder nicht. Es galt zu bedenken: Wenn der etwas
kleinere und weniger massehaltige Pluto ein Planet ist, so muss Eris erst recht einer
sein. Und umgekehrt: Gilt Eris nicht als Planet, kann Pluto erst recht kein Planet sein.
Um die Frage nach dem Planetenstatus von Pluto und Eris und etwaigen noch zu
entdeckenden anderen Himmelskörpern entscheiden zu können, benötigte man eine
Definition des Wortes „Planet“. Eine solche Definition stand jedoch nicht zur Verfügung, sondern musste von der International Astronomical Union zuallererst
formuliert werden:
„Auf ihrer Generalversammlung 2006 kamen die Mitglieder der IAU überein, Planet
zu definieren als einen Himmelskörper, der sich (a) auf einer Umlaufbahn um eine
Sonne befindet, (b) genügend Masse besitzt, um mittels seiner eigenen Schwerkraft
den Widerstand fester Körper überwinden zu können, so dass er die einem hydrostatischen Gleichgewicht entsprechende (annähernd runde) Form annimmt und (c) mittels seiner Anziehungskraft die nähere Umgebung seiner Umlaufbahn von kleineren
Himmelskörpern bereinigt hat.“ (IAU 2006, übers. v. K. A.)
Zentraler Topos der gefundenen Definition ist das Moment der Schwerkraft. Bei dieser
Intension ist das Wort „Planet“ so definiert, dass sich seine Extension – was unser
Sonnensystem angeht – auf acht Entitäten beläuft. Denn weder Pluto noch Eris
gehören zur Extension des Wortes „Planet“, wenn wir die von der IAU aufgestellte
intensionale Definition zugrundelegen.
Im Falle der Planeten führten Entdeckungen im 17. Jahrhundert zu einer Revision
unseres Weltbildes, und zu Beginn des 21. Jahrhundert erzwangen sie förmlich eine
Definition des Wortes „Planet“, auf die man bis dahin verzichtet hatte. Die Entdeckung
des Zwergplaneten Eris wirkte gleichsam als ein definitorisches Reagenz: Die Wissenschaft der Astronomie kam nicht länger umhin, das Wort „Planet“ zu definieren, was
zur Degradierung des Pluto führte.
Im Hinblick auf die Worte „Lebensende“, „Lebensbeginn“ sowie „Lebewesen“
und ihre Derivate verhält es sich ganz ähnlich. Von alters her glaubte man zu wissen –
da man es ja schließlich „sehen“ konnte –, ob man es mit einem lebenden Wesen zu
tun hatte oder nicht. Wie im Falle des Wortes „Planet“, ist es auch im Falle des Wortes
„Lebewesen“ eine Entdeckung, die einen starken Druck in Richtung auf die Bereitstellung einer Definition ausübt. Ort dieser Entdeckung war indes nicht der Himmel,
sondern die Intensivstation, und Mittel der Entdeckung nicht das Fernrohr, sondern
das Beatmungsgerät.
1. Künstlich beatmete Patienten mit irreversiblem Hirnversagen
als definitorisches Reagenz
Dringlich wurde die Frage nach einer Definition der Worte „Lebensende“, „Lebensbeginn“ und „Lebewesen“ als Konsequenz technischen Fortschritts. Dass man sie im
5
Karim Akerma
Kontext von Tod und Leben offengelassen hat, zeugt von einem Dilemma: Hält man
sich an eine Definition, der zufolge jeder funktionierende Organismus ein lebendes
Wesen ist, so muss man bei geltendem Tötungsverbot weite Bereiche der Transplantationsmedizin aufgeben. Ordnet man hirnbezogenen Todeskriterien eine mentalistische
Definition zu, so hat man philosophischen Implikationen ins Auge zu sehen, die man
offenbar nicht in Kauf nehmen will. Wie eine vergleichbare Situation zu bewältigen ist,
haben die Astronomen vorgeführt: Als jenseits der Umlaufbahn Plutos ein Himmelskörper entdeckt wurde, der größer ist als Pluto, war es an der Zeit, eine Definition für
das Wort „Planet“ aufzustellen. Sie fiel zuungunsten des Planetenstatus von Pluto aus.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts machte man auf Intensivstationen die Entdeckung, dass menschliche Organismen bei künstlicher Beatmung auch nach irreversiblem Hirnversagen funktionierend gehalten werden können.4 Spätestens mit der
Verbreitung maschineller Langzeitbeatmung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts
wäre es an der Zeit gewesen, eine Definition für das Ende und den Beginn eines
Lebens und damit für das Wort „Lebewesen“ aufzustellen (eine Definition der Worte
„Lebensende“ und „Lebensbeginn“ impliziert eine Definition von „Lebewesen“, sofern
beide Ausdrücke Ereignissen referieren, die die Dauer der Existenz eines Lebewesens
umgrenzen). Bekanntlich wurde diesem in medizintechnischen Neuerungen gründenden medizintheoretischen und philosophischen Desiderat nicht entsprochen.
III. Argumentationslogische Überlegenheit der
mentalistischen Definition des Lebensendes.
Archimedischer Ausgangspunkt
Nun mag zutreffen – was Kritiker hirnbezogener Todeskriterien verschiedentlich
herausgestellt haben –, dass zum gesetzlich verankerten „Hirntodkriterium“ nur eine
mentalistische Definition des Lebensendes passt: Was aber gibt uns die Gewissheit,
dass die mentalistische Definition der organismischen überlegen ist und es sich nicht
um eine „bequeme Fiktion“ im Sinne Singers handelt? Wie können wir dem Vorwurf
entgehen, wir rekurrierten allein deshalb auf die mentalistische Definition des Lebensendes, weil sie uns transplantationstechnisch zupass kommt? Um diesem Vorwurf zu
entkräften, müssten wir in der Lage sein, die Überlegenheit der mentalistischen über die
organismische Definition des Lebensendes außerhalb des Kontextes der Transplantationsmedizin auszuweisen.
Tatsächlich liegt ein Gutteil der geforderten Begründungsleistung bereits vor.
Gänzlich außerhalb des Bezugsrahmens der Transplantationsmedizin wurde sie auf
dem Philosophiegebiet der Theorie der Selbstidentität erbracht. Einer Hauptströmung
der Theorie der Selbstidentität zufolge sind wir essentiell keine funktionierenden Orga4
Übrigens hatte schon Bichat, aus seinen entsetzlichen Experimenten mit lebenden Tieren, die
Erkenntnis gewonnen: „Es ist also das Gehirn, das als erstes stirbt.“ (Bichat 304, übers. v. K. A.) Und:
„Das Gehirn nimmt keinen direkten Einfluss auf die organischen Funktionen.“ (Bichat 308, übers. v.
K. A.)
6
Organismen u
nismen, sondern „verkörperte Bewusstseine“. Was den Erörterungen im Rahmen der
Frage nach der Selbstidentität fehlt, ist indes der Brückenschlag zur Frage danach, wie
die Worte „Lebewesen“, „Lebensende“ und „Lebensbeginn“ zu definieren wären. 5
Ein Grund, sich auf die Frage nach der Vorzugswürdigkeit einer Todes- oder
Lebensdefinition gar nicht erst einzulassen, besteht insofern, als man gemeinhin
annimmt, bei Definitionen handle es sich um willkürliche und gewissermaßen freischwebende Festlegungen, um Konventionen oder Sprachspiele, für die sich kein
fixierbarer Ausgangspunkt finden lasse. Man halte sich jedoch Folgendes vor Augen: In
noch viel höherem Maße als heute die Erde als terra firma gelten kann, als nicht in
Frage stehender Ausgangspunkt für die Definition des Wortes „Planet“, kommen wir
selbst als der Archimedische Punkt für eine Definition des Wortes „Lebewesen“ sowie
seine Derivate und seine symmetrischen Korrelate „Lebensende“ und „Lebensbeginn“
in Frage. Ein unverrückbarer – Archimedischer – Ausgangspunkt für die Definition des
in einem Symmetrieverhältnis stehenden Wortpaares „Lebensende“ und „Lebensbeginn“ – und damit des Wortes „Lebewesen“ – lässt sich sehr wohl auffinden, sofern
folgende Aussage über jeden Zweifel erhaben scheint:
Zumindest wir selbst, die wir – in verständigungsorientierter Absicht – die Frage
danach aufwerfen, wie das Wort „Lebensende“ zu definieren sei, sind lebende Wesen. 6
Was aber sind „wir selbst“? Auf den ersten Blick mag es scheinen, als könnte mit der
Rede von uns selbst als den Definierenden eine Begrenzung auf kompetente oder
verständige Sprachakteure intendiert sein – nach dem Schema: „Wir selbst, das sind alle
mündigen oder verständigen Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft.“ Eine
weitergehende Analyse demonstriert indes, dass dem nicht so ist. Denn die Frage
danach, was wir selbst seien, muss präziser gefasst lauten: „Was ist ein jeder von uns
essentiell?“ Das heißt: Welche unserer Eigenschaften kann nicht eliminiert werden,
ohne dass wir im gleichen unwiderruflich aufhörten zu existieren? Wie näher zu erläutern sein wird, können wir im Sinne Cartesischer Gedankenexperimente und täglicher
Beobachtungen nicht bloß Arme und Beine verlieren oder unseren gesamten Körper,
sondern wir können im Gedankenexperiment selbst noch das Cartesische – wesentlich
5 Eine richtungsweisende Arbeit für die Frage nach unserer Selbstidentität ist Shoemakers „SelfKnowledge and Self-Identity“ (1963). Wichtige, eine mentalistische Definition des Begriffs
„Lebewesen“ vorbereitende Abhandlungen sind „Brain Death and Personal Identity“ von Green/
Wikler (1980) und vor allem Gervais’ „Redefining Death“ (1986).
6 In dieser Vorgehensweise, uns selbst als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage
heranzuziehen, wie das Wort „Lebewesen“ zu definieren sei, mag man eine Inversion der
Verfahrensweise von Jean-Baptiste Lamarck erkennen. Dieser schlägt in seiner „Philosophischen
Zoologie“ vor, die einfachsten bekannten Lebewesen als Ausgangspunkt für die Beantwortung der
Frage nach dem Wesen „des Lebens“ zu wählen. In den einfachsten Organismen, so Lamarck, werde
„das Leben“ selbst noch unverstellt durch Komplexität sichtbar (vgl. Lamarck, 54f.). Meine
Vorgehensweise könnte an die Bemühung von Hans Jonas erinnern, ausgehend vom Seinshöchsten –
von uns selbst – Aussagen über das Ganze des Seins zu gewinnen. Während Jonas indes einer
Metaphysik von oben das Wort redet, indem er die am Menschen angetroffene Verfolgung von Zwecken
auf das Seinsganze ausdehnt und ontische „Sprünge im Sein“ leugnet, registriere ich das Auftreten
mentaler Eigenschaften an Organismen mit N. Hartmann als kategoriales Novum, dem auf der Ebene
der Begrifflichkeit Rechnung zu tragen ist (für Näheres zu Jonas siehe Akerma 2000, 250-292, sowie
Akerma 2008).
7
Karim Akerma
geistdefinierte – Ego unterlaufen. Wir können das Sprachvermögen oder gar unseren
Verstand, unseren Geist verlieren und existieren doch weiter.
1. Der Archimedische Doppelpunkt
Sofern niemand ernsthaft daran zweifeln wird, dass wir selbst lebende Wesen sind, sind
wir selbst der Archimedische Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, was ein
lebendes Wesen ist. Eine zweite Einigung, die wir erzielen können, betrifft das Substantiv „Tod“ und das Adjektiv „tot“. Äußern wir, jemand sei „tot“, so wollen wir
damit offenbar aussagen, der Betreffende habe für immer aufgehört zu existieren.
Demnach ist der Tod das irreversible Ende der Existenz eines lebenden Wesens.
Akzeptieren wir, dass der Tod das irreversible Ende der Existenz eines zuvor lebenden
Wesens ist – und welche Bedeutung sollte dem Wort „Tod“ sonst zukommen? –, so
werden wir eine Aussage wie „Der Tote liegt nebenan“ oder „Der Tote wird begraben“
nicht mehr ohne Weiteres unterschreiben. Begreifen wir den Tod als das irreversible
Ende der Existenz eines lebenden Wesens, so wird deutlich, dass das Prädikat „tot“
keine Eigenschaft eines solchen Wesens sein kann (vgl. auch die Analyse von Rosenberg 1983, 24–28).Vielmehr ist mit dem Tod die Voraussetzung für die Zuschreibung
von Eigenschaften entfallen. Bestritte jemand, dass, wer tot ist, für immer zu existieren
aufgehört hat, so müsste die Aussage, jemand sei tot, beinhalten, dass der Betreffende
existiert. Damit aber verlöre jegliche Unterscheidung zwischen „lebendig“ und „tot“
ihren Sinn und unsere Kommunikation würde irrational.
Können wir uns auf diese Weise darauf einigen, dass wir selbst lebende Wesen
sind und damit der beste Ausgangspunkt für eine Definition des Wortes „Lebewesen“
und kommen wir ferner dahingehend überein, dass ein lebendes Wesen mit seinem Tod
für immer zu existieren aufgehört hat, so liegt uns für die Definition des Wortes
„Lebewesen“ nicht nur ein Archimedischer Ausgangspunkt vor, sondern sogar das, was
man einen Archimedischen Doppelpunkt nennen könnte:
IV. Körpertausch und monophysische Zwillinge
(Dicephalie)
Zur Begründung der Annahme, wonach wir essentiell nicht unser funktionierender
Organismus sind, sondern das an unser Gehirn gebundene Bewusstsein, können wir
einerseits ein weiteres Gedankenexperiment durchführen und uns zweitens ein tatsächlich vorkommendes menschliches Phänomen näher ansehen.
Beginnen wir mit dem tatsächlich vorkommenden Phänomen, dem Phänomen
monophysischer Zwillinge. Hierbei handelt es sich nicht etwa um an einer Körperhälfte, an den Köpfen oder an einer sonstigen Körperstelle zusammengewachsene
Zwillinge. Vielmehr hat die Trennung der Zygote in eineiige Zwillinge vor dem 16. Tag
nur rudimentär stattgefunden. Abgesehen von dem Umstand, dass auf den Schultern
zwei Köpfe sitzen, haben wir im Falle der in den USA lebenden Hensel-Zwillinge,
Abigail und Brittany, äußerlich einen normal ausgebildeten Menschen vor uns. Bei
näherem Betracht stellt sich die Frage: Ist es ein Mensch, der zwei Köpfe hat, oder
8
Organismen u
haben wir es mit zwei Menschen zu tun, die sich einen Körper teilen? Plädierte jemand
dafür, nur einen Menschen mit zwei Köpfen vor sich zu haben, so könnte jeder der
beiden Zwillinge zu einer Rede mit ganz unterschiedlichen Argumenten ansetzen, um
dies zu bestreiten. Bereits hieraus erhellt, dass wir es mit zwei Personen zu tun haben,
die sich einen Organismus teilen.
Zwar verfügt jeder Zwilling über einen Magen und über ein Herz. Dafür, dass es
sich gleichwohl nicht etwa nur um zwei außergewöhnlich intensiv verschmolzene
Siamesische Zwillinge handelt, spricht jedoch zweierlei: Zum einen die organische
Konstellation, dass drei gemeinsame Lungenflügel, nur ein gemeinsamer Blutkreislauf,
ein Verdauungstrakt sowie eine Leber gegeben sind. 7 Vor allem aber der Umstand, dass
Abigail und Brittanny die Koordination des Bewegungsapparates ohne jedesmalige
verbale Abstimmung auf bislang unerklärliche Weise gelingt. Insbesondere dieser
Umstand, dass beide sich wie ein Organismus bewegen, ihre Schuhe schnüren, Sport
treiben oder Rad fahren, spricht dafür, dass wir es mit einem Organismus zu tun haben,
der gleichsam das Werkzeug zweier Seelen ist.
Dem Phänomen monophysischer Zwillinge können wir entnehmen, dass wir nicht
mit unserem Organismus identisch sind, dass wir essentiell keine funktionierenden
Organismen sind: Denn wer im Sinne der organismischen Definition des Wortes
„Lebewesen“ der Auffassung ist, ein jeder von uns sei mit seinem Organismus identisch, der müsste auch über jeden der beiden Hensel-Zwillinge befinden, sie seien mit
ihrem einen Organismus identisch und nur ein lebender Mensch (umgekehrt gilt:
Gehen wir davon aus, dass die Zwillinge lebende Menschen sind und keine grundsätzlich anderen Wesen als wir „Normalmenschen“, so muss eine Bestimmung dessen, was
sie essentiell sind, auch für uns gelten). Wer nun aber meint, Person Abigail sei mit dem
einen Hensel-Organismus identisch und Person Brittanny sei ebenfalls mit dem einen
Hensel-Organismus identisch, der sieht sich wegen der Transitivität der logischen Relation der Identität ad absurdum geführt: Ist Abigail mit Organismus O identisch und ist
auch Brittanny mit Organismus O identisch, so müssten Abigail und Brittanny – eben
7 McMahan (2002) demonstriert anhand der Hensel-Zwillinge, dass wir essentiell verkörperte
Bewusstseine sind, nicht hingegen funktionierende Organismen (wobei er es versäumt, entweder für
die organismische oder die mentalistische Definition von „Lebewesen“ zu argumentieren und
stattdessen bald auf die eine, bald auf die andere rekurriert). In seiner Verteidigung der Auffassung,
wonach wir essentiell Organismen sind, bringt Liao gegen McMahan vor, es handle sich um zwei
Organismen, da jeder der Hensel-Zwillinge einen eigenen Magen, Herz und Hirnstamm aufweist (vgl.
Liao 2006). Dieser Umstand wird allerdings – zu Ungunsten der organismischen Auffassung der
Selbstidentität – durch das Vorliegen nur eines, gemeinsamen, Verdauungstraktes und Blutkreislaufs
mehr als kompensiert, wenn man bedenkt, dass ein Kreislauf für das Funktionieren eines Organismus
essentieller ist als Magen, Herz und Hirnstamm. Letztere drei können intensivmedizinisch ersetzt
werden, ersterer nicht. Legt man gar die Definition des Leibniz-Gegners F. Hoffmann (1660–1742)
zugrunde, so währt ein Leben so lange, wie die für die Integrität eines Organismus konstitutiven
Flüssigkeiten – zumal herzbewegtes Blut – umlaufen (für Näheres vgl. Pichot, 502–507). Liaos
Berufung etwa auf die zwei Mägen bei den Hensel-Zwillingen ist alles andere als ein systematisch
tragendes Argument: Am 27. August 2008 wurden in Bangladesch monophysische Zwillinge mit nur
einem gemeinsamen Magen geboren; sie starben zwei Tage nach der Geburt an Fieber und
Atemproblemen (vgl.: http://www.sueddeutsche.de/panorama/22/307970/text/, eingesehen am 30.
08. 2008).
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Karim Akerma
wegen der Transitivität der logischen Relation der Identität – miteinander identisch sein
(vgl. McMahan 2002, 35). Was ein absurder Gedanke ist, wenn wir uns nämlich einmal
vorstellen wollen, jede von beiden habe einen Lieblingsautor. Abigail lese ihren Lieblingsautor Thomas Mann, während Brittanny ihren Lieblingsschriftsteller Mark Twain
lese.
In Mark Twains Erzählung „Those Extraordinary Twins“, in deren Zentrum die
monophysisch lebenden Zwillinge Angelo und Luigi stehen, finden sich scharfsinnige
Analysen zur Daseinsweise eines Dicephalus, die dokumentieren, dass keiner von
beiden Zwillingen mit seinem Organismus identisch ist. Während der Methodist
Angelo keinen Tropfen Alkohol anrührt, trinkt Luigi gern ein paar Gläser Whisky, weil
dies seine Nerven stärkt und ihm einen klaren Geist verschafft. Allerdings trübt der
Alkohol, den Luigi sich einverleibt, das Bewusstsein von Angelo. Dies macht seine
Chancen bei der Antialkoholikerin Rowena zunichte. Auf ihre Vorwürfe hin verteidigt
sich Angelo mit den Worten, nicht er würde trinken, sondern Luigi. Rowenas gleichsam
„monophysische“ Antwort lautet: „Aber Du wirst betrunken, und das ist noch viel
schlimmer.“ (Twain 1998, 207)
Während der eine der beiden Hensel-Zwillinge Mark Twain lesen mag, könnte die
Zwillingsschwester Thomas Mann lesen. Mann ist ein Literat mit philosophischen
Qualitäten und ein Pionier des Gedankenexperiments des Körpertauschs. 8 In seiner
faszinierenden Erzählung „Die vertauschten Köpfe. Eine indische Legende“ geht er
vor dem Hintergrund des hinduistischen Ritus der Selbstenthauptung – bei anschließendem Körpertausch unter der Schirmherrschaft der Göttin Kali – der Frage nach, ob
wir mit unserem Körper oder mit unserem Bewusstsein identisch sind. Würde Abigail
Hensel diese Novelle lesen, so erführe auch sie – ähnlich wie ihre Zwillingsschwester
beim Lesen von Mark Twain –, dass sie nicht mit dem gemeinsamen Organismus identisch ist, sondern mit den, wie Thomas Mann sie nennt, „Ich- und Meingefühle(n)“
(Mann 1986, 918).9
V. Ein Einwand: Essentiell sind wir Personen
und hören dann auf zu existieren,
wenn wir aufhören, als Person zu existieren
Gegen die hier vertretene Ansicht, wonach wir essentiell das an unser Gehirn gebundene Bewusstsein sind, lassen sich selbstverständlich Einwände vorbringen. So könnte
jemand die Auffassung vertreten, wir hörten nicht erst dann auf für immer zu existieren, wenn unser Gehirn irreversibel aufhört, mentale Eigenschaften aufzuweisen,
sondern bereits dann, wenn unser Gehirn für immer aufhört, personales Bewusstsein
zu unterstützen. Unlängst äußerte Inge Jens, die Frau des schwer an Alzheimer
8 Bereits Bichat experimentiert mit dem Gedanken, einen Menschen aus den Sinnesorganen und
dem Hirn eines Greises und der Muskulatur eines Jugendlichen zusammenzusetzen (vgl. Bichat 1994,
203).
9 Da Mann die Selbstidentität an die Ichgefühle bindet, hätte er besser daran getan, seiner
Erzählung den – freilich weniger spektakulären – Titel „Die vertauschten Körper“ zu geben.
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Organismen u
erkrankten Rhetorikers Walter Jens: „Ich bin jemand, der seinen Partner verloren hat.
Den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr.“ (Jens 2008) In der Fluchtlinie der
Ausführungen von Inge Jens liegt eine Sichtweise, wonach Walter Jens mit dem Verlust
personaler Eigenschaften wie Vergangenheits- und Zukunftsbewusstsein zu existieren
aufhörte. Ist eine solche Auffassung plausibel? Wollen wir diese Frage aufrichtig beantworten, so müssen wir uns selbst mit in die Frage hineinstellen 10; wir sind gehalten, zu
versuchen, uns in einem Gedankenexperiment selbst an die Stelle von Schwerstdementen zu setzen. Ein solches Gedankenexperiment sieht folgendermaßen aus: Man
eröffnet mir, ich werde binnen eines Jahres eine derart gravierende Erkrankung meines
Gehirns durchmachen, dass ich nach Ablauf des Jahres niemanden wiedererkennen
werde, nicht länger wissen werde, wer ich bin und den Verstand soweit verloren haben
werde, dass ich keinen klaren Gedanken mehr festhalten, geschweige denn sprachlich
äußern kann. Gleichwohl werde ich – sofern ich es bin, der überlebt – ein hörender,
sehender, schmeckender, empfindender, kurz ein erlebender Mensch sein. Zudem
werde ich – oder wer immer nach Jahresfrist existiert – unausweichlich mehrfach am
Tage unerträgliche Schmerzen leiden, die durch Zersetzungsprozesse meines Gehirns
ausgelöst werden. Meine Lebenszeitprognose belaufe sich auf mindestens 15 Jahre.
Zwar nicht die vollständige Demenz, wohl aber die Auslösung der Schmerzen, so versichern mir meine Ärzte, könnte ich dadurch unterbinden, dass ich von Stund an über
den Zeitraum einiger Monate ein Medikament einnehme, welches mir täglich für die
Dauer mehrerer Stunden mäßige Schmerzen bereiten wird, vergleichbar denen eines
mittelschweren Sonnenbrands.
Welche Entscheidung soll ich treffen, wenn ich – mit egoistischer Grundeinstellung – rational überlege? Werde ich für die kommenden Monate erträgliche, wenngleich unangenehme Schmerzen in Kauf nehmen, um die unerträglichen Schmerzen zu
unterbinden, unter denen ich (sofern ich es bin) bei Nichteinnahme des Medikaments
unweigerlich leiden würde? Oder werde ich die halbwegs erträglichen Schmerzen
vermeiden, indem ich das Medikament nicht einnehme, weil ich – selbstbezogen –
meine, dass bei vollständiger Demenz nicht ich es bin, der da existieren wird, sondern
ein anderes, subpersonales, Wesen, welches unerträgliche Schmerzen leiden wird?
Bin ich der Auffassung, dass ich es bin, der da als momentanistisch erlebendes
subpersonales Wesen fortexistieren wird, so werde ich die halbwegs erträglichen
Schmerzen in den kommenden Monaten auf mich nehmen, um mir die unerträglichen
Schmerzen für die kommenden Jahre zu ersparen, obgleich ich heute weiß, dass ich
bald nicht mehr wissen werde, wer ich bin und dass ich es mir selbst zu verdanken
habe, keine unerträglichen Schmerzen zu leiden. Wie soll ich mich entscheiden? Vor die
Wahl gestellt, würde ich und würden vermutlich die Meisten das Medikament einnehmen. Wo es um die Vermeidbarkeit großer zukünftiger Schmerzen geht 11, scheinen wir
10 Laut Heidegger liegt metaphysisches Denken dann vor, wenn wir, die Fragenden, uns mit in
die Frage hineinstellen und in Frage stellen (vgl. Heidegger 2004, 13). Somit erfüllt zumal der mit der
Frage der Selbstidentität befasste Zweig analytischer Philosophie ein Heideggersches MetaphysikKriterium.
11 Der allgemeine Typus dieses Gedankenexperiments scheint auf Unger zurückzugehen (vgl.
Unger 1990, 27–34).
11
Karim Akerma
durchaus der Auffassung zu sein, dass wir auch als postpersonale Wesen fortexistieren
können, dass unsere Existenz also nicht an unseren geistigen Fähigkeiten hängt. Unsere
Existenz umgreift auch Phasen prä- und postpersonalen Bewusstseins. Personalität
erweist sich als Phasensortal.
VI. Essentiell sind wir psycho-physische Einheiten
Die Auffassung, wonach wir essentiell zerebral realisierte Bewusstseine sind, bedarf
einer Verallgemeinerung: Menschen und diejenigen Tiere von denen man annimmt,
dass ihnen Bewusstsein zukommt, sind zerebral realisierte Bewusstseine. Auf der Erde
oder anderswo im Weltall könnten jedoch Wesen mit mentalen Eigenschaften existieren, die nicht von Gehirnen realisiert werden. Von daher empfiehlt sich eine Verallgemeinerung, der zufolge lebende Wesen als psycho-physische Einheiten zu konzipieren
sind. Hat eine psycho-physische Einheit mit dem irreversiblen Versagen der physischen
Komponente (die nicht notwendigerweise ein Gehirn sein muss) unwiderruflich zu
existieren aufgehört, so hat das betreffende Lebewesen für immer zu existieren aufgehört. Was wir alltagssprachlich als den Tod des betreffenden Wesens bezeichnen.
Hierin gründet, zumindest was uns Menschen angeht, die große Berechtigung hirnbezogener Todeskriterien, die so lange nicht in ein schlüssiges Todeskonzept zu
integrieren sind, wie man es unterlässt, ihnen eine mentalistische Definition an die Seite
zu stellen.
Trifft zu, dass wir selbst lebende Wesen sind und dass die Grenzen unserer Existenz von der erstmaligen bis zur letztmaligen Realisierung von Bewusstsein durch unser
Gehirn währen, so sind wir gehalten, all jene Entitäten, die essentiell so verfasst sind
wie wir, ebenfalls als lebende Wesen anzusehen. Extension und Intension des Wortes
„Lebewesen“ wären somit bestimmt. Das Wort „Lebewesen“ und die Worte, die für
jene Ereignisse stehen, die die Grenzen der Existenz eines Lebewesens angeben –
„Lebensende“ und „Lebensbeginn“ –, scheinen definiert:
Ein Lebewesen ist eine psycho-physische Einheit. Ein Leben währt so lange, wie
einem bestimmten und auf spezifische Weise organisierten materiellen Substrat mentale
Eigenschaften aufruhen.
Die mentalistische Definition, vor der wir stehen, fügt sich nahtlos zum etablierten
hirnorientierten Todeskriterium. Peter Singer, der mit dem Vorwurf ausgezogen war,
hirnbezogene Todeskriterien seien wenig mehr als eine bequeme Fiktion, hat es sich
selbst zu bequem gemacht: Statt in einer philosophischen Untersuchung zu ermitteln,
was wir essentiell sind, glaubt er, sich an die Evidenzen der Anschauung und an die
Alltagssprache halten zu können, sofern diese jeden funktionierenden Organismus als
ein lebendes Wesen vorstellen.
Verweilen wir kurz bei einer weiteren für unseren Kontext bedeutsamen alltagssprachlichen Wendung:
12
Organismen u
VII. Der Versuch, „Leben“ zu definieren
Bei rechtem Licht betrachtet, ist die allerorten begegnende Frage, wie „Leben“ zu
definieren sei, bereits durch den Charakter der Frage selbst einer schlüssigen Beantwortbarkeit entzogen. Zu einem Gutteil ist es unser alltäglicher Umgang mit dem Wort
„Leben“, sind es die Konnotationen des Wortes „Leben“ sowie sein fehlendes reales
Denotat, die Definitionsversuchen im Wege stehen. Wenn Erwin Schrödinger fragt:
„Was ist Leben?“, oder wenn die Frage aufgeworfen wird: „Gibt es Leben auf anderen
Planeten“, so wird das Gegebensein von „Leben“ im Sinne einer homogenen, materiellen oder energetischen Substanz (man denke an Wasser, Wärme, Schwerkraft oder
Elektrizität) unterstellt.12 Linguistisch gesehen wird das Nomen „Leben“ dergestalt als
Massennomen – genauer: als so genanntes Stoffnomen – gebraucht. Berücksichtigen
wir, dass das Wort „Leben“ sowohl als Massennomen wie auch als Individuativum
(Zählwort) fungieren kann und stimmen wir dem zu, dass uns in der Welt stets nur
distinkte lebende Wesen – Lebewesen – begegnen13, so wird schnell nachvollziehbar,
auf welche Weise wir durch unseren alltäglichen Sprachgebrauch in die Irre geleitet
werden können: Gebrauchen wir „Leben“ nicht als Individuativum (wie etwa im Satz
„Der Verlust zahlreicher Menschenleben ist zu beklagen“), sondern als Massennomen,
so stellen wir uns selbst vor unlösbare Probleme. Der Umstand, dass „das Leben“ sich
hartnäckig allen Definitionsversuchen zu entziehen scheint, dürfte nicht zuletzt auch
etwas damit zu tun haben, dass man versucht, ein Denotat für „Leben“ im Sinne eines
Stoffnomens ausfindig zu machen, statt – wie hier vorgeschlagen – die Frage aufzuwerfen, was ein lebendes Wesen essentiell ist und uns selbst als Archimedischen Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage vorauszusetzen.
VIII. Konsequenzen für unseren Begriffshaushalt
Sollten die hier vorgestellten sprachanalytisch-ontologischen Überlegungen gegen kritische Einwände Bestand haben, so wäre das Problem der „Lebens“-Definition durch
seine Reformulierung einer Lösung nähergebracht. Davon abgesehen beinhalten obige
Ausführungen eine Reihe von Konsequenzen für unseren Begriffshaushalt. Einige
wichtige begriffliche Implikationen zur Sprache zu bringen, macht den Rest dieses
Beitrags aus.
1. Der Tod als irreversible Nichtexistenz. Entweder-Oder der Existenz
Wenn wir über den Tod reden, scheint es manchmal, als sei die Sprache verhext. Dem
können wir entgehen, wenn wir uns dahingehend einigen, dass der Tod eines zuvor
lebenden Wesens soviel bedeutet wie das irreversible Ende der Existenz dieses Lebe12
In diesem Sinne spricht Portmann vom „Quantum lebender Substanz, welches ein Ei
ausmacht“ (Portmann, 205), und er führt aus: „Ohne Gehirn kann man zwar das Raupengewebe noch
eine beträchtliche Zeit lebend halten, doch erfolgt keine Metamorphose.“ (Portmann 1998, 207)
13 Demnach begegnet uns auch kein „nacktes Leben“ im Sinne Agambens (vgl. Akerma 2007).
13
Karim Akerma
wesens. Der um das Adjektiv „tot“ und um das Substantiv „der Tote“ gelagerte Wortgebrauch hingegen lädt zu diffuser Semantik ein. Sind wir um Präzision bemüht, so
werden Eingriffe in unseren Wortgebrauch dort unabdingbar, wo wir bislang nach dem
Ableben eines Menschen vom „Toten“ redeten und damit unwillkürlich eine QuasiPräsens des Verstorbenen unterstellten. Der Verstorbene überdauert in unserer Sprache
als grammatisches Subjekt, als „der Tote“, ohne doch als reales Subjekt fortzuexistieren.
Allgemein gesprochen, sollten wir in allen Kontexten, in denen wir um Präzision
bemüht sind, berücksichtigen, dass die Aussage „X ist tot“ ein unpräziser Ausdruck ist
für die Aussage „X hat irreversibel aufgehört zu existieren“. Denn „tot zu sein“ ist eben
keine Eigenschaft von X, weil wir doch über X aussagen wollen, dass er nicht mehr da
ist.
2. Organismen und Lebewesen
Trifft zu, dass nur psycho-physische Einheiten lebende Wesen sind, so gehören all jene
Organismen, denen wir keine mentalen Eigenschaften zuschreiben, nicht zur Extension
des Wortes Lebewesen. Mit dieser Aussage liegt bereits vor, was ich im Sinne der von
mir verfochtenen revisionären Ontologie als interne Differenzierung für unseren
Begriffshaushalt vorschlage: Wir können unterscheiden zwischen funktionierenden
Organismen ohne mentale Eigenschaften einerseits und Organismen mit mentalen
Eigenschaften andererseits. Allein für letztere sollten wir den Ausdruck „Lebewesen“
reservieren. Differenzieren wir in der vorgeschlagenen Weise, so werden allein Lebewesen getötet. Im Hinblick auf Organismen wäre von ihrer Zerstörung zu reden.
3. Der Übergang vom Organismus zum Lebewesen
Ein Lebewesen ist eine Entität, deren Existenz von der Entstehung einer psycho-physischen Einheit bis zum Ende dieser psycho-physischen Einheit währt. Wobei alle uns
bekannten psycho-physischen Einheiten Organismen mit mentalen Eigenschaften sind.
Betrachten wir nun die Grenzen eines Lebens, wie sie durch die Worte „Lebensbeginn“
und „Lebensende“ umrissen sind, so können wir den Beginn eines Lebens als den
Übergang vom Organismus zum Lebewesen konzipieren. In allen uns bekannten Fällen
beginnt ein neues Leben demnach immer dann, wenn ein Organismus erstmals mentale
Eigenschaften aufweist.
Freilich könnte es als Lebewesen zu bezeichnende Entitäten geben, die nicht auf
dem Wege eines Übergangs vom Organismus zum Lebewesen zu existieren beginnen.
Anderswo im Weltall mögen psycho-physische Einheiten vorkommen, deren physische
Komponente kein Organismus ist. Der hier angedeutete Gedankengang birgt einen
simplen, wenngleich erhellenden „Lebens-Definitions-Test“: Würden wir, vor die Wahl
gestellt, eher ein elektronisches System mit mentalen Eigenschaften (dies können auch
personale Eigenschaften sein) als ein lebendes Wesen ansehen oder einen bewusstseinslosen – pflanzlichen, tierischen oder menschlichen – funktionierenden Organismus?
14
Organismen u
4. Frühembryonen
Als mein wenige Tage alter Organismus existierte, existierte ich noch nicht, wenn
zutrifft, dass mein wenige Tage alter embryonaler Organismus bewusstseinslos war.
Denn essentiell bin ich eine psycho-physische Einheit. Gehen wir davon aus, dass ein
drei Wochen alter embryonaler Organismus keine mentalen Eigenschaften aufweist, so
ist er bei mentalistischer Definition des Wortes „Lebewesen“ kein lebendes Wesen und
wird folglich nicht getötet, wenn man das Ende seiner Existenz bewirkt. Vor diesem
Hintergrund ist die Debatte um eine Tötung von Frühembryonen zwecks Gewinnung
embryonaler Stammzellen fehlgeleitet. Statt von der Tötung frühembryonaler Organismen müsste von ihrer Zerstörung die Rede sein und ethisch in Frage gestellt werden.
5. Pflanzen und Patienten mit apallischem Syndrom
Wer der Auffassung ist, dass pflanzliche Organismen keine mentalen Eigenschaften
aufweisen, wird sie im Lichte der hier vorgestellten Überlegungen schwerlich als
lebende Wesen ansehen können.14 Bei unterstellter irreversibler Bewusstseinslosigkeit
gilt dies auch für Patienten mit apallischem Syndrom. Allerdings ist fraglich, ob wir diagnostisch hinreichend klar differenzieren können zwischen Fällen mit irreversiblem
Erlöschen des Bewusstseins und Fällen, die seit 2002 mit dem Ausdruck „Minimal
conscious state“ (MCS) charakterisiert werden (vgl. dazu Marckmann/ Synofzik 2005).
6. Intermittierende Nichtexistenz
Die Behauptung, jeder von uns sei essentiell ein Bewusstsein, welches einem in spezifischer Weise funktionierenden materiellen Substrat – unserem Gehirn – aufruht,
evoziert die kritische Rückfrage, ob man dann nicht sagen müsste, jemand sei vorübergehend tot, wenn sein Gehirn vorübergehend keinerlei Bewusstsein realisiert. Manche
Neurologen halten es in der Tat für möglich, dass unser Gehirn im Tiefschlaf keinerlei
Bewusstsein unterstützt. Müssen wir deshalb sagen, wir seien jede Nacht phasenweise
tot? Halten wir fest: „Der Tod“ ist das irreversible Ende unserer Existenz, und „tot zu
sein“ ist nicht etwa eine Eigenschaft, die einem realen Subjekt zukäme, sondern Ausdruck dafür, dass das Subjekt, dem man Eigenschaften zuschreiben könnte, nicht länger
existiert. Sollte zutreffen, dass unsere Gehirne für die Dauer einer Tiefschlafphase oder
einer tiefen Barbituratnarkose keinerlei Bewusstsein realisieren, so können wir dem den
14 Wiewohl Pflanzen intuitiv zumeist als lebende Wesen wahrgenommen werden, regt sich,
interessanterweise, zugleich aus einer Intuition gespeister Widerstand, sobald vom Tod von Pflanzen
die Rede ist, etwa wenn es heißt: „Der letztes Jahr vom Frost getötete Wein […].“ (Woolf 2005, 236.
übers. v. K. A.) Dem korreliert eine Beobachtung Plessners, wonach wir Pflanzen, anders als Tieren,
kaum jemals ein Moment des Komischen abgewinnen (Vgl. Plessner 2003, 296). Als Ausnahme
möchte ich den Flaschenbaum anführen. Verallgemeinernd darf man sagen, dass unsere Mittel zur
Verlebendigung bewusstseinslos wirkender Pflanzen begrenzt sind, ihnen fehlen, um Prägungen
Plessners aufzugreifen, eine „erlebte Grenzfläche gegen die Umwelt“ und der „Leib als
Ausdrucksfläche“ (ebd. 249).
15
Karim Akerma
Ausdruck verleihen, dass wir für diese Zeitphasen vorübergehend nicht existieren.15
Entsprechend wären in der Intensivmedizin als „Wiederbelebung“ verstandene Vorgänge als Abwendung irreversibler Bewusstlosigkeit oder Umkehr intermittierender
Nichtexistenz zu fassen.
IX. Statt „Tote“ oder „Hirntote“: Die Körper oder
funktionierenden Organismen Verstorbener
Im Sinne der mentalistischen Definition beginnt ein Leben in dem Moment, da ein
bestimmtes materielles Substrat erstmals mentale Eigenschaften aufweist. Wie steht es
um das Ende eines Lebens? Offenbar kommen drei Übergänge in Frage. Erstens kann
ein Leben auf die Weise enden, dass das materielle Substrat gänzlich zerstört wird, ohne
dass der Verstorbene einen Körper hinterließe (man denke an Explosionen oder
Brände16); zweitens kann der Verstorbene einen Leichnam hinterlassen und drittens
einen irreversibel bewusstseinslosen funktionierenden Organismus.
1. Leichen (nicht funktionierende Organismen oder Körper
Verstorbener) und die Frage, wer „tot ist“
Wenn wir voraussetzen, dass ich lebe und essentiell eine psycho-physische Einheit bin,
dass ich sterbe und danach „tot bin“, und wenn „tot zu sein“ bedeutet, dass ich – als
zuvor lebendes Wesen – irreversibel aufgehört habe zu existieren, so verbleibt nach
meinem Tode kein toter Körper. Tot (irreversibel inexistent) „bin“ ich – eine
bestimmte psycho-physische Einheit –, nicht mein fortexistierender Leichnam.
Dies leuchtet vielleicht am ehesten dann ein, wenn wir – wie oben angedeutet – an
jemanden denken, der in einer Explosion oder in einem Feuer ums Leben gekommen
ist: In solch einem Fall gibt es keinen materiellen „Toten“ im Sinne herkömmlicher
Ausdrucksweise. Gleichwohl gilt der Betreffende – auch bei herkömmlicher Ausdrucksweise – als tot. Gestehen wir in diesem Fall zu, dass jemand „tot ist“, und haben
wir in diesem Fall keine Schwierigkeiten damit, vom „Toten“ zu reden, ohne dass ein
toter Körper hinterlassen worden wäre, so sollten wir keine Probleme damit haben
einzusehen, dass nach dem Ableben grundsätzlich kein realer Toter verbleibt. „Tot“ ist
demnach nicht mein Körper, der Tote ist nicht mein Leichnam (wenn ein solcher
vorliegt), sondern ich „bin“ es, der ich für immer zu existieren aufgehört habe. Folglich
scheint die Rede von toten Körpern unzutreffend. Im Lichte dieser Überlegung wird
eine Präzisierung unseres Begriffshaushalts dahingehend erforderlich, dass wir in
Leichen die Körper von Verstorbenen erkennen. Eine Leiche ist nicht „der Tote“. Sie
15 Obgleich bereits von David Hume ausgesprochen, lassen auch mentalistisch orientierte Theoretiker der Selbstidentität diesem Gedanken nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen.
Hume: „Mit Fug und Recht lässt sich sagen, dass ich so lange nicht existiere, wie ich – etwa in tiefem
Schlaf – ohne Wahrnehmungen bin und mich selbst nicht empfinde.“ (Hume 1978, 252. übers. v. K. A.)
16 Indem er derartige Fälle außer Betracht lässt, gelangt Wittwer zur Behauptung der „Tatsache,
dass Menschen mit ihrem Tod nicht einfach aus der Welt verschwinden […]“ (Wittwer 2008, 97).
16
Organismen u
ist auch nicht „tot“. Vielmehr ist eine Leiche der Körper des nunmehr nicht länger
existierenden Verstorbenen.17
Betrachten wir das Problem aus einer anderen Perspektive: Für den Ausdruck „der
Tote“ kommen zunächst zwei Kandidaten in Frage: Zum einen könnte mit „der Tote“
gemeint sein „der tote Körper“ und zum anderen der „zuvor lebende/existierende
Mensch“, der jetzt irreversibel zu existieren aufgehört hat. Wer der Auffassung ist, dass
der Ausdruck „der Tote“ sich stets auf „der tote Körper“ beziehen sollte, der müsste
auch unterschreiben, dass, nachdem ich vollständig verbrannt bin, von keinem Toten
die Rede sein kann, obwohl ich irreversibel zu existieren aufgehört habe. Was paradox
ist. Hieraus erhellt eine Semantik, der zufolge sich der Ausdruck „der Tote“ in sinnvoller Weise nur auf einen zuvor existierenden (lebenden) Menschen beziehen kann,
der jetzt irreversibel zu existieren aufgehört hat.
Vom Tod des Körpers und vom toten Körper kann im Grunde nur reden, wer der
Überzeugung ist, dass wir essentiell keine zerebral realisierten Bewusstseine sind – keine
psycho-physischen Einheiten –, sondern unsterbliche Seelen, die die irreversible Funktionsunfähigkeit eines Gehirns als immaterielle Entitäten überdauern. Träfe dies zu, so
stürbe in der Tat nicht ich, sondern – als einziger in Frage kommender Kandidat –
mein Körper. Hier ergäbe es auf den ersten Blick auch wieder Sinn, vom toten Körper
zu reden. Alsbald sähen wir uns jedoch vor unlösbare begriffliche Probleme gestellt:
Denn schließlich kämen wir nicht umhin, vom Leben der unsterblichen Seele zu reden.
Zugleich aber müsste der seelenverlassene und nunmehr als toter qualifizierte Körper
zuvor ein lebender gewesen sein. Somit lägen für den Ausdruck „lebendes Wesen“ zwei
unterschiedliche Extensionen vor: „(unsterbliche) Seele“ und „Körper“, womit der
Ausdruck „lebendes Wesen“ nicht definiert wäre.
2. „Hirntote“ (funktionierende Organismen Verstorbener)
Kritiker haben durchaus recht mit der Feststellung, dass sogenannte „Hirntote“ keine
Leichen sind. Gleichwohl ist folgender Umkehrschluss mancher Kritiker des „Hirntodkriteriums“ unzutreffend: Wenn „Hirntote“ keine Leichen sind, so muss es sich bei
ihnen um lebendige Menschen handeln. Dieser Umkehrschluss lässt außer Betracht,
dass die Klasse der Körper Verstorbener in zwei hauptsächliche Gruppen aufgeteilt
werden kann: Erstens die klassischen Leichen und zweitens – seit Mitte des 20. Jahrhunderts – die sogenannten „Hirntoten“, die im Lichte der mentalistischen Definition
als „funktionierende Organismen Verstorbener“ zu bezeichnen wären.
3. „Hirntod“ und „Hirntodkriterium“
Da gemäß mentalistischer Definition psycho-physische Einheiten als Lebewesen anzusprechen sind, nicht hingegen einzelne Organe wie Herzen, Lebern oder Hirne, empfiehlt es sich, den Ausdruck „Hirntod“ zu ersetzen durch den Ausdruck „irreversibles
Hirnversagen“. Dann aber sollte auch der Ausdruck „Hirntodkriterium“ reformuliert
17 „Wir führten die Körper toter Vögel in unsere Münder“ (Woolf 2005, 251, übers. v. K. A.),
schreibt Virginia Woolf in ihrem Roman „The Waves“, womit sie die Differenz zwischen den inexistenten Lebewesen und ihren Leichnamen zum Ausdruck bringt.
17
Karim Akerma
werden zu „hirnbezogenes Todeskriterium“. Berücksichtigen wir ferner, dass es unterschiedliche Kriterien gibt – in Großbritannien gilt ein stammhirnbezogenes Todeskriterium –, so sollten wir im Plural von hirnbezogenen Todeskriterien sprechen.
X. Ein bloßes Spiel mit Worten?
Benennungen und Handlungen
Die Frage nach der Definition von Worten ist kein bloßes Spiel mit der Sprache. Im
Falle der Worte „Lebensende“, „Lebensbeginn“ und „Lebewesen“ ist sie geradezu todernst. Lautet der Auftrag, jeden lebenden Menschen so lange wie möglich am Leben zu
erhalten, so müssen Pfleger und Ärzte ganz unterschiedlich handeln, je nachdem, ob
Patienten mit irreversiblem Hirnversagen lebende Menschen sind oder nicht. Ist es
untersagt, Menschen in ihren frühesten Lebensphasen zu Forschungszwecken zu töten,
so hängt die Legalität bestimmter Forschungsvorhaben davon ab, ob menschliche
Frühembryonen definitionsgemäß bereits lebende Menschen sind oder – im Sinne der
hier vorgeschlagenen Differenzierung – der Übergang vom funktionierenden menschlichen Organismus zum menschlichen Lebewesen noch bevorsteht.
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