Deutsche Dichter und der Erste Weltkrieg

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Deutsche Dichter und der Erste
Weltkrieg
—insbesondere das Politik-und
Kulturverständnis H. Hesses—
渡 辺 政 憲
Ich sage im voraus, daß ich das Thema ,,Werk und Weltkrieg“ nicht
behandeln werde. Das hat zwei Gründe : Einmal ist es borniert, eine
Bewertung der Werke eines Dichters (im weiten Sinne) vorzunehmen,
indem man ihn in seiner Unterstützung des Kriegs bei einem Fehler
ertappt, überdies will ich den Krieg nicht auf die Werke eines Dichters
beziehen, der das höchste Ideal der Kunst in der Bewahrung des
Friedens sieht, beim Ausbruch des Kriegs jedoch kriegerische Worte
äußert. Zweitens, wenn man von ..Werk und Weltkrieg“ handelt, legt
man natürlich den Akzent auf ,,Dichtung“ und betrachtet demgemäß
das Konkrete von einem ideellen Standpunkt aus und interpretiert
historische Realitäten psychologisch. Folglich neigt man dazu, den
Weltkrieg nur als eine Stufe in der inneren Entwicklung eines Dichters
anzusehen und nur eine hochtrabende literarische Interpretation seiner
Reden und Handlungen im Kriege zu liefern. Der Weltkrieg ist
selbstverständlich keine kulturelle oder geistige Wirkung, sondern ein
konkreter Kampf um Hegemonie. Der Weltkrieg war zu tragisch, als
daß man eine Katastrophe, bei der 1800000 Deutsche und Millionen
von Menschen anderer Länder gefallen sind, als eines der Erlebnisse
im literarischen Werdegang eines Dichters erklären könnte. Unter dem
Gesichtspunkt des Weltkriegs ist die Behandlung der Dichter als Intellektuelle eine mögliche Richtung der Literaturforschung. Ich
-35-
werde versuchen, im folgenden indirekt zu beantworten, ob die
Verbindung der Literaturwerke (besonders vor dem Krieg) mit dem
Krieg eigentlich angemessen ist (abgesehen von jenen Dichtern des
sogenannten
politischen
Engagements,
die
die
These
des
Zusammenhangs von Literatur und Politik vorgelegt haben). Aus
diesen Gründen ist das Thema meiner Untersuchung nicht „Literatur
und Weltkrieg“, sondern ,,Dichter und Weltkrieg“.
Im Hochsommer 1914 ßößt der Krieg vielen Dichtern Begeisterung
ein. Die Erläuterung der Gründe für ihre Bejahung des Kriegs soll den
Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen bilden. Ich führe sechs
Gründe an. Der eine ist eine Langweile des Friedens. Man kann diesen
Grund nicht mit Hilfe der modernen Vorstellung vom Krieg begreifen.
Seit dem Deutsch-Französischen Krieg führt der lange Frieden in
Europa zusammen mit der wirtschaftlichen bei epoque zu einem
immer
dekadenteren,
weltschmerzlicheren,
resignierenderen
Zeitgefühl, wie die bekannte französische Wendung laissez fairs,
laissez aller deutlich zeigt. Nach dem Ausbruch des Kriegs verging
mehr als ein Jahr, bis die Dichter, die den Krieg als Befreiung aus
langem Druck willkommen geheißen hatten, sich über die Bedeutung
des modernen Kriegs enttäuscht zeigten.
Der zweite Grund ist die verbreitete Volks-und Vaterlandsliebe.
Schätzt man eine agnostische Haltung gering, wird man sich aus
Gründen der Komik oder Ideologie über das verworrene Gemüt der im
Dilemma zwischen Paneuropa und Deutschtum stehenden Dichter,
wie es Musil im folgenden darstellt, hinwegsetzen :
Die wertvollen der seelischen Leistungen aus den letzten dreißig
Jahren sind fast alle gegen die herrschende gesellschaftliche
Ordnung und die Gefühle gerichtet, auf die sie (die bestehende
Ordnung) sich stützt ; ... (aber) Wir wissen nicht, was es ist, das
uns in diesen Augenblicken von ihnen (unseren feindlichen
Freunden) trennt und das wir trotzdem lieben ; und doch fühlen
wir gerade darin,
-36-
wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der einzelne plötzlich wieder nichts ist
außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen.
Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß
wach.
Der dritte Grund liegt in der Doppelwertigkeit des Kriegs. Der Krieg
kehrt die zoologische Phase der Menschheit (z. B. Gewalttätigkeit,
Plünderung, Machtwillen) hervor, und zugleich hebt er die
erniedrigende Alltäglichkeit auf und steigert das Mannestum (z.B.
Heldentat, Mut, Opfergeist). Ein besonders typischer Dichter ist
R.Dehmel, für den der Frieden ein Krieg, das Leben ein ewiger
Konflikt zwischen Liebe und Haß, der Krieg ein Kampf um Frieden ist.
Aber die elementare Haltung des männlichen Wesens führt nicht allein
zur Begeisterung. Ein weiterer Grund vermengt sich für gewöhnlich
mit anderen Gründen oder irgendeinem Umstand. Die Kampfesfreude
Dehmels ist ja durch eine allgemeine Verbindung zwischen seinem
Künstlertum und den damaligen Zeitläuften bedingt.
Seine
soldatische Poesie fordert, daß der geistig vorbildliche Mensch die
Pflicht hat, Seele und Leib um der Errichtung der Zukunft und der
Sünden der Vergangenheit willen hinzugeben. Auf der anderen Seite
waren die politische und innere Spannung der Welt, die im Begriff ist
zu explodieren, und der sogenannte Burgfrieden, der sich schon in
einen gierigen Erwerbskrieg verwandelt hat, Ursachen für seine
Teilnahme am Krieg.
Die übrigen drei Gründe stehen im engen Zusammenhang
miteinader.
Ich behandle sie deshalb später noch einmal im
synthetischen Zusammenhang. Hier führe ich nur drei Punkte an : das
unpolitische Wesen, das fatale Gefühl und die Organisation. (Man
beachte, daß der erste davon weder die unpolitischen Dichter, die sich
auf die politische Welt verstehen, noch die unpolitischen Dichter, die
gegen Deutschland und dessen Macht feindlich gesinnt sind, meint. In
Wahrheit behandelt es sich bei meinen Überlegungen um dieses
unpolitische Wesen.)
- 37 -
Daß deutsche Dichter eine bejahende Einstellung zum Weltkrieg
einnahmen, scheint mir leicht erklärbar zu sein. Deutschland spaltete
sich bald nach der Gründung des Heiligen Römischen Reichs im Jahre
962 und war bis zum Jahre 1871 zerrissen. Um so stärker war der
Wunsch des Volks nach der Einheit des Vaterlandes.
Im
Befreiungskrieg und im Deutsch-Französischen Krieg war die
Einmütigkeit des Volks außergewöhnlich. Beim Ausbruch des
Weltkriegs entstand die Verbindung Deutschlands mit Österreich, die
sogar in der Begründung des Zweiten Reichs nicht erfüllt worden
war ; die Begeisterung war nach Worten des Pazifisten S. Zweig ,,
etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches“.2
Andererseits waren die geistigen Kräfte wegen der Spaltung und des
Unfriedens
des
Landes
und
auch
wegen
des
feudalen
Herrschaftssystems von der Politik weit getrennt. So schreit schon
eine Person, namens Brander, in ,, Faust“ ; „Ein garstig Lied ! Pfui !
ein politisch Lied. Ein leidig Lied!“3 In Deutschland vor allem wurden
die liberalistischen Tendenzen, die sich im Westen nach der
Französischen Revolution trotz der reaktionären Restauration durch
den
Wiener
Kongreß
(1814)
verbreitet
hatten,
nach
dem
Zusammenbruch der Märzrevolution (1848) immer schwächer. So
wurde der Geist dekadent und nihilistisch, und die Politik war für den
Geist nichts weiter als ,, Interessenspiel und Parteigezänke“4.
Das
sogenannte unpolitische Wesen ist also bei den Dichtern nicht das von
politischen Spezialisten, sondern das von politischen Dilettanten. Mit
anderen Worten, die Dichter waren anti-politisch, aber sie waren sich
der Tripelgleichheit : ,, Politik = deutsche Macht =Weltkrieg“ nicht
bewußt. Kurz, ihre Literatur war gegen die herrschende Politik. Doch
bedeutete die Anti-Politik nicht eben den Anti-Weltkrieg. Wenn sich
auch deshalb A. Döblin, ein Exponent des Expressionismus, der
anti-gesellschaftlichsten
Literaturbewegung,
einen
Unpolitischen
nannte5 und den Weltkrieg verteidigte, es war nicht rätselhaft,
geschweige denn spaßhaft. Endlich begeisterte die Einmütigkeit
zwischen
- 38 -
Regierenden und dem Volke viele Dichter auf Grund ihres politischen Dilettantismus. Die Dichter, die auf die Politik herabgesehen
hatten, bezogen den Weltkrieg nicht auf den politischen Sachverhalt,
sondern auf metaphysische, ideelle Bedingungen oder auf tragische
Notwendigkeit.
Es ist hier von mehreren Beispielen kurz zu
sprechen. Der später noch zu erwähnende T. Mann hat bekanntlich die
komplizierteste
deutsche
Theorie
der
Kultur
aufgestellt.
Hofmannsthal beruft sich auf Grill-parzers Charakteristik „Von
Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ und behauptet seine
eigene Eschatologie : Er versteht den Weltkrieg als einen
unabwendbaren Prozeß ausgehend von dem Humanismus des 18.
Jahrhunderts bei Rousseau, Goethe, durch den Nationalismus des 19.
Jahrhunderts nach der Französischen Revolution hin, zur Bestialität,
die die materielle Zivilisation mit sich bringt. Er träumt so von einem
neugeborenen Europa nach dem Krieg, der alles stürzen wird. H. Bahr
entwickelt aus der Begeisterung des ganzen Volks seine ,,Ideen von
1914“.
Er erwartet die Organisation einer Art sozialistischen Staats,
in dem, anders als .bei liberalen Feindesländern mit Stand und
Übermacht der Obrigkeit (diesen sozialen Gedanken der Feinde nennt
Bahr ,,Ideen von 1789“), sich der Dienst jedes einzelnen ins Ganze
und die Freiheit und Gleichheit jedes einzelnen vereinigen. Rilke wird
kurze Zeit nach dem Ausbruch des Kriegs von der Begeisterung
angesteckt und kommt auf einen fatalistischen Gedanken :
Komm, o Schicksal, scheinbares, komm, du kannst nicht ohne die
ganze unendliche Zukunft. Das Zerstörende selbst reißt die
Überstehungen hinter sich herein, kein Tod kann kommen ohne das
viele Lebendige in seinem Rücken.6
Andere Dichter verhalten sich ähnlich. Ihr politischer Dilettantismus
führte sie zur Hoffnung, daß der Krieg ihre Ideen verwirklichen würde.
Tatsächlich fehlte aber es ihnen an sachlichem Grund, auf den sich
ihre Ideen stützen konnten. Zum Beispiel sind die Gründe der besagten
Dichter völlig abstrakt
— 39 —
und gefühlsbetont: Bahr steht außer Frage und selbst Hofmanns-thal
hat kaum einen anderen Grund als den folgenden :
es scheint mir, daß nach diesem Krieg die Erde für die Saat eines
neuen Europa umgepflügt werden muß.7
Auch Rilke schreibt etwa einen Monat nach der oben genannten
Äußerung folgende Mahnworte, um dann in sich selbst zurückzugehen :
Alle gewahren ihn (Weltkrieg). Aber wer erkennt ihn? Nein, ihr
sollt nicht bekannt tun mit ihm. Ihr sollt ihm nicht das Zubehör
und die Zunamen früherer Kriege anhängen, denn ob es gleich
ein Krieg ist, so kennt ihr ihn doch nicht.8
Der Optimismus, der aus einem solchen geschichtlichen Sinn und
derartig seichtem Wirklichkeitssinn besteht, bedeutet im Schema des
Streits der Allianz gegen die Entente, wider geistige Absichten der
Dichter, eine ausschließliche Erhebung des Nationalismus.
Zusammenfassend kann gesagt werden ! Im entselbstigten,
organisierten deutschen Volk wollten die Dichter die autonome,
bewußte Bejahung des Individuums für den über-persönlichen
Gemeinsinn sehen. Sie haben aus der Organisation ein Verlangen nach
der ethischen und religiösen Idealität der Politik, die anders als der
bisherige exklusive Wille zur Macht ist. Sie greifen nun in größter Eile
auf die Geschichte zurück. Da wird der Historismus ausgebrütet, der
den Weltkrieg für ein Schicksal beim Bau des neuen Europas hält.
Ohne die politische Rückständigkeit Deutschlands zu berücksichtigen,
erklären sie den Liberalismus der Feindesländer, die das Gesetz der
allgemeinen Wahl angenommen haben, als Individualismus, und sie
glauben in der Erscheinung der Eingliederung jedes einzelnen in den
Staat das Ideal sozialen Staates zu finden, ohne die vergangene
Untertänigkeit des deutschen Volkes zu bedenken. Geist und Macht
wie gleichsam Hund und Katze rollten sich erstaunlicherweise unter
dem Sinnbild der Macht, dem Krieg, gegenseitig
— 40 —
achten. Schlichte Vaterlandsliebe, ritterliche Auffassung des Kriegs
und das Gefühl der Befreiung von einem trübsinnigen Frieden wurden
mehr und mehr zu einer chauvinistischen Verwirrung und machten es
den Dichtern, den Sendboten des Geistes, unmöglich, die lange
Zeitdauer des Kriegs und dessen äußerst grausige Metzelei überhaupt
vorauszusehen. Der Weltkrieg war letztlich ein Ereignis, das durch
imperialistische Politik herbeigeführt wurde.
Der Weltkrieg konnte
keinen Geist, wie die Dichter ihn meinen, mit sich bringen. Im Verlauf
der Kriegsereignisse bleichen Ideen und Ideale der Dichter aus, nach
und nach beginnen sie zu schweigen, Schwäche und Reue zu empfinden, dann schließlich selbst nachzudenken. Man könnte sagen, daß
die Kriegsverteidigung der Dichter und ihre geistigen Betrachtungen
des Kriegs den blinden Fleck ihres politischen Dilettantismus
aufdeckten. Natürlich waren Pazifisten (Inbegriffen schweigende
Außenseiter) keine Spezialisten, sondern eher Dilettanten wie Hesse.
Sie behandle ich nicht, denn es genügt zu sagen, sie haben den Krieg
gehaßt, die Eintracht Europas gewünscht und für den Frieden
Propaganda, sei es aktiv, sei es passiv, gemacht. Sie schreiben das
unumstößlich
Selbstverständliche,
ohne
den
Weltkrieg
wissenschaftlich zu betrachten. Was sie vor dem Sturm der
Begeisterung gesichert hat, das sind, so scheint es, Kosmopolitismus,
der Wunsch nach der Einheit Europas, die ernste Einsamkeit, oder
auch das Glück in der Form des Lebens (Ort, Umgebung, menschliche
Beziehungen).
Bisher habe ich vor allem die Stellungnahme der Dichter im Kriege
ohne Zusammenhang mit der Dichtung behandelt. Außerdem habe ich
festgestellt, daß ihre ideellen Überzeugungen nur leichtlebige und
phantastische Perspektiven sind. Dagegen mag man einwenden, daß
man die Worte der Dichter im Kriege von einem literarischen
Gesichtspunkt aus betrachten muß. Wenn man die Dichter im Kriege
in allzu abstrakter Weise oder mit Hilfe ihrer Werke erklärt, wird das
jedoch, wie ich bis hier indirekt gezeigt habe, die Wahrheit entstellen
(freilich mit
— 41 —
Ausnahme von Dichtern wie Dehmel).
Ich möchte diesen Punkt
unterstreichen, indem ich einen Dichter selbst zitiere. C. Zuckmayer
schreibt in seinen Memoiren :
sie (die Dichter) waren zutiefst unpolitisch, auch jene, deren Werk
von sozialem Empfinden inspiriert war, sie hatten vielleicht
gesellschaftskritisch denken gelernt, aber kritische Verantwortung
für Zeit-und Weltpolitik lag ihnen fern und gehörte nicht zum
kulturellen
Metier.
Dadurch
wurden
auch
sie
von
der
Hochstimmung, der ekstatischen Gläubigkeit des vaterländischen
Rauschs, des patriotischen Ethos blindlings überwältigt.9
Nun, die Attitüde H. Hesses ist ohne Berücksichtigung der
Verhältnisse nicht leicht zu verstehen. Was hat Hesse in der großen
Zeit zum Pazifisten gemacht? Mir scheint, es gibt zwei Gründe. Der
eine ist geographischer Natur. Weil Hesse schon im Jahre 1912 nach
Bern in der Schweiz gezogen war, war er von der außerordentlichen
Begeisterung der Welt beim Ausbruch des Kriegs ausgesperrt. Die
erste Reaktion auf das politische Ereignis ist empfindsam, und zwar
schreibt R. Rolland, der mit Hesse damals noch nicht bekannt war, in
seinem Tagebuch, wie dieser sich nicht mit deutschem Fanatismus
ansteckt, da er in der Schweiz lebt. Hesse spricht sich auch selbst über
die örtlichen Umstände in ,,Alemannischem Bekenntnis“ (1919) aus 10.
Beiläufig gesagt, Rolland, Zweig und George waren beim Ausbruch
auf Reisen in neutralen Staaten.
Der zweite Grund ist sein unpolitisches Wesen (im Sinne des
Trennens von Kunst und Politik). In seinem friedlichen Artikel „O
Freunde, nicht diese Töne!“, der September 1914 niedergeschrieben
und November veröffentlicht wurde, unterstreicht und fordert er die
unpolitische Einstellung der Intellektuellen. Keine Soldaten und keine
Politiker, sondern Gelehrte, Künstler, Schriftsteller, die der Gründung
von Frieden und Humanität dienen sollen, ruft Hesse darin zum
Aufhalten des Kriegs der „Feder“, nämlich der Polemiken zwischen
ihnen, an.
― 42 ―
Warum bringt sein unpolitisches Wesen denn nun seinen Pazifismus
hervor ? Das Trennen des Geistigen von der Politik war auch eine
These T. Manns. Dasselbe unpolitische Wesen führte bei den beiden
Männern zu verschiedenen Haltungen gegenüber dem Krieg. So
erkläre ich nun die Hauptthema Manns, seine Antidemokratie. Offen
gestanden, dieser Gesichtspunkt ist nicht vollkommen und etwas
voreingenommen ; denn im Übergang von „Gedanken im Kriege“ zu
„Betrachtungen eines Unpolitischen“ ist er darauf vorbereitet, das
protestantisch-dekadent-antipoli-tische Wesen seiner eigenen Person,
d. h. des deutschen Bürgers, zu überwinden und zur Annahme der
Demokratisierung zu gelangen. Aber ich beschränke mich beim
Vergleich mit Hesse auf das unpolitische Wesen Manns. Seine
Trennung
von
Kunst
und
Politik
beruht
auf
vielfachen
Kontrastbegriffen: Politik -Demokratie-Zivilisation gegenüber Kunst Kultur. Politik gehört zur Kategorie des sozialen Lebens, das ein
Gegenüber des metaphysischen Lebens ist. Die Umbildung des
Über-Persönlichen zum Sozialen bedeutet nivellierenden Liberalismus,
d. h. Demokratie. Anderseits, Kunst ist ein unpolitisches Wesen, das
von der Staats-und Gesellschaftsforms unabhängig ist, also ist sie
»moralisch“. Die Moral ist keine Sache der Vernunft, sondern
diejenige der Seele, und die Seele ist ein dämonischer Zustand des
Lebens. Kultur ist eine geistige Organisation der Welt, die Musik,
Volksstaat, Freiheit, Leben enthält. Mit einem Worte, Kunst ist wie
Kultur die Sublimierung des Dämonischen. Aus alledem ergibt sich,
daß Demokratie, die zugleich Zivilisation, Produkt aus dem
lateinischen Westen, ist, einen Gegensatz zu Kunst und Kultur bildet.
So ist das moralisch organisierte Deutschland eine Festung gegen den
nivellierenden Sturm des Geistes; also bejaht Mann den Krieg. Ist er
trotzdem unpolitisch? Weil das Deutsche für ihn zur Kultur gehört und
er die Zivilisation für die Politik halten kann, nennt er sich einen
Unpolitischen. Insofern er aber als Apostel des Geistes auf das
Zeitalter wirkte, ist sein Tun sozial, nämlich politisch. Deshalb kann
— 43 —
man sein unpolitisches Wesen, wenn man seinen Bruder Heinrich
berücksichtigt, die Umkehrung der parlamentarischen Demokratisierung des Geistes, nämlich der Beherrschung des Volks durch den
Geist nennen. Aber im Hinblick auf den Weltkrieg könnte ich seine
Einstellung für eine Militarisierung des Geistes ansehen. Zwar haben
seine
Gedanken,
besonders
in
den
„Betrachtungen“
andere
Dimensionen als der Weltkrieg und geben über den Krieg hinaus
irgendwelche
weitgespannten
Analysen.
Der
Kern
der
„Betrachtungen“ befaßt sich mit Widersprüchen seiner eigenen
Innerlichkeit und deren Selbstverurteilung. Wenn er jedoch schreibt,
daß man mit großem Recht die Kunst einen Krieg nennt“ und in
„Friedrich und die große Koalition“ die Invasion deutscher Truppen in
Belgien als notwendige Tat anerkennt, ist das angesichts der
Wirklichkeit des Kriegs nichts anderes als die Militarisierung des
Geistes.
Das unpolitische Wesen Hesses dagegen ist rein schriftstellerisch.
Für ihn darf ein Dichter kein praktischer Intellektueller werden. Hesse
nennt sich einen Eigensinnigen, und auch in die Auffassung der Politik
reicht sein Eigensinn hinein. Er scheint gedacht zu haben; Weil echtes
Künstlertum
untrennbar
mit
dem
unbändigen
Drang
nach
Unabhängigkeit verbunden ist und die Politik einen äußeren
Gegenstand besitzt, entspricht das Künstlertum nicht der platonischen
Politisierung des Geistes. Die politische Haltung bedarf der nach
außen gewendeten Aktivität, der Leidenschaft des sich mit Zielen
Identifizierens, und der Raschheit bei der Wahl der Wege. Dem
Dichter aber mangeln diese Eigenschaften. Für ihn ist die Betrachtung
wichtiger als die Tat, und in der Maßregel, die er zu einem Zweck
trifft, ist er skrupulös und mißtrauisch.
Literatur-Politikverständnis
Hesses aus
Weiter scheint das
einer Polarität
zusam-
mengesetzt zu sein: Kunst ist Ahnung, Traum, Religiöses, ist ein
Diener des Individuums und der Seele, während Politik eine Kategorie
der Wirklichkeit und der Materie, und eine Macht, ein Krieg an und
für sich selbst, und ein oberster Teil des Mecha— 44 —
nismus und der Masse ist. Der Dichter ist ein Wahrer der geistigen
Substanz, sieht die Verewigung des Vergänglichen für seine
Bestimmung an, ist, insofern er um der Wahrheit und Gerechtigkeit
willen zugrunde geht, aristokratisch, während der Politiker das
Zeitliche mit Zahl und Quantität treibt und demokratisch ist, insofern
er es auf die Entfaltung des Staats-und Gesellschaftswesens absieht.
Der Dichter trägt die Bipolaritiät des Lebendigen in seiner Seele,
während der Politiker die Verabsolutierung dessen, was man außer
einer Bedeutung nicht deuten kann, dem Gegenstand, jedem einzelnen
des Volks einpflanzt. Folglich ist Kunst für Hesse ein ganz anderes
Element als Politik, und sein Pazifismus stellt sich so gegen die
politischen Reden der anderen Dichter (die sogenannte Militarisierung
des Geistes), die sich über den Krieg unglaublich aufregen. Wenn man
aber seine Meinung aus einer einseitigen, z. B. aktivistischen, Richtung betrachtet, tendiert man dazu, Hesse für einen lauwarmen,
konservativen Kriegsgegner zu halten.
Beispielsweise greift der
Leipziger Literaturwissenschaftler E. Middell die damalige Haltung
Hesses
als
„Ästhezitismus
als
Flucht
vor
der
praktischen
Auseinandersetzung“12 an. Das ist eine radikale Meinung, denn
Middell unterscheidet das Ganze eines Dichters nach dem alternativen
Urteil, daß ein Dichter entweder Ästhet oder Militarist ist, falls er
dessen Literatur keine Funktion der revolutionären Politik zuweisen
kann. Nach der Meinung Middells haben Literatur und Politik
denselben
Gegenstand,
dasselbe
Ziel
und
müssen
einander
durchdringen, wie H. Mann in ,,Zola“ sagt.13 Im Grundsatz gibt es eine
Parallele zwischen Hesse und Aktivisten. Hesse geht über jede
Ideologie hinaus.
Sein Trennen von Kunst und Politik bedeutet die
tatenlose Neutralität, die er als „asiatische Passivität“ bezeichnet, aber
führt nicht zur Schweigepflicht des Künstlers.
Schließlich ist sein
Literatur-Politikverständnis negativ. Dichter im Kriege spielen nur
insoweit
eine
Rolle,
als
sie
höchstens
Geschäftsträger
der
herrschenden Macht bleiben. Die Stimmen der Dichter werden durch
das
— 45 —
gigantische Rad politischer Maschinerie so gezwungen, verbogen,
benützt, daß die Dichter sich aufs äußerste passiv und neutral
verhalten müssen. Proteste, Einmischungen und Mahnungen der
Dichter sind wohl feierlich, doch nutzlos und unproduktiv, würdigen
vielmehr den Geist herab und schädigen das Ansehen der Humanität.
Aber Hesse ist an politischen Fragen nicht unbeteiligt, sondern
poetisiert sie nach dem Ersten Weltkrieg durch Dichtwerke, wie im
Kapitel,, Rundschreiben“ in ,,Das Glasperlenspiel“, welches höchste
Vorbilder - Falschheiten des politischen Kreises, die Krise der
Wahrheit, aber auch den Glauben an der Unsterblichkeit des
Geistes-zeigt. Die Idee seiner Dichtung ist ein Sinnlich-und
Sichtbarmachen des Spirituellen; sie beeinflußt die Politik nicht direkt.
Hesse bleibt kein Praktiker, sondern ein träumerischer der geistigen
Welt. Denkt man darüber nach, daß im Weltkrieg der Geist mit
demselben Geist gestritten hat, und daß sich unter Dichtern des ganzen
Abendlandes ein hitzger Krieg der Ideen abgespielt hat, könnte man
nicht umhin, zu erkennen, daß Hesses konsequente, tatenlose
Neutralität eine wenn auch negative, doch zähe Überzeugungskraft
behält.
Hier ist sein Kulturverständnis erst zu berühren. Eine Weile nach
dem Kriegsende hat er einen kleineren Essay mit dem Titel »Die
Brüder Karamasow oder Der Untergang Europas“ geschrieben, wo er
von der Wiederaufrichtung der europäischen Kultur handelt. Der
Karamasowische Mensch ist Schöpfer der kommenden Kultur. Er ist
ein Mensch, der sich von jeder festgelegten Moral und Überlieferung
abkehrt und in die Welt des Mittlers Demiurg, der jenseits der
Gegensätze steht, zurückkehrt; darum ist er zugleich Mörder und
Richter, Rohling und zarteste Seele;
er ist ebenso der vollkommenste Egoist wie der Held vollkommenster Aufopferung. Mit einem Worte ist er ein formloser Besitzer.
Auf diesen Essay hatte die Psychoanalyse, vor allem Freud, mächtigen
Einfluß. Deshalb bespreche ich die psycho-analytischen Züge seines
Essays. Sein Kulturverständnis scheint mir eine Gefahr in sich zu
schließen. Hesse lehrt uns die Auf— 46 —
erstehung durch die Rückkehr zum amoralischen Urzustand, und
zwar dadurch, daß man sich ins Unbewußtsein zurückzieht und die
ürtriebe des Menschen völlig befreit. Hesses Überlegungen waren
anscheinend folgendermaßen. Das Unbewußtsein, das ein blindes
Chaos furchtbarer tierischer Triebe ist, ist ein natürliches Urbild, das
an Intellekt, Schönheit und Moral uninteressiert ist. Was das
ünbewußtsein in hysterischen Teufel auflöst, ist seine Unterdrückung
oder Verbildung des Bewußtseins. Da das Bewußtsein gerade vom
Begriff der veralteten überlieferten Moral gefesselt ist, bedarf man der
Ausstoßung bisheriger Bewußtseinsinhalte. Hesse scheint so gedacht
zu haben. Aber er antwortet leider nur den folgenden Satz auf die
Hauptfrage, auf welche Weise nach der Rückkehr zum Zustand
anorganischer Materie die Kultur erfüllt werden könne: dadurch, daß
man ..dem heraufgebrochenen Urtrieb eine neue Richtung, einen
neuen Namen, eine neue Bewertung gibt“.14 Deshalb denkt er, daß der
Zustand anorganischer Materie ein Übergangszustand ist. Aber nach
Freud hat der Mensch in sich zweierlei Triebe, der eine heißt
erotischer oder sexueller Trieb, der erhalten und vereinigen will, der
andere Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb, der zerstören und
töten will, d. h. der Todestrieb, der zum Zustand der unbelebten
Materie zurückführen will. Die beiden Triebe sind einander
unentbehrlich, und aus dem Zusammen-und Gegen-einanderwirken
der Beiden gehen die organischen Erscheinungen des Lebens hervor,
und eine menschliche Handlung entsteht aus dem Werk einer von
beiden Trieben zusammengesetzten Regung. Ich führe ein Beispiel an.
Die hochentwickelte moderne Kultur hat eine potentiell zerstörende
Kraft in sich. Man kann sagen, ein Erzeugnis in der Entwicklung des
menschlichen Lebens ist eine Legierung aus dem Trieb des Lebens
und dem Trieb des Todes. So muß die Kultur Kulturversagungen
voraussetzen. Um dem Aggressionstrieb Schranken zu setzen, ihre
Äußerungen durch psychische Reaktionen, Erkenntnisse des Bewußtseins, niederzuhalten, muß die Kultur alles aufbieten. Der
— 47 —
Kulturfortschritt ist ein Prozeß, wo im Ambivalenzkonflikt, im
Kampf zwischen Urtrieb des Lebens (Eros) und Urtrieb des Todes
(Thanatos) der erste den letzten überwindet, wobei der Mensch als
Schuldgefühl vernimmt, daß das Gewissen, das Triebverzichte fordert,
Handlungen und Absichten des Ich überwacht. Daraus folgt, daß die
Geburt der Kultur durch die Befreiung der Urtriebe und durch die
sogenannte primitive Barbarisierung unmöglich ist, und daß der
Zustand der unbelebten Materie eine ewige Übergangsstufe bleiben
wird.
Tatsächlich
weist
Freud
in
,,Dostojewski
und
die
Vatertötung“ den Verfasser von ,,Die Brüder Karamasoff" als
ethischen Masochisten zurück. Der ethische Masochist ist sowohl ein
Rationalist in der Vorstellung des Bewußtsems als ein Mensch der
Anpasssung an die autoritäre Moral in derjenigen des Unbewußtseins ;
denn er verübt ein Verbrechen von unsittlichen Trieben getrieben und
quält sich in seiner Reue mit dem Schuldgefühl. In Wirklichkeit aber
vertauscht er damit nur heimlich den äußeren Zwang mit dem inneren
Zwang. Wenn ich dies auf den Essay Hesses beziehe, ist der
kommende Schöpfer der Kultur von Hesse ein Pseudomoralist, der
den Zustand der unbelebten Materie, ohne Triebe unterdrücken zu
wollen, gewähren läßt und das Wesentliche an der Sittlichkeit, den
Verzicht, nicht leisten kann.
Ich habe die Gefährlichkeit in seinem Kulturverständnis erklärt. Was
ist nun der Grund für diese Auffassung der Kultur? Die Ursache suche
man wohl mit Recht in seiner Anwendung der Psychoanalyse auf die
Kulturgeschichte. Besonders während des Kriegs schmerzt Hesse die
Antinomie zwischen Natur und Geist; aber durch die Begegnung mit
der Psychotherapie erreicht er seinen eigenen selbstkritischen
Nihilismus, wo er alle Schuld, alle Unordnung des Weltkriegs in sich
selber findet. Darauf überwindet er mit der dialektischen Antithese
Konflikte zwischen Innen und Außen, Gott und Teufel in seinem
bisherigen pietistischen Ich. Zum Beispiel; in ,,Demian“ proteischer
Abraxas, der gegensätzliche Vielheit umfaßt und in sich vereint, und
in
— 48 —
„Klein und Wagner“(1919 niedergeschrieben) „sich fallen lassen“,
nämlich das Ich ins Chaos, d. h. in den Abgrund des Unbewußtsems
einwerfen und dann darin Leben und Tod sublimieren. Das bedeutet,
daß Hesse die bestehende geistige Ordnung ausgestoßen hat, indem er
jenseits von Gut und Böse steht und Natur und Geist bis zur
Verschmelzung der Beiden vereinigt. Hierauf wandte er den
Freiheitsdrang und die Befreiung des Ich auf sein Kulturverständnis an,
aber es ist eine rohe Verbindung : Zunächst hat die Ichheit von Hesse
die andere Problematik als die allgemeinen Menschen. Zielt außerdem
der Kulturprozeß nach der Herstellung einer Gemeinschaft aus den
menschlichen Individuen, so erlegt er jedem Einzelnen die schon
gesagten Bedingungen auf. Um so mehr muß das moralische
Bewußtsein eben jetzt gefordert werden, als Urtriebe des Menschen
getobt haben. Eine gefährliche Lücke im Kulturverständnis Hesses
liegt in der Anwendung seiner eigenen Psychotherapie auf die ganze
Nation bzw. die Kulturgeschichte.
Anmerkungen
1. Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum S.597-8 Tagebücher,
Aphorismen, Essays und Reden, Rowohlt Verlag, 1955
2. Zweig: Die Welt von Gestern S. 258 Bermann-pischer Verlag,
3947
3. Goethe : Goethe Bd. 5 S. 205 Z. 2092-3 Artemis Verlag, 1962
4. Wassermann : Teilnahme des Dichters an der Politik S. 328
Lebensdienst, Grethlein & Co. 1928
5. Döblin schreibt: „die Politik wird uns Unpolitischen dann ...
Dummheit: die Partei der Intellektuellen á la Hiller etc …“ (an H.
Waiden) S. 87 Briefe, Walter Verlag, 1970
6. Rilke : Richtung zur Zukunft S. 1146 Sämtliche Werke Bd. 6, Insel
Verlag, 1966
7. Hofmannsthal: Antwort auf die Umfrage des Svenska Dagbladet, S.
365 Aufzeichnungen, Fischer Verlag, 1959
8. Rilke: Wir haben eine Erscheinung S. 1148 Sämtliche Werke Bd. 6,
Insel Verlag, 1966
9. Zuckmayer : Als wär's ein Stück von mir S. 202 Fischer Verlag,
1968
— 49 —
10. Hesse: Gesammelte Werke Bd. 10 S. 465 Suhrkamp Verlag, 1970
11. T. Mann: Gedanken im Kriege S.9 Politische Schriften und Reden
2, Fischer Bücherei, 1968
12. Middell: Biografien H. Hesse S. 121 Verlag Philipp Reclam, 1972
13. H. Mann : Essays S. 212 Classen Verlag, 1960
14. Hesse : Gesammelte Werke Bd. 12 S. 330 Suhrkamp Verlag, 1970
-50-
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