Deutschlands- und Europastudien in Russland

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DEUTSCHLANDS- UND EUROPASTUDIEN IN RUSSLAND: FORSCHUNGSSTAND, DEFIZITE
UND
PROBLEME
Elena BELOKUROVA, Mitarbeiterin an der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie der
Europäischen Universität in St. Petersburg.
Schon vor seiner offiziellen Eröffnung hat das Zentrum für Deutschland- und Europastudien sehr
ernsthaft an der Formulierung seiner Ziele und der Konzeption gearbeitet. Es wollte die Fehler
umgehen, die häufig begangen werden, wenn ausländische Einrichtungen ihre Arbeit in Russland
aufnehmen: Um zu vermeiden, dass nur die eigenen Vorstellungen im Mittelpunkt stehen, wurde zu
einer öffentlichen Diskussion eingeladen, auf der unter Beteiligung von deutschen und russischen
Wissenschaftlern und Experten die Konzeption des Zentrums eingehend erörtert werden sollte.
Das ZDES in St. Petersburg, dessen Aufbau jetzt eingeleitet wurde und das im kommenden
Frühjahr offiziell eröffnet werden soll, fügt sich ein in eine Reihe von German- and European Studies
-Instituten, -Zentren und -Projekten, die in den vergangenen zehn Jahren vor allem in Nordamerika
und Europa entstanden sind und heute mehr und mehr in Mittel- und Osteuropa Verbreitung finden.
Obwohl alle diese Einrichtungen mit ihrer Ausrichtung auf Deutschland und Europa
(beziehungsweise Deutschland in Europa) zumindest einen gemeinsamen Bezugspunkt aufweisen,
differieren sie doch in ihren jeweiligen Aktivitäten und Aufgabenbereichen zum Teil erheblich. So
wird auch das St. Petersburger Zentrum nicht einfach auf einen fertigen Bauplan zurückgreifen
können, sondern wird die spezifischen Bedingungen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschens
und Lehrens in Russland bei all seinen Aufbauaktivitäten berücksichtigen müssen, um ein
eigenständiges, wieder erkennbares Profil zu gewinnen.
Welcher Art diese besonderen Rahmenbedingungen sind und welche Lehren daraus für ein
Projekt wie das des ZDES zu ziehen sind, war Gegenstand der vom 28. bis 29. Januar an der
Staatlichen Universität St. Petersburg stattgefundenen Tagung "Sinn und Nutzen von Deutschlandund Europastudien im modernen Russland“, die ca. 80 Teilnehmer zu verzeichnen hatte. Im Laufe
der Vorbereitungen zu dieser Veranstaltung wurde von November 2001 bis Januar 2002 eine Studie
durchgeführt, die der Analyse der in Russland veröffentlichten Publikationen über Deutschland und
den Problemen der Deutschlandforschung gewidmet war. Ziel der Studie war es, den aktuellen
Forschungsstand zu Deutschland in Russland vorzustellen, die dabei bevorzugten
Forschungsobjekte zu markieren und auf dieser Grundlage Perspektiven für weitere Forschungen
auf diesem Gebiet aufzuzeigen. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse der Untersuchung
basieren zum Einen auf nichtsstandardisierten Experteninterviews, zum Anderen auf der
Auswertung vorliegender Veröffentlichungen aus dem Bereich der Deutschland- und Europastudien
in Russland.1

Internationale Beziehungen vs. "europäische Forschungen"
Im Ganzen betrachtet schenkt die russische Literatur dem Problem der gegenseitigen
Beziehungen zwischen Russland und Deutschland und der Europäischen Union die größte
Aufmerksamkeit. Dabei konzentrieren sich die Forschungen auf die außenpolitischen Probleme (und
fast ausschließlich in Bezug auf die Beziehungen zu Russland), nicht aber hauptsachlich auf die
innerpolitischen Probleme der deutschen Gesellschaft. In diesem Fall fällt die Forschung unter die
Disziplin der "internationalen Beziehungen" und unterliegt deren Paradigmen und Methoden. In der
russischen Wissenschaft wird streng unterschieden zwischen Politologie, Ökonomie und den
Geschichtswissenschaften auf der einen Seite und den internationalen Beziehungen auf der
anderen Seite, entsprechend der Abgrenzung der Forschungsobjekte und der
Forschungsmethoden. Im Bereich der internationalen Beziehungen konzentrieren die Forscher sich
fast ausschließlich auf das Problem der Außenpolitik der Staaten oder der internationalen Institute,
wobei sie nicht die innerpolitischen Wurzeln des einen oder anderen Kurses berücksichtigen. Solche
Forschungen werden in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt, da sie keine inhaltlichen
Forschungen zur deutschen und europäischen Gesellschaft vorsehen.
Obwohl die Außenpolitik in erster Linie ein Untersuchungsobjekt der Spezialisten auf dem Gebiet
der außenpolitischen Beziehungen ist, stellt sich aktualitätsbedingt die Frage der innerpolitischen
Gründe für die Außenpolitik Deutschlands für die Politologen-Germanisten.
Auf der Grenze zwischen außenpolitischen Beziehungen und Politologie entstanden Arbeiten,
die die Problematik der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland behandelten. Als
Beispiel kann man dafür die Arbeiten der Politologen V. Markov, Kirill Vjatkin und Svetlana
Pogorelskaja nennen. Ungeachtet der ähnlichen Themenstellung sind ihre Herangehensweise an
das Problem unterschiedlich.
Markov legt die These zugrunde, dass die Interessen Deutschlands in bezug auf Russland
widersprüchlich sind. Auf der einen Seite ist Deutschland an einem wirtschaftlich und politisch
1
Bei der Auswahl der Literatur wurden folgende Kriterien angewandt: Die Publikation sollte, erstens, von
einem russischen Wissenschaftler stammen und sie sollte, zweitens, das Resultat einer durchgeführten
Forschungsarbeit darstellen beziehungsweise sollte sie zumindest Elemente aus einer Analyse empirisch
erhobener Daten beinhalten. Das Hauptaugenmerk lag auf öffentlich zugänglichen Ausgaben mit einer hohen Auflage.
Unter den ausgewerteten Zeitschriften überwogen die überregionalen Periodika. Ebenfalls berücksichtigt wurden
Neuerscheinungen und von den Autoren übersandte Monografien, die der Deutschland- und Europaforschung gewidmet
sind. Die Suche nach solchen Monographien ist problematisch, da die Mehrzahl von ihnen nicht im öffentlichen Verkauf
erhältlich ist, sie sind entweder vergriffen oder wurden von ausländischen Stiftungen finanziert, weshalb sie kaum im
freien Handel erhältlich sind. Diese Ausgaben wurden eher zufällig in die Bibliographie aufgenommen. Schon aus diesem
Grund kann die Bibliographie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Aufgrund der zeitlichen Beschränkung der
Studie wurde auch keine Suche nach Publikationen im Internet durchgeführt – dies könnte Aufgabe einer eigenen
Erhebung sein.
stabilen Russland interessiert. Auf der anderen Seite jedoch wird "in den führenden Kreisen der
BRD das Bestreben festgestellt, die Rolle unseres Landes auf die eines zweitrangigen Staates zu
beschränken, um die Möglichkeit auszuschließen, dass Russland zu einem starken Konkurrenten
wird, der sich den deutschen Expansionswünschen im Osten entgegenstellen könnte."2
Bei Betrachtung derselben Fragestellung stellt K. Vjatkin die Einzigartigkeit der deutschen
Ostpolitik in den Mittelpunkt, die bei eingehender Analyse Schlussfolgerungen über die
widersprüchlichen Perspektiven der zukünftigen Beziehungen zwischen Deutschland und der
Russischen Föderation zulassen.3
Svetlana Pogorelskaja ist noch näher an der innenpolitischen Problematik, wenn sie über die
Außenpolitik Deutschlands spricht und diese dabei zwei unterschiedliche Identitäten feststellt – die
der "Bonner Republik" und die der "Berliner Republik". Die erste charakterisiert in erster Linie das
mit dem Verlust der nationalen Identität in der Nachkriegszeit einhergehende Bestreben, Europa zu
vereinigen und in ihm aufzugehen. Die Identität der "Berliner Republik" formte sich in den letzten
Jahren als Ausdruck der Neubildung einer einheitlichen Nation und der Stärkung des
Nationalgefühls, was bezeugt wird durch die Teilnahme Deutschlands an den Kriegshandlungen auf
dem Balkan und die früher für unmöglich gehaltene Gutheißung der Kriegshandlungen durch die
Bevölkerung.4
Besonders viel Aufmerksamkeit wird der Erforschung der Beziehungen zwischen Russland und
der Europäischen Union geschenkt, was durch die wachsende Integration Europas und die
Aktualität dieses Problems erklärt werden kann. In der Bibliographie werden einige Publikationen zu
diesem Thema genannt, ihre Analyse überschreitet jedoch den Rahmen dieser Studie. Sehr selten
wird die deutsche Politik innerhalb Europas erforscht.5
Der Forschungsstand: die Deutschlandforschung im Rahmen der verschiedenen Disziplinen
Die Erforschung der inneren Prozesse Deutschlands ist aufgeteilt sowohl zwischen den
verschiedenen Disziplinen als auch den verschiedenen Institutionen nach Spezialisten, Projekten
und Instituten.
Im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften ist die Deutschlandforschung besonders beliebt,
wobei die verbreiteten Themen die Wirtschaftspolitik, die soziale Marktwirtschaft und in letzter Zeit
die aktuellen Reformen, wie z.B. die Rentenreform, sind.6 Dabei gibt es sowohl aktuelle Analysen
des Zustands der deutschen Wirtschaft7 als auch allgemeine Charakteristiken der Mechanismen der
deutschen Wirtschaftspolitik. In den Monographien der Ökonomen geht es nicht nur um die
Марков В. Политика ФРГ в отношении Российской Федерации, М.: Дипломатическая академия, 2001.
Вяткин К. Бремя итогов – время перемен: восточные горизонты европейской политики Германии, ДИЕ РАН №53,
М., 1999.
4 Погорельская С. Внутриполитические аспекты новой германской внешней политики // МЭМО, 7, 2001, 91-100.
5 Погорельская С. Некоторые аспекты европейской политики объединенной Германии // МЭМО, 2000, 1, с. 89–95.
6 Гутник В., Зимаков А. Пенсионная реформа в Германии // Современная Европа, 2, 2001, 49-59.
7 Гутник В. Неравномерность развития экономики Германии // МЭМО, 8, 1998; Гутник В. Германия // МЭМО, 8,
2001, 79-88; Ходов Л. Германия как импортер и экспортер частного капитала // Современная Европа, 4, 2000, 100104; Ходов Л. Что ждет германскую экономику в ближайшие 20 лет? // Современная Европа, 2, 2001, 92-95.
2
3
verschiedenen Aspekte der stattlichen Regulierung der deutschen Wirtschaft, sondern es wird auch
der Versuch gemacht, die deutschen Erfahrungen neben die Erfahrungen aus den russischen
Reformen zu stellen. Dabei wird der Akzent auf die Finanz- und Kreditpolitik, die Rolle der
Zentralbank und die Struktur- und Sozialpolitik gesetzt. Ausgehend von den deutschen Erfahrungen
in der Wirtschaftregulierung wird gefolgert, dass es unumgänglich ist, die deutschen Erfahrungen
und Diskussionen im Reformprozess in der russischen Föderation anzuwenden.8
Die russischen Ökonomen sind besonders an den Prinzipien der deutschen "sozialen
Marktwirtschaft" interessiert. Diesem Thema sind sowohl einige ins Russische übersetzte Arbeiten
von L. Erhart, W. Eucken und G. Lehmbruch als auch Analysen des deutschen Modells durch
russische Gelehrte gewidmet. Im Mittelpunkt stehen dabei die Wirtschaftsreformen nach dem Krieg,
die konzeptuellen Grundlagen des deutschen Modells, die soziale Bedeutung einer solchen
Wirtschaftpolitik, die konkreten Mechanismen der Wirtschaftsregulierung und die Modelle der
Sozialpolitik. Dabei standen sowohl die geistigen als auch die theoretischen Ursprünge der sozialen
Marktwirtschaft im Blickpunkt. Weiterhin wurden ihre grundlegenden Prinzipien und die Probleme,
auf die das deutsche Modell bei der Vereinigung Deutschlands und der Liberalisierung der globalen
Wirtschaft stieß, aufmerksam verfolgt.9
In der Politikwissenschaft standen die für Russland aktuellen Themen im Mittelpunkt, besonders
der Föderalismus.10 Dabei war die Analyse der wirtschaftlichen Probleme der Institutionen auf den
verschiedenen Verwaltungsebenen von besonderem Interesse. 11 In Verbindung mit den Reformen
der lokalen Selbstverwaltung in Russland gewann auch die Erforschung der lokalen
Selbstverwaltungsorgane in Deutschland an Aktualität.12 Ein anderes traditionell typisches Thema
für die vergleichenden Politikwissenschaften in Russland ist das Studium der deutschen politischen
Parteien13 und des Wahlsystems14, das dem russischen System ähnlich ist. Besondere
Aufmerksamkeit wird dabei der SPD geschenkt, was sowohl auf die Erinnerung an das große
Гутник В. (ред.), Механизм регулирования экономики в Германии: как он функционирует и чему учит, ВлаДар,
1995.
9 Чепуренко А. (ред.) Социальное рыночное хозяйство в Германии: истоки, концепция, практика, М.: РОССПЭН,
2001; Васина Л. Социальное рыночное хозяйство: словарь терминов, М.: ИНФРА-М, 1997; Зарицкий Б. Людвиг
Эрхард: секреты «экономического чуда», М.: БЕК, 1997, Социальное рыночное хозяйство: Теория и практика
экономического порядка в России и Германии, СПб: Экономическая школа, 1999.
10 Витковский О. Федерализм против централизма. Некоторые политико-географические аспекты и проблемы
воссоединенной Германии // Вопросы экономической географии зарубежных стран, М., 1992; Леванский С.
Германия: федерализм в мононациональном государстве // Полис 5, 1995, 116-120; Рубинский Ю., Вяткин К.
Долгосрочные совместные программы социально-экономического развития центра и регионов (опыт Франции и
Германии), ДИЕ РАН №45, М., 1998; Бусыгина И. Германский федерализм: история, современное состояние,
потенциал реформирования // Полис, 5, 2000, 110-120; Бусыгина И. Регионы Германии, М.: РОССПЭН, 2000;
Васильев В. Германский федерализм: проблемы развития, М., 2000.
11 Баранова К. Бюджетный федерализм и местное самоуправление в Германии, М.: Дело и Сервис, 2000.
12 Михалева Г. Местное самоуправление в новых землях Германии // Местное самоуправление в современной
России. Политика, практика, право (ред. С. Рыженков), М.: ИГПИ/МОНФ, 1998, 126-136; Хлебников Б.
Самоуправление. Немецкие модели (на примере федеральной земли Баден-Вюртемберг, Германия), М., 1997
(http://academy-go.ru).
13 Леванский С. ФРГ: умеренный партийный плюрализм // Полис, 2, 1998, 158-171.
14 Васильев В. Федерализм и избирательная система в ФРГ // Полис 4, 1995, 139-145.
8
Interesse an sozialdemokratischen Ideen seitens der sowjetischen Gesellschaftswissenschaften als
auch auf den Wahlsieg der SPD bei den Bundestagswahlen 1998 zurückzuführen ist.15 Nur eine
Studie war der Erforschung der konservativen Kräfte in der Parteienlandschaft Deutschlands
gewidmet.16 Ein anderes für Russland aktuelles Thema ist die Erforschung der Sozialpolitik und der
Aktivitäten der wohltätigen Stiftungen und öffentlichen Organisationen in Deutschland.17
Für alle Vertreter der sozialen Wissenschaften (Wirtschaftswissenschaften, Politologie,
Soziologie, Geschichtswissenschaften) ist die Vereinigung Deutschlands von großem Interesse.
Einige große kollektive Monographien verschiedener Forschungsinstitute waren der umfassenden,
interdisziplinären Erforschung dieser Veränderungen gewidmet. An dieser Stelle sollen vor allem
einige Sammelbaende genannt werden, die die Reden bedeutender Politiker in Deutschland (H.
Kohl, W. Brandt, R. Darendorf, O. Lafontaine usw.) von 1998-1990 zur Vereinigungsfrage, ihrer
Aktualität und internationalen und historischen Bedeutung enthalten. 18 Vereinzelt wurden auch die
wirtschaftlichen Probleme der Vereinigung beleuchtet. 19 Es wurde der Versuch unternommen, die
Beziehungen des vereinigten Deutschlands zu verschiedenen anderen Staaten (EU, USA, Polen,
Zentralasien und China) zu klären.20 Es gibt zwei besonders interessante interdisziplinäre
Sammelbände, die über die Probleme der Vereinigung Deutschlands nach 8-10 Jahren
reflektieren.21 Dieser Problematik nahmen sich auch einige einzelne Arbeiten verschiedener
Fachrichtungen an.22
Für eine vollständige Charakteristik des Forschungsstandes der russischen
Deutschlandforschung ist es notwendig, die Faktoren zu bestimmen, die die Auswahl des einen
oder anderen Forschungsgegenstands oder –bereichs bedingen. Warum wählten die
Wissenschaftler Deutschland als Forschungsobjekt und besonders die oben beschriebenen
Леванский С. Бьерн Энгхольм - новый лидер СДПГ // Полис, 5, 1991; Лидеры современной социал-демократии,
М., 1991; Рыкин В. СДПГ на новом этапе // Современная Европа, 3, 2000, 25-31; Гутник В. Немецкая социалдемократия: новый центризм или беспринципный прагматизм // МЭМО, 6, 2001, 52-60; Хлебников Б. К итогам
очередных выборов в Бундестаг, М., 1998 (http://academy-go.ru).
16 Синдеев А. Европейская политика ХДС/ХСС (конец 1980-х – 1990-е годы ХХ века). Диссертация на соискание
степени кандидата исторических наук, Ярославль: Ярославский государственный педагогический университета,
2000.
17 Хлебников Б., Ярыгина Т., Шалганова И. Новый социальный договор и экуменические инициативы в Германии,
Социальный барометр; Белокурова Е. Государство и «третий сектор» в Германии: от неокорпоратизма к
смешанной модели // Общественные науки и современность, 2, 1999, 2, 54 – 65; Погорельская С. Свободные от
гнета повседневной политики (Деятельность немецких благотворительных фондов) // Полис, 3, 1999, 162-169;
Вяткин К. Лоббизм по-немецки // Полис 1, 1993, 179-183.
18 Объединенная Германия: политико-культурный и социально-экономический аспекты (ред. Орлов Б.,
Сальковский О.), М.: ИНИОН, 1992
19 Объединенная Германия: проблемы доходов и занятости (ред. Турусова Л.), М.: ИНИОН, 1993
20 Объединенная Германия в Европе и мире (ред. Размеров В.), М.: ИМЭМО, 1994.
21 Баранова К., Белов В., Борисова И., Рыкин В., Вяткин К. Объединение Германии и его последствия, ДИЕ РАН
№49, М., 1998; Объединенная Германия: десять лет, М.: ИНИОН, 2001
22 Кузьмин И. Крушение ГДР. История. Последствия, М.: Научная книга, 1996; Кузьмин И. Шесть осенних лет.
Берлин 1985-1990. М.: Научная книга, 1999; Романов С. Новые федеральные земли в зеркале германского
единства, М.: Научная книга, 2000; Самотуга В. Трансформационные процессы в новых землях Германии –
взгляд из России // Социально-экономические реформы в России и Германии: итоги и перспективы, Спб:
издательство РГПУ, 1999, 83-93.
15
Bereiche? Neben den persönlichen Neigungen, die von der vorliegenden Studie ausgeklammert
werden, ergeben sich Antworten auf diese Frage aus den strukturellen Faktoren der
Forschungsarbeit im heutigen Russland im allgemeinen und aus der Beziehung zur
Deutschlandforschung im besonderen.
 Die Problematik der Stiftungen: "Europa vs. USA"
Im Russland der 90-er Jahre sind unzureichende finanzielle Ressourcen und eine Kürzung der
staatlichen Finanzierung der Wissenschaft die grundlegenden strukturellen Faktoren der
wissenschaftlichen Tätigkeit.23 Im Vergleich zu den Naturwissenschaften und den technischen
Fachrichtungen ist die Situation bei der Sozialwissenschaft jedoch nicht ganz so katastrophal. Dies
ist vor allem auf die Aktivitäten der westlichen Stiftungen und Programme in Russland
zurückzuführen, die vor allem Sozialwissenschaft fördern. Zum Beispiel wurden 1993 200-300
Millionen US Dollar in die Entwicklung der russischen Wissenschaft investiert 24, was die Ausgaben
des russischen Budgets für diese Zwecke überstieg.25 Obwohl viele in Russland eine kritische
Position gegenüber den Aktivitäten der ausländischen Stiftungen einnahmen, besonders am Anfang
der 90-er Jahre, sahen nach einer Studie aus dem Jahre 1995 66% der Wissenschaftler in den
Stipendien eine wesentliche Aufbesserung ihres Einkommens, 49% konstatierten einen positiven
Einfluss auf die Anzahl der Studien und 35% auf die Qualität der Studien. Die Hälfte der Befragten
(52%) betonte die Bedeutung ausländischen Kapitals für die Durchführung neuer
Forschungsprogramme. Dabei sahen 40% die Motive der ausländischen Sponsoren darin, für wenig
Geld Zugang zu russischen Forschungsergebnissen zu bekommen (Sponsoren als "Vampire") und
14% sahen darin den Versuch, eine Auswanderung russischer Wissenschaftler ins Ausland zu
verhindern, um die internationale Konkurrenz nicht zu verschärfen.26 So oder so hat die Politik der
Stiftungen bis zu einem bestimmten Grad die Auswahl der Themen und Forschungsmethoden in
den sozialen Wissenschaften beeinflusst. In der Mehrzahl der Fälle wurden Studien finanziert, die
die Problematik des demokratischen Reformprozesses in Russland zum Thema hatten, wobei der
Versuch unternommen wurde, die Erfahrungen des eigenen Landes in die russischen Reformen mit
einfließen zu lassen.
Da der grundlegende Teil ausländischer Finanzierung russischer Wissenschaft in den 90-er
Jahren auf amerikanische Stiftungen entfiel, bestimmten sie auch den Ton der sozialen
Wissenschaften. Als den aktivsten und in Russland bekanntesten Fonds kann man das "Open
Society" Institut, die Ford Foundation, Eurasia Feundation, Mc Arthurs Foundation etc, nennen. Die
Abwesenheit einer aktiven Tätigkeit von privaten europäischen Stiftungen (die im allgemeinen auch
in der Finanzierung der Wissenschaft nicht so eine wichtige Rolle spielen wie die amerikanischen
Козенко П., Ципровская А. Наука в России // Постиндустриальный мир: центр, периферия, Россия, сб. 3, М.:
МОНФ, ИМЭМО, 1999, 122-142.
24 Kneen P. Science in Shock: Russian Science Policy in Transition // Europe-Asia Studies, 47(2), 1995, 293.
25 Алахвердян А., Дежина И., Юревич А. Зарубежные спонсоры российской науки: вампиры или Санта-Клаусы.
МЭМО, 5, 1996, 35.
26 Там же, 41.
23
Organisationen in der USA) führte zu einer Dominanz der amerikanischen Stiftungen auf diesem
Gebiet. Die bürokratischer organisierten europäischen staatlichen Stiftungen hatten dem
amerikanischen Einfluss nichts entgegenzusetzen. Um so mehr noch, da sie verschiedenen
europäischen Ländern angehörten und somit in einem Konkurrenzverhältnis zueinander standen.
Die größte Aktivität zwischen den deutschen Organisationen entwickelte der DAAD, der das
Interesse an Deutschland bei den Studenten und jungen Forschern förderte. Es ist schwer zu
sagen, inwieweit seine Tätigkeit erfolgreich war, da es im Moment noch verfrüht ist, die Resultate
der wissenschaftlichen Tätigkeit seiner Stipendiaten zu beurteilen. Für die werdenden
Wissenschaftler die politischen Stiftungen (Konrad Adenauer Stiftung, Friedrich Ebert Stiftung,
Friedrich Naumann Stiftung, Heinrich Böll Stiftung) als Förderer der Wissenschaften sehr wichtig.
Sie führten in erster Linie Konferenzen durch, bauten Forschernetzwerke auf und förderten deren
Arbeit. In diesem Sinne spielten sie eine wichtige Rolle. Sie förderten jedoch nicht das Interesse
junger Wissenschaftler an Deutschland, sondern unterstützten eher Wissenschaftler, die in diesem
Bereich schon forschten. Sie finanzieren nicht nur Forschungsaufenthalte russischer
Wissenschaftler in Deutschland, sondern versuchen auch, deutsche Erfahrungen an russische
Experten und Politiker weiterzugeben. Mit diesem Ziel werden Konferenzen, Seminare,
Diskussionsrunden mit Experten und Politikern und deutscher Beteiligung organisiert. Ebenso
werden gegenseitige Besuche und gemeinsame Publikationen unterstützt. Auf diese Weise war die
Tätigkeit der Stiftungen äußerst wichtig, um ein Expertennetzwerk für Deutschlandstudien
aufzubauen, aber sie bedingten nicht das Interesse russischer Forscher an Deutschland. Obwohl
sie indirekt die Themenauswahl russischer Wissenschaftler für Studien über Deutschland
beeinflussen, sind sie dafuer nicht der bestimmende Faktor.
 Die Problematik der Institute: die Rolle der Forschungsinstitute
Als eine zweite Ursache für das Interesse russischer Forscher an Deutschland und den von
ihnen gewählten Forschungsthemen kann die Version über die noch aus der Sowjetzeit geerbten
institutionalisierten Struktur der wissenschaftlichen Forschung dienen. Sie besteht im wesentlichen
aus der Arbeitsteilung zwischen dem Lehrbereich in den Hochschulen und dem Forschungsbereich
an den Instituten der Russischen Akademie der Wissenschaften. Diese traditionellen Einrichtungen
werden durch die ziemlich langsam vonstatten gehenden Veränderungen charakterisiert, besonders
was den Wechsel der Generationen von Wissenschaftlern angeht. An den meisten Hochschulen
findet bis heute nur ein sehr unwesentlicher Teil der Forschungen statt. Nichtsdestotrotz kann man
nach zehn Jahren an den Instituten der Russischen Akademie für Wissenschaften von einer
bedeutenden Transformation sprechen, die besonders in den Städten Moskau und St. Petersburg
auffällt. Die Arbeit an diesen Instituten wurde flexibler: Die Wissenschaftler verbringen nicht ihre
ganze Zeit an den Instituten, sondern arbeiten selbständig. Dabei sind sie nicht nur an den Instituten
beschäftigt, sondern lehren auch an den Hochschulen, kooperieren selbständig mit ausländischen
Partnern, nehmen an Projekten teil und erhalten Stipendien. Im Unterschied zur Sowjetzeit "macht"
nicht mehr das Institut die Spezialisten und bestimmt die Auswahl der Forschungsobjekte, sondern
die Wissenschaftler "machen" das Institut. Die Wissenschaft in Russland, wie auf der ganzen Welt,
ist individueller geworden.
Davon waren auch die Deutschland- und Europastudien nicht ausgenommen. Ungeachtet
dessen, dass die Institute der Russischen Akademie der Wissenschaften bei der Forschung am
Anfang den Ton angaben, so sind sie inzwischen oft nur noch das "Dach" für eine selbständige
Forschungsarbeit einzelner Spezialisten. Zur Sowjetzeit arbeiteten die Deutschlandforscher in den
großen Instituten wie z.B. Institut fuer Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO), wo
die Abteilung für Westeuropa 50 Mitarbeiter hatte, von denen 7 mit der BRD beschäftigt waren.
Heutzutage sind die Forscher auf einzelne Institute verstreut. Zum Teil ist das auf die ihre
Ausgliederung aus dem IMEMO als Europainstitut im Jahre 1987 zurückzuführen, das zu einem
wichtigen Zentrum für Europastudien wurde, darunter auch die Deutschlandstudien. Zur Zeit existiert
dort ein Zentrum für Deutschlandforschung, wo 4 Politologen und Wirtschaftswissenschaftler fest
angestellt sind.
Auf der anderen Seite konnte das Interesse an Deutschland nicht mehr nur durch die bewährten
Mitarbeiter der profilierten Institute befriedigt werden, sondern von den Vertretern vieler
verschiedener anderer Fachrichtungen. Auf diese Weise arbeiten Deutschlandforscher jetzt in
verschiedenen Einrichtungen: Obwohl die wichtigsten Zentren das Europa Institut (wo das Zentrum
für Deutschlandforschung gegründet wurde), das IMEMO, Diplomatische Akademie und Universitaet
fuer Internationale Beziehungen (MGIMO) bleiben, arbeiten die Deutschlandforscher jetzt auch am
Institut für vergleichende Politikwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, an
der Russischen Hochschule für Geisteswissenschaften, der Moskauer Staatlichen Universität und
anderen akademischen Einrichtungen.
Zu Beginn der 90-er Jahre wurde neben den staatlichen auch eine Reihe von privaten
wissenschaftlichen Einrichtungen gegründet. Sie sind als sogenannte "analytische Zentren den
stattlichen Organen beigeordnet oder private Forschungszentren, die hauptsächlich durch
ausländisches Kapital existieren. Von den privaten Forschungsinstituten, die seit Ende der 80-er
Jahre zu Hunderten aus dem Boden schossen, überlebten relativ wenige. Sie dienen zum Teil als
brain trusts für die Politiker und politischen Vereinigungen oder finanzieren sich durch kommerzielle
Forschungsaufträge ausländischer Investoren, Banken, Versicherungs- oder Handelsunternehmen.
Da das Forschungsthema in diesen Zentren vom Auftraggeber festgelegt wird (politische oder
kommerzielle Strukturen), so ist die Deutschlandforschung in dem Grad für sie aktuell, in dem die
Ergebnisse aktuell oder notwendig sind für den Auftraggeber. Forschungszentren, die auf westliche
Finanzierung angewiesen sind, sind mehr an Deutschlandstudien interessiert, das diese neue
Finanzierungs- , Entwicklungs- und Kooperationsmöglichkeiten für sie eröffnen.

"Wissenschaft vs. Praxis": die politischen Anforderungen an die Deutschlandforschung
Wie die Analyse der Themen der Deutschlandforschung gezeigt hat und die unbedeutende
Rolle, die die politischen Stiftungen und Institute bei der Auswahl spielen, ist das Interesse an dem
einen oder anderem Forschungsfeld eng mit den Erfordernissen verbunden, die sich aus der
politischen Praxis ergeben.
Viele russische Wissenschaftler aus dem Bereich der Sozialwissenschaften sind selbst im
russischen Transformationsprozess aktiv: eine praxis- und beratungsorientierte Richtung ist fuer sie
grundlegend. Die Entscheidung des Forschers zugunsten der einen oder anderen Theorie ist
deshalb oft in vielerlei Hinsicht eine politische Entscheidung – die Geschichte der postsowjetischen
Sozialwissenschaften ist ein grundlegender Teil der politischen Diskussion. Da der Umbruch zu
Beginn der 90-er Jahre eine beabsichtigtes Reformprojekt für Marktwirtschaft und Demokratie war,
gerieten die "westlichen" Theorien ins Zentrum des Interesses vieler russischer Wissenschaftler.
Darin spiegelt sich die wichtige, theoretisch-konzeptuelle Umorientierung der
Sozialwissenschaften nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und seiner ideologischen
Grundlagen wider, die zu einer Pluralisierung der Theorien und Herangehensweisen an
Problemstellungen führte. Zwei dominierende Tendenzen können dabei festgestellt werden, die den
historischen Gegensatz zwischen den "Westlern" und den "Slavophilen" innerhalb der russischen
Intelligenzija wieder aktualisiert. Auf der einen Seite kann man eine starke Orientierung an der
anglo-amerikanischen wissenschaftlichen Tradition feststellen, sodass die russischen
Sozialwissenschaften sich weiterhin wie eine "wissenschaftliche Kultur an der Peripherie"
entwickelt.27 In den Forschungszentren der russischen Hauptstadt gehört es für eine Studie, die
erfolgreich sein will, immer mehr zur Standardvoraussetzung, auch den internationalen Diskurs
heranzuziehen.
Auf der anderen Seite ist ein wesentlicher Teil der russischen Forscher Anhänger des speziellen
"russischen" Verständnis von Wissenschaft. So wird der Versuch unternommen, eine eigenständige
Disziplin auf den Grundlagen der "russischen historischen Politikwissenschaft" zu gründen, die den
besonderen russischen Weg postulieren und "westliche" Konzeptionen als irrelevant für die
Interpretation der (früheren, heutigen und zukünftigen) Gesellschaft ablehnen. 28 Die
"bodenständige" Tradition der russischen Sozialwissenschaften orientiert sich nicht an empirischanalytischen Theorien, sondern entwickelt historisch-philosophische "spekulative" Modelle.29
Der für das Russland der 90-er Jahre charakteristische Gegensatz zwischen "Liberalen" und
"Antiliberalen" schlug sich auf diese Weise auch in der Gemeinschaft der Wissenschaftler nieder.
Was al Konkurrenz zwischen einzelnen Theorien, Konzeptionen und Entdeckungen erscheinen
mochte, war in Wirklichkeit ein Gegensatz in der Weltsicht der Wissenschaftler auf der Grundlage
der politischen Überzeugungen. Dieser Gegensatz wird institutionalisiert durch die Verbindung
Несветляков Г. Центр-периферийные отношения и трансформация постсоветской науки // СоцИс, 7, 1995, 2640.
28 См., например, Российская политология. Учебное пособие. М.: РГАС, 1995.
29 Ionin L. Institutionalisierung und ideologische Paradigmen der Politologie // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in
Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1996, Bd. 1, 57-82.
27
seiner Vertreter mit den Institutionen und Fachzeitschriften. 30 In diesem Sinne beschäftigen sich mit
der Deutschlandforschung natuerlich die "Westler", wobei sie dem sogenannten "politischen
Auftrag" unterliegen, d.h. sie wählen die Themen in Abhängigkeit ihrer Aktualität für die russischen
Reformen. Nicht zufällig konzentrieren sich die Wissenschaftler auf die Erforschung des deutschen
Föderalismus und der lokalen Selbstverwaltung, der aktuellen politische Entwicklung, der
Sozialpolitik und der wirtschaftlichen Reformen sowie des Transformationsprozess in
Ostdeutschland. Dabei wird in einem großen Teil der Artikel folgende Motivation deutlich: Es ist
notwendig, die Vorteile und Mängel des deutschen politischen und wirtschaftlichen Systems zu
kennen und zu begreifen mit dem Zeil, die vorliegenen russischen Reformen effektiver
durchzuführen.
Die Nachfrage nach den deutschen Erfahrungen spiegelt sich nicht nur in den wissenschaftlichen
Publikationen wider, sondern auch im Interesse der handelnden Poltiker. Die Mehrzahl der
Moskauer Deutschlandexperten verzeichnen deren Interesse an einer solchen Thematik. In der
Praxis drückt sich dies in den verschiedenen öffentlichen und geschlossenen Seminaren und
Konsultationen unter Teilnahme der Experten aus, die von den staatlichen und politischen
Strukturen durchgeführt werden. Die Art des Interesses an Deutschland und Europa hat sich im
Laufe der 90-er Jahre verändert. Als im Bereich der politischen und wirtschaftlichen Konsultationen
in der russischen Politik die amerikanischen Berater klar dominierten, war das starke Interesse an
Europa wenig praktikabel und umsetzbar. Selbst als Mitte der 90-er Jahre der Reformprozess sich
verlangsamte, steigerte dies nicht das Bedürfnis nach europäischen Wissen. In seiner kurzen
Amtszeit als Premierminister hat E. Primakov, der ehemalige Aussenminister und frühere Direktor
des MIEMO, neben den anderen auch Deutschlandexperten für politische Entscheidungen
hinzugezogen.
Zur Zeit ist die Situation unklar. Auf der einen Seite besteht von der Regierung Putins her ein
klares Interesse an Refomexperten, auf der anderen Seite zieht es die Regierung nach Meinung
eines Experten vor, Forschungsaufträge an private Institute zu vergeben, wo praktisch keine
Deutschlandexperten arbeiten.
Der hautpsächliche Grund für die Themenwahl und das Forschungsinteresse an Deutschland ist
jedoch bis heute die Aktualität des einen oder anderen Aspekts der Wirtschaft und Politik für die
russische Realität und Reformen. Die Mehrzahl der Autoren geht bei der Aufstellung ihrer
Forschungsprojekte von der Notwendigjkeit aus, die deutsche Erfahrungen in Russland
anzuwenden. Dabei geht es nicht um einen einfachen Transfer deutscher Institute auf russischen
Boden, wichtig ist, diejenigen Ergebnisse aus den deutschen Studien den Kollegen und Politikern
zugänglich zu machen, die bei der Lösung der russischen Probleme von Nutzen sein könnten.
Deshalb sind die Probleme des Föderalismus, die lokale Selbstverwaltung und die wirtschaftlichen
und sozialen Reformen Hauptgegenstand der Forschung.
Ionin L. Institutionalisierung und ideologische Paradigmen der Politologie // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in
Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1996, Bd. 1, 57-82; Stykow P. Literaturbericht: Sozialwissenschaftliche Zeitschriften in
Rußland // Welt Trends, 6, 1998, 173-185.
30

Moskau vs. Regionen: Das Moskauer Monopol?
Sowie der Beleg dafür als auch eine Folge davon, dass die Forderung nach Deutschlandstudien
aus der Praxis erfolgt, ist die Tatsache, dass es außerhalb von Moskau praktisch keine
Deutschlandexperten gibt. Dies hängt mit den allgemeinen Problemen der russischen Wissenschaft
zusammen.31 Erstens hielt die zentralisierte Infrastruktur der wissenschaftlichen Kommunikation
nicht dem Zerfall des staatlichen sozialistischen Systems stand. So ist der Zugang zu Informationen
über neue russische und ausländische Publikationen und zu ausländischer Literatur sehr
beschränkt. Die Bibliotheken in den Hochschulen und Forschungsinstituten sind armselig
ausgestattet. Die Nutzung der Neuen Medien ist für Wissenschaftler, besonders diejenigen aus der
Provinz, entweder unmöglich oder sehr eingeschränkt. Die Kommunikation der russischen
Wissenschaftler untereinander ist sehr schwach entwickelt und häufig auf kleine Diskussionskreise
beschränkt. Zudem gibt es wenig Fachzeitschriften.
Zweitens wird der Zugang zu Informationen und ausländischen Forschungsergebnissen, in erster
Linie der deutschen, durch das weitverbreitete Nichtbeherrschen von Fremdsprachen erheblich
erschwert. Nur ein kleiner Teil der russischen Wissenschaftler in den Hochschulen des Landes
(Moskau und St. Petersburg ausgenommen) beherrschen gut genug Fremdsprachen. Obwohl dieser
Teil zwischen den Studenten und jungen Forschern wächst, bleibt die Barriere, ausländische
Forschungsergebnisse und Literatur in der Originalsprache zu studieren, sehr hoch. Mehr als die
englische Sprache ist hiervon die deutsche Sprache betroffen, und sogar in der Zukunft sind keine
wesentlichen Verbesserungen – wenn überhaupt – zu erwarten.
Mitte der 90-er Jahre waren Tendenzen spürbar, die wissenschaftliche Infrastruktur
wiederzubeleben, besonders dank überregionaler russischer und internationaler Konferenzen,
Seminare und der Aktivitäten wissenschaftlicher Fachverbände und Zeitschriften. Außerdem gelang
es vielen russischen, oft jungen Wissenschaftlern, Zugang zu den Diskussionen und den
Publikationen der westlichen Sozialwissenschaft zu erhalten. Dies wurde vor allem durch
Stipendienprogramme und Kooperation mit ausländischen staatlichen und privaten Sponsoren
finanziert. Dadurch wurde es möglich, auf privater Basis internationale Fachliteratur zu erwerben
und auch die wissenschaftlichen Bibliotheken in Russland besser auszustatten.
О попытках анализа российских общественных наук с середины 90-х годов см.: Oswald I. u.a. (Hg.):
Sozialwissenschaft in RuЯland. Berlin: Berliner Debatte. Bd. 1. Analysen russischer Forschungen zu Sozialstruktur,
Eliten, Parteien, Bewegungen, Interessengruppen und Sowjetgeschichte. 1996, Bd. 2. Analysen russischer Forschungen
zu Sozialstruktur, Wählerverhalten, Regionalentwicklung, ethnischen Konflikten, Geopolitik, nationalen Interessen und
Sowjetgeschichte. 1997; Schimank U. Die Transformation der Forschungssysteme der mittel- und osteuropäischen
Länder: Gemeinsamkeiten von Problemlagen und Problembearbeitung // Mayntz R. U.a. (Hrsg.) Transformation mittelund osteuropäischer Wissenschaftssysteme. Länderberichte. Opladen: Leske+Budrich, 1995, 10-39; Kneen P. Science
in Shock: Russian Science Policy in Transition // Europe-Asia Studies, 47(2), 1995, 281-303; White S. Public Opinion and
Political Science in Postcommunist Russia // European Journal of Political Research, 27(4), 1995, 507-526.
31
Drittens haben die Forscher in den Regionen oft äußerst begrenzten Zugang zu finanziellen
Ressourcen und Personal.32 Der Zugang zu Informationen über Deutschland durch ein Stipendium
oder das Lesen entsprechender Literatur ist an gewissen Bedingungen geknüpft (Beherrschung der
Fremdsprache, Kontakte zu ausländischen wissenschaftlichen Stiftungen, finanzielle Mittel zum
Kauf von Literatur) Die Integration in diesen Prozess gelingt vor allem den jungen, mobilen, in den
Metropolen ansässigen russischen Kollegen. Daher gibt es schon Einzelfälle von verteidigten
Dissertationen33 oder einzelnen Publikationen. Zudem versuchen die Wissenschaftler, deutsche
Forschungsergebnisse in ihre Arbeit einfließen zu lassen. 34 Laut einer Erhebung der Zeitschrift
"Modernes Europa" sind jedoch von 47 Dissertationen, die zwischen 1997 und 2000 zu einem
europäischen Thema in Russland verteidigt wurden, 37 aus Moskau, 5 aus St. Petersburg und
jeweils eine aus Nishnij Novgorod, Krasnodar, Ekaterinburg und Jaroslavl. 35

"Ausbildung" vs. "Wissenschaft": Abgrenzung oder Überschneidung?
Eine Folge der Eingeschränktheit der Deutschlandforschung ist auch, dass sie im Lehrbetrieb
nicht präsent ist. Außer dem schon beschriebenen Problems des Moskauer Monopols, ist es für die
meisten der regionalen Universitäten ein Problem, dass die Politologen und Soziologen der
Fakultäten noch aus der sowjetischen Zeit stammen, in der sie dazu ausgebildet wurden, die
marxistisch-leninistische Ideologie und Geschichte der KPSS zu erfassen. Die Mehrzahl der
Hochschullehrer kommt aus der dem System der sowjetischen "Gesellschaftswissenschaften" und
ihr Durchschnittsalter beträgt 60 Jahre. Die Lehrpläne werden dabei zum Teil formal dem neuen
Inhalt angepasst, ohne jedoch von der noch aus der Zeit des "wissenschaftlichen Kommunismus"
stammenden Forderung nach der "allgemeingültigen Theorie" Abstand zu nehmen, die systematisch
strukturiert ist und dem vom Staat vorgeschriebenen Standard entspricht. Inzwischen entstehen
auch Kurse, die ausländische Forschungen zum Thema haben, wobei nicht nur die amerikanischen
Forschungen herangezogen werden, sondern auch die europäischen, im besonderen die
deutschen.
Die Hochschulen, an denen Vorlesungen zur Deutschlandforschung gehalten werden, kann man
unterteilen in solche, in denen über deutsche Politik und Wirtschaft gemaess dem Staatsstandart
doziert wird und solche, die diese Vorlesungen durch eigene Initiative einführen. Die erste Gruppe
darf man dabei nicht unterschätzen, obwohl sie eher zu der Kategorie der internationalen
Gel’man V., Ryzhenkov S. Politische Regionalistik in Rußland: politisches Consulting oder neue
Wissenschaftsdisziplin? // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1997, Bd. 2, 106150.
33 Синдеев А. Европейская политика ХДС/ХСС (конец 1980-х – 1990-е годы ХХ века). Диссертация на соискание
степени кандидата исторических наук, Ярославль: Ярославский государственный педагогический университета,
2000, Погорлецкий.
34 Белокурова Е. Государство и благотворительные организации: трансофрмация моделей взаимодействия (на
примере России и Германии). Диссертация на соискание степени кандидата политических наук, ИМЭМО РАН,
2000.
35 Современная Европа, 3, 2001.
32
Beziehungen oder Landeskunde gezählt werden können, aber für die schon ein Lehrbuch über
deutsche Landeskunde erschienen ist.36
Die Universitäten, die zur zweiten Gruppe gehören, sind klare Ausnahmen, wie z.B. die Fakultät
für Soziologie der Staatlichen St. Petersburger Universität, wo solche Programme dank einer
langjährigen Kooperation mit der Universität Bielefeld zustande kamen. Doch obwohl solche
Initiativen noch zu den Ausnahmen gehören, wird eifrig in diese Richtung weitergearbeitet.
Schlussfolgerungen
Die Studie hat gezeigt, dass das Netzwerk der Forscher, die sich mit Deutschlandstudien
beschäftigen, praktisch auf Moskau begrenzt ist, wo sich im letzten Jahrzehnt ein stabiles
unformelles Forschernetzwerk gebildet hat. Ungeachtet dessen, dass die Deutschlandexperten
verschiedenen Instituten und Disziplinen angehören, wurde es als Folge der eingeschränkten
Anzahl möglich, ein nicht von Konkurrenzdenken geprägtes Verhältnis aufzubauen und die Arbeit
informell untereinander aufzuteilen. Obwohl einige einzelne Wissenschaftler diesem Netzwerk nicht
angehören, sind die wichtigsten Institute miteinander verbunden und realisieren gemeinsam
Projekte.
Die Herangehensweise, mit der die Mehrzahl der Deutschlandexperten Fragestellungen
bearbeiten, gründet sich auf die Notwendigkeit, die Erfahrungen aus der erfolgreichen deutschen
Wirtschaft und Politik nutzbar zu machen, was zur Folge hat, das die Auswahl der
Forschungsthemen von der aktuellen russischen Realität bestimmt werden. Obwohl die Faktoren
der zielgerichteten Politik der Stiftungen und die Zugehörigkeit der Institute bei der
Interessenbildung an Deutschland und einzelnen Aspekten der Politik und Wirtschaft eine Rolle
spielen, bleibt der Hauptfaktor die Nachfrage nach deutschen Erfahrungen für die politische Praxis
in Russland. Die Frage, ob russische Forscher in die deutsche und europäische Diskussionen zu
diesem Thema mit eingeschlossen werden, hat sich bisher noch nicht gestellt, und die vereinzelten
Versuche des Vergleichs werden bisher von der Literatur über Deutschland nur am Rande
behandelt. Gerade deswegen kann die Arbeit in diese Richtung von großem Nutzen sein, wenn sie
es versteht, die zu erforschenden Fragen neu zu stellen.
Павлов Н. Германия на пути в третье тысячелетие. Пособие по страноведению. Курс лекций. М.: Высшая
школа, 2001.
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