DEUTSCHLANDS- UND EUROPASTUDIEN IN RUSSLAND: FORSCHUNGSSTAND, DEFIZITE UND PROBLEME Elena BELOKUROVA, Mitarbeiterin an der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie der Europäischen Universität in St. Petersburg. Schon vor seiner offiziellen Eröffnung hat das Zentrum für Deutschland- und Europastudien sehr ernsthaft an der Formulierung seiner Ziele und der Konzeption gearbeitet. Es wollte die Fehler umgehen, die häufig begangen werden, wenn ausländische Einrichtungen ihre Arbeit in Russland aufnehmen: Um zu vermeiden, dass nur die eigenen Vorstellungen im Mittelpunkt stehen, wurde zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen, auf der unter Beteiligung von deutschen und russischen Wissenschaftlern und Experten die Konzeption des Zentrums eingehend erörtert werden sollte. Das ZDES in St. Petersburg, dessen Aufbau jetzt eingeleitet wurde und das im kommenden Frühjahr offiziell eröffnet werden soll, fügt sich ein in eine Reihe von German- and European Studies -Instituten, -Zentren und -Projekten, die in den vergangenen zehn Jahren vor allem in Nordamerika und Europa entstanden sind und heute mehr und mehr in Mittel- und Osteuropa Verbreitung finden. Obwohl alle diese Einrichtungen mit ihrer Ausrichtung auf Deutschland und Europa (beziehungsweise Deutschland in Europa) zumindest einen gemeinsamen Bezugspunkt aufweisen, differieren sie doch in ihren jeweiligen Aktivitäten und Aufgabenbereichen zum Teil erheblich. So wird auch das St. Petersburger Zentrum nicht einfach auf einen fertigen Bauplan zurückgreifen können, sondern wird die spezifischen Bedingungen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschens und Lehrens in Russland bei all seinen Aufbauaktivitäten berücksichtigen müssen, um ein eigenständiges, wieder erkennbares Profil zu gewinnen. Welcher Art diese besonderen Rahmenbedingungen sind und welche Lehren daraus für ein Projekt wie das des ZDES zu ziehen sind, war Gegenstand der vom 28. bis 29. Januar an der Staatlichen Universität St. Petersburg stattgefundenen Tagung "Sinn und Nutzen von Deutschlandund Europastudien im modernen Russland“, die ca. 80 Teilnehmer zu verzeichnen hatte. Im Laufe der Vorbereitungen zu dieser Veranstaltung wurde von November 2001 bis Januar 2002 eine Studie durchgeführt, die der Analyse der in Russland veröffentlichten Publikationen über Deutschland und den Problemen der Deutschlandforschung gewidmet war. Ziel der Studie war es, den aktuellen Forschungsstand zu Deutschland in Russland vorzustellen, die dabei bevorzugten Forschungsobjekte zu markieren und auf dieser Grundlage Perspektiven für weitere Forschungen auf diesem Gebiet aufzuzeigen. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse der Untersuchung basieren zum Einen auf nichtsstandardisierten Experteninterviews, zum Anderen auf der Auswertung vorliegender Veröffentlichungen aus dem Bereich der Deutschland- und Europastudien in Russland.1 Internationale Beziehungen vs. "europäische Forschungen" Im Ganzen betrachtet schenkt die russische Literatur dem Problem der gegenseitigen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland und der Europäischen Union die größte Aufmerksamkeit. Dabei konzentrieren sich die Forschungen auf die außenpolitischen Probleme (und fast ausschließlich in Bezug auf die Beziehungen zu Russland), nicht aber hauptsachlich auf die innerpolitischen Probleme der deutschen Gesellschaft. In diesem Fall fällt die Forschung unter die Disziplin der "internationalen Beziehungen" und unterliegt deren Paradigmen und Methoden. In der russischen Wissenschaft wird streng unterschieden zwischen Politologie, Ökonomie und den Geschichtswissenschaften auf der einen Seite und den internationalen Beziehungen auf der anderen Seite, entsprechend der Abgrenzung der Forschungsobjekte und der Forschungsmethoden. Im Bereich der internationalen Beziehungen konzentrieren die Forscher sich fast ausschließlich auf das Problem der Außenpolitik der Staaten oder der internationalen Institute, wobei sie nicht die innerpolitischen Wurzeln des einen oder anderen Kurses berücksichtigen. Solche Forschungen werden in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt, da sie keine inhaltlichen Forschungen zur deutschen und europäischen Gesellschaft vorsehen. Obwohl die Außenpolitik in erster Linie ein Untersuchungsobjekt der Spezialisten auf dem Gebiet der außenpolitischen Beziehungen ist, stellt sich aktualitätsbedingt die Frage der innerpolitischen Gründe für die Außenpolitik Deutschlands für die Politologen-Germanisten. Auf der Grenze zwischen außenpolitischen Beziehungen und Politologie entstanden Arbeiten, die die Problematik der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland behandelten. Als Beispiel kann man dafür die Arbeiten der Politologen V. Markov, Kirill Vjatkin und Svetlana Pogorelskaja nennen. Ungeachtet der ähnlichen Themenstellung sind ihre Herangehensweise an das Problem unterschiedlich. Markov legt die These zugrunde, dass die Interessen Deutschlands in bezug auf Russland widersprüchlich sind. Auf der einen Seite ist Deutschland an einem wirtschaftlich und politisch 1 Bei der Auswahl der Literatur wurden folgende Kriterien angewandt: Die Publikation sollte, erstens, von einem russischen Wissenschaftler stammen und sie sollte, zweitens, das Resultat einer durchgeführten Forschungsarbeit darstellen beziehungsweise sollte sie zumindest Elemente aus einer Analyse empirisch erhobener Daten beinhalten. Das Hauptaugenmerk lag auf öffentlich zugänglichen Ausgaben mit einer hohen Auflage. Unter den ausgewerteten Zeitschriften überwogen die überregionalen Periodika. Ebenfalls berücksichtigt wurden Neuerscheinungen und von den Autoren übersandte Monografien, die der Deutschland- und Europaforschung gewidmet sind. Die Suche nach solchen Monographien ist problematisch, da die Mehrzahl von ihnen nicht im öffentlichen Verkauf erhältlich ist, sie sind entweder vergriffen oder wurden von ausländischen Stiftungen finanziert, weshalb sie kaum im freien Handel erhältlich sind. Diese Ausgaben wurden eher zufällig in die Bibliographie aufgenommen. Schon aus diesem Grund kann die Bibliographie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Aufgrund der zeitlichen Beschränkung der Studie wurde auch keine Suche nach Publikationen im Internet durchgeführt – dies könnte Aufgabe einer eigenen Erhebung sein. stabilen Russland interessiert. Auf der anderen Seite jedoch wird "in den führenden Kreisen der BRD das Bestreben festgestellt, die Rolle unseres Landes auf die eines zweitrangigen Staates zu beschränken, um die Möglichkeit auszuschließen, dass Russland zu einem starken Konkurrenten wird, der sich den deutschen Expansionswünschen im Osten entgegenstellen könnte."2 Bei Betrachtung derselben Fragestellung stellt K. Vjatkin die Einzigartigkeit der deutschen Ostpolitik in den Mittelpunkt, die bei eingehender Analyse Schlussfolgerungen über die widersprüchlichen Perspektiven der zukünftigen Beziehungen zwischen Deutschland und der Russischen Föderation zulassen.3 Svetlana Pogorelskaja ist noch näher an der innenpolitischen Problematik, wenn sie über die Außenpolitik Deutschlands spricht und diese dabei zwei unterschiedliche Identitäten feststellt – die der "Bonner Republik" und die der "Berliner Republik". Die erste charakterisiert in erster Linie das mit dem Verlust der nationalen Identität in der Nachkriegszeit einhergehende Bestreben, Europa zu vereinigen und in ihm aufzugehen. Die Identität der "Berliner Republik" formte sich in den letzten Jahren als Ausdruck der Neubildung einer einheitlichen Nation und der Stärkung des Nationalgefühls, was bezeugt wird durch die Teilnahme Deutschlands an den Kriegshandlungen auf dem Balkan und die früher für unmöglich gehaltene Gutheißung der Kriegshandlungen durch die Bevölkerung.4 Besonders viel Aufmerksamkeit wird der Erforschung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union geschenkt, was durch die wachsende Integration Europas und die Aktualität dieses Problems erklärt werden kann. In der Bibliographie werden einige Publikationen zu diesem Thema genannt, ihre Analyse überschreitet jedoch den Rahmen dieser Studie. Sehr selten wird die deutsche Politik innerhalb Europas erforscht.5 Der Forschungsstand: die Deutschlandforschung im Rahmen der verschiedenen Disziplinen Die Erforschung der inneren Prozesse Deutschlands ist aufgeteilt sowohl zwischen den verschiedenen Disziplinen als auch den verschiedenen Institutionen nach Spezialisten, Projekten und Instituten. Im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften ist die Deutschlandforschung besonders beliebt, wobei die verbreiteten Themen die Wirtschaftspolitik, die soziale Marktwirtschaft und in letzter Zeit die aktuellen Reformen, wie z.B. die Rentenreform, sind.6 Dabei gibt es sowohl aktuelle Analysen des Zustands der deutschen Wirtschaft7 als auch allgemeine Charakteristiken der Mechanismen der deutschen Wirtschaftspolitik. In den Monographien der Ökonomen geht es nicht nur um die Марков В. Политика ФРГ в отношении Российской Федерации, М.: Дипломатическая академия, 2001. Вяткин К. Бремя итогов – время перемен: восточные горизонты европейской политики Германии, ДИЕ РАН №53, М., 1999. 4 Погорельская С. Внутриполитические аспекты новой германской внешней политики // МЭМО, 7, 2001, 91-100. 5 Погорельская С. Некоторые аспекты европейской политики объединенной Германии // МЭМО, 2000, 1, с. 89–95. 6 Гутник В., Зимаков А. Пенсионная реформа в Германии // Современная Европа, 2, 2001, 49-59. 7 Гутник В. Неравномерность развития экономики Германии // МЭМО, 8, 1998; Гутник В. Германия // МЭМО, 8, 2001, 79-88; Ходов Л. Германия как импортер и экспортер частного капитала // Современная Европа, 4, 2000, 100104; Ходов Л. Что ждет германскую экономику в ближайшие 20 лет? // Современная Европа, 2, 2001, 92-95. 2 3 verschiedenen Aspekte der stattlichen Regulierung der deutschen Wirtschaft, sondern es wird auch der Versuch gemacht, die deutschen Erfahrungen neben die Erfahrungen aus den russischen Reformen zu stellen. Dabei wird der Akzent auf die Finanz- und Kreditpolitik, die Rolle der Zentralbank und die Struktur- und Sozialpolitik gesetzt. Ausgehend von den deutschen Erfahrungen in der Wirtschaftregulierung wird gefolgert, dass es unumgänglich ist, die deutschen Erfahrungen und Diskussionen im Reformprozess in der russischen Föderation anzuwenden.8 Die russischen Ökonomen sind besonders an den Prinzipien der deutschen "sozialen Marktwirtschaft" interessiert. Diesem Thema sind sowohl einige ins Russische übersetzte Arbeiten von L. Erhart, W. Eucken und G. Lehmbruch als auch Analysen des deutschen Modells durch russische Gelehrte gewidmet. Im Mittelpunkt stehen dabei die Wirtschaftsreformen nach dem Krieg, die konzeptuellen Grundlagen des deutschen Modells, die soziale Bedeutung einer solchen Wirtschaftpolitik, die konkreten Mechanismen der Wirtschaftsregulierung und die Modelle der Sozialpolitik. Dabei standen sowohl die geistigen als auch die theoretischen Ursprünge der sozialen Marktwirtschaft im Blickpunkt. Weiterhin wurden ihre grundlegenden Prinzipien und die Probleme, auf die das deutsche Modell bei der Vereinigung Deutschlands und der Liberalisierung der globalen Wirtschaft stieß, aufmerksam verfolgt.9 In der Politikwissenschaft standen die für Russland aktuellen Themen im Mittelpunkt, besonders der Föderalismus.10 Dabei war die Analyse der wirtschaftlichen Probleme der Institutionen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen von besonderem Interesse. 11 In Verbindung mit den Reformen der lokalen Selbstverwaltung in Russland gewann auch die Erforschung der lokalen Selbstverwaltungsorgane in Deutschland an Aktualität.12 Ein anderes traditionell typisches Thema für die vergleichenden Politikwissenschaften in Russland ist das Studium der deutschen politischen Parteien13 und des Wahlsystems14, das dem russischen System ähnlich ist. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der SPD geschenkt, was sowohl auf die Erinnerung an das große Гутник В. (ред.), Механизм регулирования экономики в Германии: как он функционирует и чему учит, ВлаДар, 1995. 9 Чепуренко А. (ред.) Социальное рыночное хозяйство в Германии: истоки, концепция, практика, М.: РОССПЭН, 2001; Васина Л. Социальное рыночное хозяйство: словарь терминов, М.: ИНФРА-М, 1997; Зарицкий Б. Людвиг Эрхард: секреты «экономического чуда», М.: БЕК, 1997, Социальное рыночное хозяйство: Теория и практика экономического порядка в России и Германии, СПб: Экономическая школа, 1999. 10 Витковский О. Федерализм против централизма. Некоторые политико-географические аспекты и проблемы воссоединенной Германии // Вопросы экономической географии зарубежных стран, М., 1992; Леванский С. Германия: федерализм в мононациональном государстве // Полис 5, 1995, 116-120; Рубинский Ю., Вяткин К. 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Федерализм и избирательная система в ФРГ // Полис 4, 1995, 139-145. 8 Interesse an sozialdemokratischen Ideen seitens der sowjetischen Gesellschaftswissenschaften als auch auf den Wahlsieg der SPD bei den Bundestagswahlen 1998 zurückzuführen ist.15 Nur eine Studie war der Erforschung der konservativen Kräfte in der Parteienlandschaft Deutschlands gewidmet.16 Ein anderes für Russland aktuelles Thema ist die Erforschung der Sozialpolitik und der Aktivitäten der wohltätigen Stiftungen und öffentlichen Organisationen in Deutschland.17 Für alle Vertreter der sozialen Wissenschaften (Wirtschaftswissenschaften, Politologie, Soziologie, Geschichtswissenschaften) ist die Vereinigung Deutschlands von großem Interesse. Einige große kollektive Monographien verschiedener Forschungsinstitute waren der umfassenden, interdisziplinären Erforschung dieser Veränderungen gewidmet. An dieser Stelle sollen vor allem einige Sammelbaende genannt werden, die die Reden bedeutender Politiker in Deutschland (H. Kohl, W. Brandt, R. Darendorf, O. Lafontaine usw.) von 1998-1990 zur Vereinigungsfrage, ihrer Aktualität und internationalen und historischen Bedeutung enthalten. 18 Vereinzelt wurden auch die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigung beleuchtet. 19 Es wurde der Versuch unternommen, die Beziehungen des vereinigten Deutschlands zu verschiedenen anderen Staaten (EU, USA, Polen, Zentralasien und China) zu klären.20 Es gibt zwei besonders interessante interdisziplinäre Sammelbände, die über die Probleme der Vereinigung Deutschlands nach 8-10 Jahren reflektieren.21 Dieser Problematik nahmen sich auch einige einzelne Arbeiten verschiedener Fachrichtungen an.22 Für eine vollständige Charakteristik des Forschungsstandes der russischen Deutschlandforschung ist es notwendig, die Faktoren zu bestimmen, die die Auswahl des einen oder anderen Forschungsgegenstands oder –bereichs bedingen. Warum wählten die Wissenschaftler Deutschland als Forschungsobjekt und besonders die oben beschriebenen Леванский С. Бьерн Энгхольм - новый лидер СДПГ // Полис, 5, 1991; Лидеры современной социал-демократии, М., 1991; Рыкин В. СДПГ на новом этапе // Современная Европа, 3, 2000, 25-31; Гутник В. Немецкая социалдемократия: новый центризм или беспринципный прагматизм // МЭМО, 6, 2001, 52-60; Хлебников Б. К итогам очередных выборов в Бундестаг, М., 1998 (http://academy-go.ru). 16 Синдеев А. Европейская политика ХДС/ХСС (конец 1980-х – 1990-е годы ХХ века). Диссертация на соискание степени кандидата исторических наук, Ярославль: Ярославский государственный педагогический университета, 2000. 17 Хлебников Б., Ярыгина Т., Шалганова И. Новый социальный договор и экуменические инициативы в Германии, Социальный барометр; Белокурова Е. Государство и «третий сектор» в Германии: от неокорпоратизма к смешанной модели // Общественные науки и современность, 2, 1999, 2, 54 – 65; Погорельская С. Свободные от гнета повседневной политики (Деятельность немецких благотворительных фондов) // Полис, 3, 1999, 162-169; Вяткин К. Лоббизм по-немецки // Полис 1, 1993, 179-183. 18 Объединенная Германия: политико-культурный и социально-экономический аспекты (ред. Орлов Б., Сальковский О.), М.: ИНИОН, 1992 19 Объединенная Германия: проблемы доходов и занятости (ред. Турусова Л.), М.: ИНИОН, 1993 20 Объединенная Германия в Европе и мире (ред. Размеров В.), М.: ИМЭМО, 1994. 21 Баранова К., Белов В., Борисова И., Рыкин В., Вяткин К. Объединение Германии и его последствия, ДИЕ РАН №49, М., 1998; Объединенная Германия: десять лет, М.: ИНИОН, 2001 22 Кузьмин И. Крушение ГДР. История. Последствия, М.: Научная книга, 1996; Кузьмин И. Шесть осенних лет. Берлин 1985-1990. М.: Научная книга, 1999; Романов С. Новые федеральные земли в зеркале германского единства, М.: Научная книга, 2000; Самотуга В. Трансформационные процессы в новых землях Германии – взгляд из России // Социально-экономические реформы в России и Германии: итоги и перспективы, Спб: издательство РГПУ, 1999, 83-93. 15 Bereiche? Neben den persönlichen Neigungen, die von der vorliegenden Studie ausgeklammert werden, ergeben sich Antworten auf diese Frage aus den strukturellen Faktoren der Forschungsarbeit im heutigen Russland im allgemeinen und aus der Beziehung zur Deutschlandforschung im besonderen. Die Problematik der Stiftungen: "Europa vs. USA" Im Russland der 90-er Jahre sind unzureichende finanzielle Ressourcen und eine Kürzung der staatlichen Finanzierung der Wissenschaft die grundlegenden strukturellen Faktoren der wissenschaftlichen Tätigkeit.23 Im Vergleich zu den Naturwissenschaften und den technischen Fachrichtungen ist die Situation bei der Sozialwissenschaft jedoch nicht ganz so katastrophal. Dies ist vor allem auf die Aktivitäten der westlichen Stiftungen und Programme in Russland zurückzuführen, die vor allem Sozialwissenschaft fördern. Zum Beispiel wurden 1993 200-300 Millionen US Dollar in die Entwicklung der russischen Wissenschaft investiert 24, was die Ausgaben des russischen Budgets für diese Zwecke überstieg.25 Obwohl viele in Russland eine kritische Position gegenüber den Aktivitäten der ausländischen Stiftungen einnahmen, besonders am Anfang der 90-er Jahre, sahen nach einer Studie aus dem Jahre 1995 66% der Wissenschaftler in den Stipendien eine wesentliche Aufbesserung ihres Einkommens, 49% konstatierten einen positiven Einfluss auf die Anzahl der Studien und 35% auf die Qualität der Studien. Die Hälfte der Befragten (52%) betonte die Bedeutung ausländischen Kapitals für die Durchführung neuer Forschungsprogramme. Dabei sahen 40% die Motive der ausländischen Sponsoren darin, für wenig Geld Zugang zu russischen Forschungsergebnissen zu bekommen (Sponsoren als "Vampire") und 14% sahen darin den Versuch, eine Auswanderung russischer Wissenschaftler ins Ausland zu verhindern, um die internationale Konkurrenz nicht zu verschärfen.26 So oder so hat die Politik der Stiftungen bis zu einem bestimmten Grad die Auswahl der Themen und Forschungsmethoden in den sozialen Wissenschaften beeinflusst. In der Mehrzahl der Fälle wurden Studien finanziert, die die Problematik des demokratischen Reformprozesses in Russland zum Thema hatten, wobei der Versuch unternommen wurde, die Erfahrungen des eigenen Landes in die russischen Reformen mit einfließen zu lassen. Da der grundlegende Teil ausländischer Finanzierung russischer Wissenschaft in den 90-er Jahren auf amerikanische Stiftungen entfiel, bestimmten sie auch den Ton der sozialen Wissenschaften. Als den aktivsten und in Russland bekanntesten Fonds kann man das "Open Society" Institut, die Ford Foundation, Eurasia Feundation, Mc Arthurs Foundation etc, nennen. Die Abwesenheit einer aktiven Tätigkeit von privaten europäischen Stiftungen (die im allgemeinen auch in der Finanzierung der Wissenschaft nicht so eine wichtige Rolle spielen wie die amerikanischen Козенко П., Ципровская А. Наука в России // Постиндустриальный мир: центр, периферия, Россия, сб. 3, М.: МОНФ, ИМЭМО, 1999, 122-142. 24 Kneen P. Science in Shock: Russian Science Policy in Transition // Europe-Asia Studies, 47(2), 1995, 293. 25 Алахвердян А., Дежина И., Юревич А. Зарубежные спонсоры российской науки: вампиры или Санта-Клаусы. МЭМО, 5, 1996, 35. 26 Там же, 41. 23 Organisationen in der USA) führte zu einer Dominanz der amerikanischen Stiftungen auf diesem Gebiet. Die bürokratischer organisierten europäischen staatlichen Stiftungen hatten dem amerikanischen Einfluss nichts entgegenzusetzen. Um so mehr noch, da sie verschiedenen europäischen Ländern angehörten und somit in einem Konkurrenzverhältnis zueinander standen. Die größte Aktivität zwischen den deutschen Organisationen entwickelte der DAAD, der das Interesse an Deutschland bei den Studenten und jungen Forschern förderte. Es ist schwer zu sagen, inwieweit seine Tätigkeit erfolgreich war, da es im Moment noch verfrüht ist, die Resultate der wissenschaftlichen Tätigkeit seiner Stipendiaten zu beurteilen. Für die werdenden Wissenschaftler die politischen Stiftungen (Konrad Adenauer Stiftung, Friedrich Ebert Stiftung, Friedrich Naumann Stiftung, Heinrich Böll Stiftung) als Förderer der Wissenschaften sehr wichtig. Sie führten in erster Linie Konferenzen durch, bauten Forschernetzwerke auf und förderten deren Arbeit. In diesem Sinne spielten sie eine wichtige Rolle. Sie förderten jedoch nicht das Interesse junger Wissenschaftler an Deutschland, sondern unterstützten eher Wissenschaftler, die in diesem Bereich schon forschten. Sie finanzieren nicht nur Forschungsaufenthalte russischer Wissenschaftler in Deutschland, sondern versuchen auch, deutsche Erfahrungen an russische Experten und Politiker weiterzugeben. Mit diesem Ziel werden Konferenzen, Seminare, Diskussionsrunden mit Experten und Politikern und deutscher Beteiligung organisiert. Ebenso werden gegenseitige Besuche und gemeinsame Publikationen unterstützt. Auf diese Weise war die Tätigkeit der Stiftungen äußerst wichtig, um ein Expertennetzwerk für Deutschlandstudien aufzubauen, aber sie bedingten nicht das Interesse russischer Forscher an Deutschland. Obwohl sie indirekt die Themenauswahl russischer Wissenschaftler für Studien über Deutschland beeinflussen, sind sie dafuer nicht der bestimmende Faktor. Die Problematik der Institute: die Rolle der Forschungsinstitute Als eine zweite Ursache für das Interesse russischer Forscher an Deutschland und den von ihnen gewählten Forschungsthemen kann die Version über die noch aus der Sowjetzeit geerbten institutionalisierten Struktur der wissenschaftlichen Forschung dienen. Sie besteht im wesentlichen aus der Arbeitsteilung zwischen dem Lehrbereich in den Hochschulen und dem Forschungsbereich an den Instituten der Russischen Akademie der Wissenschaften. Diese traditionellen Einrichtungen werden durch die ziemlich langsam vonstatten gehenden Veränderungen charakterisiert, besonders was den Wechsel der Generationen von Wissenschaftlern angeht. An den meisten Hochschulen findet bis heute nur ein sehr unwesentlicher Teil der Forschungen statt. Nichtsdestotrotz kann man nach zehn Jahren an den Instituten der Russischen Akademie für Wissenschaften von einer bedeutenden Transformation sprechen, die besonders in den Städten Moskau und St. Petersburg auffällt. Die Arbeit an diesen Instituten wurde flexibler: Die Wissenschaftler verbringen nicht ihre ganze Zeit an den Instituten, sondern arbeiten selbständig. Dabei sind sie nicht nur an den Instituten beschäftigt, sondern lehren auch an den Hochschulen, kooperieren selbständig mit ausländischen Partnern, nehmen an Projekten teil und erhalten Stipendien. Im Unterschied zur Sowjetzeit "macht" nicht mehr das Institut die Spezialisten und bestimmt die Auswahl der Forschungsobjekte, sondern die Wissenschaftler "machen" das Institut. Die Wissenschaft in Russland, wie auf der ganzen Welt, ist individueller geworden. Davon waren auch die Deutschland- und Europastudien nicht ausgenommen. Ungeachtet dessen, dass die Institute der Russischen Akademie der Wissenschaften bei der Forschung am Anfang den Ton angaben, so sind sie inzwischen oft nur noch das "Dach" für eine selbständige Forschungsarbeit einzelner Spezialisten. Zur Sowjetzeit arbeiteten die Deutschlandforscher in den großen Instituten wie z.B. Institut fuer Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO), wo die Abteilung für Westeuropa 50 Mitarbeiter hatte, von denen 7 mit der BRD beschäftigt waren. Heutzutage sind die Forscher auf einzelne Institute verstreut. Zum Teil ist das auf die ihre Ausgliederung aus dem IMEMO als Europainstitut im Jahre 1987 zurückzuführen, das zu einem wichtigen Zentrum für Europastudien wurde, darunter auch die Deutschlandstudien. Zur Zeit existiert dort ein Zentrum für Deutschlandforschung, wo 4 Politologen und Wirtschaftswissenschaftler fest angestellt sind. Auf der anderen Seite konnte das Interesse an Deutschland nicht mehr nur durch die bewährten Mitarbeiter der profilierten Institute befriedigt werden, sondern von den Vertretern vieler verschiedener anderer Fachrichtungen. Auf diese Weise arbeiten Deutschlandforscher jetzt in verschiedenen Einrichtungen: Obwohl die wichtigsten Zentren das Europa Institut (wo das Zentrum für Deutschlandforschung gegründet wurde), das IMEMO, Diplomatische Akademie und Universitaet fuer Internationale Beziehungen (MGIMO) bleiben, arbeiten die Deutschlandforscher jetzt auch am Institut für vergleichende Politikwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, an der Russischen Hochschule für Geisteswissenschaften, der Moskauer Staatlichen Universität und anderen akademischen Einrichtungen. Zu Beginn der 90-er Jahre wurde neben den staatlichen auch eine Reihe von privaten wissenschaftlichen Einrichtungen gegründet. Sie sind als sogenannte "analytische Zentren den stattlichen Organen beigeordnet oder private Forschungszentren, die hauptsächlich durch ausländisches Kapital existieren. Von den privaten Forschungsinstituten, die seit Ende der 80-er Jahre zu Hunderten aus dem Boden schossen, überlebten relativ wenige. Sie dienen zum Teil als brain trusts für die Politiker und politischen Vereinigungen oder finanzieren sich durch kommerzielle Forschungsaufträge ausländischer Investoren, Banken, Versicherungs- oder Handelsunternehmen. Da das Forschungsthema in diesen Zentren vom Auftraggeber festgelegt wird (politische oder kommerzielle Strukturen), so ist die Deutschlandforschung in dem Grad für sie aktuell, in dem die Ergebnisse aktuell oder notwendig sind für den Auftraggeber. Forschungszentren, die auf westliche Finanzierung angewiesen sind, sind mehr an Deutschlandstudien interessiert, das diese neue Finanzierungs- , Entwicklungs- und Kooperationsmöglichkeiten für sie eröffnen. "Wissenschaft vs. Praxis": die politischen Anforderungen an die Deutschlandforschung Wie die Analyse der Themen der Deutschlandforschung gezeigt hat und die unbedeutende Rolle, die die politischen Stiftungen und Institute bei der Auswahl spielen, ist das Interesse an dem einen oder anderem Forschungsfeld eng mit den Erfordernissen verbunden, die sich aus der politischen Praxis ergeben. Viele russische Wissenschaftler aus dem Bereich der Sozialwissenschaften sind selbst im russischen Transformationsprozess aktiv: eine praxis- und beratungsorientierte Richtung ist fuer sie grundlegend. Die Entscheidung des Forschers zugunsten der einen oder anderen Theorie ist deshalb oft in vielerlei Hinsicht eine politische Entscheidung – die Geschichte der postsowjetischen Sozialwissenschaften ist ein grundlegender Teil der politischen Diskussion. Da der Umbruch zu Beginn der 90-er Jahre eine beabsichtigtes Reformprojekt für Marktwirtschaft und Demokratie war, gerieten die "westlichen" Theorien ins Zentrum des Interesses vieler russischer Wissenschaftler. Darin spiegelt sich die wichtige, theoretisch-konzeptuelle Umorientierung der Sozialwissenschaften nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und seiner ideologischen Grundlagen wider, die zu einer Pluralisierung der Theorien und Herangehensweisen an Problemstellungen führte. Zwei dominierende Tendenzen können dabei festgestellt werden, die den historischen Gegensatz zwischen den "Westlern" und den "Slavophilen" innerhalb der russischen Intelligenzija wieder aktualisiert. Auf der einen Seite kann man eine starke Orientierung an der anglo-amerikanischen wissenschaftlichen Tradition feststellen, sodass die russischen Sozialwissenschaften sich weiterhin wie eine "wissenschaftliche Kultur an der Peripherie" entwickelt.27 In den Forschungszentren der russischen Hauptstadt gehört es für eine Studie, die erfolgreich sein will, immer mehr zur Standardvoraussetzung, auch den internationalen Diskurs heranzuziehen. Auf der anderen Seite ist ein wesentlicher Teil der russischen Forscher Anhänger des speziellen "russischen" Verständnis von Wissenschaft. So wird der Versuch unternommen, eine eigenständige Disziplin auf den Grundlagen der "russischen historischen Politikwissenschaft" zu gründen, die den besonderen russischen Weg postulieren und "westliche" Konzeptionen als irrelevant für die Interpretation der (früheren, heutigen und zukünftigen) Gesellschaft ablehnen. 28 Die "bodenständige" Tradition der russischen Sozialwissenschaften orientiert sich nicht an empirischanalytischen Theorien, sondern entwickelt historisch-philosophische "spekulative" Modelle.29 Der für das Russland der 90-er Jahre charakteristische Gegensatz zwischen "Liberalen" und "Antiliberalen" schlug sich auf diese Weise auch in der Gemeinschaft der Wissenschaftler nieder. Was al Konkurrenz zwischen einzelnen Theorien, Konzeptionen und Entdeckungen erscheinen mochte, war in Wirklichkeit ein Gegensatz in der Weltsicht der Wissenschaftler auf der Grundlage der politischen Überzeugungen. Dieser Gegensatz wird institutionalisiert durch die Verbindung Несветляков Г. Центр-периферийные отношения и трансформация постсоветской науки // СоцИс, 7, 1995, 2640. 28 См., например, Российская политология. Учебное пособие. М.: РГАС, 1995. 29 Ionin L. Institutionalisierung und ideologische Paradigmen der Politologie // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1996, Bd. 1, 57-82. 27 seiner Vertreter mit den Institutionen und Fachzeitschriften. 30 In diesem Sinne beschäftigen sich mit der Deutschlandforschung natuerlich die "Westler", wobei sie dem sogenannten "politischen Auftrag" unterliegen, d.h. sie wählen die Themen in Abhängigkeit ihrer Aktualität für die russischen Reformen. Nicht zufällig konzentrieren sich die Wissenschaftler auf die Erforschung des deutschen Föderalismus und der lokalen Selbstverwaltung, der aktuellen politische Entwicklung, der Sozialpolitik und der wirtschaftlichen Reformen sowie des Transformationsprozess in Ostdeutschland. Dabei wird in einem großen Teil der Artikel folgende Motivation deutlich: Es ist notwendig, die Vorteile und Mängel des deutschen politischen und wirtschaftlichen Systems zu kennen und zu begreifen mit dem Zeil, die vorliegenen russischen Reformen effektiver durchzuführen. Die Nachfrage nach den deutschen Erfahrungen spiegelt sich nicht nur in den wissenschaftlichen Publikationen wider, sondern auch im Interesse der handelnden Poltiker. Die Mehrzahl der Moskauer Deutschlandexperten verzeichnen deren Interesse an einer solchen Thematik. In der Praxis drückt sich dies in den verschiedenen öffentlichen und geschlossenen Seminaren und Konsultationen unter Teilnahme der Experten aus, die von den staatlichen und politischen Strukturen durchgeführt werden. Die Art des Interesses an Deutschland und Europa hat sich im Laufe der 90-er Jahre verändert. Als im Bereich der politischen und wirtschaftlichen Konsultationen in der russischen Politik die amerikanischen Berater klar dominierten, war das starke Interesse an Europa wenig praktikabel und umsetzbar. Selbst als Mitte der 90-er Jahre der Reformprozess sich verlangsamte, steigerte dies nicht das Bedürfnis nach europäischen Wissen. In seiner kurzen Amtszeit als Premierminister hat E. Primakov, der ehemalige Aussenminister und frühere Direktor des MIEMO, neben den anderen auch Deutschlandexperten für politische Entscheidungen hinzugezogen. Zur Zeit ist die Situation unklar. Auf der einen Seite besteht von der Regierung Putins her ein klares Interesse an Refomexperten, auf der anderen Seite zieht es die Regierung nach Meinung eines Experten vor, Forschungsaufträge an private Institute zu vergeben, wo praktisch keine Deutschlandexperten arbeiten. Der hautpsächliche Grund für die Themenwahl und das Forschungsinteresse an Deutschland ist jedoch bis heute die Aktualität des einen oder anderen Aspekts der Wirtschaft und Politik für die russische Realität und Reformen. Die Mehrzahl der Autoren geht bei der Aufstellung ihrer Forschungsprojekte von der Notwendigjkeit aus, die deutsche Erfahrungen in Russland anzuwenden. Dabei geht es nicht um einen einfachen Transfer deutscher Institute auf russischen Boden, wichtig ist, diejenigen Ergebnisse aus den deutschen Studien den Kollegen und Politikern zugänglich zu machen, die bei der Lösung der russischen Probleme von Nutzen sein könnten. Deshalb sind die Probleme des Föderalismus, die lokale Selbstverwaltung und die wirtschaftlichen und sozialen Reformen Hauptgegenstand der Forschung. Ionin L. Institutionalisierung und ideologische Paradigmen der Politologie // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1996, Bd. 1, 57-82; Stykow P. Literaturbericht: Sozialwissenschaftliche Zeitschriften in Rußland // Welt Trends, 6, 1998, 173-185. 30 Moskau vs. Regionen: Das Moskauer Monopol? Sowie der Beleg dafür als auch eine Folge davon, dass die Forderung nach Deutschlandstudien aus der Praxis erfolgt, ist die Tatsache, dass es außerhalb von Moskau praktisch keine Deutschlandexperten gibt. Dies hängt mit den allgemeinen Problemen der russischen Wissenschaft zusammen.31 Erstens hielt die zentralisierte Infrastruktur der wissenschaftlichen Kommunikation nicht dem Zerfall des staatlichen sozialistischen Systems stand. So ist der Zugang zu Informationen über neue russische und ausländische Publikationen und zu ausländischer Literatur sehr beschränkt. Die Bibliotheken in den Hochschulen und Forschungsinstituten sind armselig ausgestattet. Die Nutzung der Neuen Medien ist für Wissenschaftler, besonders diejenigen aus der Provinz, entweder unmöglich oder sehr eingeschränkt. Die Kommunikation der russischen Wissenschaftler untereinander ist sehr schwach entwickelt und häufig auf kleine Diskussionskreise beschränkt. Zudem gibt es wenig Fachzeitschriften. Zweitens wird der Zugang zu Informationen und ausländischen Forschungsergebnissen, in erster Linie der deutschen, durch das weitverbreitete Nichtbeherrschen von Fremdsprachen erheblich erschwert. Nur ein kleiner Teil der russischen Wissenschaftler in den Hochschulen des Landes (Moskau und St. Petersburg ausgenommen) beherrschen gut genug Fremdsprachen. Obwohl dieser Teil zwischen den Studenten und jungen Forschern wächst, bleibt die Barriere, ausländische Forschungsergebnisse und Literatur in der Originalsprache zu studieren, sehr hoch. Mehr als die englische Sprache ist hiervon die deutsche Sprache betroffen, und sogar in der Zukunft sind keine wesentlichen Verbesserungen – wenn überhaupt – zu erwarten. Mitte der 90-er Jahre waren Tendenzen spürbar, die wissenschaftliche Infrastruktur wiederzubeleben, besonders dank überregionaler russischer und internationaler Konferenzen, Seminare und der Aktivitäten wissenschaftlicher Fachverbände und Zeitschriften. Außerdem gelang es vielen russischen, oft jungen Wissenschaftlern, Zugang zu den Diskussionen und den Publikationen der westlichen Sozialwissenschaft zu erhalten. Dies wurde vor allem durch Stipendienprogramme und Kooperation mit ausländischen staatlichen und privaten Sponsoren finanziert. Dadurch wurde es möglich, auf privater Basis internationale Fachliteratur zu erwerben und auch die wissenschaftlichen Bibliotheken in Russland besser auszustatten. О попытках анализа российских общественных наук с середины 90-х годов см.: Oswald I. u.a. (Hg.): Sozialwissenschaft in RuЯland. Berlin: Berliner Debatte. Bd. 1. Analysen russischer Forschungen zu Sozialstruktur, Eliten, Parteien, Bewegungen, Interessengruppen und Sowjetgeschichte. 1996, Bd. 2. Analysen russischer Forschungen zu Sozialstruktur, Wählerverhalten, Regionalentwicklung, ethnischen Konflikten, Geopolitik, nationalen Interessen und Sowjetgeschichte. 1997; Schimank U. Die Transformation der Forschungssysteme der mittel- und osteuropäischen Länder: Gemeinsamkeiten von Problemlagen und Problembearbeitung // Mayntz R. U.a. (Hrsg.) Transformation mittelund osteuropäischer Wissenschaftssysteme. Länderberichte. Opladen: Leske+Budrich, 1995, 10-39; Kneen P. Science in Shock: Russian Science Policy in Transition // Europe-Asia Studies, 47(2), 1995, 281-303; White S. Public Opinion and Political Science in Postcommunist Russia // European Journal of Political Research, 27(4), 1995, 507-526. 31 Drittens haben die Forscher in den Regionen oft äußerst begrenzten Zugang zu finanziellen Ressourcen und Personal.32 Der Zugang zu Informationen über Deutschland durch ein Stipendium oder das Lesen entsprechender Literatur ist an gewissen Bedingungen geknüpft (Beherrschung der Fremdsprache, Kontakte zu ausländischen wissenschaftlichen Stiftungen, finanzielle Mittel zum Kauf von Literatur) Die Integration in diesen Prozess gelingt vor allem den jungen, mobilen, in den Metropolen ansässigen russischen Kollegen. Daher gibt es schon Einzelfälle von verteidigten Dissertationen33 oder einzelnen Publikationen. Zudem versuchen die Wissenschaftler, deutsche Forschungsergebnisse in ihre Arbeit einfließen zu lassen. 34 Laut einer Erhebung der Zeitschrift "Modernes Europa" sind jedoch von 47 Dissertationen, die zwischen 1997 und 2000 zu einem europäischen Thema in Russland verteidigt wurden, 37 aus Moskau, 5 aus St. Petersburg und jeweils eine aus Nishnij Novgorod, Krasnodar, Ekaterinburg und Jaroslavl. 35 "Ausbildung" vs. "Wissenschaft": Abgrenzung oder Überschneidung? Eine Folge der Eingeschränktheit der Deutschlandforschung ist auch, dass sie im Lehrbetrieb nicht präsent ist. Außer dem schon beschriebenen Problems des Moskauer Monopols, ist es für die meisten der regionalen Universitäten ein Problem, dass die Politologen und Soziologen der Fakultäten noch aus der sowjetischen Zeit stammen, in der sie dazu ausgebildet wurden, die marxistisch-leninistische Ideologie und Geschichte der KPSS zu erfassen. Die Mehrzahl der Hochschullehrer kommt aus der dem System der sowjetischen "Gesellschaftswissenschaften" und ihr Durchschnittsalter beträgt 60 Jahre. Die Lehrpläne werden dabei zum Teil formal dem neuen Inhalt angepasst, ohne jedoch von der noch aus der Zeit des "wissenschaftlichen Kommunismus" stammenden Forderung nach der "allgemeingültigen Theorie" Abstand zu nehmen, die systematisch strukturiert ist und dem vom Staat vorgeschriebenen Standard entspricht. Inzwischen entstehen auch Kurse, die ausländische Forschungen zum Thema haben, wobei nicht nur die amerikanischen Forschungen herangezogen werden, sondern auch die europäischen, im besonderen die deutschen. Die Hochschulen, an denen Vorlesungen zur Deutschlandforschung gehalten werden, kann man unterteilen in solche, in denen über deutsche Politik und Wirtschaft gemaess dem Staatsstandart doziert wird und solche, die diese Vorlesungen durch eigene Initiative einführen. Die erste Gruppe darf man dabei nicht unterschätzen, obwohl sie eher zu der Kategorie der internationalen Gel’man V., Ryzhenkov S. Politische Regionalistik in Rußland: politisches Consulting oder neue Wissenschaftsdisziplin? // Oswald I. u.a. (Hg.) Sozialwissenschaft in Rußland. Berlin: Berliner Debatte, 1997, Bd. 2, 106150. 33 Синдеев А. Европейская политика ХДС/ХСС (конец 1980-х – 1990-е годы ХХ века). Диссертация на соискание степени кандидата исторических наук, Ярославль: Ярославский государственный педагогический университета, 2000, Погорлецкий. 34 Белокурова Е. Государство и благотворительные организации: трансофрмация моделей взаимодействия (на примере России и Германии). Диссертация на соискание степени кандидата политических наук, ИМЭМО РАН, 2000. 35 Современная Европа, 3, 2001. 32 Beziehungen oder Landeskunde gezählt werden können, aber für die schon ein Lehrbuch über deutsche Landeskunde erschienen ist.36 Die Universitäten, die zur zweiten Gruppe gehören, sind klare Ausnahmen, wie z.B. die Fakultät für Soziologie der Staatlichen St. Petersburger Universität, wo solche Programme dank einer langjährigen Kooperation mit der Universität Bielefeld zustande kamen. Doch obwohl solche Initiativen noch zu den Ausnahmen gehören, wird eifrig in diese Richtung weitergearbeitet. Schlussfolgerungen Die Studie hat gezeigt, dass das Netzwerk der Forscher, die sich mit Deutschlandstudien beschäftigen, praktisch auf Moskau begrenzt ist, wo sich im letzten Jahrzehnt ein stabiles unformelles Forschernetzwerk gebildet hat. Ungeachtet dessen, dass die Deutschlandexperten verschiedenen Instituten und Disziplinen angehören, wurde es als Folge der eingeschränkten Anzahl möglich, ein nicht von Konkurrenzdenken geprägtes Verhältnis aufzubauen und die Arbeit informell untereinander aufzuteilen. Obwohl einige einzelne Wissenschaftler diesem Netzwerk nicht angehören, sind die wichtigsten Institute miteinander verbunden und realisieren gemeinsam Projekte. Die Herangehensweise, mit der die Mehrzahl der Deutschlandexperten Fragestellungen bearbeiten, gründet sich auf die Notwendigkeit, die Erfahrungen aus der erfolgreichen deutschen Wirtschaft und Politik nutzbar zu machen, was zur Folge hat, das die Auswahl der Forschungsthemen von der aktuellen russischen Realität bestimmt werden. Obwohl die Faktoren der zielgerichteten Politik der Stiftungen und die Zugehörigkeit der Institute bei der Interessenbildung an Deutschland und einzelnen Aspekten der Politik und Wirtschaft eine Rolle spielen, bleibt der Hauptfaktor die Nachfrage nach deutschen Erfahrungen für die politische Praxis in Russland. Die Frage, ob russische Forscher in die deutsche und europäische Diskussionen zu diesem Thema mit eingeschlossen werden, hat sich bisher noch nicht gestellt, und die vereinzelten Versuche des Vergleichs werden bisher von der Literatur über Deutschland nur am Rande behandelt. Gerade deswegen kann die Arbeit in diese Richtung von großem Nutzen sein, wenn sie es versteht, die zu erforschenden Fragen neu zu stellen. Павлов Н. Германия на пути в третье тысячелетие. Пособие по страноведению. Курс лекций. М.: Высшая школа, 2001. 36